Multikulturalismus und - E-LIB Bremen

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Multikulturalismus und
Integration als
Grundrechtsproblem
vorgelegt von
Monique Radtke
Universität Bremen
Juli 2014
1
A. Zur Notwendigkeit eines neuen Integrationsmodells
9
I. Die Entwicklung der Zuwanderung in Deutschland und die gegenwärtige
gesellschaftliche Akzeptanz
12
II. Die Kollision zweier Welten? Der Islam und die Werteordnung des Grundgesetzes
14
1. Mangelnde Gleichberechtigung in der islamischen Glaubenslehre
17
2. Das islamische Strafsystem unter kritischer Betrachtung
20
3. Fehlende Religionsfreiheit in der islamischen Glaubenslehre
21
4. Fehlende Toleranz in der islamischen Glaubenslehre
22
5. Vorrang des „Common Sense“ vor Autonomie und Individualität in der
islamischen Glaubenslehre
23
6. Fundamentalistische Strukturen in der islamischen Glaubenslehre
24
7. Die Rechtsquellen des Islam in der Betrachtung und deren Verbindlichkeit
27
a. Die Bedeutung des Koran
b. Die Bedeutung der Sunna
c. Die Bedeutung der Scharia
28
29
30
8. Die Verbindlichkeit von islamischen Vorschriften und
deren Umgehungsmöglichkeiten
32
9. Der heilige Krieg „jihad“
34
10. Die Situation des Muslims in einem nicht muslimischen Land
35
11. Entjuridifizierung, Reformbewegungen und Wandlungen der islamischen
Ordnung als Entwicklungsfortschritt: Reformationsversuche im Islam und
die Deklaration der Menschenrechte
36
12. Keine Pauschalierung für sämtliche islamische Länder
42
III. Die Konflikte im traditionellen Staatskirchenrecht als vergleichbares Problem
44
1. Der Widerstand der katholischen Kirche gegen die Schwangerschaftsunterbrechung
als symptomhaftes Beispiel für den Infallibilitätsgedanken der katholischen Kirche 52
2. Die Kruzifix-Problematik
a. Die Kruzifix-Kontroverse und das Bundesverfassungsgericht
b. Versuche der Deutung des Kreuzes aus anderer Perspektive
c. Laizismus als Lösungsform bei kulturellen Spannungen?
54
54
56
59
2
3. Die Bhagwan-Fälle der 80er Jahre
IV. Die Kirchenverträge als Ausgangspunkt zur Regelung des Verhältnisses
von Staat und Glaubensgemeinschaft
60
62
1. Die Islamkonferenz als Initiator zu Staatsverträgen, Staatskirchenverträgen
oder öffentlich-rechtlichen Verträgen
64
2. Die Möglichkeit und die Rechtsnatur der Verträge zwischen Staat und
Islam, insb. das Beispiel Hamburg
65
3. Die Problematik eines solchen Vertrages im Land Bremen, „Bremer Klausel“
69
V. Einleitende Vorüberlegung zu den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen als
Grundkonstrukt
70
B. Verfassungsrechtlicher Rahmen als Basis einer offensiveren Integrationspolitik,
das Freiheitsverständnis im liberalen Staat, die Reichweite der Menschenrechte,
Demokratie und Republik als Sicherungselemente
71
I. Vernunft und Liberalismus als tragende Prinzipien jeder Gesellschaftsform der
Grundebene und deren Kritiker
71
1. Die Zielsetzungen der klassischen liberalen Bewegung
71
2. Das Verhältnis von Liberalismus und Religion
74
3. Kontextualismus/Kommunitarismus/Kohärentismus und weitere
theoretische Ansätze als Antwort auf die klassisch liberale Bewegung
75
II. Die Menschenrechte als verfassungsrechtliche Charakteristik
79
1. Der individuelle Charakter der Menschenrechte
80
2. Die Reichweite der Menschenrechte
82
3. Der Schutz der Menschenrechte
84
a. Die UN-Menschenrechtscharta von 1947, der internationale
Menschenrechtsrat und der internationale Strafgerichtshof
b. Die EMRK von 1950
c. Die Europäische Grundrechte-Charta von 2000/2007
d. Die Bedeutung des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und
des EuGH
85
87
88
91
4. Menschenrechte in der internationalen Politik und der Krieg gegen den Terror
91
III. Das Verhältnis von Grundrechten und Menschenrechten, die Religionsfreiheit und
deren Schrankenproblematik sowie die Idee der Schutzrechte
94
3
IV. Das Verhältnis von (Individual-) Grundrechten und Pluralismus
100
1. Minderheiten als Thema für das Grundgesetz?
100
2. Kollektivrechte im Vergleich zu individuellen Menschenrechten
103
3. Die kulturelle Restriktion von Menschenrechten
105
a. Die Komplexität des Kulturbegriffs
b. Der Begriff der Multikultur oder Multikulturalität
c. Der Begriff der (europäischen) Leitkultur
d. Der sog. Minimalkonsens
e. Die Abkehr vom Kulturrelativismus
f. Die Erkenntnis von Werten im Wandel, deren Konsequenz im internationalen
Handeln und die Rolle des Staates
g. Die Abhängigkeit der materiellen Verfassung vom realen Wertkonsens der
Gesellschaft und die Unentbehrlichkeit des freien Verfassungskonsenses durch
staatlichen Schutz
V. Demokratie, Republik, Sozialstaat und Nation als Ergänzung zur Sicherung
von Grundrechten
106
108
110
112
115
118
120
122
1. Demokratie als Rahmenbedingung für eine erfolgreiche Integration im Verhältnis
zur Freiheit
122
2. Das demokratische Mehrheitsprinzip contra individuelle Menschenrechte
124
3. Die Freiheitssicherung durch ein duales System von Demokratie und Rechtsstaat
125
4. Das Sozialstaatsprinzip als Staatszielbestimmung zum Schutz von Grundrechten
126
VI. Republik und Nation contra Nationalismus: der Nationalstaat als ein Hindernis für ein
dauerhaftes Zusammenleben mit ethnischen Minderheiten?
127
1. Der Begriff des Nationalstaatscharakters
130
2. Der deutsche ethnische Nationalismus
131
3. Der republikanische Nationalismus, dessen Entstehungsgeschichte und der
Charakter der Republik
132
4. Die Idee der „Kulturautonomie“
133
5. Das Verhältnis von Nation und Europa: ein Europa-Ausblick und
„amerikanische Verhältnisse“
135
VII. Verfassungspatriotismus als faktische Verfassungsvoraussetzung
1. Die Verfassung als Grundlage staatlicher Einheit
142
142
2. Die Verfassung als Basis einer Gesellschaftsordnung und als ethnischer
4
Grundkonsens
144
3. Funktionen, Realisierung und Probleme einer Verfassungsordnung
145
4. Die weltbürgerliche Verfassung
148
5. Die Folgerungen für Europa
149
C. Das Spannungsverhältnis von Freiheit, Einheit, Pluralismus
154
I. Die Bewertung der unterschiedlichen Prinzipien von Islam und der Werteordnung des
Grundgesetzes
155
1. Kollision mit den Wertvorstellungen des Grundgesetzes?
156
2. Die Akzeptanz der Grundlagen der staatlichen Ordnung als
Zulässigkeitsvoraussetzung
159
3. Stehen Erziehung und Bildung in der pluralistischen Gesellschaft im Ergebnis
doch unter einem verdeckten Kulturvorbehalt?
160
II. Die Konfliktregelungsform der Integration und deren Alternativen
164
1. Überblick über verschiedene Konfliktregelungsformen
164
2. Integration und Assimilation als moderne Konfliktregelungsformen
167
3. Die Auswertung der verschiedenen Gesellschaftsmodelle
171
4. Illegale Migration als Integrationsproblem
172
III. Harmonisierung der widerstreitenden Grundrechte i.S.d. Einheitspostulats des
Bundesverfassungsgerichts und die Antwort des Grundgesetzes: eine wehrhafte
Demokratie
175
D. Integrationsmaßnahmen und neue Ansätze zur erfolgreichen Umsetzung von Integration
176
I. Das neu geregelte Zuwanderungsrecht am Maßstab der Verfassungsvorgaben
178
II. Sprachkurse als Integrationsvoraussetzung und Privilegierung durch besondere
Integrationsleistungen
181
1. Die verfassungsrechtliche Notwendigkeit von Sprachkursen im Hinblick auf
Homogenität und das Wertesystem des Grundgesetzes
183
2. Eine Bilanz der Sprachkurse in praktischer Hinsicht
184
III. Die Integrationssituation bei Jugendlichen, Frauen und Mädchen
187
5
IV. Die Situation am Arbeitsmarkt und weitere Integrationsprobleme
190
V. Der sog. Einbürgerungsfragebogen
197
VI. Der nationale Integrationsplan
204
1. Die Ausgangssituation der Notwendigkeit eines nationalen Integrationsplans, dessen
Zielsetzungen und Vermittlungsmöglichkeiten
204
2. Die Erwartungen an den nationalen Integrationsplans und die objektive Messbarkeit
des Erfolges
216
3. Das Amt der Integrationsbeauftragen der Bundesregierung
217
4. Konkrete weitere Integrationsmaßnahmen unter der Beachtung kulturneutraler
Bezüge und besondere Kooperationsformen als Hilfsinstrumente
218
5. Integrationsvereinbarungen als Instrument individueller Zielplanung
222
VII. Die integrative Wirkung der allgemeinen staatlichen Schulorganisation unter der
Herrschaft des Grundgesetzes
223
E. Die Anwendung auf konkrete Problemfälle
229
I. Die Ehrenmordproblematik
229
1. Der Ehrbegriff und die dahinter stehende Einstellung
230
2. Das Fallbeispiel „Sürücü“
231
3. Die Rechtfertigungsgedanken aus Sicht der Täter
231
4. Der Ehrenmord als spezifisches Problem des Islam?
232
5. Die Konsequenz staatlichen Handelns unter Berücksichtigung kollidierender
Grundrechte
234
II. Zwangsverheiratungen
235
1. Die Dimension der Zwangsverheiratungen, Formen der Zwangsverheiratungen und
die Schwierigkeit der Erlangung empirischer Unterlagen
236
2. Elterliche Glaubensfreiheit und die Problematik der Auslegung des Art. 4 Abs.1
und Abs. 2 GG contra allgemeines Persönlichkeitsrecht
241
3. Die Grenzen der Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG und die
Schutzmöglichkeiten auf einfachgesetzlicher Ebene
242
III. Die Kopftuchproblematik im Lehramt
250
6
1. Die verschiedenen Argumentationsebenen der Kopftuchdebatte
250
2. Der Fall „Ludin“
256
a. Das Neutralitätsgebot des Bundesverfassungsgerichts
b. Die Reaktion der Länder auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
zum „Kopftuch-Urteil“
256
259
3. Internationale Lösungsansätze im Kopftuchstreit
261
4. Das Kreuz contra Kopftuch bei näherer Betrachtung
262
5. Das Verbot des Kopftuches bzw. Schleiers bei Schülerinnen und das Problem der Be
stimmung des staatlichen Erziehungsauftrages
263
IV. Der islamische Religionsunterricht
272
1. Die gegenwärtige Situation, die historische Entwicklung der Einrichtung
islamischen Religionsunterrichts und die verfassungsrechtliche Fragestellung
272
2. Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach und institutionelle
Grundrechtsgarantie
277
3. Verfassungsrechtliche Bedenken eines islamischen Religionsunterrichts
und die Bedeutung des Kooperationsverhältnisses zwischen Staat und Religionsgemeinschaft
280
4. Koranschulen als Alternative zum islamischen Religionsunterricht?
5.
6.
287
Ziele eines islamischen Religionsunterrichts und religiöse Sozialisation
als Integrationsfaktor
296
Islamische Vereinigungen als Religionsgemeinschaften?
297
a. Begriffsbestimmung von „Religionsgemeinschaften“
b. Das Problem der verschiedenen islamischen Strömungen für die
Zusammenarbeit
aa. DITIB
bb. IGMG
cc. VIKZ
dd. ZMD
ee. AABF
ff. TDG
gg. ATIB
hh. IR
ii. IFB
c. Muslimische Gemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts?
298
299
300
300
301
302
303
303
304
304
304
308
7
7.
Inhalte eines islamischen Religionsunterrichtes und die Beachtung der
Werteordnung des Grundgesetztes
310
V. Der koedukative Sportunterricht
322
VI. Weitere Diskussionsthemen der Integration in kurzer Übersicht
328
1. Die Mohammed-Karikaturen
328
2. Die Beschneidungsdebatte
330
F. Zusammenfassung
332
Literaturverzeichnis
334
Anhang
372
8
In der vorliegenden Arbeit soll die in die Öffentlichkeit gerückte Frage erörtert werden, welches die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für ein multikulturelles Zusammenleben
in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Grundgesetz sind. Aus der wachsenden
Multikulturalität ergeben sich nicht nur Probleme der Akzeptanz religiöser und kultureller
Pluralität der Gesellschaft, es erwachsen auch erhebliche Herausforderungen für das Verfassungsrecht. Was aus diesem gesellschaftlichen Wandel für das (Religions-) Verfassungsrecht
unter dem Grundgesetz folgt, ist die Kernfrage dieser Arbeit. Dabei soll der sich aktuell vollziehende gesellschaftliche Wandel über essentielle Themen wie die (vermeintliche) Bedrohung durch den Islam, die Zuwanderung zu den Sozialsystemen, die Einwanderung und Verwurzelung und den Diskurs zur Terrorismusbekämpfung ebenso zu einer Diskussion anregen
wie ein etwaiger besonderer Minderheitenschutz, Flüchtlings- und Menschenrechtsschutz, die
Möglichkeit der Berufung auf „Leitkulturen“ und verschiedene andere aktuelle Integrationsthematiken. Dabei soll auch ein Ausblick auf Europa und die USA als völkerrechtliche Vergleichsgrößen erfolgen.
Die (europäische) Debatte ist dabei bestimmt vom Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit
des Bürgers und den (Sicherungs-) Interessen des Staates. Wie viel Einheit und Konsens müssen im Staat bestehen, um gemeinwohldienlich zu sein und wie viel Vielfalt muss auf der anderen Seite vorhanden sein, um die Freiheit des Einzelnen möglichst zu optimieren.
A. Zur Notwendigkeit eines neuen Integrationsmodells
Zunächst ist festzustellen, dass der Magnetismus der europäischen Integration in Zeiten ökonomischer Not zwei große Wanderungsbewegungen1 anlockt, nämlich die von Osten nach
Westen und die von Süden nach Norden. Diese Zuwanderung nach Europa stellt eine Herausforderung gleichermaßen an die Migranten dar wie an die sie aufnehmenden europäischen
Staaten. Wie reagiert das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland auf diese
Herausforderung unter Kenntnis der Tatsache, dass die Zuwanderer aus vormodernen Kulturen kommen, die keine Demokratieerfahrung haben? Liegt ein gutes Integrationskonzept für
die Einbindung der Ein- und Zuwanderer in die Demokratie der deutschen Gesellschaft vor?
Wenn man von der Integration der in einem Land lebenden Ausländer spricht, muss man
zwangsläufig auch auf das jeweilige politische System eingehen.2
Aktuell findet sich in diversen medialen Diskursen der Begriff der „Integration“ einigermaßen
inflationär, ohne jedoch einen konkreten Bezugsrahmen herstellen zu können.
Warum brauchen wir eine erfolgreiche Integration? Auf welchen Grundideen baut diese Vorstellung auf? Welche Nachteile erleidet das nicht integrierte Individuum? Brauchen wir darüber hinaus einen Minderheitenschutz? Wie weit sollte ein etwaiger Schutz überhaupt reichen?
Wie können unterschiedliche Gruppen innerhalb eines Staates zusammenleben? Und wie
kann ihre Koexistenz sinnvoll organisiert werden?
1
Zu Einwanderung und Integrationspfaden: Davy, ZAR 2004, 231.
Vgl. auch zu Menschenrechten im Islam: Interview von Regina Mönch mit dem Islamwissenschaftler Ralph
Ghadban, in: Das Parlament Nr. 32/33 vom 6. August 2007.
2
9
Diese Beispiele machen zunächst auf einen tatsächlichen gesellschaftlichen Wandel aufmerksam, der Ausdruck einer religiösen Pluralisierung ist. Offen bleibt dabei zunächst, wie die
rechtsnormative Rechtsordnung hierauf reagieren soll. Besonders brisante Probleme entstehen
dort, wo sich ethnisch-kulturelle Minderheiten, die auch noch die Unterscheidung zwischen
religiöser und politisch-weltlicher Sphäre (tendenziell) negieren, im Konfliktfall auf die
grundrechtliche Verbürgung der Religionsfreiheit berufen und meinen, angesichts derer, vermeintlicher, Vorbehaltlosigkeit einseitig ihre Interessen durchsetzen zu können. Die übergreifende Fragestellung geht dahin, ob und inwieweit die Religionsfreiheit von der Beachtung der
allgemeinen Rechtsordnung dispensiert.3 Sogar das Bundesverfassungsgericht, das durch eine
extensive Deutung des Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG ein Grundrecht der allgemeinen religiösen Handlungsfreiheit entwickelt hat, erkennt mitunter die verfassungsrechtlichen Risiken an,
die sich daraus ergeben können, wenn sich der Einzelne in einer pluralistischen Gesellschaft
weitgehend uneingeschränkt auf die Glaubens- und Religionsfreiheit berufen kann.4 Will das
Recht seine Ordnungs- Befriedungs- und Steuerungsfunktion nicht (dauerhaft) verlieren, muss
es den Wandel gesellschaftlicher Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen und entsprechend verarbeiten.
Im vorliegenden Zusammenhang stehen die Absage des Grundgesetzes an eine laizistische
Ordnung und der Grundsatz der staatlichen Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen nicht grundsätzlich zur Debatte. Die folgende Strukturanalyse zum
Grundrecht auf Religionsfreiheit nimmt die religiöse und weltanschauliche Pluralisierung der
Gesellschaft jedoch zum Anlass, um über ein juristisch exakteres und konsequentes Verständnis von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG nachzudenken. Dabei geht es aber keineswegs um den
Abbau effektiven Grundrechtsschutzes aus Anlass aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen.
Wenden wir uns zunächst dem eigentlichen Konflikt zu: Wir haben in Deutschland ein Integrationsproblem. Etwas als Problem zu qualifizieren setzt zugleich voraus, gleichermaßen nach
einer Lösung zu suchen und impliziert, dass ein Lösungsbedarf oder ein Mangel bzw. ein Zuviel an bestimmten Gütern, Handlungen oder sozialen Strukturen besteht, die sich störend
auswirken. Das Integrationsproblem verweist auf einen Mangel an „Integration“ und kann
daher zunächst offenlassen, wer oder was hierfür verantwortlich ist. Kausale Zurechnungen
auf bestimmte Gruppen müssen nicht vorgenommen werden. Nicht die Ausländer oder die
Deutschen sind das Problem, sondern ein Mangel an Integration beider.5
Der Ausgangspunkt dieser Überlegung beginnt zunächst mit den äußeren Gegebenheiten und
tatsächlichen Umständen. Migranten kommen nach Deutschland und erleben hier gewisse
kulturelle Traditionen und Verhaltensweisen, die mit den ihren z.T. erheblich differieren. Man
wird sagen können, dass oft Moderne und Tradition die beiden gegensätzlichen Pole sind, die
hier aufeinander treffen und besonders in den islamischen Ländern oder auch aus islamischer
Sicht zu massiven Konflikten führ(t)en. Die Türkei beispielsweise verbot zwar unter dem reformwilligen Mustafa Kemal Pascha (ab 1934 Kemal Atatürk genannt) bereits das Tragen von
Kopftüchern, um auf diese Weise die Überwindung des alten osmanischen Gesellschaftssys3
Vgl. dazu: Kaufmann, Integration oder Toleranz, Freiburg/München 2001.
BVerfGE 93, 1; am Beispiel des Konflikts zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit in der Schule;
zuvor bereits BVerfGE 41, 29.
5
Bayaz/Damolin/Ernst, Integration, Anpassung an die Deutschen?, Weinheim/Basel 1984, S. 80.
4
10
tems zu dokumentieren und die Anlehnung des Landes an den Westen symbolisch zu unterstreichen, allerdings steht gerade dieser, in dem Tragen des Kopftuches innewohnender Gedanke von Religion und der Wunsch nach einer kulturellen Identität, die sich deutlich von
anderen Kulturen unterscheidet, in den letzten Jahren im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses und führt zunehmend wieder dazu, dass bewusst auf das Kopftuch und andere traditionelle
Symbole und Lebensformen zurückgegriffen wird6 (was allgemein als ein Rückschritt aufgefasst wird). Die Form des kemalistischen Laizismus, der sich auf sechs Pfeilern gründete,7
hatte zuvor eine Reihe verschiedener Reformversuche als verordnete Staatsideologie angestrengt, um den Weg zur Moderne zu eröffnen, die letztlich jedoch scheiterten, da das Volk
diese nicht annahm, weil es zu großen Teilen mit der Beschneidung der islamischen Wurzeln
nicht einverstanden war.8
Gleichzeitig, gleichsam auf einer zweiten Ebene, löste die wirtschaftliche und damit auch im
Zusammenhang stehende kulturelle Dominanz der westlichen Industrieländer auf der anderen
Seite wiederholt den Vorwurf in den vergangenen Jahrzehnten aus, dass jene Länder einen
„Werte- und Kulturimperialismus“ verfolgen würden. Der Westen nehme keine Rücksicht auf
die Tradition und „Eigenheiten“ anderer Kulturen, heißt es etwa in China bis heute. Dort vertritt die kommunistische politische Führung des Landes, stehe nicht der Einzelne im Mittelpunkt, sondern das Wohl der Gemeinschaft. Insofern könne der Westen nicht verlangen, dass
China die „westlichen“, individuellen Menschenrechte anerkenne und garantiere, weil man
eben ein anderes Menschenrechtsbild besitze.
Auch oder gerade im Bereich der Menschenrechte bewirkt hier offenbar eine Art Kulturglobalisierungsprozess zwei gegensätzliche Dinge: zum einen ein zunehmendes Bekenntnis zur
Universalität der Menschenrechte, auf der anderen Seite jedoch auch eine ausdrücklich bewusste Rückbesinnung auf eigene spezifische, kulturimmanente Überzeugungen und Traditionen. Es treffen Tradition und Moderne aufeinander, deren unterschiedliche Auffassungen in
Einklang gebracht werden müssen, damit sie nicht zerstörerisch wirken können.
Dies führt zu zahlreichen (auch) verfassungsrechtlichen Fragen: (1) Welche kulturellen Handlungen werden noch vom Schutzbereich der Grundrechte, insbesondere der Religionsfreiheit,
umfasst? Welche, vielleicht nur vermeintlich kulturell verwurzelten, Handlungen verlangen
zum Schutze von Schwächeren eine Intervention des Staates? (2) Inwieweit ist eine deutsche
„Leitkultur“ im Hinblick auf universelle globale Freiheitsrechte haltbar? Oder impliziert ein
modernes Integrationskonzept eine weitreichende Toleranz? (3) Wie kann ein solches überhaupt aussehen? (4) Unter welchen verfassungsrechtlichen Bedingungen bestehen die größtmöglichen Freiräume des Einzelnen?
Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, herauszuarbeiten, unter welchen Voraussetzungen sich
6
Die politische und kulturelle Abschottung des Iran nach der schiitischen Revolution 1979 ist ebenso ein gutes
Beispiel für die Abwendung von der vermeintlichen „Westkultur“ und die Rückwendung zu traditionalistischen
Werten. Die religiösen Führer des Iran brachen drastisch mit der vom vorherigen Schah-Regime verfolgten, am
Westen orientierten Politik und führten traditionelle Verhaltensweisen wieder verbindlich ein. Auch die aktuelle
Stellung und Haltung des Iran zeigt, dass diese sich deutlich von der westlichen Welt distanzieren (wollen).
7
Vgl dazu, Barthel, Der Kemalismus und die moderne Türkei, Berlin 1979; Özcan, Der Kemalismus als Konzept des laizistischen Staates, in: Özcan, Zwischen Säkularität und Laizismus, Münster 2005, S. 61; Sahinter,
Kemalismus. Ursprung, Wirkung und Aktualtität, Hückelhoven 1997.
8
Detaillierte Darstellung über die Entwicklung bis heute bei Wochnik, Atatürks islamische Erben. Wer regiert
die Türkei? Marburg 2010.
11
der Staat nicht mehr neutral verhalten kann, um den Schutz der grundrechtlich gewährten
Freiheitsrechte möglichst optimal für alle Beteiligten zu gewährleisten. Außerdem ist darzustellen, auf welche äußeren Umstände Freiheitsrechte stoßen sollten, um eine Freiheitsmaximierung garantieren zu können. Auf diese Art und Weise kann so wiederum eine Gesellschaftsbasis aufgebaut werden, die jedem die gleiche Möglichkeit einer (kulturellen) Entfaltung bieten kann. Schließlich wird aus jenen Ergebnissen der verfassungsrechtliche Rahmen
für ein mögliches Integrationskonzept skizziert, das Freiheit umfassend garantieren könnte
und die Frage wird aufgeworfen, ob dennoch eine gleichzeitige Adaptierung gewisser kultureller Vorgaben des Aufnahmelandes möglich bzw. sinnvoll sein kann und wie so verschiedene Kulturen aufeinander zugehen können. Eine eingehende Betrachtung erfährt dabei durchgehend, vor allem aufgrund der jahrelang bestehenden Aktualität, die islamische Glaubenslehre, die auf ihre Vereinbarkeit mit grundgesetzlichen Werten untersucht wird.
I. Die Entwicklung der Zuwanderung in Deutschland und die gegenwärtige
gesellschafliche Akzeptanz
Zur kulturellen Pluralisierung der Bundesrepublik trug ganz entscheidend die Zuwanderung
von sieben Millionen Ausländern bei.9 Aufgrund der zahlreichen ausländischen Einwohner
mit Daueraufenthalt ist Deutschland ein Einwanderungsland. Es leben derzeit (nach Auswertung der Volkszählung von 2011) etwa 7 Millionen Ausländer hier, was einem Anteil von 8
%10 der Gesamtbevölkerung entspricht. Nach aktuellen Schätzungen wird aufgrund der im
Vergleich zur deutschen Bevölkerung höheren Geburtenrate mit einem Anstieg des ausländischen Bevölkerungsanteils auf 19 % im Jahr 2030 gerechnet.11 Der Anteil an Menschen mit
Migrationshintergrund beträgt zusätzlich dazu 18,9 %, ca. 15 Millionen Menschen.12
Der eine oder andere mag an diesen Zahlen angesichts der alltäglichen Lebenssituation (so
gibt es in einigen Teilen Deutschlands bereits Stadtviertel, in denen multikulturelles Leben
gänzlich dominiert, z.B. im Ruhrgebiet: der Anteil der Wohnbevölkerung beträgt dort in einigen Gebieten bis zu 80 %13) zweifeln und diese sogar weitaus höher einschätzen. Man bedenke schließlich noch die sich hier illegal aufhaltenden Zuwanderer, deren Zahl nach Schätzungen zwischen 500.000 bis über 1,5 Mio. liegt. Wenn man nun also die Zahl der Personen mit
Migrationshintergrund von rund 16,5 Mio. zugrunde legt und damit etwa 19 % der Bevölkerung, so erscheinen diese Zahlen in deutlich realerem Maße die hiesigen Verhältnisse widerzuspiegeln. Aufgrund von Zuwanderung, vor allem in Großstädten und Ballungsräumen, in
9
Zum Vergleich vor 15 Jahren: Obernhöfer, ZAR 1998, 3.
Der Bestand der ausländischen Wohnbevölkerung erhöhte sich bereits 1996 auf über 7,3 Mio. Personen (gegenüber 7.173.866 Personen in 1995). Der Anteil an der Gesamtbevölkerung war damit auf 8,9 % gestiegen.
Nach wie vor stammt jeweils über ein Viertel der Ausländer aus der Türkei (28,1 %) und aus EU-Staaten (25,3
%). Die Aufenthaltsdauer der ausländischen Wohnbevölkerung nimmt beständig zu. Mittlerweile leben zwei
Fünftel der Ausländer bereits länger als 15 Jahre in Deutschland. Während die Geburtenrate bei der deutschen
Bevölkerung weiter rückläufig ist, bleibt die Anzahl der Geburten ausländischer Kinder annähernd konstant;
Diese Zahlen sind laut Statistischem Bundesamt annähernd gleich geblieben, Langenfeld, AöR 123, 375.
11
Göbel-Zimmermann/Masuch, ZAR 1998, 250.
12
Zu den aktuellen Zahlen, vgl. Statistisches Bundesamt und AZR (Ausländerzentralregister), die den Zensus
von 2011 bereits berücksichtigt haben.
13
Langenfeld, AöR 123, 375.
10
12
denen der Anteil von Migranten über 30 % liegt, wächst die Vielfalt und Heterogenität der
Stadtgesellschaft.14 Seit Beginn der 1990er Jahre macht sich darüber zunehmend Skepsis
breit. Zum einen wurden Zweifel an der Integrationsfähigkeit und Integrationsbereitschaft
auch jüngerer, in Deutschland geborener Migranten der zweiten Generation und die Sorge
über die Ausbreitung von Parallelgesellschaften auf deutschem Boden laut, zum anderen bezogen Multikulturalisten Stellung gegen assimilatorische Reaktionen und feindliche Aktionen
gegen in Deutschland lebende Einwanderer und Flüchtlinge. So lässt sich daraus zunächst ein
eher düsteres Szenario konstatieren, das die strukturelle Integration der Einwanderer in Bildungssystem, Arbeitsmarkt und Berufswelt wie auch die Anpassung an hiesige Sprachgemeinschaft, Nachbarschaften und Verhaltensweisen gefährdet sieht. Vor allem eine Problemgruppe wurde ausgemacht, nämlich die „Türken“, die stellvertretend für sämtliche muslimische Migranten genannt werden. In diesem Zusammenhang sind drei Trends zu erkennen: 1.
die problematische berufliche Eingliederung der zweiten Einwanderungsgeneration und junger Aussiedler, 2. der Rückgang an interethnischen Sozial- und Nachbarschaftskontakten, und
damit 3. Tendenzen räumlicher Segregation in großstädtischen Ballungsräumen. 15 Diese zusammenhängenden Entwicklungen werden im späteren noch genauerer Betrachtung unterzogen. Zunächst dienen diese Feststellungen erst einmal der Realisierung der tatsächlichen aktuellen bundesdeutschen Situation.
Seit den Terroranschlägen vom 11.09.2001 ist zudem ein Wendepunkt in der Beziehung zwischen „Islam“ und „Westen“ zu konstatieren. Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren ein
asymmetrischer Konflikt zwischen den Staaten des Westens und Teilen der islamischen Welt
entwickelt, der durch den islamistisch motivierten Terrorismus einerseits und die Antiterrorkriege in Afghanistan und im Irak andererseits gekennzeichnet ist, nicht zu vergessen der israelisch-palästinensischen Konflikt und die atomare Gefahr durch den Iran. Nun leben aber im
Westen in großer Zahl muslimischer Zuwanderer, die sich eigentlich in interkulturelle Gesellschaften integrieren sollen.16 Dies erscheint aufgrund der angespannten Lage zunächst
schwierig, denn im Vergleich zu der Anwerbung der ersten „Gastarbeitergeneration“ in den
sechziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts hat sich bereits die Zusammensetzung der Zuwanderer deutlich verändert. Nach dem Anwerbestopp 1973 fand mit Familiennachzug und
Familiengründung eine Art Konsolidierung der ausländischen Bevölkerung und eine deutliche
Veränderung in den Altersklassen statt. Damit einhergehend ist der Anteil der Zuwanderer im
erwerbsfähigen Alter deutlich gesunken. Die Zahl der Zuwandernden hat sich demgegenüber
in den letzten Jahren auf ein Niveau von 800.000 pro Jahr eingependelt, aktuell jedoch wieder
mit steigender Tendenz.
Parallel zu dem Anwachsen der ethnischen Heterogenität, die im Zusammenhang mit der Zuwanderung immer neuer Bevölkerungsgruppen anzieht, sowie der Veränderung der Wanderungsursachen, nehmen auch sozio-ökonomische Ungleichheiten zwischen den Zuwanderungsgruppen sowie zwischen der zuwandernden und der deutschen Bevölkerung zu. Insgesamt ist der Anteil der Zuwanderer, die im Berufsleben stehen, deutlich gesunken, sicherlich
auch beeinflusst durch den ökonomischen Strukturwandel in den letzten zwei Jahrzehnten und
14
Schuleri-Hartje/Reimann, ZAR 2005, 164.
Leggewie, in: Bade, Migrationsreport 2000, Frankfurt am Main 2000, S. 89.
16
Detaillierte Forschungsergebnisse über öffentliche Diskurse um den Islam und ihre Auswirkungen auf das
Zusammenleben von Muslimen und Mehrheitsgesellschaft bei Halm/Liakova, ZAR 2006, 199.
15
13
weiter verstärkt durch die weltweite Wirtschaftskrise seit 2009. Die Arbeitslosigkeit von Ausländern liegt seit vielen Jahren doppelt so hoch wie die der deutschen Bevölkerung. Die dargestellte, vermeintliche Fremdokkupation ist häufig der Anstoß für rechtsradikale Gruppierungen, sich mit Demonstrationen und Kundgebungen an die Öffentlichkeit zu richten und
diese Verhältnisse anzuprangern, was wiederum Gegendemonstranten anlockt und nicht selten gipfelt ein solches Aufeinandertreffen in gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die fremdenfeindliche Abwehr neuer Migrationsbewegungen wird dazu verwendet, die eigene Identität zu bilden, ohne dem Anderen eine Mitgestaltungsmöglichkeit zuzuerkennen. Die Welt
wird simplerweise zwischen Gut und Böse aufgeteilt und die integrative Bedrohung lediglich
dem Anderen angelastet. Ein solches einfaches Unterscheidungskriterium stiftet Zugehörigkeit, ohne sich mit weitergehenden Begründungslasten und Argumentationsstrukturen abmühen zu müssen. Besonders die Deutschen haben nach einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage zu nichtchristlichen Religionen ein deutlich schlechteres Verhältnis als ihre europäischen Nachbarn. Über 70 % der Befragten in West- und Ostdeutschland halten die zunehmende Vielfalt von religiösen Gruppen in der Gesellschaft für eine Ursache von Konflikten,
in Ostdeutschland sehen sogar 50 % der Befragten die Bundesrepublik „durch fremde Kulturen bedroht.“17
Wie kann diesem Zustand möglichst gerecht und verfassungsgemäß abgeholfen werden?
II. Die Kollision zweier Welten? Der Islam18 und die Werteordnung19 des Grundgesetzes
Wenn eine Umfrage ergibt, dass 80 % der Deutschen den Islam als „fanatische und gewalttätige Religion“ sehen, dann beruht diese Erkenntnis nicht auf der Beschäftigung mit dessen
Inhalten und Lehrmeinungen, nicht auf Kenntnis von Koran und Sunna, nicht auf dem Studium von Geschichte und Kultur des Islam. Diese Umfrage spiegelt vielmehr Angst und Abneigung wider. Die stereotype Wahrnehmung der anderen Kultur gründet sich auf Assoziationen,
die im aktuellen Diskurs über den Islam vorgetragen werden, nicht mehr hinterfragt werden
und deshalb selbstverständliches Wissen sind.20
Um aber wirksam beurteilen zu können, wo die Unterschiede des Islams zur westlichen Welt
bestehen könnten, soll nun zuvörderst eine umfassende Untersuchung erfolgen, inwieweit die
Glaubensrichtung des Islams mit der Wertordnung des Grundgesetzes kollidiert und wie dem
entgegengetreten werden kann (und evtl. sogar muss).
Der Islam mit all seinen Ausprägungen und Glaubensrichtungen ist zunächst einmal eine der
17
Blanke, in: FS Stern, Berlin 2012, S. 1271.
Vgl. allgemein: Esposito, Vom Kopftuch bis Scharia, was man über den Islam wissen sollte, Leipzig 2006;
Khoury/Heine/Oebbecke, Handbuch Recht und Kultur des Islams in der deutschen Gesellschaft, Gütersloh 2000;
Ende/Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, München 1996; Antes, Der Islam als politischer Faktor, Hannover
1991; Hofmann, Der Islam als Alternative, München 2002.
19
Zur Werteordnung, vgl. Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, Baden-Baden 1973, S. 189; Denninger, JZ
1975, 545; in Verbindung mit dem Toleranzgedanken bei Schnapp, JZ 1985, 857; Hagemann/Khoury, Dürfen
Muslime auf Dauer in einem nicht-islamischen Land leben?, Würzburg-Altenberge 1997; Loschelder, in:
Marré/Stüting, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche Band 20, S. 82.
20
Benz, Die Feinde aus dem Morgenland, München 2012, S. 49.
18
14
großen Weltreligionen. In Deutschland leben mittlerweile etwa 4 Mio. Menschen muslimischen Glaubens bzw. mit Herkunft aus muslimisch geprägten Staaten.21 Die in Deutschland
lebenden Muslime kommen aus nahezu allen Teilen der islamischen Welt, weshalb der Islam
in Deutschland kein einheitliches Bild, sondern eine Vielzahl von islamischen Richtungen
spiegelt.22 Schon heute zeigt das Bild auf den Straßen nicht nur größerer Städte, dass Muslime
ein nicht mehr wegzudenkender Teil der deutschen Gesellschaft geworden sind. Da sowohl
die Arbeitsmigration als auch die Flucht vor politischer Verfolgung und Bürgerkriegen zunächst nur als zeitlich befristete Aufenthalte erschienen, haben sich Politik und Gesellschaft
lange gegen die Erkenntnis verschlossen23, dass die Zugewanderten und damit auch ihre Kultur und Religionen in Deutschland heimisch geworden sind, was durchaus einen beachtlichen
verfassungsrechtlichen Aspekt beinhaltet. So wird die Einbeziehung des Islams in das deutsche Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht oft als Prüfstein für unsere christlich
tradierte Rechtsordnung im Verhältnis zwischen dem Staat und den Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften angesehen.
Die Ereignisse des 11.09.2001 scheinen sich zusätzlich geradezu dramatisch auf das Zusammenleben von Muslimen und Mehrheitsgesellschaft auch in Deutschland ausgewirkt zu haben.24 Eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahr 2004 zeigte bereits, dass die deutsche Bevölkerung schon damals von einem beträchtlichen Konfliktpotential
des Islams ausging: 55 % der Befragten waren nämlich der Meinung, Islam und Christentum
seien zu verschieden25, weshalb es immer wieder zu neuen Konflikten kommen werde. Nur
29 % waren der Auffassung, beide Religionen könnten überhaupt nebeneinander existieren.26
Es lässt sich insoweit sogar empirisch feststellen, dass es keine Integrationskonflikte mit den
Menschen aus Italien, Spanien oder Portugal gibt. Die Menschen, die aus der Türkei, aus
Anatolien kamen sind zum Teil gut integriert, zum Teil nicht. Das hängt wohl damit zusammen, dass sie zwar günstige Arbeitskräfte waren, aber geringe Chancen hatten, sich in der
Modernität einer mitteleuropäischen Großstadtgesellschaft zurechtzufinden.27
Auf diese Weise erfährt die islamische Kultur eine immer ausgeprägtere Abwertung in der
deutschen Bevölkerung. Zugleich ist eine breite Zustimmung zu generalisierenden Aussagen
über den Zusammenhang von Islam und Terrorismus festzustellen sowie mehrheitlich eine
geringe Kompetenz zur Differenzierung islamischen Glaubensrichtungen.28 Steht der Islam zu
21
Vgl. dazu: www. deutsche-islam-konferenz.de/DIK/DE
Vgl. Lemmen, Muslime in Deutschland, Baden-Baden 2001, S. 42 ff.
23
So auch Rogall-Grothe, ZAR 2009, 50.
24
Halm/Liakova, ZAR 2006, 199; Steppat/Scheffler, Islam als Partner, Islamkundliche Aufsätze 1944-1996,
Beirut/Würzburg 2001; Schweizer, Islam und Abendland: Geschichte eines Dauerkonflikts, Stuttgart 2003; Zehetmair, Der Islam: im Spannungsfeld von Konflikt und Dialog, Würzburg 2005; Yousefi/Braun, Interkulturelles
Denken oder die Achse des Bösen: das Islambild im christlichen Abendland, Nordhausen 2005; Tibi, Die Islamische Herausforderung: Religion und Politik im Europa des 21. Jahrhunderts, Darmstadt 2007.
25
Studien dazu: Schiffer, Medien und Erziehung Nr. 2/2005, 43; Hoffmann, Islam in den Medien, Münster 2004;
Leibold/Kühnel/Heitmeyer, Aus Politik und Zeitgeschichte, 1-2/2006, 3; Halm/Sauer, WSI-Mitteilungen
10/2004, 547; Goldberg/Sauer, Perspektiven der Integration türkischstämmiger Migranten in NRW, Münster
2003; Hafez, Frankfurter Hefte 1/1991, 426.
26
Köcher, FAZ vom 15.12.2004; zu Islamphobie bei den Deutschen: Leibold/Kühnel/Heitmeyer, Aus Politik und
Zeitgeschichte 2006, 3.
27
Schäuble, ZAR 2006, 221.
28
Geißler/Pöttker, Medien und Migration im internationalen Vergleich, Bielefeld 2006; Zehetmair, Der Islam im
Spannungsfeld von Konflikt und Dialog, Wiesbaden 2005.
22
15
der durch das Grundgesetz vermittelten Werteordnung denn grundsätzlich im Widerspruch?
Diese Untersuchung ist deswegen nicht unproblematisch, da für jede Religion charakteristisch
ist, dass sie zwar in der Welt, aber nicht von dieser Welt ist, weshalb eine Inhaltskontrolle
einer Religion am Maßstab einer weltlich-staatlichen Ordnung durchaus schwierig erscheint.
Auch beispielsweise die Vereinbarkeit eines islamischen Religionsunterrichts mit dem
Grundgesetz wird oft aus ähnlichen Erwägungen in Zweifel gezogen. Aber was genau heißt
„Vereinbarkeit“? Die inhaltliche, kongruente Übereinstimmung der Religionsgemeinschaften
mit der weltlichen Verfassung kann keinesfalls gefordert werden. Keine Religionsgemeinschaft muss die säkularen Grundrechte der weltlichen Verfassung in ihr Glaubensgut rezipieren, denn den Religionsgemeinschaften wird gerade durch das Grundgesetz die Freiheit zur
eigenständigen Organisation und Betätigung nach ihren religiösen Grundprinzipien und Zielen zuerkannt. Die Offenbarungsreligionen führen ihre Stiftung und ihre tragenden Organisationsstrukturen nämlich auf göttliche (Rechts-) Grundlagen zurück. Aber die Einhaltung der
Verfassung und des verfassungsgemäßen staatlichen Rechts müsste dennoch verlangt werden
können.
Der Islam ist zunächst wie das Christentum29 und das Judentum eine monotheistische Weltreligion und entstand Anfang des siebten christlichen Jahrhunderts in Arabien. Der Islam ist
jedoch keine „Kirche“ im herkömmlichen Sinne, sondern eine Glaubensgemeinschaft, deren
geistliche Sphäre vollkommen anders aufgebaut ist als die katholische und auch die evangelische Kirche. Neben der religiösen Seite hat sich in den islamischen Ländern ein normatives
Welt- und Menschenbild herausgebildet, das den Alltag der Menschen, nicht nur der Gläubigen, maßgeblich bestimmt. Und dies gilt selbst für Gesellschaften, die sich für säkularisiert
betrachten. Sechs Argumente30 sind es in erster Linie, die herangezogen werden, wenn von
dem Widerspruch der Lehren des Islam zur Wertordnung des Grundgesetzes gesprochen
wird: die mangelnde Gleichberechtigung der Frau, das islamische Strafsystem, die fehlende
Glaubensfreiheit, das mangelnde Toleranzverständnis, der Vorrang des „Common Sense“ vor
Individualität und, als relativ junges Argument, fundamentalistische Strukturen.
Einer Studie des Bundesinnenministeriums aus dem Jahre 2007 zufolge lässt sich bei ca. 10 %
der in der Studie befragten Muslime eine ausgeprägte Distanz zu den Grundprinzipien von
Demokratie und Rechtsstaat erkennen. Sie formulieren aus einer moralischen Perspektive
heraus Kritik an demokratischen Strukturen, befürworten Todes- und Körperstrafen sowie ein
Primat der Religion vor Demokratie.31
Bevor eine Darstellung dieser verschiedenen Thematiken erfolgt, sei jedoch betont, dass es
„den Islam“ nicht gibt, sondern es vielmehr davon abhängt, ob man eine strikte Anwendung
der Scharia befolgt oder sich für eine kontextbezogene Auslegung entscheidet. Auch der
Rang, der der Scharia in den einzelnen islamischen Staaten eingeräumt wird, muss jeweils
unterschiedlich gesehen werden, so dass ein einseitiger Schluss in Bezug auf den Umgang mit
der jeweilig folgenden Thematik von vorneherein nicht möglich erscheint. Von „dem Islam“
zu reden ist also genauso sinnvoll oder unsinnig wie von „dem Christentum“ oder „dem Judentum“ zu sprechen. Der Islam hat wie alle Religionen im Laufe der Zeit vielfältige Ausprä29
Übersetzt heißt das soviel wie „Lesung“, dazu später noch genauer.
Auflistung von vier Argumenten bei Füssel/Nagel, EuGRZ 1985, 497.
31
Brettfeldt/Wetzels, Muslime in Deutschland, Berlin 2007, S. 173.
30
16
gungen erfahren und dieser Prozess ist in allen Religionen nicht abgeschlossen.32 Fortlaufend
entstehen neue Varianten und Strömungen innerhalb der verschiedenen Glaubensgemeinschaften. Deshalb ist es umso schwerer festzustellen, ob „der Islam“ generell mit den Menschenrechten vereinbar ist und insgesamt hoch umstritten. Einfacher erscheint es allerdings,
einzelne Gesichtspunkte zu überprüfen.
1. Mangelnde Gleichberechtigung33 in der islamischen Glaubenslehre
Nach dem Koran steht der Mann über den Frauen.34 Diese Ungleichbehandlung zwischen
Mann und Frau wird auch an den islamischen Heiratsvorschriften deutlich, nach denen zwar
der Mann eine Jüdin oder Christin heiraten darf35, eine muslimische Frau allerdings keinen
andersgläubigen Mann.36 Unterschiede bestehen zwischen Mann und Frau nach der koranischen Rechtsordnung auch bei der Ehescheidung37 sowie im Falle der Erbschaft.38
Allerdings gibt es eine Literaturansicht, die diese Feststellung negiert. Die Behauptung, dass
der Mann im Islam über der Frau stehe, stimme mit der islamischen Lehre nicht überein. Der
Grund dieses Vorurteils liege nicht zuletzt in der vielfach falsch übersetzten Sure 4, Vers 34.
Die richtige Übersetzung laute nicht: „Die Männer stehen über den Frauen“, sondern sie laute:
„Die Männer sind verantwortlich für die Frauen (verantwortlich für sämtliche Lebensbelange
der Frau: standesgemäßen Lebensunterhalt, Kleider, Wohnung, usw. Die Verantwortung wird
sodann begründet:). Gott habe die einen von ihnen den anderen gegenüber mit Vorzügen ausgestattet und deshalb müssten die Männer von ihrem Vermögen für die nafaqa (= Lebensbelange) der Frau aufkommen“. Auch wenn eine weit verbreitete Realität in den islamischen
Gesellschaften eine Minderwertigkeit der Frau zu bestätigen vermag, gebe es in den Lehren
des Islam dennoch keinen Wertunterschied zwischen Mann und Frau. Es wäre sonst unmöglich, dass die Frau als Richterin über Männer richten könnte.39 Überwiegend stehen die Frau-
32
Elliesie, Beiträge zum islamischen Recht VII, Frankfurt am Main 2010, S. 49.
Vgl. allgemein zu dem Thema: Tschador, Frauen im Islam, Bremen 1980; Laudowicz, Fatimas Töchter: Frauen im Islam, Köln 1992; Wörmann, Afghanische Frauen zwischen Islam und Sozialismus: gesellschaftliche
Realitäten von 1920 bis 2001, Marburg 2003; Klein-Hessling/Nökel/Werner, Der neue Islam der Frauen: weibliche Lebenspraxis in der globalisierten Moderne; Fallstudie aus Afrika, Asien und Europa, Bielefeld 1999; Mernissi, Die Sultanin: Die Macht der Frauen in der Welt des Islam, Frankfurt am Main 1991; Mernissi, Die Angst
vor der Moderne: Frauen und Männer zwischen Islam und Demokratie, Hamburg 1992; Rausch, Eine halbe
Emanzipation? Fundamentalismus und Geschlecht, Marburg 2007; Schirrmacher/Spuler-Stegemann, Frauen und
die Scharia: die Menschenrechte im Islam, Kreuzlingen 2004; Walther, Die Frau im Islam, Stuttgart 1980; Höll,
Die Stellung der Frau im zeitgenössischen Islam: dargestellt am Beispiel Marokkos, Frankfurt am Main 1979;
Minai, Schwestern unterm Halbmond: muslimische Frauen zwischen Tradition und Anpassung, Stuttgart 1984;
Göle, Republik und Schleier: Die muslimische Frau in der Moderne, Berlin 1995; Pinn/Wehner, EuroPhantasien:
die islamische Frau aus westlicher Sicht, Duisburg 1995; Künzler, Zum westlichen Frauenbild von Muslima,
Würzburg 1999; Ücüncü, Die Stellung der Frau in der Geschichte der Türkei, Frankfurt am Main 1984; Oebbecke, Die Stellung der Frau im islamischen Religionsunterricht, Münster 2006.
34
2. Sure, Vers 228/229; 4. Sure, Vers 35.
35
5. Sure, Vers 6.
36
60. Sure, Verse 10ff.
37
2. Sure, Verse 227ff.
38
4. Sure, Vers 12.
39
Nach der überwiegenden Auffassung der hanefitischen Gelehrten können nämlich Frauen bis auf die Strafsachen in jeder Gerichtssache zu Richtern ernannt werden, Cavdar, RdJB 1993, 265.
33
17
en nach islamischer Hierarchie prinzipiell dennoch an letzter Stelle.40 Der einzige Weg an
Achtung zu gewinnen liegt darin, so viele Kinder wie möglich, besonders Jungen, zu bekommen. In patriarchalischen Familien ist der Lebenslauf der Frauen vorbestimmt. Entscheidungen, die die Frau betreffen, werden zunächst vom Vater, nach der Heirat vom Ehemann getroffen. Auch heute noch können Frauen bei der Wahl des Ehemannes nicht frei entscheiden.
Die soziale Stellung der Frau in der Familie und im Dorf wird von der grenzenlosen Treue
zum Familienoberhaupt und zum Ehemann bestimmt. Die Frau hat außerdem dafür zu sorgen,
dass der Mann befriedigt wird, sie hat ihm Kinder zu gebären und den Haushalt zu führen.
Von Liebe ist nicht die Rede. Die Frau ist Sexualpartnerin. Ein sozialer Aufstieg gelingt ihr
nur, wenn sie selbst Mutter eines Sohnes wird. Der höchste Status, den eine Frau in der türkisch-muslimischen Familie erreichen kann, ist jener der Kaynana, der Schwiegermutter. Erst
dann darf sie selbst entscheiden, dem Sohn die Braut aussuchen, über das Leben der Schwiegertochter bestimmen und ihr Befehle erteilen. Bis dahin bleibt sie die Fremde, die kein Recht
auf Liebe ihres Ehemannes hat und auch nicht auf die der eigenen Kinder. Nach muslimischer
Tradition gehören die Kinder dem Mann oder seiner Familie. Ein gemeinsames Sorgerecht
gibt es nicht.41 Demgegenüber sind die Konsequenzen dieser Form des islamischen Fundamentalismus für das Leben der Frauen dennoch zwiespältig: während unter seinem Einfluss
einerseits eine Rückkehr zu traditionellen Formen der Geschlechtertrennung und die Verdrängung der Frauen aus bestimmten öffentlichen Ämtern (z.B. den Richterämtern im Iran) zu
beobachten ist (dem Cavdar widerspricht), lässt sich feststellen, dass andererseits unter dem
Schutz der von den Fundamentalisten für Frauen gebilligten Verhaltensweisen und Institutionen nunmehr verstärkt Frauen aus traditionsgebundenen Kreisen in bisher für Männer vorbehaltene Bereiche vordringen.42
In vormodernen Kulturen gehört es im allgemeinen zu den entsprechenden Sitten und Bräuchen, dass ein Mann Vormund der weiblichen Angehörigen seiner Familie ist, den Frauen
wird mithin ihre Subjektivität abgesprochen. Können nun in einer multikulturellen Gesellschaft die Frauen der Migranten aus diesen Kulturen ähnliche Menschenrechte wie die Männer beanspruchen? Ein Beispiel aus Ägypten43: Es geht um den Mord an einer Mutter und
ihrem Baby. Die Tat wurde nicht durch fremde Mörder, sondern kollektiv durch alle drei
Brüder jener Frau begangen. Die vierzigjährige Frau war schon lange geschieden, lebte also
nicht in ehelichen Verhältnissen und war dennoch schwanger. Die Polizei fand die Leiche des
Babys angebunden an die Leiche der Mutter, auf dem Nil schwimmend. Die Brüder, davon
zwei Polizeibeamte, gestanden. Sie haben solange mit Gewalt auf ihren Bauch gedrückt, bis
das Baby tot heraustrat. Daraufhin haben sie sie erdrosselt, beide Leichen aneinander gebunden und in den Nil geworfen. Nach islamischen Sitten ist eine schwangere unverheiratete Frau
eine Schande, die nur durch das Auslöschen der Trägerin, d.h. durch deren Tötung, sei es nun
Mutter, Schwester, Tochter oder die eigene Ehefrau, reingewaschen werden kann.
Wie weit kann in unserem Zeitalter der Migration und der sog. Multikulturalität die Toleranz
gegenüber anderen Kulturen in solch einem Fall gehen? Kann man, konkret gesprochen, einen
40
Details bei Özkara, Türkische Migranten in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 1990, S.
111.
41
Kelek, ZAR 2006, 232.
42
Brockhaus, Stichwort: Islam, München 1999, Band 10, S. 662.
43
Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994, S. 179.
18
Mord als eine Tötung „aus edlen Motiven“ anerkennen, nur weil diese Tat den (überkommenden) Sitten und Bräuchen entspricht?
Die Verteidigung der Reinheit der Sexualität der weiblichen Familienangehörigen, auch durch
Tötung, gilt aus streng islamischer Sicht als edles Motiv. Was soll an dieser Tötung „edel“
sein? Die drei Täter haben die Tat gleich nach der Verhaftung mit Stolz gestanden. Die Tötung ist eine Frontstellung gegen die Menschenrechte, die man nicht unter dem Rückgriff auf
Multikulturalität respektieren kann und darf. Die getötete Frau war vierzig Jahre alt, also eine
selbständige und erwachsene Frau, die nach europäischen Maßstäben der kulturellen Moderne
als ein Individuum allein für sich selbst verantwortlich war. Wo liegen die Grenzen der Toleranz gegenüber vormodernen Kulturen? Müssten nicht Menschenrechte die Grenze sein? Die
Ablehnung der vormodernen Sitten der „Tötung aus edlen Motiven“ ist weder Rassismus
noch Eurozentrismus, sondern Humanität. Außerdem bilden Muslime keine „Rasse“ (dies ist
ein ideologischer Begriff, der biologische Vorstellungen auf Menschengruppen anwendet)44;
die Kritik an ihren Ansichten kann also kein Rassismus sein. Dennoch gilt es bei den
Kulturrelativisten nicht selten als Rassismus, wenn z.B. das Recht auf Meinungsfreiheit höher
gewichtet wird als das Recht auf eigene Sitten und Bräuche der Migrantenkultur. Mit der Instrumentalisierung des „Rassismus-Vorwurfs“ aber erhalten Migranten gleichsam einen Freibrief, der ihnen alles ermöglicht. Schließlich ist dann jede Kritik an ihnen nichts anderes als
„Rassismus“. Für Kulturrelativisten dürfen in einer multikulturellen Gesellschaft Werte und
Normen keinen absoluten Charakter haben, auch nicht die Menschenrechte. Diese Form von
vermeintlicher Toleranz kann letztlich gefährlicher sein als irgendeine Form des religiösen
Fundamentalismus.
Bei diesem Beispiel darf jedoch gleichzeitig auch nicht übersehen werden, dass es in der Geschichte der Unterdrückung der Frauen auch ein europäisches Kapitel gegeben hat. Denn in
Europa waren Frauen den Männern ebenfalls nicht gleichberechtigt, bevor die säkulare Idee
der Menschenrechte auch die Gleichstellung der Geschlechter mit sich brachte.
Man erkennt hieran bereits, dass dieses Thema sich als überaus komplex darstellt und selbst
innerhalb der diversen islamischen Rechtsschulen einigermaßen umstritten ist; Und so ist es
dem weltanschaulich-religiös neutralen Staat verwehrt, aus eigener Kompetenz einer bestimmten, womöglich einer die Religionsgemeinschaft betreffenden, negativen Deutungsmöglichkeit zu folgen.45 Dennoch besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass das bisherig vorherrschende traditionell-islamische Verständnis der Frauenrolle (noch) nicht den Anforderungen eines liberalen Freiheitsverständnisses entspricht, also Menschenrechte dabei massiv
missachtet werden.
44
Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994, S. 141.
Vgl. insoweit die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit; Art. 5 Abs. 1
S. 1 GG ist danach schon dann verletzt, wenn einer mehrdeutigen Äußerung staatlicherseits die für den Grundrechtsträger belastende Deutung gegeben wird, ohne zuvor andere mögliche Deutungen mit überzeugenden
Gründen ausgeschlossen zu haben.
45
19
2. Das islamische Strafsystem unter kritischer Betrachtung
Auch das islamische Strafsystem sieht sich vielfach der Kritik46 ausgesetzt.
Der Koran enthält für einige Delikte genaue, körperlich züchtigende Strafen. So ist etwa für
Diebstahl das Abhacken der Hände47 oder für Unzucht von Unverheirateten sind Peitschenhiebe48 festgesetzt. Ebenso sind Strafen für Ehebrecher, für den Genuss von Alkohol vorgesehen, für Gewalttäter etwa die Todesstrafe.49 Blutrache ist ebenfalls nicht völlig ausgeschlossen.50 Für Apostaten ist nach erwiesener Schuld die Enthauptung mit dem Schwert vorgesehen.51
Die Tat eines Menschen gegen einen anderen wird demgemäß nach dem Strafmaß: „Gleiches
um Gleiches“ gesühnt, d.h. nach dem Koran konkret: „ Leben um Leben, Auge um Auge,
Nase um Nase, Ohr um Ohr“ (Koran 5/45).52 Dieses Strafrecht gilt für Mord oder Körperverletzung als eine in der weltlichen Sphäre liegende Handlung. Dennoch wird zusätzlich auch
die Scharia, die Richtschnur für alle Lebensbereiche eines gläubigen Muslims, als Rechtsgrundlage herangezogen. Sie sieht grausame, mitunter drakonische Strafen vor. Auf Ehebruch
steht traditionell der Tod, wobei grundsätzlich an Mann und Frau die gleiche Strafe vollzogen
werden soll. Da die Tat durch vier männliche Augenzeugen belegt oder durch ein Geständnis
bestätigt werden muss, werden Männer von Scharia-Gerichten bei Ehebruch, Unzucht oder
Vergewaltigung jedoch nicht selten mangels Beweisen freigesprochen, während ehebrecherische Frauen, vor allem im Iran und in Teilen Nigerias, zum Tode verurteilt werden. Auf der
anderen Seite müssen Frauen in Nigeria oder Pakistan, die eine Vergewaltigung zur Anzeige
bringen, damit rechnen, massiv bedroht und selbst ins Gefängnis gesteckt oder ausgepeitscht
zu werden, wenn der Beschuldigte die Tat abstreitet oder keine vier männlichen Zeugen zugunsten der Frau aussagen.53 Auch hier wird deutlich, dass hier durchaus große Menschenrechtsproblematiken bestehen, die bei einer Anerkennung von Menschenrechten gar nicht zu
diskutieren wären, da körperlichen Züchtigungen dann grundsätzlich verboten wären und gar
nicht als Strafe in Betracht kämen, vgl. Art. 2 Abs. 2 GG, Art. 2 und 3 GRC.
Auch bei diesem Beispiel darf wiederum nicht übersehen werden, dass es auch hier ein europäisches Kapitel gab und vor allem im Mittelalter Körperstrafen rigoros zur Anwendung kamen, dieses Problem der unverhältnismäßigen Strafen also kein ausschließlich islamisches ist.
Allerdings hat es in Europa moderne Entwicklungen gegeben, durch die die Vernunft erwachsen ist, dass Körperstrafen in modernen Staaten keinen Platz mehr haben können. Fraglich ist,
ob eine solche Entwicklung generell auch in den streng islamischen Staaten möglich sein
wird. Dies hinge sicherlich von Reformbewegungen ab, die sich aktuell noch nicht ausrei46
Vgl. Müller, Islam und Menschenrechte, Sunnitische Muslime zwischen Islamismus, Säkularismus und Moderne, Hamburg 1996; Petersohn, Islamisches Menschenrechtsverständnis unter Berücksichtigung der Vorbehalte muslimischer Staaten zu den UN-Menschenrechtsverträgen, Bonn 1999.
47
5. Sure, Vers 39.
48
24. Sure, Verse 3 und 4.
49
5. Sure, Vers 33.
50
2. Sure, Vers 178.
51
Knüppel, Religionsfreiheit und Apostasie in islamisch geprägten Staaten, Frankfurt am Main 2010, S. 212.
52
Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994, S. 66.
53
Aus: Informationen zur politischen Bildung, Nr. 297/2007.
20
chend stark abzeichnen. Allerdings kann von der deutschen und europäischen Behandlung
solcher Probleme eine große Signalwirkung ausgehen, die nicht unterschätzt werden sollte.
Wichtig ist dabei, dass konsequent deutlich gemacht wird, dass in modernen Staaten solche
Körperstrafen nicht akzeptiert werden können, weil das Individuum einen größeren Wert hat
als etwaige Ehrbegriffe oder archaische Ansichten.
3. Fehlende Religionsfreiheit in der islamischen Glaubenslehre
Des Weiteren unterscheidet der Islam zwischen Gottesrecht und Menschenrecht. So ist zum
Beispiel der Glaube Gottesrecht und kein menschlicher Akt; vom Standpunkt des Menschen
ist der Glaube eine Pflicht gegenüber Gott. Aus diesem Grunde kennt kein islamisches Land
eine Religionsfreiheit wie wir sie kennen. Sie ist, wenn überhaupt, nur ansatzweise ausgestaltet und diese Ansätze sind durch die aktuelle Entwicklung in der islamischen Staatenwelt und
deren Fundamentalisierung in Frage gestellt.54
Der Islam ist Religion und (weltumspannender) Staat. Dieser ganzheitliche Anspruch ist letztlich Folge der Scharia-Konzeption. Der Staat ist nach diesem Verständnis Träger einer religiösen Idee und damit selbst religiöse Institution. Ihm obliegen sowohl gewöhnliche, staatliche
Aufgaben als auch die Sorge für die Gottesverehrung, religiöse Unterweisung und Glaubensverbreitung. Damit wird die Errichtung einer politischen Organisation und religiösgesellschaftlichen Ordnung gefordert. Als besonderes Kennzeichen dieser Ordnung wird die
gleichsam untrennbare Verbindung moralischer ethischer Werte mit politisch-öffentlichen
Zielsetzungen benannt. Der Staatszweck legitimiert sich hauptsächlich darin, für die Anwendung und Durchsetzung der Scharia zu sorgen. Die Religion wird dadurch zu einem vorrangigen staatsbildenden Prinzip, zu einer Art „vierten Gewalt“, die alle anderen im Zweifel übertrifft.55 Die in dem Begriff des Staatskirchenrechts abgelagerte Fundamentalentscheidung der
Unterscheidung zwischen Weltlichem und Religiösem steht für pluralistische Gesellschaften
hingegen nicht zur Disposition56, sondern ist in der Bundesrepublik mit der grundgesetzlichen
Regelung des Verhältnisses von Staat und Religionen auch verfassungsrechtlich vorgegeben.
Das Staatskirchenrecht kann sie nicht aufgeben, ohne sich selbst zu verleugnen und einen für
den abendländischen Kulturkreis wesentlichen Entwicklungsschritt zurückzunehmen.57 Auch
die christliche Prägung der Unterscheidung stellt sie im Umfang mit anderen Religionen
rechtlich nicht zur Disposition. Im Umgang mit anderen Religionen, die die Unterscheidung
eines weltlichen und eines religiösen Bereichs nicht kennen, geht die religiöse Neutralität des
Grundgesetzes nicht so weit, gegenüber diesen Religionen auf diese Unterscheidung zu verzichten. Insoweit kann der Staat seine der christlichen Tradition entstammende Prägung nicht
verleugnen. Er kann zur Kenntnis nehmen, dass anderen Religionen diese Unterscheidung
fremd ist, er darf diesen Religionen aber kein anderes Selbstverständnis aufdrängen oder gar
befehlen, er muss ihnen unabhängig von ihrem Selbstverständnis als weltlich in dieser Differenz begegnen.
54
von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, München 2006, S. 84ff.
Uslucan, ZAR 2006, 237.
56
Krämer, Islam, Menschenrechte und Demokratie, Ladenburg 2003.
57
Poscher, der Staat, 2000, 49.
55
21
Wer den Islam einmal als Glauben angenommen hat, hat zudem kein Recht, den Glauben je
wieder abzulegen, denn der Muslim, der vom Glauben abfällt, verstößt gegen Gottesrecht.58
Nach der islamischen Rechtsordnung soll derjenige, der die Glaubensgemeinschaft verlässt,
bestraft werden, wobei die Todesstrafe nicht ausgeschlossen ist.59
Eine nach den islamistischen Vorstellungen verfasste Gesellschaftsordnung, in der Wahlmöglichkeiten, wie freie Entfaltung, verhindert werden, steht einer selbstbestimmten und mündigen Persönlichkeitsentwicklung von Menschen im Wege. Für das westliche Verfassungskonzept problematisch ist auch der Status des Individuums innerhalb der islamischen Weltanschauung. Das islamische Verständnis von Individuum und Gesellschaft ist theonom ausgerichtet, also von der Unterwerfung des Menschen unter Gottes Willen gekennzeichnet. Innerhalb der islamischen Weltanschauung steht die „Umma“ (die islamische Glaubensgemeinschaft) vor dem Individuum. Der Mensch wird als „Kul“ (Diener) definiert, der unbedingten
Gehorsam gegenüber Gott oder deren Vertretern (den Führern der Gläubigen) schuldig ist.
Die Anerkennung und Wertschätzung der Person wird innerhalb der „Umma“ allein an der
Einhaltung und Befolgung der religiösen Vorschriften gemessen. Der moderne Verfassungsstaat dagegen geht von der freien Selbstbestimmung des Individuums aus.
4. Fehlende Toleranz in der islamischen Glaubenslehre
Schließlich kenne, so wird erklärt, der Islam nicht eine religiöse Toleranz dergestalt, dass
auch andere Religionen gleichberechtigt neben dem Islam überhaupt eine Form von Anerkennung erfahren.
Geltungsgrund ist allein der Wille Gottes, ausgedrückt in seinen durch den Propheten vollzogenen Verkündungen an die Menschen.60 Die wesentliche Konstante der Scharia61 ist ihr Anspruch und der Anspruch ihrer Vertreter darauf, dass sie als islamische Rechtsordnung dazu
bestimmt und in der Lage sei, alle Bereiche menschlichen, d.h. muslimischen Handelns zu
regeln. Ein solcher Anspruch impliziert folgerichtig die Auffassung, dass es neben der Scharia
keine andere verbindliche Rechtsordnung geben dürfe.62 Der Islam ist eine monotheistische
Religion, die nur zwei andere Monotheismen anerkennt, nämlich Judentum und Christentum,
jedoch keine anderen religiösen Gemeinschaften. Dies geschieht auch nicht aus der Akzep58
Vgl. den Ausspruch des Propheten: „ Wer seine Religion wechselt, den tötet.“
Kritisch dazu Ellisie, Beiträge zum islamischen Recht VII, Frankfurt am Main 2010, S. 92, wo festgestellt
wird, dass die Todesstrafe für Apostasie keine koranische Grundlage hat, allerdings auf Prophetenüberlieferungen beruht.
60
Klingmüller, in: Fikentscher, Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, Freiburg 1980, S. 376.
61
Die Entwicklung der Scharia zum einzig anerkannten Normenkomplex menschlichen Lebens und Handelns im
Islam kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Kurz angemerkt sei nur, dass zu Lebzeiten des Propheten
Muhammad es keine Scharia gab, allgemeine Regelungen stellte der Koran bereit und diese wurden durch das
Verhalten Muhammads ergänzt. Da der Koran kein Gesetzbuch ist und Muhammad kein Gesetzgeber, herrschte
in den ersten Jahrzehnten nach dem Tode des Propheten Rechtsunsicherheit. Es fehlte zum einen an eindeutigen
Anweisungen des Korans, andererseits an der Autorität des Propheten. Auch die Nachfolger, die Kalifen, wurden
nicht gesetzgeberisch tätig. Schließlich wurden Überlieferungen Muhammads als Basis für Rechtsentscheidungen zugrunde gelegt. Vielfach wurden prophetische Traditionen konstruiert. Die Ausgestaltung war nun in den
Händen von Privatleuten oder jedenfalls nicht das Ergebnis gesetzgeberischer Tätigkeit. Noth, in: Fikentscher,
Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, Freiburg 1980, S. 417.
62
Noth, in: Fikentscher, Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, Freiburg 1980, S. 417.
59
22
tanz der Religionsfreiheit heraus, sondern deshalb, weil Christen und Juden als Buchreligionen Vorläufer und sozusagen „Verwandte“ der Muslime sind.63
Gleichwohl wird den nicht-islamischen Monotheisten der Status der Minderheit zugewiesen
und ihnen damit die Gleichberechtigung verwehrt, sie werden praktisch zu Menschen zweiter
Klasse gemacht. Die antidemokratische Haltung und insbesondere der ausgeprägte Antisemitismus der vorwiegend islamistischen Organisationen verstoßen gegen die Grundsätze der
Verfassung und gegen das friedliche Zusammenleben der Völker, da sie feindliche Einstellungen gegenüber bestimmten Völkern und Gemeinschaften verbreiten und z. T. sogar zu
ihrer Bekämpfung animieren. Eine Indoktrinierung, die Hetze und Hass gegenüber bestimmten Gruppen oder Andersdenkenden betreibt, kann nicht im Einklang mit einer an Mündigkeit
und Freiheit orientierten Verfassung stehen. Kein vernunftbegabter Mensch würde die Menschenrechte pauschal als „Werk Satans“ zurückweisen, allein weil sie europäischen Ursprungs
sind.64
Auf der anderen darf im geschichtlichen Zusammenhang nicht völlig unerwähnt bleiben, dass
es christlicherseits auch deutlich intolerante Tendenzen gab, deren Höhepunkt die sog. Kreuzzüge darstellten, wobei vor allem die christliche Befreiung Jerusalems besonders blutig endete. Der Hintergrund war jedoch weniger religiöser Natur, sondern eher herrschaftsbedingt. Die
Araber hatten sich innerhalb eines Jahrhunderts von Spanien bis Indien ausgebreitet und die
jährlichen Expeditionen galten als religiöse Pflicht im Kampf gegen die Ungläubigen. Die
Christen in den islamisch besetzten Ländern waren zahlreichen Einschränkungen unterworfen, wurden von den Moslems nicht respektiert und galten als Bürger zweiter Klasse. Aus
diesem Grund gab es auch schnell Übertritte zum Islam, um die eigenen sozialen Lebensbedingungen zu verbessern. Die christlichen Kreuzzüge zur Befreiung waren daher auch wirtschaftlich motiviert.65 Der moderne Toleranzkonflikt ist aufgrund des ausschließlich religiösen Hintergrundes daher keine, zumindest unmittelbare, Folge von Kreuzzug-Unrecht an
Muslimen.
5. Vorrang des „Common Sense“ vor Autonomie und Individualität in der islamischen
Glaubenslehre
Beim Aufeinandertreffen von Religion und säkularem Recht kommt es angesichts des dahinter stehenden und teilweise gegenläufigen Selbst- bzw. Weltverständnisses sowie verschiedener Sinnkonzepte nahezu unausweichlich zu Spannungen. In den orientalischen Ländern gibt
es eine jahrhundertelange Tradition personaler Herrschaft, die orientalische Despotie, was
bedeutet, dass sich die jeweiligen Machthaber keinerlei institutionelle Machtbeschränkungen
auferlegen lassen. Weder gibt es im Orient eine Rechtskultur, noch eine institutionelle Kontrolle über die Herrscher, noch eine Trennung von Zivilgesellschaft und staatlicher Gewalt.
63
von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, München 2006, S. 84.
Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994, S. 34.
65
Vgl. z.B. Thorau, Die Kreuzzüge, München 2012; Riley-Smith, Wozu heilige Kriege? Anlässe und Motive der
Kreuzzüge, Berlin 2003; kritisch zur stereotypisierten Verzerrung der Kreuzzüge, vgl. Stark, Gottes Krieger- Die
Kreuzzüge in neuer Sicht, Berlin 2013.
64
23
Staat und Gesellschaft sind eins, es gibt keine Freiheitsräume. Die Herrscher dieser Despotien
berufen sich entweder auf panarabische Legitimation (z.B. Syrien, Irak und Libyen) oder auf
den Islam (z.B. Marokko, Saudi-Arabien). Anders als in westlichen Gesellschaften und legitimiert durch den Islam, hat die Gemeinschaftlichkeit im türkisch-muslimischen „Common
Sense“ Vorrang vor der Autonomie und Individualität des Einzelnen.66 Statt Gewährleistung
individueller Freiheit und Gleichheit erfolgt die vollständige Einbindung der Muslime in die
islamische Kommunität, die als religiöse und politische Einheit begriffen wird. Dies steht im
Widerspruch zu der individuellen Konzeption des Grundgesetzes. Menschenrechte nach westlichem Verständnis kennt der Islam (bislang) nicht. Dies war jedoch nicht immer so. Es hat
bereits im 9. Jahrhundert Vorstöße gegeben, die sich an der europäischen Philosophie des
Aristotelismus orientierten, sozusagen eine arabisch islamische Rezeption des Aristotelismus.
Unter dem Einfluss dieser Philosophie fing man in der islamischen Welt damals an, die
Wahrheit der Vernunft als die höchste zu beachten und die religiöse Offenbarung der Kontrolle der Vernunft unterziehen zu wollen. Die islamischen Gelehrten reagierten jedoch ablehnend. So wurde verhindert, dass die Philosophie die breite Masse der Muslime je erreichen
konnte. Größtenteils blieb dies nur der intellektuellen Schicht vorbehalten. Der Aristotelismus
und die Philosophie spielten in der Geschichte des Islams insofern eine Rolle, als die Rezeption dieses Denkens manchmal zu einem Zeichen des Unglaubens erklärt wurde und sogar zu
Verfolgung führte.67
6. Fundamentalistische Strukturen68 in der islamischen Glaubenslehre
Einzugehen ist in diesem thematischen Zusammenhang insgesamt schließlich auch auf das
Phänomen des islamischen Fundamentalismus.69 Wir leben heute in einem Zeitalter des Fun66
Kelek, ZAR 2006, 65; Tezcan, Religiöse Strategien der „machbaren“ Gesellschaft: verwaltete Religion und
islamische Utopie in der Türkei, Bielefeld 2003.
67
Krause/Müller, Theologische Realenzypklopädie, Berlin 1981, Band 3, S. 782 ff; Band 16, S. 315 ff.; Gara,
Die Rezeption der Philosophie des Aristotelismus im Islam, Heidelberg 2003, S. 146 ff.
68
Vgl. allgemein zur Thematik: Kienzler, Der religiöse Fundamentalismus: Christentum, Judentum, Islam, München 2007; Pflüger, Ein neuer Weltkrieg?: die islamistische Herausforderung des Westens, München 2004; Hufen, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1992, 455; Nirumand, Im Namen Allahs. Islamische Gruppen und der
Fundamentalismus in der Bundesrepublik Deutschland, Dreisam 1990.
69
Die fundamentalistischen Gruppierungen, die die Welle der „Re-Islamisierung“ tragen, sind durch gemeinsame Hauptmerkmale ihrer Lehre verbunden. So insistieren sie auf einem wörtlichen Verständnis von Koran und
Hadith und auf der Anwendung der Scharia, wobei für sie die Anwendung der koranischen Kapitalstrafen und
die Einrichtung eines aus dem koranischen Wucherverbot begründeten zinslos arbeitenden Bankwesens einen
besonderen Symbolwert haben. Sie vertreten den Grundsatz, der Islam sei Religion und Staat, und bezeichnen
häufig den Koran als Verfassung des von ihnen erstrebten Gemeinwesens, obgleich dieser keine einzige Verfassungsnorm im modernen Sinne enthält. Sie verfechten ein integralistisches Religionsverständnis, demzufolge ist
der Islam ein vollkommenes System, das sämtliche Belange menschlichen Lebens erschöpfend und bestmöglich
regelt. Ihr Geschichtsbild ist durch eine rückwärtsgewandte Utopie gekennzeichnet: Sie erstreben die Wiederherstellung des verklärten Ur-Islam der Zeit des Propheten und seiner Gefährten. Einig sind sie sich in der Ablehnung wirklicher oder vermeintlicher Einflussnahme der Staaten Europas und Nordamerikas auf innere Angelegenheiten der islamischen Welt sowie in der Zurückweisung der geistigen Grundlagen und der Lebensformen
der westlichen Zivilisation, obgleich sie die selektive Aneignung praktisch nützlicher Errungenschaften abendländischer Wissenschaft und Technik billigen. Hinter dem religiös begründeten System verbergen sich häufig u.
a. auch faschistische Elemente politischer Ideologie und ein totalitärer Machtanspruch, vielfach verbunden mit
Terrormethoden der Durchsetzung. Die Ursachen der gegenwärtigen Welle des islamischen Fundamentalismus
sind außerordentlich komplex. Zum einen sind viele Muslime durch den von der kolonialen Expansion Europas
24
damentalismus70, das keinen kulturellen Konsens mehr kennt.71
Zwingt denn nun die Existenz fundamentalistischer Gruppierungen dazu, grundsätzlich allen
in Deutschland lebenden islamischen Gruppen unter dem Aspekt fehlender Verfassungstreue
beispielsweise die Anerkennung als Religionsgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes zu
versagen? Es rücken Bilder des Islams in den Vordergrund, die mit zahlreichen gewalttätigen
Aktionen die Öffentlichkeit schockierten, wie z.B. die Anschläge in Ägypten, Afghanistan,
Türkei und auch in London. Misstrauen und Fremdenfeindlichkeit bekam neuen Nährboden.72
Tatsächlich haben sich auch in Deutschland mehrere islamische Gruppen gebildet, die im
Sinne islamistisch-fundamentalistischer Überzeugung agieren.73 Zu verstehen ist darunter in
erster Linie der Versuch, eine nach dem Vorbild der islamischen Urgemeinde eingerichtete
Gesellschaftsordnung zu statuieren. Nach dem Versagen der sozialistisch-kommunistischen
Ordnungen und dem von den Islamisten propagierten bevorstehenden Versagen der demokratischen Staatsordnungen soll diese islamische Ordnung als das einzig richtige Modell eingeführt werden. Dieses Streben nach Begründung einer theokratischen Herrschaftsordnung verstößt aber gegen die grundgesetzliche Ordnung. Es scheint einen verfassungsrechtlichen Ordnungsrahmen in Frage zu stellen, der die Grundlage der auch die Muslime schützenden Religionsfreiheit bildet. Islamistisch-fundamentale Gruppen könnten daher als verfassungsfeindlich eingestuft werden. Insoweit wäre ihnen auch eine Berufung auf die Religionsfreiheit
verwehrt. Das Streben nach Verwirklichung eines theokratischen Herrschaftsmodells ist eine
politische Betätigung, die vielleicht auch religiös motiviert sein mag, jedoch über die freie
Ausübung der Religion hinauszugehen scheint. Islamisierung in diesem Sinne betrifft nicht
nur die religiöse Welt, sondern betrifft das gesamte Leben.74 Islamistische Fundamentalisten
versuchen, den Islam insofern in eine politische Ideologie umzuformen.75 Diese allgemeinpolitische Betätigung könnte trotz des auch religiösen Hintergrundes keinen Grundrechtsschutz
aufgezwungenen raschen Kulturwandel in eine Identitätskrise geraten, aus der sie sich durch verstärkte Rückbesinnung auf die tragenden Werte der eigenen Tradition (Nativismus) zu befreien suchen. Auch gravierende soziale Probleme, die die Legitimationskrise von den westlichen Systemen hervorrufen und das Palästinaproblem
erzeugen Frustration, Details bei Brockhaus, Stichwort: Islam, München 1999, Band 10, S. 661ff.
Für die große Mehrheit islamischer Fundamentalisten liegt der Islam außerhalb der Geschichte und wartet nur
darauf, von den wahren Gläubigen verwirklicht zu werden, Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994, S. 39.
Allgemein zum Thema, vgl. Prutsch, Fundamentalismus: Das „Projekt der Moderne“ und die Politisierung des
Religiösen, Wien 2007; Tibi, Die Krise des modernen Islams: eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlichtechnischen Zeitalter, Frankfurt am Main 1991; Kienzler, Der religiöse Fundamentalismus: Christentum, Judentum, Islam, München 2007; Heitmeyer/Müller/Schröder, Verlockender Fundamentalismus: türkische Jugendliche in Deutschland, Frankfurt am Main 1997; Jaschke, Fundamentalismus in Deutschland: Gottesstreiter und
politische Extremisten bedrohen die Gesellschaft, Hamburg 1998; Tibi, Die fundamentalistische Herausforderung: der Islam und die Weltpolitik, München 2002.
70
Vgl. auch Heitmeyer, Verlockender Fundamentalismus, Frankfurt am Main 1997.
71
Zu den Grundwerten im christlichen und islamischen Verständnis, vgl. Abdullah, in: Kürsat-Ahlers, Die multikulturelle Gesellschaft: Der Weg zur Gleichstellung, Frankfurt am Main 1992, S. 184.
72
Man bedenke die Tötung eines nicht an den Anschlägen in London im Juli 2005 beteiligten muslimisch aussehenden Unschuldigen, den Scotland Yard für verdächtig befand und der daraufhin mit fünf Kopfschüssen getötet
wurde, weil er den Inhalt seines Rucksackes nicht zur Überprüfung preisgeben wollte. Oder die kurzzeitige Festnahme einer Gruppe von Japanern in New York, die tatsächlich nur Touristen waren.
73
So auch Muckel, in: FS Listl, Berlin 1999, S. 239.
74
Vgl. auch Sen, ZAR 2006, 14.
75
Die Ausmaße ihrer Despotie zeigten sich beispielsweise in Algerien, wo sie im Verlaufe des Jahres 1993
zwölf der führenden algerischen Intellektuellen brutal ermordeten, weil sie mit dem angestrebten, totalitären
fundamentalistischen Staat der Hakimiyyat allah/Gottesherrschaft nicht übereinstimmen, Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994, S. 344.
25
durch Art. 4 GG genießen76, wobei man muss jedoch einräumen muss, dass diese Auffassung
eine nicht unproblematische Eingrenzung des Schutzbereichs der Religionsfreiheit erfordern
würde. Die sachgerechte Bestimmung des Umfanges eines Schutzbereiches ist jedoch allgemein eine stets schwierige Frage. In tatsächlicher Hinsicht erfährt diese Frage zunächst eine
Entschärfung, denn nur rund 31.300 und damit lediglich 1 % aller in Deutschland lebenden
Muslime sind Mitglied einer solchen Organisation im geschilderten Sinne.77 Im Gegenzug
dazu ist anzuerkennen, dass diese in der Öffentlichkeit weit mehr und weit nachhaltiger in
Erscheinung treten als die übrigen 99 % der Muslime und dass diese islamistische Minderheit
durch ihren höheren Organisationsgrad an Effektivität und Bedeutung gewinnt. Bei diesen
Zahlen kann sich es sich letztlich nur um Schätzungen handeln, denn von den islamistischfundamentalistischen Gruppen selbst werden wesentlich höhere Mitgliederzahlen behauptet.
Eine weitere Entwicklung bleibt zunächst abzuwarten.
Eine zusätzliche Problematik in grundrechtlicher Hinsicht betrifft die ideologisch ausgerichtete und indoktrinäre Erziehung der Islamisten, die z.B. auch den durch die Verfassung abgesicherten Erziehungszielen des deutschen Bildungssystems widersprechen könnte. Dem im Wesentlichen auf der freizügigen Entfaltung und Entwicklung des Subjektes sowie dessen Persönlichkeitsrechten beruhende Erziehungsauftrag der Schule stehen die Fremdbestimmung
und die totale Erfassung des Individuums im islamistischen System gegenüber.78
Warum gibt es überhaupt Fundamentalismus? Das Zusammenwachsen der Welt durch strukturelle Globalisierung zu einem internationalen System (Weltökonomie, Staatensystem und
Dichte der Kommunikations- und Transportmittel) wird begleitet von einer kulturellen
Fragmentation.79 Die Schrumpfung der Weltgesellschaften hat es zu einem vorher nicht gekannten Ausmaß gegenseitiger Wahrnehmung und Interaktion gebracht, aber nicht damit einhergehend zu einer einheitlichen Weltansicht.80 Damit ist gemeint, dass die durch die Globalisierung erzwungene Nähe der in den Normen und Werten unterschiedlicher Kulturen erzogener Menschen nicht dazu beiträgt, sie einander näher zu bringen. Es wird prinzipiell erst ein
gegenteiliger Effekt erzielt, denn die durch die Medientechnologie erfolgte Berührung verdeutlicht ihnen in besonderem Maße, wie fremd sie sich sind. Diese Erkenntnis breitet sich in
unserer Zeit zunehmend aus und hat inzwischen auch den Bereich der Menschenrechte erfasst. Am nachhaltigsten bringt dies dabei der religiöse Fundamentalismus zum Ausdruck.
Die Feststellung, dass es in Deutschland fundamentalistisch-islamistische Gruppen gibt,
rechtfertigt im Ergebnis dennoch nicht, grundsätzlich allen islamischen Gruppen eine Anerkennung zu versagen.81 Die Fronten müssen entschärft werden und der Kulturdialog muss als
eine interkulturelle Kommunikation vor allem den Bereich der Menschenrechte erfassen, wobei hier ein vorsichtiges Erkunden des Bereichs, in dem gemeinsame Wertvorstellungen noch
möglich sind, stattfinden sollte. Die Dialoggrenzen enden, wo der Mensch nicht als freies
Subjekt, sondern als Geschöpf Allahs bestimmt wird bzw. wo Muslime ihre eigenen Wert76
Hillgruber, JZ 1999, 538; Janz/Rademacher, NVwZ 1999, 706.
Haratsch, Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, Stuttgart 2001, S. 118.
78
Tepecik, ZAR 2003, 240.
79
Zur Bikulturalität und deren Chancen, vgl. Hettlage-Varjas, in: Kürsat-Ahlers, Die multikulturelle Gesellschaft: Der Weg zur Gleichstellung, Frankfurt am Main 1992, S. 142.
80
Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994, S. 34.
81
Vgl. zu den Sanktionsmöglichkeiten staatlicher Leistungen, Kepert, ZAR 2013, 19.
77
26
überzeugungen gewaltsam auf die göttliche Ordnung zurückführen, die über der Vernunft des
Menschen angesiedelt sind und die es als Anmaßung erscheinen lassen, wenn sich die Menschen selbst zu Subjekten ihrer Wertbestimmungen und Rechtsgebung erklären. Hier liegen
die unüberwindbaren Schwierigkeiten der Anpassung der Scharia an eine universelle Ethik
der Menschenrechte begründet.82
Dies könnte bereits ein Hinweis darauf sein, dass das Grundgesetz sich diese religionsrechtliche Interpretation einer Weltordnung jedoch nicht gefallen lassen muss oder sie gar tolerieren
muss. Die aus dieser Erkenntnis resultierende Kernfrage lautet demnach, wie menschliches
Zusammenleben gelingen kann und was der Mensch aus seiner Freiheit und Verantwortung
dazu beitragen kann, sog. Grundfrage der Moraltheologie.83
7. Die Rechtsquellen des Islam84 in der Betrachtung und deren Verbindlichkeit
Um die islamische Lehre insgesamt besser verstehen und beurteilen zu können, werden nun
deren Rechtsquellen eingehender beleuchtet und auf Verbindlichkeit untersucht.
Das islamische Recht ist heteronom, fest im muslimischen Glauben gegründet und mit einer
koranisch-islamischen Pflichtenlehre auf inhärente Weise verbunden. Als Rechtsquellen findet man neben dem Koran, der Gesetz und normative Maßstäbe bietet, vor allem die Sunna,
das kanonisierte, legalisierte Gewohnheitsrecht, das die Lebensweise des Propheten offenbart.85 Wohl bei keinem anderen Rechtssystem sind die Beziehungen zwischen Gesetz und
Religion so ineinander integriert wie im Islam. Daher erfährt der Staatszweck seine Legitimation hauptsächlich darin, für die Anwendung und Durchsetzung der Scharia zu sorgen. Die
Religion wird also zu einer Art „vierten Gewalt“86, die alle anderen im Zweifel übertrifft.87
Dabei verschärft sich das Problem deshalb, wie oben bereits dargestellt, da nach islamischer
Auffassung Staat und alltägliches Leben zusammen mit der Ausübung der religiösen Riten
eine unauflösbare, im Glauben begründete Einheit bilden.88 Dies bedeutet, dass Aussagen des
Korans, beispielsweise über das Erbrecht, für den Muslim in viel höherem Maße den Charakter einer Anweisung zum Handeln haben, als dies etwa ein Bibelabschnitt vergleichbaren Inhalts für Christen haben könnte. Während der Glaube bei den Christen (nach jahrhundertelangem Kampf) zur Privatsache geworden ist, eine Wahl, die der Einzelne trifft und auch jederzeit wieder revidieren kann,89 ist die muslimische Religiosität in der türkischen Gesellschaft
frag- und alternativlos gegeben. Und sie bezeichnet nicht nur die Glaubenszugehörigkeit,
82
Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994, S. 34.
Dies vgl. allgemein zum Begriff und zur Bedeutung, Römelt, Handbuch der Moraltheologie in drei Bänden,
Regensburg 1996-1999.
84
Gute Übersicht bei: Uslucan, ZAR 2006, 237; Grundlegend: Löschner, Die dogmatischen Grundlagen des
schiitischen Rechts, eine Untersuchung zur modernen imanitischen Rechtsquellenlehre, Köln 1971; Krawietz,
Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam, Berlin 2002.
85
Sehr detaillierte und übersichtliche Darstellung bei Uslucan, ZAR 2006, 237; auch bei David/Grasmann, Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart, München 1988, S. 601ff.
86
Zur Religion als „vierte Gewalt“ bei Charfi, in: Schwartländer, Freiheit der Religion, Christentum und Islam
unter dem Anspruch der Menschenrechte, Mainz 1993.
87
Uslucan, ZAR 2006, 237.
88
So auch Haratsch, Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, Stuttgart 2001, S. 94.
89
Zur Problematik der katholischen Infallibilität später noch genauer.
83
27
sondern die Unterwerfung unter eine Akkumulation sozialer Gebote, die historisch tief verwurzelt sind und trotz moderner Einflüsse an jede nachfolgende Generation weitergegeben
werden. Geschützt wird diese Tradition durch die „Kaza“, eine fast autonom zu nennende
Parallelwelt, die die Verwandtschaft, die türkische Nachbarschaft, Koranschulen, türkische
Läden und türkische Medien mit einbezieht.90
a. Die Bedeutung des Koran
Der Koran91 stellt als höchste Rechtsquelle die niedergeschriebene Sammlung der wörtlichen
Offenbarungen des letzten Propheten Mohammed dar und ist die heilige Schrift. Muhammad,
ein Kaufmann aus Mekka (570-632) betrachtete sich nicht als Stifter einer neuen Religion,
sondern als Gesandter desselben Gottes, der sich in der Thora und im Evangelium auch Abraham, Moses, Jesus und anderen Propheten offenbart habe. Muhammad ist Überbringer des
letzten von Gottes Büchern, des Korans, als Zeichen von Gottes Barmherzigkeit an die Menschen. Nach islamischer Theologie hat dieser den Koran sozusagen als Medium in einer bestimmten Stunde (610 nach Christus) über den Erzengel Gabriel, als verlängertem Gottesarm,
über einen Zeitraum von 23 Jahren nach und nach unmittelbar empfangen. So spricht Gott
direkt zu den Menschen. Dies ist der Grund für seinen abschließenden und letztverbindlichen
Charakter, denn so verkündet der Koran nicht nur allumfassend und dauerhaft das Wort Gottes, sondern ist selbst von göttlicher Natur, auch wenn er in vielen Punkten auslegungsfähig
ist.92 Bereits in der islamischen Frühzeit war aber die Frage nach der Auslegungsbefugnis
streitig, so dass sich im Laufe der Zeit ein Stand aus religiösen Schriftgelehrten herausbildete.
Wenn man nun im Koran aber nach Rechtssätzen sucht, so wird man diese nicht finden, da
ihm insoweit der Systemaufbau fehlt. Die 114 Suren (Kapitel)93 sind nach abnehmender Länge aber ohne sachlichen Zusammenhang angeordnet. Daher tauchen ähnliche Thematiken an
unterschiedlichen Stellen auf. Thematisch wird man feststellen, dass der Koran im wesentlichen Verhaltensgebote zu sozial-ethnischen Komplexen enthält sowie Anleitungen zur rituellen Praxis und weniger zu einem staatspolitischen Verhalten. Unmittelbare Rechtsfragen werden nur zu einem kleinen Teil geregelt.94 Es gibt eine Reihe von Geboten, wie etwa „sei gut
zu den Witwen und Waisen“ oder „haltet die Verträge“.95 Solche allgemeinen Klauseln hat
später die Rechtswissenschaft durch entsprechende Auslegung für die Begründung juristischer Aussagen verwandt, ohne es allerdings zu einer systematischen Einteilung des Rechtes
90
Kelek, Die fremde Braut, Köln 2005.
Vgl. allgemein zum Koran: Beltz, Die Mythen des Koran: der Schlüssel zum Islam, Düsseldorf 1980; Ramadan, Das islamische Recht: Theorie und Praxis, Wiesbaden 1980; Gellner, Leben im Islam: Religion als Gesellschaftsordnung, Stuttgart 1985; Cook, Der Koran - eine kurze Einführung, Stuttgart 2002; Khoury, Einführung in
die Grundlagen des Islam, Graz 1978.
92
Zum Problem der ungenauen Übersetzung, Talbi, in: Schwartländer, Freiheit der Religion, Christentum und
Islam unter dem Anspruch der Menschenrechte, Mainz 1993, S. 242.
93
Die kürzeste Sure umfasst nur drei Verse und die längste 286 bzw. 287, vgl. Yassari, ZVglRWiss 2004, 103
m. w. N.
94
Als wichtigste wirtschaftliche Vorschrift sei das Zinsverbot genannt, es wird im Koran ausdrücklich und
nachhaltig untersagt: Koran 3, 130 und Koran 2, 275; Klingmüller, in: David/Grasmann, Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart, München 1988, S. 601.
95
Vgl. dazu Koran 2, 83; 2, 177; 2, 215 und 2, 220.
91
28
kommen zu lassen. Durchgesetzt hat sich lediglich eine gewisse Rangordnung der Darstellung. Im Vordergrund stehen die Pflichten des einzelnen Gläubigen gegenüber Allah, worauf
die Pflichten gegenüber der islamischen Gemeinde folgen. Als Gesetzesreligion erhebt der
Islam den Anspruch, durch die im Koran zusammengefassten, vom Propheten Muhammad
verkündeten, göttlichen Offenbarungen das gesamte Leben der Gläubigen zu regeln. Im islamischen Recht gibt es gedanklich keinen Raum für einen irdischen Gesetzgeber. Urteile und
Rechtsgutachten beurteilen sich jeweils aus dem Sinngehalt der Offenbarung. 96 Der Koran ist
sozusagen die Hauptquelle des islamischen Gesetzes, der Scharia (dazu gleich noch eingehender).
Wesentlich bleibt aber festzuhalten, dass der Koran kein Gesetzbuch ist, sondern allenfalls in
unsystematischer Form eine Anzahl von unterschiedlich konkretisierten Regelungen enthält.
b. Die Bedeutung der Sunna97
Die zweite Rechtsquelle, welche am ehesten geeignet schien, bestehende Regelungslücken
des Korans zu schließen, war der Rückgriff auf die prophetische Tradition. Sein Tun, seine
Sprache und auch sein unausgesprochenes Gutheißen ist in sog. Hadithen98 niedergelegt. Allerdings ist im Laufe der Zeit auch ein anerkanntes Gewohnheitsrecht hinzugekommen. Die
einzelnen Hadithe wurden später gesammelt, inhaltlich in eine Reihenfolge gebracht und von
einzelnen Verfassern zu Traditionssammlungen zusammengeführt, die noch heute bei einer
Urteilsfindung als entscheidendes Orientierungs- und Beweisstück berücksichtigt werden. Ein
entscheidender Schritt zur Erweiterung der rechtlichen Grundlage war die Legalisierung dieser Hadith-Sammlungen als anerkannte Rechtsquelle (Sunna, d.h. die auf den Propheten und
seine engsten Genossen bezogene Tradition).99 Neue Rechtsfragen werden in Form von Analogien beantwortet, was oft dazu führt, dass ein Ergebnis durch Rückgriff auf die fromme
Tradition legalisiert wird100, dabei wird eine überwiegende Meinungsbildung, der allgemein
erzielte Konsensus, als ausreichend angesehen. Dies wiederum hat im Laufe der Zeit dazu
geführt, dass die Gelehrten mit der ihnen verliehenen legalisierenden Kraft gleichsam die
Funktion eines nachträglichen Gesetzgebers einnehmen konnten. So ist immerhin die Chance
einer Weiterentwicklung des Rechts eröffnet worden, was dem an sich geschlossenen retrospektiv orientierten System verwehrt worden wäre.
Die Sunna ergänzt und präzisiert bestehende Lücken und Unklarheiten durch Aussprüche und
96
Die großen Korankommentare enthalten sowohl religiöse als auch rechtlich relevante Anmerkungen,
Goldziher, Die Richtungen der islamischen Koranauslegungen, Leiden 1952, S. 270 ff.
97
Goldziher, Muhammedanische Studien Band 2, Hildesheim 1961.
98
Das Wort bedeutet zunächst Mitteilung, Bericht, dann aber im Besonderen eine Nachricht über Taten oder
Aussprüche des Propheten und seiner Genossen. Der erste Teil vom Hadith enthält die Namen derjenigen Personen, die nacheinander den Inhalt überliefert haben, während der zweite Teil den eigentlichen Bericht ausmacht.
99
Die Gewichtung der beiden Rechtsquellen Koran und Sunna ergibt sich auch aus ihrer ausführlichen Würdigung in den Usul-Büchern, die gleichsam das dogmatische Bindeglied zwischen islamischer Theologie und islamischer Jurisprudenz sind. Oft werden einzelne Vorschriften oder Ratschläge des Korans erst durch die Sunna
der Konkretisierung zugeführt. Dabei ist als typisches Beispiel an das Bilderverbot zu denken, das der Koran
zwar schon erwähnt, aber das feste Umrisse erst durch die einzelnen Hadithe erhalten hat.
100
Kritisch dazu: Klingmüller, in: David/Grasmann, Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart,
München 1988, S. 601.
29
Handlungen des Propheten, die ihm oder seinen engsten Gefährten zugeschrieben werden 101
und ist nach dem Koran die zweithöchste Rechtsquelle.
c. Die Bedeutung der Scharia102
Der Rechtsbegriff der Scharia103 wird herkömmlich als das von Gott den Menschen vorgegebene Gesetz verstanden, das alle Lebensbereiche des Menschen einschließlich seiner Beziehung zu Gott abschließend und für alle Zeiten verbindlich regelt104 und das für die gesamte
Menschheit. Es gibt keine dogmatische Begründung, allenfalls eine theologische Erklärung
der einzelnen Ge- und Verbote. Es kann als bemerkenswert angesehen werden, dass, vom
konfessionell besonders strukturierten Libanon abgesehen, eigentlich alle Staaten in ihrer
Verfassung oder Grundordnung den Islam als Staatsreligion ausdrücklich anerkannt haben
und die Scharia in einigen Verfassungen fast wie ein Grundrecht angesehen wird. In Ägypten
ist sie sogar durch ein verfassungsänderndes Gesetz als die Rechtsquelle qualifiziert worden.105 Seit der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam von 1990 soll die Scharia
wieder Basis der Gesetzgebung in allen islamischen Ländern sein. Die praktische Umsetzung
kann jedoch sehr unterschiedlich sein, so beschränkt sich z.B. in Tunesien die Umsetzung nur
auf das Zivilrecht, in Saudi-Arabien und dem Sudan wird sie vollständig übernommen.
Die islamische Theologie betrachtet die Scharia als vollkommene Ordnung göttlicher Autorität, die jeder Gesellschaft Frieden bringt, von Gott selbst geschaffen wurde und deshalb nicht
veränderbar ist. Sie ist nicht in einem Gesetzeskodex verfasst, sondern beruht auf jenen Offenbarungen des letzten Propheten und ist in zwei Bereiche untergliedert. Zum einen ist das
Verhältnis zu Gott geregelt, zum anderen das Verhältnis der Menschen untereinander. Neben
rechtlichen Regelungen regelt die Scharia die Pflichten gegenüber Gott sowie moralischethische Verhaltensnormen. Die Scharia regelt damit gleichermaßen die „vertikalen“ wie „horizontalen“ Beziehungen jedes Menschen, indem sie Anweisungen für das Verhalten in Familie und Gesellschaft und auch die Gottesverehrung gibt. Verstöße gegen die Scharia gelten als
Pflichtverstöße nur gegenüber Gott und die Sühneakte werden erst im Jenseits entsprechend
nach individueller Schuld bestraft. Die islamische Ordnung geht zudem davon aus, dass die
Scharia allein in einem islamischen Gemeinwesen vollständig verwirklicht werden kann, weil
nur dort Glaube und Staat vereinigt werden können.
Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass die Scharia auch Regelungen aufweist, die im
Widerstreit zu modernen säkularisierten Rechtsnormen stehen, wie z.B. die körperliche Züch101
Vgl. Yassari, ZfRV 1999, 103; Motzki, Die Anfänge der islamischen Jurisprudenz, Stuttgart 1991.
Der aus dem Koran entnommene Begriff „Shari´a“ bedeutet soviel wie der rechte (von Gott befohlene) Weg,
von dem abzuweichen eine Sünde ist, Klingmüller, in: David/Grasmann, Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart, München 1988, S. 601; des weiteren wird die Scharia nicht einheitlich angewandt und deren
Auslegung ist daher umstritten.
103
Vgl. auch: Rauscher, Sharia, islamisches Familienrecht der Sunna und Shia, Frankfurt am Main 1987.
104
Vgl. Schimmel, Die Religion des Islam, Stuttgart 1999, S. 54.
105
In Ägypten wurde der Islam in der verfassungsändernden Entscheidung des Staatsgerichtshofes vom
04.05.1985 nicht mehr nur als eine, sondern nunmehr als die Hauptquelle für die Gesetzgebung bezeichnet. In
einer weiteren Entscheidung wurde die liberale Bestimmung, welche der Frau das selbständige Recht auf Scheidung im Falle einer zweiten Ehe gab, als mit dem Koran unvereinbar aufgehoben, vgl. Sure 4, 2.
102
30
tigungsstrafen, die Todesstrafe, der Umgang mit der Meinungsfreiheit, das Verhältnis zwischen Mann und Frau; gleichzeitig zeigt sich jedoch paradoxerweise, dass heute in verschiedenen islamischen Ländern die tatsächliche Rechtslage anders ist, dass z.B. zumindest nach
der Rechtsordnung die Frau gleichberechtigt ist, dass koranische Strafen nicht angewendet
werden und der Staat die Freiheit des Bekenntnisses gewährleistet.106
In diesem Punkt wird deutlich, dass sowohl die Scharia als auch die Menschenrechte Anspruch auf Universalität erheben und dadurch ein großes Konfliktpotential implizieren. Gedanklich kann es keine andere verbindliche Rechtsordnung daneben geben.107 Die Legitimation wird durch die Behauptung der völligen Islam-Konformität erfahren. Diese Kongruenz
wiederum soll durch die hauptsächliche Verwendung von Koran und prophetischer Traditionen als Rechtsquellen erreicht werden. Die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam,
die von der Mehrheit der Außenministerkonferenz der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) 1990 beschlossen wurde, stellt die Menschenrechte beispielsweise unter den Vorbehalt der Übereinstimmung mit der Scharia, was wiederum mit dem westlichen Verständnis
des universellen Anspruchs der Menschenrechte nicht vereinbar ist (dazu gleich noch ausführlicher).
Abschließend erscheint es als schwierig, eine insgesamt verbindliche Aussage über die Gültigkeit spezifischer Rechtsprinzipien der islamischen Rechtsordnung zu treffen, zumal auch
regionale Unterschiede nicht außer Acht gelassen werden können. Alle modernen Deutungsversuche können ohnehin nie Verbindlichkeit für die gesamte islamische Welt erlangen, da es
keine Institution gibt, die eine derartige Verbindlichkeit feststellen könnte. Hinzu kommt,
dass Bemühungen um Modernisierung gerade im Sinne westlicher Wertvorstellungen nur zu
leicht Gegenkräfte wecken, die die ursprüngliche Utopie des Islams Wirklichkeit werden lassen wollen. Für den gläubigen Muslim ist der Islam die bestmögliche Ordnung des Diesseits
und als Gläubiger ist er davon überzeugt, dass diese Ordnung bereits einmal Wirklichkeit gewesen ist: in der prophetischen Urgemeinde in Medina. Die Geschichte wird seitdem oft verstanden als eine lange Phase der allmählichen Auflösung jener idealisierten, gottgewollten
Ordnung, die wiederherzustellen jeder gläubige Muslim aufgerufen bleibt. Eine solche Wiederherstellung wird von den Muslimen bis zum heutigen Tag als der endgültige Schritt zur
Lösung aller Probleme des menschlichen Lebens betrachtet. Gerade in Zeiten, in denen die
islamische Welt von außen bedroht und von inneren Zerwürfnissen erschüttert wurde, hat sich
das Verlangen nach Wiedereinführung der Lebensverhältnisse der Urgemeinde heftig artiku106
Füssel/Nagel, EuGRZ 1985, 497.
Die Entwicklung der Scharia zum einzig anerkannten Normenkomplex menschlichen Lebens und Handelns
im Islam kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Kurz gefasst, kann man dazu sagen, dass zu Lebzeiten
des Propheten Muhammad es keine Scharia im späteren Sinne gab, wofür aber zunächst auch keine Notwendigkeit bestand. Der Koran stellte die allgemeine Richtlinie und Regelungen für die Lebensweise der Muslime dar,
die fortlaufend durch das Verhalten des Propheten ergänzt wurden. Da der Koran aber keine Rechtsordnung
darstellte und auch Muhammad kein umfassender Gesetzgeber war, existierte bei seinem Tod keine islamische
Rechtsordnung. Im Laufe der Zeit setzte sich die Auffassung durch, Rechtsnormen dürften nicht aus Traditionen
oder Überlegungen stammen, sondern seien eindeutig aus der Religion des Islam herzuleiten. Damit war die
Grundlegung nicht von gesetzesgeberischer Tätigkeit geprägt, sondern lag in der Hand von privaten Leuten. Es
gab natürlich eine Reihe von Meinungsverschiedenheiten und es bildeten sich Scharia-Schulen. Vier davon haben sich bis heute durchsetzen können: die Hanafiten, die Malikiten, die Schafiiten und die Hanbaliten. Diese
konnten sich schließlich einigen und trugen die Scharia-Normen zusammen, vgl. dazu auch die Ausführungen
unter C I 1.
107
31
liert und in politischen Bewegungen niedergeschlagen. Es spielte die Hoffnung eine Rolle,
dass durch die peinlich genaue und rigorose Umsetzung der vermeintlichen oder tatsächlichen
Wertvorstellungen des Korans alle Schwierigkeiten gemeistert werden können. Besonders in
Zeiten der tiefsten Unsicherheit, in denen der Wert der islamischen Zivilisation generell in
Frage gestellt ist, wird dabei nach einer „fundamentalistischen“ Rückbesinnung108 gerufen.
Eine solche Situation der Unsicherheit verstärkt sich noch bei Muslimen, die außerhalb ihrer
islamischen Umwelt in westlichen Gesellschaften leben, die die Infragestellung der gewohnten islamischen Zivilisation entsprechend nachhaltiger empfinden. Dies wird auch darin deutlich, dass der Koran als authentische Offenbarungsurkunde des Islams als Mittel der Rechtfertigung etwa türkischer Sitten missbraucht wird, indem behauptet wird, der Koran wolle, dass
Frauen Kopftücher tragen. Dabei geschieht die Berufung des gläubigen Muslims im nichtislamischen Ausland auf den Koran aus dem Wunsch heraus, sich seiner islamischen Identität
in der nicht-islamischen Umwelt immer wieder zu vergewissern. Der Rückbezug auf die Religion bedeutet dann auch den Versuch, befürchteter Kritik aus der nicht-islamischen Umwelt
entgegentreten zu können.
Obwohl die Quellen der islamischen Jurisprudenz von sämtlichen Rechtsgelehrten anerkannt
werden, entstanden bereits frühzeitig unterschiedliche Auffassungen über Umfang, Inhalt und
Auslegung dieser Quellen. Insbesondere die Auslegung und Anwendung der koranischen Bestimmungen wurde schwierig, ohne allerdings deren Unfehlbarkeit in Frage zu stellen. Aus
diesem Grund haben sich zahlreiche islamische Rechtsschulen herausgebildet.109
Auch hinsichtlich des Geltungsbereiches der Scharia bestehen in den islamischen Staaten
stark unterschiedliche Auffassungen.110 Zum Teil werden der Scharia ein unterschiedlicher
Rang in der Verfassung und damit ein unterschiedlicher Einfluss eingeräumt. Die Scharia
zeigt sich dabei als äußerst anpassungsfähig und flexibel, was je nachdem davon abhängt,
welche Rechtsquellen und Rechtsfindungsmethoden als unveränderlich anerkannt werden.
8. Die Verbindlichkeit von islamischen Vorschriften und deren Umgehungsmöglichkeiten
Der Islam ist eine Gesetzesreligion und in der Glücksseligkeit von der Beachtung der religiösen Gesetze abhängig. Die aus dem Christentum bekannte Frage, was Vorrang hat, Glaube
oder Vernunft, ist auch eine zentrale Frage der islamischen Theologie. Die größte theologische Strömung des Islam, die sunnitische Theologie hat sich letztlich für den Vorrang des
Glaubens eingesetzt.111 Erst in der Neuzeit wurde eine Diskussion begonnen, in der auch
Muslime eine säkularistische Position vertreten. Hinzu kommt außerdem, wie ernst die Mus108
Sie verfolgt das Ziel der Wiedererrichtung einer geschlossenen islamischen Staats- und Gesellschaftsordnung
mit einer Gesetzgebung aufgrund der Scharia unter Abwehr des Einflusses der für verderblich erachteten westlichen Zivilisation, Brockhaus, Stichwort: Islam, München 1999, Band 10, S. 661.
109
Sehr detailreiche und übersichtliche Darstellung bei Knüppel, Religionsfreiheit und Apostasie in islamisch
geprägten Staaten, Frankfurt am Main 2010, S. 147.
110
dennoch kritisch, Khoury, Toleranz und Religionsfreiheit im Islam, München 1995; allgemein, Griffel, Apostasie und Toleranz im Islam, Leiden u.a. 2000.
111
Elliesie, Beiträge zum islamischen Recht VII, Frankfurt am Main 2010, S. 50.
32
lime im Laufe der Zeit ihrer Geschichte eigentlich wirklich ihre Gesetzestradition genommen
haben. So wird in traditionellen Werken die Frauenbeschneidung als Pflicht betrachtet, konnte
sich in der islamischen Welt jedoch nur dort durchsetzen, wo sie auch in vorislamischer Zeit
bereits fest verwurzelt war. Sie war vorwiegend unbekannt und man hat die in den Rechtswerken aufgeführte Meinung ignoriert. An diesem Beispiel wird erneut deutlich, dass es generell immer schwierig erscheint, verbindlich zu bestimmen, was islamisches Recht ist.
Da es Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich des Umgangs mit den verschiedenen islamischen
Glaubensvorschriften gibt, muss sicherlich auch die Frage gestellt werden, bis zu welchem
Grad eine Verbindlichkeit dieser Vorschriften besteht und wer diese überhaupt bestimmen
kann.
Es gibt drei methodische Ansätze der Annäherung an die Bestimmung:112
Die engste Auffassung strebt nach einem möglichst wortgetreuen Verständnis der Texte. Die
zweite Auffassung orientiert sich an den Lehren der verschiedenen Rechtsschulen und die
flexibelste Auffassung legt eine ratio legis zugrunde, um mithilfe von Vernunft den Sinn der
Norm zu verstehen. Die Anhänger dieser letzten Strömung sind damit in der Lage, durch ihre
methodische Herangehensweise problemlos eine Übereinstimmung von islamischem Recht
mit moderner Menschenrechtsvorstellung herzustellen. Rechtsphilosophische Grundlage einer
solch flexiblen Auslegung des islamischen Rechts ist die theologische Diskussion über die
Erkenntnisfähigkeit der Vernunft im Bereich von „gut“ und „böse“. In diesem Zusammenhang erscheint die islamische Philosophie als eine Fortsetzung der Antike, in der das islamische Recht als ein allgemein akzeptiertes Rechtssystem betrachtet wird, durch das die Ordnung aufrechterhalten wird und spirituelle Praktiken bereitgestellt werden.
Der Begriff der „Menschenrechte“ ist in der islamischen Rechtstradition nicht existent, was
jedoch nicht automatisch bedeutet, dass der Sinngehalt nicht vorgefunden werden kann. Dennoch sind die oben genannten Beispiele mit dem Menschenrechtsbegriff zunächst unvereinbar. Wenn man jedoch dem flexiblen Gedanken der Rechtsmethodik folgt, kann man die traditionellen Auffassungen durch menschenrechtskonforme Normen ersetzen, da man das Recht
anpassen und entwickeln kann. Wenn man die Menschenrechte anerkennt, bedeutet dies aber
gleichzeitig, dass man anerkennt, dass diese nicht aus der Religion stammen, da die heiligen
Schriften (auch des Christentums) die Menschenrechte nicht kennen. Das heißt zwar nicht,
dass sie diese vollständig negieren, allerdings enthalten diese nicht die modernen Menschenrechtsvorstellungen oder widersprechen ihnen zum Teil.113 Der moderne Menschenrechtsgedanke stammt aus dem Zeitalter der Aufklärung und wurde unabhängig von einer bestimmten
Religion entwickelt. Diese gedankliche Trennung bedeutet aus islamischer Sicht (noch) eine
große Hürde, die überwunden werden muss, denn in der islamischen Heimat des Muslims
besteht das bereits mehrfach angesprochene Prinzip der grundsätzlichen Gleichsetzung des
Staates und der Glaubensgemeinschaft. Die Gewalt des Imans, des islamischen Staatsoberhaupts, erstreckt sich dabei nicht nur auf das Gebiet des Profanen, d.h. die zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch auf das Gebiet der Glaubensübungen, d.h. der gottesdienstlichen Handlungen im Sinne der Beziehung der Menschen zu Gott. Staatsautorität und Glauben
112
Elliesie, Beiträge zum islamischen Recht VII, Frankfurt am Main 2010, S. 52.
Vgl. z.B. Höffe, Vernunft und Recht, Frankfurt am Main 1998, S. 83, der die Entwicklung im Christentum
darstellt.
113
33
sind demnach untrennbar miteinander verbunden. Dies wird besonders deutlich am islamischen Freitagsgottesdienst, dessen Sinn nicht allein darin besteht, sämtliche gläubige Muslime
im Gebet zu vereinen und ihre Gedanken auf den Schöpfer zu lenken, sondern vielmehr auch
deutlich zu machen, dass es auf der Erde das dem göttlichen Willen gemäß handelnde Gemeinwesen gibt. Die Teilnahme am Freitagsgottesdienst ist daher zugleich auch immer eine
Bekundung der Loyalität gegenüber der islamischen Obrigkeit. Die islamische Rechtswissenschaft hat das Problem der religiösen Forderungen an den Gläubigen einerseits und die tatsächlichen Realisierungsmöglichkeiten andererseits nur beiläufig berührt. Erst im 11. Jahrhundert trat erstmals die Situation auf, dass die Oberhoheit des Kalifen faktisch nicht mehr
überall in der Welt gegeben war. Damit einher setzte sich in der Neuzeit ein Prozess weitreichender Verwestlichung von politischen und wirtschaftlichen Strukturen, Gesellschaft und
Kultur in Gang, der bis heute anhält. So wurde eine Lösung etwa darin gesucht, den Vollzug
islamischer Strafen in den besetzen Gebieten von einer Zustimmung des Imans abhängig zu
machen.
Damit wird bereits ein Versuch deutlich, die Prinzipien der Scharia unter gleichzeitiger Orientierung an den realen Bedingungen und Möglichkeiten aufrecht zu erhalten. Interessant ist
außerdem, dass die Scharia für den in einem nicht-islamischen Land lebenden Muslim nicht
in dem Maße gilt wie dies in einem der islamischen Obrigkeit unterstehenden Land der Fall
wäre. Es ist nach der islamischen Rechtsauffassung demzufolge in dem nicht-islamischen
Staat zulässig, dass der Muslim Handel mit Wein, Schweinen oder toten Tieren handelt, obwohl dies in seiner Heimat streng verboten wäre. Die Pflichten des Muslims erstrecken sich
lediglich darauf, die rituellen Individualpflichten zu erfüllen.114
Es lassen sich also eine Reihe von Anwendungsbeschränkungen der islamischen Glaubensvorschriften erkennen, die offensichtlich als Antwort auf die moderne Entwicklung der Welt
notwendig waren und in Bezug auf aktuelle Entwicklung bedeutsam sein könnten, da eine
flexible Anpassung durchaus möglich ist.
9. Der heilige Krieg „jihad“
Mit dem Rückgang der tatsächlichen Machtbefugnisse des Kalifen über die islamische Welt
verschärften sich allerdings auch die Probleme mit den Forderungen des Islam, den heiligen
Kampf115 (jihad) gegen die Ungläubigen zu führen. Dieser Glaubenskampf richtete sich in
erster Linie gegen die Heiden, allerdings hat die Jihad-Literatur auch nie Zweifel daran gelassen, dass auch die „Schriftbesitzer“ (Juden, Christen, usw.) mit Krieg116 überzogen werden
sollten, um sie dem islamischen Staatsgebiet einzuverleiben. War in Zeiten der Urgemeinde in
Medina der jihad noch als Individualpflicht verstanden, so veränderte sich diese Pflicht mit
114
Vgl. beispielsweise zum muslimischen Selbstverständnis beim Schächtungsritual: Wittreck, der Staat 2003,
519.
115
Vgl. zu der Rolle der Frauen im heiligen Krieg: Raddatz, Allahs Frauen: Djihad zwischen Scharia und Demokratie, München 2004.
116
Vgl. dazu allgemein: Schwarzer, Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz, Köln 2002; Tibi, Kreuzzug und
Djihad: der Islam und die christliche Welt, München 2001; Robbe, Dschihad - heiliger Krieg: der Islam in Konfliktsituationen der Gegenwart, Berlin 1989.
34
dem Entstehen eines großen islamischen Reiches dahingehend, dass ihm Genüge getan war,
wenn sich mit staatlicher Unterstützung einige Muslime dieser Aufgabe widmeten. Der Glaubenskampf bildete den zentralen Begriff des islamischen „Völkerrechts“. Der Kriegszustand
mit der nicht-islamischen Umwelt, der Glaubenskampf, war also gleichzeitig der Normalzustand. Frieden konnte nur im Innern des islamischen Staatsgebietes herrschen.117
Trotz alledem, auch wenn der Kampf mit der nicht-islamischen Umwelt heilige Pflicht ist, so
ist doch offenkundig, dass die islamischen Staaten nicht andauernd mit ihren nichtislamischen Nachbarn in einem Kriegszustand leben konnten. Die Pflicht zum jihad wurde
stillschweigend vernachlässigt. Auch konnte der heilige Kampf zwischen dem islamischen
und einem nicht-islamischen Land durch zeitlich begrenzte Abkommen unterschiedlicher Art
unterbrochen werden. Nun besagt dies wiederum nicht, dass jene abmildernde Interpretation
des heiligen Krieges auf Dauer Gemeingut der Muslime bleiben muss. Wenn die Umstände es
nahe legen, kann durchaus das rigorosere Verständnis des jihad sich erneut durchsetzen, wie
wir es in der Aktualisierung der islamistischen Revolutionsbewegungen von heute erleben.
Wenn aber der heilige Krieg mit der nicht-islamischen Umwelt nicht mehr Regelzustand sein
muss, so kann sich der Muslim auch in nicht-kriegerischer Absicht und freiwillig in das nichtislamische Ausland begeben. In einem solchen Falle besteht zwischen Muslim und der „ungläubigen“ Obrigkeit eine Art Vertragsverhältnis, in welchem dem Muslim die Sicherheit von
Eigentum und Person garantiert wird, während er sich im Gegenzug verpflichtet, die Gesetze
im Land der „Ungläubigen“ zu achten.118 Daran zeigt sich erneut, dass überaus flexible Methoden im Umgang mit den Regeln der Scharia für den Gläubigen bestehen.
10. Die Situation des Muslims in einem nicht-islamischen Land
Der Muslim unterwirft sich in diesem Status zwar denen im nicht-islamischen Land geltenden
Gesetzen, jedoch bleiben seine individuellen Glaubenspflichten erhalten. Damit ist das Verhältnis zwischen Ordnung des Gastlandes und dem Geltungsanspruch des Islam grundsätzlich
zugunsten der Gastordnung auszutarieren. Bedenken ergeben sich allenfalls im Hinblick auf
den in der islamischen Regelung enthaltenen Vorbehalt („solange“). Denn was hat zu geschehen, wenn ein Muslim den ihm durch die Ordnung des Gastlandes gewährten Schutz für nicht
ausreichend hält? Nach der Lehre des Islam wäre der gläubige Muslim dann nicht mehr an die
Gesetze des Gastlandes gebunden. Hier ist der Staat gefordert und man müsste dergestalt an117
Zur inneren Ordnung gehört es auch, dass Straftaten nach dem koranischen Strafsystem zu ahnden. Nach
koranischen Verständnis etwa bedarf die Tötung eines anderen nicht des Tätigwerdens des islamischen Staates,
da die göttliche Ordnung nicht verletzt ist; vielmehr handelt es sich lediglich um ein Vergehen, bei dem ein angerichteter Schaden wieder gutgemacht werden soll und darüber hinaus eine Sühneleistung zu erbringen ist.
Konkret wäre im Falle einer absichtlichen Tötung eines Glaubensbruders dem blutrechtlichen Sippenverband des
Getöteten die Möglichkeit zum Vollzug der Blutrache zu ermöglichen. Der Rächer kann jedoch auch auf Vergeltung verzichten und stattdessen ein hohes Wertgeld aushandeln. Geschah die Tötung irrtümlich, dann ist Blutrache ausgeschlossen, Füssel/Nagel, EuGRZ 1985, 497.
118
Die dort lebenden Muslime haben aber auch die im „Haus des Vertrags“ geltenden Gesetze und Rechtsordnungen einzuhalten, solange ihnen diese fremde Ordnung im Gegenzug Schutz und Sicherheit für ihre Person
und ihr Eigentum gewährt. Der universale Regelungsanspruch besteht jedoch fort, so dass sich für einen gläubigen Muslim in einem nicht-islamischen Land Spannungslagen ergeben, wie er einerseits die Anforderungen der
Religion erfüllen soll, andererseits mit der Rechtsordnung des nicht-islamischen Landes nicht in Konflikt gerät.
35
setzen und präventive Aufklärung betreiben, um das Vertrauen der in Deutschland lebenden
Muslime in die deutsche Rechtsordnung zu gewinnen und zu stärken. Die Kenntnisse grundlegender Elemente der deutschen Rechtsordnung wie das Gewaltmonopol des Staates, des
grundsätzlichen Verbots der Selbsthilfe und der Voraussetzungen und Grenzen der legalen
Notwehr und Selbsthilfe sollten den Muslimen beispielsweise, wie jedem Staatsbürger, bekannt sein. Aber auch ausreichende Information über die Befugnisse der staatlichen Polizeibehörden und das deutsche Sanktionssystem sind von großer Bedeutung. Information und
Verstehen sind nun einmal Basisvoraussetzungen jeglichen Vertrauens. Insoweit wäre es
demnach auch nach der islamischen Rechtsordnung möglich, dass die Muslime in der Bundesrepublik Deutschland sich den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Friedensgebotes
anpassen und so ein Konflikt zwischen der islamischen Lehre und der Verfassungsordnung
des Grundgesetzes gar nicht erst aufzutreten vermag.
11. Entjuridifizierung, Reformbewegungen119und Wandlungen der islamischen Ordnung120 als Entwicklungsfortschritt: Reformationsversuche im Islam und die Deklaration der Menschenrechte
Die islamische Kultur kennt in ihrer Geschichte das demokratische Prinzip der Freiheit des
Andersdenkenden nicht. In der politischen Kultur des Islams hat es eine Herausbildung des
Individuums als Ablösung zum Kollektiv nie gegeben, weder begrifflich noch in der Realität.
In den Augen der Muslime besteht die Menschheit aus Kollektiven. Auf der einen Seite das
Kollektiv der Muslime und die Kollektive der anderen als Feinde. Nur in diesen Kategorien
denken zu können, ist ein Zeichen einer vormodernen Kultur; hier liegen die politischkulturellen Hürden auf dem Wege zu einem Konzept von Menschenrechten, das die Menschen als Individuen bestimmt und mit individuellen, institutionell abgesicherten Rechten
gegenüber Staat und Gesellschaft ausstattet.
Aus der Perspektive der kulturellen Moderne wirken sich bei der Diskussion von Menschenrechtsverletzungen im islamischen Orient, wie oben bereits dargestellt, drei Faktoren besonders störend aus:
- das Fehlen einer Religionsfreiheit und somit der Toleranz im Allgemeinen;
- die Hilflosigkeit des einzelnen Individuums gegenüber den Kollektiven;
- die fehlende Gleichstellung von Mann und Frau in allen Bereichen des Lebens, die
Unterdrückung von Minderheiten kommt hinzu.
Nun kommt man zu der Frage, ob innerhalb des Islams eine Idee oder Philosophie von Rech119
Vgl. ausführlich: Bielefeldt, Menschenrechte und Islam in der Diskussion, Ausschuss für Menschenrechte,
Ausschussdrucksache 15 (16) 0105, 7; Würth, Dialog mit dem Islam als Konfliktprävention, Berlin 2003, S.
42ff; Reiners, Die klassische islamische Staatsidee, ihre moderne Integration und ihre Verwirklichung in den
Verfassungsordnungen muslimischer Staaten, Münster 1968.
120
Aydin/Halm/Sen, Das neue Islamverständnis der Muslime in der Migration, Essen 2003.
36
ten existiert, die sich auch nur annähernd mit dem modernen Begriff der Menschenrechte vergleichen lässt.
Im Mittelalter haben die von der griechischen Philosophie beeinflussten islamischen Philosophen, die die Tradition des islamischen Rationalismus begründet haben, einen Begriff von
einem denkenden Subjekt entwickelt.121 Das ist die Grundvoraussetzung für die Bestimmung
des Menschen als Individuum, und allein von dieser Basis aus können individuelle Rechte
abgeleitet werden. Doch wurde diese Tradition im Islam nicht weiter entfaltet, sondern von
der islamischen Orthodoxie erstickt.122 Mit dem Untergang der rationalistischen Philosophie
im Orient sind auch die geistigen Grundvoraussetzungen für eine islamische Tradition von
Menschenrechten untergegangen. Dieser Zustand ist denkbar ungünstig für die Entwicklung
von Menschenrechten.
Die Theokratisierung des osmanischen Reiches ergab sich aus dem Islam selbst, die Herrschaft leitete sich von der Souveränität Gottes ab. Die islamische Bevölkerung bildete in Folge seiner islamischen Prägung eine Umma. Die Gründung des Osmanischen Reiches fällt in
die scholastische Zeit des Islam, wodurch die Blütezeit der islamischen Kultur und Wissenschaft beendet wurde. Während in Europa Kaiser und Papst die Macht der religiös-politischen
Einheitswelt teilten, lag die Führung im Osmanischen Reich in den Händen des Kalifen, der
keinen Kampf um die Suprematie der Herrschaft führen musste. Gleichzeitig wurde nach islamischem Recht ein plurales System etabliert, wonach Nichtgläubige toleriert wurden und in
eigenen Angelegenheiten relative Autonomie genossen. Diese osmanische Toleranz bestand
noch vor dem Eintritt des Reiches in den Säkularisierungsprozess. Dieses Rechtssystem führte
zu Diskriminierungen innerhalb der religiösen Gesellschaft. Der Kontakt des osmanischen
Reiches mit dem Westen war bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts von dem Empfinden der
eigenen Überlegenheit gegenüber dem Westen geprägt. Es galt noch die alte Ordnung als Ideal. Nach dieser Denkweise war nur mit der Rückkehr zur alten islamischen Ordnung eine
Verbesserung möglich. Die Säkularisierung vollzog sich in drei Stufen und hatte stets zum
Ziel, das Reich zu modernisieren.
In der ersten Stufe erkennt das Osmanische Reich, dass es seine Vorherrschaft an den Westen
verloren hat und beginnt, westliche Ideen zu übernehmen, um zu verhindern, dass das Reich
den militärischen, technischen, kulturellen und wirtschaftlichen Fortschritt völlig verpasst.123
In der zweiten Stufe wird das europäische Recht angenommen, so dass schließlich in einem
letzten Schritt eine Verfassung aufgestellt wird. Die Veränderungen im Land erreichten jedoch nicht alle Schichten der Gesellschaft. Die Unter- und Mittelschicht verstand diesen Lebenswandel als ein verschwenderisches Privileg der Oberschicht, so dass unter dem gleichzeitigen Eindruck der Missstände dies zu einem Volksaufstand im Jahre 1730 führte. Die Öffnung des Osmanischen Reiches zum Westen wurde sodann als Ketzerei angesehen und gewaltsam beendet. Dieser Aufstand stellt den ersten Konflikt im Zusammenhang mit der Europäisierung des Osmanischen Reiches dar.
Im Hinblick auf die Französische Revolution 1789 entschloss sich Selim III. eine neue Ord121
Vgl. dazu Khoury, Art. Arabisch-Islamischer Aristotelismus, Berlin 1978.
Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994, S. 48.
123
Dies geschah durch die Niederlage im Krieg gegen Österreich und Russland, Percin, Die Kompatibilität des
säkularen Staates mit dem Islam, Berlin 2013, S. 152ff.
122
37
nung aufzustellen. Es sollte die bestehende Willkür durch die politische Elite unterbunden
und demokratische Elemente eingeführt werden. Der Widerstand gegen die Reformen war
erheblich und Selim III. wurde schließlich ertrunken aufgefunden.
1839 begann sodann der Säkularisierungsprozess erneut, da man von den europäischen Fortschritten beeindruckt war und nach Lösungen gesucht wurde, die eigene Schwäche zu überwinden, was schließlich Ende des 19. Jahrhunderts seinen Niederschlag auf Verfassungsebene
fand. Eine Säkularisierung im europäischen Sinne wurde damit jedoch nie erreicht. Anders als
in Europa gab das Osmanische Reich seine Staatsreligion nie auf, was aber hätte geschehen
müssen, um Neutralität zu gewährleisten. Das Osmanische Reich war deshalb immer an die
religiöse Wahrheit gebunden und hat sich nie von seiner religiös-politischen Einheitswelt gelöst.124 Der Einfluss der westlichen Staatsphilosophie fand in das Osmanische Reich Einzug
über den Kameralismus125, der als die passende Antwort auf die Probleme des Osmanischen
Reiches schien.126 Letztlich konnte sich dieses Gedankengut jedoch nicht durchsetzen, blieb
nur einer kleineren, intellektuellen Schicht vorbehalten und wurde nicht weiterentwickelt.
Im Islam der Gegenwart werden zudem dringend weitergehende Reformen benötigt, um zwei
zentrale Hindernisse bei der Durchsetzung eines Konzepts der Menschenrechte in der Welt
des Islams aus dem Weg zu räumen:
Erstens der Zwang der islamischen Umma; Alle Muslime bilden eine einheitliche Gemeinschaft/Umma, die ein Kollektiv darstellt. Muslime benötigen daher einen Begriff vom Individuum. Der Philosoph Jürgen Habermas nennt die Etablierung des „Subjektivitätsprinzips“ die
größte Leistung der kulturellen Moderne. Dieses Prinzip beinhaltet, dass der Mensch ein Subjekt ist, d.h. ein freies Individuum, das die Welt mittels eigener Fähigkeiten erkennen und
verändern kann. Die gesamte Konzeption der Menschenrechte basiert auf diesem Prinzip.
Zweitens haben Menschen gegenüber der Umma Pflichten, nicht jedoch Rechte. Also benötigen die Muslime einen Begriff von Rechten als individuelle Berechtigungen. Diese Missstände können ohne eine umfassende kulturelle Aufklärung, die die Gleichstellung von ethnischen
und religiösen Gruppen mit den mehrheitsbildenden Kollektiven ermöglicht, nicht überwunden werden. Zu den Zielen sollte vor allem als kulturelle Basis die Neubestimmung des Menschen als Individuum, als freies Subjekt gehören.
Das Problem ist aber, dass Menschenrechte der Welt des Islams nicht von außen aufgezwungen werden können, es müsste vielmehr eine Art Religionsreform vollzogen werden. Auf
welche Weise könnte diese Veränderung in Gang kommen und wer oder was kann sie bewirken? Weil sich Muslime laut Koran als die beste Gemeinschaft auf Erden betrachten, haben
sie große innere Barrieren zu überwinden, wenn sie von Nicht-Muslimen lernen sollen. Die
Muslime könnten aber bei der Bemühung, ihr kosmologisches Weltbild zu überwinden, mit
ihrem eigenen kulturellen Erbe beginnen. In der Philosophie des islamischen Rationalismus
des Mittelalters gibt es zahlreiche Anhaltspunkte für eine Bestimmung des Menschen als Sub124
Zu den verschiedenen Entwicklungen in den arabischen Staaten, vgl. Baumann/Ebert, Die Verfassungen der
Mitgliedsländer der Liga der Arabischen Staaten, Berlin 1995, S. 9ff.
125
Darunter ist eine Form des Absolutismus zu verstehen, der besonders landesfürstliche Finanzwirtschaft berücksichtigt, vgl. Brockhaus, Band 14, S. 341.
126
Vgl. detaillierte Darstellung bei Percin, Die Kompatibilität des säkularen Staates mit dem Islam, Berlin 2013,
S. 315ff.
38
jekt mit eigenem Willen, das auf Gesellschaft und Natur verändernd einwirken kann. Wenn
Muslime heute bereit wären, diesen klassischen Rationalismus im Islam neu zu beleben, dann
hätten sie im eigenen kulturellen Erbe erste Anhaltspunkte für die Realisierung der angesprochenen Voraussetzungen. Neben dieser geistigen Voraussetzung für die Etablierung von
Menschenrechten im Sinne der kulturellen Moderne ist eine demokratisch verfasste Gesellschaft eine weitere zentrale Bedingung. Anderenfalls haben wir mit der Schwierigkeit zu
kämpfen, dass das von uns vertretene Konzept nicht auf islamischem Boden gewachsen ist
und somit dem Vorwurf des „Kulturimports aus dem Westen“ ausgesetzt ist. Die westlichen
Staaten aber vertreten im islamischen Orient ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen,
nicht jedoch die Belange der Menschenrechte. Menschenrechtsverletzungen werden sehr selektiv nach interessenpolitischen Gesichtspunkten vom Westen beanstandet. Dass in SaudiArabien und Kuwait Menschenrechte nicht gelten, stört westliche Politiker eher weniger. Im
Irak dagegen beanstandete man ständig Menschenrechtsverletzungen, nicht etwa wegen der
besonderen Brutalität, sondern weil Saddam Hussein für den Westen der Feind schlechthin
war. Dies wiederum führte bei vielen Muslimen zu der Überzeugung, dass das westliche
Menschenrechtskonzept nur ein beliebiges Instrument gegen den Islam ist. Trotz alledem bekannte man sich zur der Islamischen Deklaration der Menschenrechte127, deren Gehalt näher
beleuchtet werden soll:
In der „Allgemeinen Islamischen Menschenrechtserklärung“ des Islamrats für Europa von
1981, die später durch die „Kairoer Erklärung der Menschenrechtserklärung im Islam“ von
1990 konkretisiert wurde128 beschlossen die 57 Mitgliedstaaten der Organisation der Islamischen Konferenz das Gegenstück zu der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.129
§ 1 des einleitenden Abschnitts der Deklaration heißt:
„Vor 14 Jahrhunderten legte der Islam die rechtliche Basis für die Menschenrechte in ihrem
vollen Umfang. Mit diesen Rechten verband der Islam alle erforderlichen Garantien zu ihrem
Schutz. Der Islam schuf die Gesellschaft entsprechend diesen Rechten und bot damit die Basis für ihre Verwirklichung.“
Es zeigt sich hier, dass die Menschenrechte für den Islam kein neues Phänomen darstellen.
Aber verstanden die Autoren der Deklaration die Menschenrechte denn wirklich als individuelle Berechtigung gegenüber Staat und Gesellschaft?
In der Deklaration wird weiter ausgeführt: „Wir gehen von der Annahme aus, dass die
menschliche Vernunft ohne die göttliche Führung unfähig ist, den richtigen Glaubenssatz für
ein angemessenes Leben zu finden.“
Daraus wiederum wird deutlich, dass dies eher eine Abkehr vom Subjektivitätsprinzip bedeutet, dessen Annahme jedoch die Voraussetzung der Anerkennung individueller Menschenrechte wäre. Begründet wird dies damit, dass in der Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen die fehlende Einbeziehung des kulturellen und religiösen Bezuges der nichtwestlichen Länder zum Ausdruck komme, diese somit eine säkulare Interpretation darstelle,
127
Vgl. dazu, Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994.
Der Rat der Liga der arabischen Staaten hat im September 1994 zudem separat eine Arabische Charta der
Menschenrechte verabschiedet, die 2004 überarbeitet wurde.
129
Vgl. dazu auch, Antes, die politische Meinung 220, 74.
128
39
die angepasst werden müsse, so dass das Recht auf Leben, Freiheit, Gleichheit, Glaubens- und
Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit unter den Vorbehalt der Scharia gestellt werden müsse.
In dieser Form erscheint die Deklaration inhaltsleer und als rein rhetorisches Dokument, das
den interessanten Versuch unternimmt, auf der Ebene kultureller Werte dem Islam einen modernen Charakter zu verleihen. Der nächste Schritt wäre eine tatsächliche Verwirklichung.
Die Erklärung erkennt insbesondere die Religionsfreiheit nur im Rahmen des islamischen
Religionsgesetzes (Scharia) an, also ohne Recht auf Religionswechsel. Diese Erklärung ist
gesamtheitlich nicht Ausdruck einer Anerkennung der Menschenrechte, sondern dokumentiert
den Willen, den Inhalt der Menschenrechte von westlichen Einflüssen zu befreien. Die islamischen Staaten beeinträchtigen daher mit ihrem Menschenrechtsverständnis die Menschenrechtserklärungen der Vereinten Nationen.
Es stellt sich daher in mehrfacher Hinsicht immer wieder die Frage, wie der Konflikt zwischen den christlich-abendländisch geprägten Regeln des deutschen Staatskirchenrechts und
den andersartigen Strukturen der islamischen Vorstellungswelt sachgerecht aufgelöst werden
kann. Gefragt ist insoweit ein maßvolles Aufeinanderzugehen, das z.T. eine offene, kreative
und innovative Auslegung des geltenden deutschen Verfassungsrechts erfordert. Die gegenseitige Beeinflussung der Kulturen kann man in den meisten Perioden der Menschheitsgeschichte beobachten. Eine Kultur zu finden, die nicht von anderen Kulturen beeinflusst worden wäre, ist kaum möglich. In früheren Zeiten waren die Prozesse der wechselseitigen Beeinflussung von Kulturen jedoch aufgrund weniger vorangeschrittener Globalisierung vorwiegend lokal bzw. regional begrenzt Einige wenige Kulturen haben dennoch Verbreitungsprozesse weit über die ursprünglichen Grenzen hinaus hervorgebracht. Der Islam gehört zu einer
solchen Ausnahme. Doch trotz seiner großen Ausbreitung hat der Islam niemals einen globalen, d.h. die gesamte Welt umfassenden Rahmen für eine universelle Kultur schaffen können.
Allein die westliche Kultur hat einen globalen Rahmen verwirklicht, der jedoch nie universale
Geltung erlangte. Universalisierung (der Werte und Normen einer Kultur) ist nicht zu verwechseln mit der Globalisierung zivilisatorischer Errungenschaften und Strukturen. Die Globalisierung auf techno-wissenschaftlicher Basis ist zwar erfolgt, jedoch ohne dass die kulturelle Moderne universalisiert worden wäre.130
Die nachfolgenden Überlegungen werden zeigen, dass es nicht genügt, von den Islamgläubigern pauschal einfach nur die Erfüllung der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen zu fordern131 oder sich aber auf einen christlich-abendländischen Kulturvorbehalt zurückzuziehen.132 Demgegenüber überzeugt allerdings auch die Forderung nach einem wörtlichen Verständnis der Formel von der weltanschaulichen Neutralität des Staates und nach einer restriktiveren Auslegung des Grundrechts der Religionsfreiheit nicht restlos. Die Frage erscheint
also berechtigt, ob diese Auffassung einer zukunftsorientierten Weiterentwicklung fruchtbaren Boden bieten kann oder als hilfloser Versuch der Abschottung und Verteidigung des eigenen traditionell geprägten Horizonts abgelehnt werden muss. Es soll also eine Auseinandersetzung mit der islamischen Welt darüber erfolgen, dass nur ein Verständnis von Menschen-
130
Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994, S. 30.
Heckel, JZ 1999, 741.
132
So wohl Hillgruber, JZ 1999, 538. Ablehnend dagegen Häußler, ZAR 2000, 159.
131
40
würde Grundlage für ein universales Konzept von Menschenrechten sein kann.133
Ebenfalls muss, wie bereits unter 7. und 8. ausgeführt, auch beachtet werden, dass trotz der
Vorgaben der Scharia es bei Gerichten stets bis zu einem gewissen Grad flexible und dynamische Methoden gibt, den starr erscheinenden Anwendungsbereich der Scharia zu beschränken.
Darin kann eine fortschrittliche Entwicklung gesehen werden, so ging man in der Vergangenheit beispielsweise wie folgt vor: Man beschränkte die ausnahmslose Geltung lediglich auf
die „ideale muslimische Gesellschaft“ als theoretisch-utopisches Regulativ oder verlangt hohe
Beweisanforderungen. So kam es im Laufe der Zeit zu einer angepassten Beschränkung. Die
weltlichen Gerichte arbeiten auf der Basis von modernen Gesetzesregeln und Verfahrensordnungen. Durch diese Vorgehensweise ist die Scharia dann nicht mehr primär als juristische
Kasuistik, sondern als ethisch-spirituelle Orientierung wie der Koran zu sehen. Zunächst, weil
nur wenige Gesetzesverse bestehen, aber auch weil Sure 45, 18 selbst die Bedeutung des religiösen Gesetzes als „Ritus“ meint.134
Als Beginn eines neuen Zeitalters der Aufklärung für den Islam verstand sich zudem am 4.
und 5. März 2007 in St. Petersburg (Florida) eine Konferenz säkularer Muslime aus verschiedenen islamischen und westlichen Ländern, die sich mit den säkularen Interpretationen des
Islam, der Notwendigkeit einer innerkoranischen Kritik, mit dem Stand der Meinungsfreiheit
in muslimischen Gesellschaften und mit Fragen der Erziehungsreform beschäftigte. Zum Abschluss der Konferenz wurde die sog. „St. Petersburg Declaration“ verabschiedet, in der u.a.
die Trennung von Staat und Religion, die Einhaltung der universellen Menschenrechte, die
Abschaffung der Scharia und aller islamischen Tötungsstrafen und körperlicher Verstümmelungspraktiken sowie die völlige Gleichberechtigung der Frau im Islam und in den islamischen Ländern gefordert werden. Dies zeigt, dass es durchaus „moderne“ Muslime gibt, die
anerkennen, dass ein Entwicklungsfortschritt gemacht werden muss und die sich, ohne ihre
Religion gänzlich zu negieren, tolerant und flexibel im Umgang mit der Umwelt zeigen.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass über die Geschichte hinweg, die islamische Rechtsordnung einen bemerkenswerten Grad an Flexibilität im Hinblick auf die jeweiligen faktischen
Bedingungen entwickelt hat, gerade auch, was den Umgang mit der nicht-islamischen Umwelt angeht135 und diese Tendenz aufgegriffen werden könnte, um ein kulturelles Miteinander
133
Vgl. dazu Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff. Eine philosophische Klärung, Berlin 2007; dazu
wiederum Pfaff, ZAR 2008, 394.
134
Uslucan, ZAR 2006, 237.
135
Dies zeigen etwa die historischen Veränderungen der Rechtsordnungen in den einzelnen Ländern unter dem
Einfluss der Kolonialmächte. So bildete sich in Algerien der „Droit Musulman Algérien“ heraus, der zwar in
seinen Grundzügen unverändert islamisch blieb, doch in Einzelheiten der europäischen Rechtskultur angepasst
wurde; dort wurde etwa 1959 das islamische Scheidungsrecht dahingehend umgestaltet, dass Scheidungen nur
durch ein Gericht ausgesprochen werden durften und auch Frauen die Auflösung ihrer Ehe verlangen konnten,
was einen Schritt hin zur Gleichstellung der Frau mit dem Mann darstellt. Weitreichender waren die Veränderungen im „Anglo-Muhammadan Law“, das sich auf dem indischen Subkontinent herausbildete. Hier hatte bereits im Jahre 1872 der „Special Marriage Act“ Angehörigen der unterschiedlichen Religionen die Möglichkeit
einer Eheschließung geschaffen, wobei auch die Muslima einen Ungläubigen legal heiraten durfte; Voraussetzung war allerdings, dass beide Partner erklärten, sich zu den Dogmen keiner Religion zu bekennen; 1952 wurde
diese unwürdige Verfahrensweise abgeschafft. Seitdem ist in Indien, auch für Muslime, die Zivilehe ohne Ansehung des Bekenntnisses der Partner verbindlich. Ähnliche Beispiele lassen sich aus der Türkei oder Tunesien
berichten, deren Rechtsordnungen dem europäischen Recht angepasst wurden, vor allem was die Stellung der
Frau angeht. Allerdings lassen sich gegenwärtig auch entgegengesetzte Tendenzen aufzeigen, wenn in diesen
Tagen im Iran oder in Pakistan das koranische Strafsystem mit dem ihm eigenen Verständnis eines brutalen und
41
für alle Beteiligten besser zu machen.
12. Keine Pauschalisierung für sämtliche islamische Länder
Im Hinblick auf eine Durchsetzung der Menschenrechte muss sorgfältig darauf geachtet werden, dass zwischen den einzelnen islamischen Ländern unterschieden wird.136 Die Welt des
Islam ist sehr groß und entsprechend vielfältig. Europäer nehmen die Welt des Islam hierbei
fälschlicherweise immer noch als eine Einheit wahr. Den Islam als einen monolithischen
Block gibt es nur bei den islamischen Fundamentalisten. Obwohl der Islam eine monotheistische Religion ist, enthält er eine Vielzahl von unterschiedlichen Strömungen. Es gibt 90 %
Sunniten. Dann gibt es die Schiiten, die als Nachfolge des letzten Propheten entstanden. Außerdem gibt es noch unzählige kleinere Gruppierungen, die als eigenständige Religionsgemeinschaften gelten und den Koran z.T. auch unkonventionell auslegen.137 Diese erkennen
noch andere eigenständige Theologien an. Auch innerhalb der großen Gruppen wird je nach
Grad des religiösen Selbstverständnisses differenziert. Es gibt Konservative, die Religion
auch in die staatliche Sphäre integrieren138 wollen, so die Islamisten. Es gibt aber auch Reformisten, die sich für eine Neu-Interpretation einsetzen. Tatsächlich aber bestehen in allen
Bereichen sehr große Unterschiede. Während ein Land wie Ägypten großen Wert darauf legt,
vom Westen akzeptiert zu werden, kann es den ölreichen Saudi-Arabern gleichsam gleichgültig sein, was die westliche Welt über sie denkt. Sie sind sich ihrer Stellung als „Tankstelle des
Westens“ bewusst und können sich deswegen auch Menschenrechtsverletzungen „leisten“. In
unserem Zeitalter der Migration geht der Islam Europa aber mehr an als je zuvor etwas an.
Durch die wachsende Zahl muslimischer Zuwanderer erleben die Europäer diese Welt, die
Europa immerhin vom Mittelmeer über den Balkan bis hin nach Eurasien umgibt, im eigenen
europäischen Haus. In einer Kultur vermengen sich geistige und materielle Faktoren und bedingen einander in wechselseitiger Wirkung. Trotz ihrer religiösen, ethnischen und kulturellen
Vielfalt grenzen sich die Muslime, auch wenn sie in Europa als Migranten leben, gegen ihre
Umwelt in diesem Sinne als einheitliche Gemeinschaft ab.139 Innerislamische Vielfalt, religiös-kulturelle Unterschiede, gibt es nur nach innen, nicht in Bezug auf die Außenwelt. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass sich die Muslime untereinander primär nur über zwei Glaubensvoraussetzungen einig sind: Zum einen die fünf Säulen des Islam140 und des weiteren die
unangemessenen Strafrahmens wieder Gültigkeit erlangt, vgl. ausführlich Füssel/Nagel, EuGRZ 1985, 497 m. w.
N.
136
Guter Überblick bei Nagel, Geschichte der islamischen Theologie von Mohammed bis zur Gegenwart, München 2008.
137
Ramadan, Muslimsein in Europa, Genf 2001.
138
Umfassend Hollerbach, Religion und Kirche im freiheitlichen Verfassungsstaat, Berlin/New York 1998.
139
Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994, S. 68.
140
Alle Muslime bekennen sich einheitlich zu den fünf Säulen des Islam, welche besagen, dass ein (praktizierender) Muslim,
1. die Bezeugung, dass es keinen Gott außer Allah gebe und dass der Prophet Mohammed sein Gesandter
sei, leisten muss,
2. fünfmal am Tag beten muss,
3. Almosensteuer zu zahlen hat,
4. im Monat Ramadan von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang fastet, d.h. weder Speisen noch Getränke
zu sich nehmen darf und sich auch des Geschlechtsverkehrs enthalten muss,
42
Authentizität des Koran.141
Der Ausgangspunkt der islamischen Rechtslehre über die internationalen Beziehungen ist die
Teilung der Welt in zwei Teile, das Territorium der islamischen Staaten und der Rest der
Welt, wo die Ungläubigen leben.
Im vorislamischen Arabien war zur Konfliktlösung zwischen den Gläubigen die Methode der
Verträge sehr häufig. Die verschiedenen Stämme schlossen Frieden und Bündnisse und vereinbarten zum Zwecke der Erleichterung des Handels142 und zur friedlichen Regelung von
Konflikten Verträge untereinander. In jener Gesellschaft, wo der Krieg jedes gegen jeden
herrschte, konnte nur das Vorhandensein eines Friedensvertrages dem tatsächlichen oder potentiellen Kriegszustand ein Ende setzen. Verträge haben eine grundlegende Funktion in der
Geschichte und in der Gestaltung des Völkerrechts. Die Wiener Konvention über das Recht
der Verträge von 23. Mai 1969 hebt die immer größere Bedeutung derselben Quelle des internationalen Rechts und als Mittel zur Entwicklung der friedlichen Zusammenarbeit zwischen
den Nationen hervor. Im islamischen System nehmen die Verträge eine einzigartige Bedeutung ein, weil sie das gesetzliche Hauptinstrument für die Herstellung friedlicher Beziehungen
mit der Außenwelt sind. Diese mit Nicht-Muslimen abgeschlossenen Verträge schaffen eine
Möglichkeit zwischen den Parteien, die ideologisch entgegengesetzt sind. Während ihrer Gültigkeit werden die Normen des gegenseitigen Verhaltens hergestellt, die von Parteien akzeptiert werden und als rechtliche Grundlage für den friedlichen Austausch dienen. Die Zulässigkeit, mit den Ungläubigen Verträge abzuschließen, leitete sich aus dem Koran und der Praxis
des Propheten ab.143
Das Recht nach traditionellem islamischem Verständnis ist dennoch Gottesrecht. Der Mensch
kann daher keine Gesetze schaffen, es ist ihm allenfalls erlaubt, die von Gott gegeben Gesetze
zu interpretieren. Dadurch ergibt sich für islamische Staaten das Konzept der Theokratie, welches in einem grundlegenden Widerspruch zu den überwiegend liberalen westlichen Gesellschaftsformen steht. Dennoch hat es im islamischen Rechtskreis schon frühzeitig Säkularisierungstendenzen144 gegeben. dadurch, dass ein nicht unerheblicher Teil des islamischen Rechts
auf sekundärer Rechtsfindung durch Auslegung und Schlussfolgerung beruht, zeigt sich, dass
die von zahlreichen traditionalistischen Rechtsgelehrten formulierte Aussagen:“ Gott allein ist
der Gesetzgeber“, in der Praxis sehr stark eingeschränkt ist.145
Allerdings kann nicht von einem homogenen inneren Diskurs gesprochen werden. Nach gegenwärtigem Stand haben sich folgende Auffassungen bezüglich der Geltung von Menschen-
5.
einmal im Leben, wenn es die ökonomischen Verhältnisse erlauben, die Pilgerfahrt nach Mekka/Medina vornehmen muss.
In der Ausführung der Rituale, die diese fünf Säulen ausfüllen, bestehen geringfügige Unterschiede, Tibi, Im
Schatten Allahs, München 1994, S. 69.
141
Muslime dürfen den Text zwar unterschiedlich deuten, aber nicht einer kritischen Reflexion unterziehen oder
relativieren.
142
So auch Lohlker, Das islamische Recht im Wandel, Münster 1999, S. 378ff.
143
Salem, Islam und Völkerrecht, Berlin 1984, S. 165, der auch die verschiedenen Verträge detailliert aufführt.
144
Unter dem Begriff der Säkularisation versteht man den Entzug oder die Entlassung einer Sache, eines Territoriums oder einer Institution aus kirchlich-geistlicher Observanz und Herrschaft, Percin, Die Kompatibiliät des
säkularen Staates mit dem Islam, Berlin 2013, S. 29.
145
Knüppel, Religionsfreiheit und Apostasie in islamisch geprägten Staaten, Frankfurt am Main 2010, S. 163ff.
43
rechten herausgebildet146
-
Traditionalistische Auffassung: Die sunnitischen Schriftgelehrten verweisen auf die
ausschließliche, alle Lebensbereiche betreffende Geltung der Scharia. Individuelle
Rechte als Berechtigung gegenüber dem Staat gibt es nicht;
-
Islamistische Auffassung: Diese bejahen die formale Geltung der Menschenrechte. Sie
berufen sich auf spezielle Menschenrechte der Muslime, wie sie in der Scharia verankert seien und z.B. in der „Allgemeinen Islamischen Erklärung der Menschenrechte“
zum Ausdruck kommen. Tatsächlich übertragen sie jedoch ihre eigene Menschenrechtsvorstellung in die Scharia, deren Rahmen die Lösung für alle Probleme ist;
-
Reformistische Auffassung: Diese streben eine Neuinterpretation islamischer Vorschriften in einem inner-islamischen Kontext an. Lebensbereiche sollen zwar gemäß
islamischen Wertvorstellungen, allerdings nach modernen Erfordernissen geregelt
werden, vor allem bei umstrittenen Fragen wie Körperstrafen, Gleichstellung von
Frauen und Religionsfreiheit. Einige moderne und liberale Muslime kommen sogar
dazu, die Menschenrechte als Rechte aller anzuerkennen;
-
Streng säkularistische Auffassung: Diese grenzen sich von den sakralen Primärquellen
ab und befürworten die Trennung von Staat und Religion. Erst eine Säkularisierung
mache es möglich, Menschenrechte im islamischen Raum zu etablieren.
Die Existenz dieser unterschiedlichen Richtungen verdeutlicht, dass es „den Islam“ als einheitlichen Bezugsrahmen nicht gibt, denn es existieren zahlreiche Gruppen mit Unterschieden
hinsichtlich religiöser und politischer Ansichten.
Es ist derzeit nicht absehbar, welche der verschiedenen Haltungen sich langfristig durchsetzen
wird. Die völkerrechtliche Wirklichkeit stellt sich aktuell jedenfalls so dar, dass eine vollständige Annährung des islamischen Menschenrechtsbildes an das westliche Menschenrechtsbild
utopisch erscheint.
III. Die Konflikte im traditionellen Staatskirchenrecht147 als vergleichbares Problem
Dass Menschenrechte durch Religionen oder Religionsgemeinschaften gefährdet sind, zeigt
sowohl ihre Geschichte als auch ihre Gegenwart. So mussten die Menschenrechte in der Aufklärung gegen den Widerstand der katholischen Kirche durchgesetzt werden, und gegenwärtig
stellt sich insbesondere in Bezug auf den Islam die Frage, ob dieser zu ähnlichen Entwicklungen der Anerkennung des säkularen, die Menschenrechte garantierenden Verfassungsstaates
in der Lage ist, wie sie die christlichen Kirchen (bislang) vollzogen haben.148
146
Vgl. Details bei Knüppel, Religionsfreiheit und Apostasie in islamisch geprägten Staaten, Frankfurt am Main
2010, S. 168.
147
Zur terminiologischen Diskussion von „Staatskirchenrecht“ bzw. „Religionsverfassungsrecht, vgl. von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, München 2006, S. 39ff.
148
Bielefeldt, u.a., Religionsfreiheit. Jahrbuch der Menschenrechte 2009, Wien, u.a. 2009, S. 209.
44
Der Herrschaftsanspruch der Kirche steht zunächst in prinzipiellem Widerspruch zum säkularen Souveränitätsanspruch des modernen Staates.
In früherer Zeit gerieten Staat und Kirche in eine Vielzahl von Auseinandersetzungen, die
schnell eskalierten.149 Während zunächst von protestantischer Seite eine Linie strikter Neutralität verfolgt wurde, änderte sich dies, als Papst Pius IX durch den Syllabus von 1864 gegen
die Souveränität und Liberalität des modernen Staates und gegen die Autonomie der liberalen
Regierung proklamierte. Dies kulminierte schließlich 1870 in der Dogmatisierung der Allgewalt des Papstes und strikten Infallibilität. Der Staat reagierte darauf dahingehend, dass er der
Kirche in innerkirchlichen Angelegenheiten freien Spielraum ließ. Hierbei stellte sich recht
schnell die Frage, wo die Grenze zwischen staatlichem und kirchlichem Recht verlief und ob
der Staat tatsächlich Vorrang vor der Kirchengewalt hatte. Dies war die Kernfrage des Kulturkampfes150 schlechthin151, dessen Entwicklung im Folgenden dargestellt wird und die Entwicklung bis in die Moderne fortschrieb.
Der Anspruch der Päpste, aufgrund ihrer geistlichen Vollgewalt auch die oberste Herrschaft
in irdischen Dingen innezuhaben152 und dementsprechend Vorrang gegenüber aller weltlichen
Gewalt, war schon mit dem Programm der Kirchenreform aufs engste verbunden, sog. päpstlicher Weltherrschaftsanspruch. So stand für Bonifaz VIII fest, dass Christus zwei Schwerter153 in die Hand des Papstes gelegt habe, der das weltliche Schwert an Kaiser und Könige
weitergebe, aber unter dem Vorbehalt, dass diese es nach Weisung des Papstes führten.154
Diese Übersteigerung des päpstlichen Machtanspruchs universaler Art führte zum Konflikt
mit den staatlichen Mächten und das Papsttum geriet in eine Legitimationskrise, die 1408 die
Kardinäle durch die Einberufung eines allgemeinen Konzils zu lösen versuchten.155 Es ging
dabei um die Frage, ob die geistliche wie die weltliche Herrschaft auf unmittelbarer göttlicher
Einsetzung beruhte oder ob sie sich nach Gottes Wille auf die Repräsentation der Beherrschten gründete. Schließlich wurden die dem Papst vorbehaltenen Rechte zugunsten der Bischöfe
eingeschränkt und vom Papst ein Eid gefordert, in dem er die Oberhoheit des Konzils anerkannte. Eine Neugliederung der Kirche blieb jedoch zunächst aus. Trotz alledem entwickelten
sich auch immer mehr nationalkirchliche Bestrebungen, die den päpstlichen Einfluss zugunsten der Krone zurückzudrängen suchten. Was nun folgte, war eine Zeit des Umbruchs und
eine Zeit der Entdeckungen. Die Grunderkenntnis dieser Reformationsentwicklung war
schließlich, dass allein die Bibel und keine menschliche Autorität von päpstlichen Lehrentscheidungen, kirchlicher Vernunft oder Tradition als Quelle und Norm bestehen konnte. Dies
löste einen tiefgreifenden Wandel von Kirche und Kirchenrecht aus. Luther entwickelte daran
seine Zwei-Reichs-Lehre, die bereits eine Trennung von Staat und Kirche vorsah. Ungeachtet
des alten Streits zwischen Papst und Kaiser um die Vorherrschaft blieben diese jedoch wei149
Vgl. dazu Heckel, in: FS Mikat, Berlin 1989, 545.
Der Kulturkampf bezog sich weitgehend auf die gemeinsamen Angelegenheiten wie das theologische
Fakultätenrecht, den Religionsunterricht, das christliche Schulwesen, Anstalts- und Militärkirchenwesen, Friedhofsrecht, Denkmalwesen, Kirchensteuerrecht und Fragen der Kirchenaufsicht über kirchliche
Vermögensverhälntisse, Heckel, in: FS Mikat, Berlin 1989, 545.
151
Huber, Verfassungsgeschichte, Band 4, Stuttgart 1969, S. 690
152
Vgl. dazu Heiler, Altkirchliche Autonomie und päpstlicher Zentralismus, München 1941; Ullmann, Die
Machtstellung des Papstes im Mittelalter, Graz,u.a. 1960.
153
Zurückzuführen auf Luk. 22,38.
154
Bulle „Unam sanctam“ von 1298, Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, München 2009, S. 43.
155
Sehr detaillierte Darstellung bei Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, München 2009, S. 46.
150
45
terhin verbunden, was sich bereits in der Benennung als „Heiliges Römisches Reicht deutscher Nation“ ausdrückte.156 Zum eigentlichen Reformator des Kirchentums wurde Johannes
Calvin (1509-1564). Sein Programm des Reformentwurfs enthielt die Unabhängigkeit einer
kirchlichen Organisation von den weltlichen Behörden, die nur noch dadurch verbunden war,
dass ein Rat zwischengeschaltet war. Welt und Kirche standen beide unter Herrschaft Christi,
was bedeutete, dass sich die Welt an christlichen Prinzipien ausrichtete. Die Bibel war kein
Gesetz, jedoch als Richtschnur für eine gerechte Ordnung heranzuziehen.157 Für die Kirche
bedeutete dies, dass die weltliche Herrschaft über sie dem göttlichen Recht widersprach. Es
wurde sodann kirchlicherseits weiterhin die Rückgewinnung des verlorenen weltlichen
Machtbereichs angestrebt, sog. Gegenreformation158, die jedoch scheiterte. Es hatte sich gezeigt, dass der Glaubenskonflikt weder im Sinne der Reformatoren noch im Sinne der Gegenreformatoren zu lösen war, so dass am 25.09.1555 der Augsburger Religionsfrieden geschlossen wurde.159 Damit wurde die Lösung des Konfessionenkonflikts durch Gewalt ausgeschlossen, wenn auch die Friedens- und Schutzordnung des Religionsfriedens auf die „alten“ Religionen“ beschränkt waren. Der Augsburger Religionsfrieden160 bedeutete den Umbruch vom
Mittelalter zur Neuzeit. Das Vertragswerk verbindet die mittelalterliche Idee der Einheit von
weltlichem und kirchlichem Gemeinwesen von der selbstverständlichen Glaubensgebundenheit allen Rechts, mit der neuzeitlichen Abschichtung beider Rechtssphären, um über den Religionskonflikt hinweg die politische Rechtseinheit zu wahren.161 Auf diese Weise bildete sich
langsam eine Verfassung als neutrale Friedensordnung über streitende Religionsparteien heraus, indem es die beiderseitigen Absolutheitsansprüche relativierte, ohne ihnen die Berechtigung abzusprechen, so dass er die Einheit des Reiches gerettet hatte, indem er die Konfessionen in ein politisches Kooexistenzsystem eingefügte. In der Folgezeit gab es eine Reihe von
Interpretationsdifferenzen, die schließlich 1618 u.a. in den Dreißigjährigen Krieg und die gewaltsame Lösung der Religionsfrage mündeten.162 Ohne schließlich einen Sieger herbeiführen
zu können, wurde der Westfälische Frieden mit Schweden und Frankreich unterzeichnet. Man
war sich einig, dass es keine kirchliche Wiedervereinigung geben sollte, aber die dauerhafte
Religionsspaltung sollte nicht wieder kriegerisch enden. Das Gemeinwesen verstand sich
fortan als paritätisches mit gleichen Rechten und Pflichten für alle Religionsparteien. Die Religionsparteien verzichteten darauf, ihren Absolutheitsanspruch mit weltlichen Mitteln durchzusetzen und die staatliche Ordnung löste sich von der theologischen Wahrheitsfrage. Das
Reich wandelte sich zum konfessionell neutralen Staatsgebilde und setzte damit ein Zeichen
des modernen neutralen Verfassungsstaates.163 Dieser Rationalisierungsschub veränderte das
156
Lübbe-Wolff, Der Staat 23 (1984), 369.
Dies stand in einem gewissen Spannungsverhältnis zur lutherischen Zwei-Reiche-Lehre.
158
Schmidt/Jacobs, Die katholische Reform und die Gegenreformation, Göttingen 1975.
159
Vgl. allgemein dazu beispielsweise, Gaertner/Godel, Religionsfreiheit und Frieden. Vom Augsburger Religionsfrieden zum europäischen Verfassungsvertrag, Frankfurt am Main 2007; Gotthard, Der Augstburger Religionsfrieden, Münster 2004; Wüst/Kreuzer/Schümann, Der Augsburger Religionsfriede 1555- Ein
Epochenereignis und seine regionale Verankerung, Augsburg 2005; Graf/Wartenberg/Winter, Der Augsburger
Religionsfrieden. Seine Rezeption in den Territorien des Reiches, Leipzig 2006.
160
Vgl. Heckel, JZ 2005, 961.
161
Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, München 2009, S. 79.
162
Vgl. zur Entwicklung des Dreißigjährigen Krieges, Heckel, Die Krise der Religionsverfassung und die Anfänge des Dreißig´jährigen Krieges, in: Repgen, Krieg und Politik 1618-1648, München 1988, S. 107.
163
Der päpstliche Einspruch hiergegen verhallte ungehört, Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, München 2009, S.
98.
157
46
Weltbild, ohne die Abkehr des christlichen Glaubens zu propagieren. Während man sich deutlich vor Augen geführt hatte, dass die Religionskriege des Abendlandes an den Rand des Abgrunds geführt hatten, musste eine Ordnung gefunden werden, die für alle gleichermaßen
Verbindlichkeit beanspruchen konnte. Anstatt der Berufung auf göttliches Recht, drang der
Vernunftsgedanke in den Vordergrund, um sich über alle Religions- und Bekenntnisgrenzen
hinaus verständigen zu können.
Den letzten Schritt zur Verwirklichung der angedachten Reformen wurde nach den napoleonischen Kriegen mit dem Reichsdeputationshauptschluss vom 25.02.1803 gänzlich vollzogen.164 Für die katholische Kirche in Deutschland bedeutete dies den Verlust ihrer weltlichen
Machtbastionen und zugleich das Ende der Adelsherrschaft in der Kirche, sog.
Entfeudalisierung.165 Die konsequent verfolgte Säkularisierung sorgte dafür, dass der Staat
wichtige Arbeitsbereiche der Kirche, wie Schule, Eherecht, Armenfürsorge und Krankenpflege, übernahm. Die Ordnung spaltete sich mehr und mehr in zwei Teilbereiche von politischsozial und kirchlich.
Die katholische Kirche suchte daher Rückhalt beim Papst. Der Höhepunkt dieser Neuausrichtung wurde mit dem 1. Vatikanischem Konzil und dem Codex von 1918 erreicht. Obwohl es
einige Relativierungen im 2. Vatikanum gab, dauert es bis heute an.
Die gewandelten Verhältnisse bedurften nun einer Absicherung. Die Neuordnung Europas
nach den verheerenden Auswirkungen des napoleonischen Krieges sollte im Zeichen der
„Heiligen Allianz“ stehen, eines Bündnisses der christlichen Monarchen, dem die Religion
auch als Bollwerk gegen die Revolution galt.166 Die entsprechende Rechtsakte waren jedoch
nur noch im Vertragswege zu erreichen. Auf diese Weise begann das Zeitalter der Konkordate, deren Rechtsnatur schwierig zu bestimmen war.167 Problematisch war auf materieller Seite,
dass die Regierungen ihrerseits nicht bereit waren, auf bestimmte Kontroll- und Eingriffsrechte zu verzichten und dass der Anspruch der katholischen Kirchen auf die Gewährleistung einer katholisch geprägten Gesellschaftsordnung aufgrund des Paritätserfordernisses im Widerspruch zu den konfessionell gemischten Staaten stand. Dieses Spannungsverhältnis zwischen
dem kirchlichen Streben nach Autonomie und dem staatlichen Souveränitätsanspruch führte
schnell zu weiteren Konflikten.168 Zu einer Neuordnung kam es erst nach 1848. In der neuen
Reichsverfassung wurde die „volle Glaubens- und Gewissensfreiheit“ garantiert. Auch sollte
keine Religionsgemeinschaft Vorrechte genießen, so dass sich daraus das Verbot der Staatskirche ergab.169 Besonders diskutiert wurde während der Nationalversammlung, wie weit die
Grenzen der kirchlichen Autonomie reichen sollten. Zwar sollte jede Religionsgemeinschaft
ihre eigenen Angelegenheiten selber ordnen und verwalten dürfen, dennoch sollte sie den
Staatsgesetzen unterworfen bleiben. Schließlich einigte man sich auf die Schranke „des allgemeinen Gesetzes“, das sich nicht gegen eine bestimmte Religion richtete. Es dauerte jedoch
164
Die territoriale und politische Neuordnung Europas wurde durch den Wiener Kongress (1815) bestimmt.
Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, München 2009, S. 122.
166
Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, München 2009, S. 125.
167
Vgl. zu den Konkordatstheorie vgl. Obermayer, DÖV 1967, 505.
168
Strittig war beispielsweise, wie konfessionell gemischte Ehe zu behandeln seien, Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, München 2009, S. 129.
169
Jean d´Heur, der Staat 30 (1991), 442, Landau, in: Schieder, Religion und Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert 1993, S. 29.
165
47
nicht lange bis es erneut Konflikte gab, die schließlich zum sog. „Kulturkampf“ mit verschiedenen Kulturkampfgesetzen führten.170 Diese Zeit beschreibt den Zusammenstoß von Staat
und Kirche mit dem jeweiligen Souveränitätsanspruch. Bismarck wollte dem kirchlichen Absolutismus entgegentreten, den Papst Pius IX durch die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit auf dem 1. Vatikanischen Konzil ausgelöst hatte. Erst nach dem Wechsel zum
Papst Leo XIII wurde die Lage wieder entspannter.
Nach dem ersten Weltkrieg sollte erneut eine verfassungsrechtliche Neubestimmung der Beziehung des demokratischen Staates zu Religion und Kirche als wesentlicher Bestandteil einer
grundrechtsgesicherten Ordnung erfolgen. Der berühmte Kulturkompromiss von Weimar171
führte zu einer ausgewogenen Lösung, die auch ähnlich in das Grundgesetz übernommen
wurde und die als „Reformationsfolgenrecht“172 bezeichnet worden ist, das der Überwindung
der konfessionellen Feindschaft dienen sollte.
Das in Art. 137 Abs. 1 WRV beschriebene Verbot der Staatskirche konstatierte den bestehenden Zustand und Art. 137 Abs. 3 WRV gewährte Autonomie. 173 Diese wurde nicht mehr auf
„innere“ oder „geistliche Angelegenheiten“ beschränkt, damit ein Vorbehalt des Staates ausgeschlossen werden konnte. Gleichzeitig sollte es jedoch nicht zu einer Verdrängung der Kirchen aus der Öffentlichkeit kommen, so dass der Status als Körperschaft öffentlichen Rechts
im Artikel 137 Abs. 5 WRV gewährt wurde. Zudem sieht das deutsche Verfassungsrecht ausdrücklich Kooperationsangelegenheiten vor, z.B. die Regelungen zum schulischen Religionsunterricht (Art. 7 Abs. 3 GG) oder die Anstaltsseelsorge (Art. 141 WRV). Insoweit bot die
Bereichsverknüpfung eine sachgerechtere Lösung für die verschiedenen Kompetenzbereiche.
So wurde beispielsweise auch das Kirchenaustrittsrecht von der Kirche hingenommen, dass
der Staat aufgrund der negativen Religionsfreiheit den Bürgern zubilligte. Eine völlige Anerkennung konnte kirchlicherseits hingegen nicht erfolgen, da der Austritt dem göttlichen Recht
widersprach, über das auf menschlicher Ebene keiner dispositionieren konnte. Aufgrund dieses Kooperationsmodells wurde das deutsche Trennungsmodell lange als sog. „hinkende“
Trennung bezeichnet174, ist letztlich dennoch unangreifbar, da die Pflicht zur Partnerschaft in
bestimmten Sachgebieten nicht grundsätzlich gegen das Trennungsgebot aus Art. 140 GG
i.V.m. Art. 137 Abs. 1 WRV verstößt. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Kooperation von Staat und Kirche bei gleichzeitiger institutioneller Trennung beider Sphären führt bisweilen zur Unklarheiten über das „Wie“ der Zusammenarbeit.175 Dies gilt heute vor allem im
Hinblick auf den Islam. In Ermangelung einer organisierten Verfasstheit der islamischen Religionsgemeinschaften bzw. wegen fehlender Ansprechpartner gibt es aktuell Tendenzen, die
Rolle des Kooperationspartners dem Staat zu übertragen, was ihm aber wegen der prinzipiellen Trennung von Staat und Religion nicht erlaubt ist.
Die entscheidende Zäsur für die katholische Kirchenrechtsentwicklung brachte schließlich das
170
Franz, Kulturkampf. Staat und katholische Kirche in Mitteleuropa von der Säkularisation bis zum Abschluss
des preußischen Kulturkampfes, München 1954.
171
Vgl. dazu Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, Stuttgart 1993, S. 858.
172
Waldhoff, NJW-Beilage 2010, 90.
173
Vgl. zum Selbstbestimmungsrecht der Kirchen als Integrationshindernis, Schulte, ZAR 2013, 24.
174
Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2008, 162; Unruh, Religionsverfassungsrecht,
Baden-Baden 2009, 89.
175
Percin, Die Kompatitbilät des säkularen Staates mit dem Islam, Berlin 2013, S. 57; Czermak, Religions- und
Weltanschauungsrecht, Heidelberg 2008, S. 81ff.
48
2. Vatikanische Konzil (1962-1965).176 Es sollte eine Anpassung der Kirche an die moderne
Welt ohne kompletten Substanzverlust stattfinden. Es wurde die Möglichkeit eröffnet, den
regional ganz unterschiedlichen Bedürfnissen, Herausforderungen und Problemen einer Weltkirche differenziert zu begegnen. In seiner letzten Sitzung am 07. Dezember 1965 hat das
Zweite Vatikanische Konzil die bis dahin kontrovers diskutierte Anerkennung der Religionsfreiheit beschlossen und damit ihr ekklesiologisches Selbstverständnis grundlegend formuliert, dessen tatsächliche Umsetzung jedoch noch dauern wird, zumal auch nicht sämtliche
innerkirchlichen Gruppen überzeugt worden sind. Mit der Erklärung zur Religionsfreiheit
erkannt die katholische Kirche die Religionsfreiheit als in der Freiheitsnatur und der Würde
der menschlichen Person angelegtes Recht an.177 Mit dem Wahrheitsanspruch in Einklang
gebracht wurde das Bekenntnis zur Religionsfreiheit durch die Annahme, dass das Bekenntnis
zum staatlichen Grundrecht der Religionsfreiheit nicht zugleich ein Bekenntnis zur religiösen
Indifferenz einschließe. Daneben wird die Eigenständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat
und die gegenseitige Unabhängigkeit von kirchlicher und staatlicher Gewalt unter gleichzeitiger Anerkennung zu einer engen, sachorientierten und partnerschaftlichen Kooperation betont. Darin sind eine Abkehr von der Idee des konfessionellen Staates und zugleich ein Bekenntnis zum religiös neutralen Staat zu sehen.178
Notwendig wurde die innere wechselseitige Abstimmung zwischen staatlicher und kirchlicher
Ordnung, was mit der großen Säkularisation 1803 begann und schließlich mit der Trennung
von Staat und Kirche durch die Weimarer Verfassung von 1919 endete. Durch das Grundgesetz schließlich wurden die überkommenen Statusverschiedenheiten von evangelischer und
katholischer Kirche einander wesentlich angenähert.
Der so erzielte Kulturkompromiss, der das deutsche Staatskirchenrecht in wesentlichen Teilen
bis heute bestimmt, enthielt Elemente der Trennung, ohne jedoch tiefgreifend miteinander zu
brechen und der Kirche freie Entfaltung zugestand, ohne sie gänzlich aus dem Bereich des
Öffentlichen zu verdrängen und so die Religion zu privatisieren.179
Die Trennung erfolgte zum einen institutionell, also Trennung der Großverbände Staat und
Kirche, und auch funktional, also im organisatorischen Bereich. Während der Staat sich als
Einrichtung des weltlichen Soziallebens verstand, der sich vom Selbstverständnis her einem
säkular verstandenen Gemeinwohl180 widmet und diesen Zweck mit weltlich-rationalen Mitteln verfolgt181, kümmert sich die Kirche um das geistige Wohl, ohne jedoch als Moralapostel
auftreten zu können, denn die Privilegierung einer Staatskirche und die Etablierung eines
Zwangschristentums ist nicht mehr die Staatsaufgabe des modernen Staates. Als säkulares,
weltanschauliches neutrales Gemeinwesen identifiziert er sich mit keiner Religion mehr, die
176
Vgl. dazu Seeber, Das Zweite Vaticanum, Freiburg 1966; Löbmann, in: FS Mörsdorf, München 1969, S. 83;
Jedin/Repgen, Handbuch der Kirchengeschichte, Band 7, Freiburg 1979, S. 97.
177
Hense, in: Goldenstein, Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht? Rehburg-Loccum 2009, S.
105;
178
Listl, Kirche im freiheitlichen Staat, Band 2, Berlin 1996, S. 955 ff.
179
Link, in: FS Thieme, Köln u.a. 1993, S. 95; Rieder, Staat und Kirche nach modernem Verfassungsrecht, Berlin 1928; Ebers, Staat und Kirche im neuen Deutschland, München 1930; Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, München 1946.
180
So auch Quaritsch, Staat und Souveränität, Band 1, Frankfurt am Main 1970, S. 284.
181
Link, in FS Thieme, Köln u.a. 1993, S. 95 m.w.N.
49
auf seinem Staatsgebiet vertreten ist182 und verpflichtet sich zu strikter Paritätswahrung.
Säkularität und weltanschauliche Neutralität schließen nach dem Selbstverständnis eine Regelungskompetenz auf religiösem Gebiet gänzlich aus.183
Andererseits sicherte die Verfassung den Religionsgemeinschaften ihre öffentliche Wirksamkeit durch die Anerkennung des Kooperationsstatus.184 Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet dies als „verständige Kooperation“.185 In diesem Koordinationssystem stehen sich
Staat und Kirche als gleichberechtigte Partner gegenüber, so dass der Vertrag als angemessenes Regelungsinstrument erscheint.186
Der moderne, Gewalten teilende, die Menschenrechte garantierende demokratische Verfassungsstaat ist ein säkularisierter Staat, in dem geistliche und weltliche Macht voneinander
unterschieden werden und getrennt nebeneinander existieren. Dies bedeutet konkret, dass sich
der Staat nicht mit einer bestimmten Religion identifiziert, er gibt Religionen freien Raum zur
Entfaltung und er verwehrt der Religion den Zugriff auf staatliche Institutionen und Ämter. 187
Man kann dies auch in verkürzter Form als Trennung zwischen Staat und Kirche bezeichnen.
Diese vermeintliche Selbstverständlichkeit ist das Ergebnis jahrhundertelangen Ringes um
Machtansprüche.188
Die modernen Probleme, die aktuell im Hinblick auf den Islam bzw. gegenüber islamischen
Strömungen bestehen, sind prinzipiell eine Neuauflage einer bereits bekannten Problemkonstellation. Auch das Verhältnis der Kirchen zum Staat war keinesfalls von Anfang an unproblematisch und kann bis heute schwierig sein, wenn es zu Divergenzen kommt und sich die
verschiedenen Machtbereiche überschneiden.
Die Rechtslage der katholischen (und letztlich auch der evangelischen189) Kirche im 19. Jahrhundert wurde zunehmend dadurch geprägt, dass statt der bis dahin bestehenden selbstverständlichen Verbindung der Kirchen mit dem monarchischen Staat, die Idee in den Vordergrund trat, dass man genau wie die grundrechtlich geschützten Bürger einen grundrechtlich
abgesicherten selbständigen Bereich der Kirche begehrte. Nach dem Vorbild der belgischen
Verfassung von 1830 wurde dies in der Frankfurter Reichsverfassung von 1849 in Form verschiedener Rechte niedergelegt und hatte von dort eine Ausstrahlungswirklung auf die Weimarer Reichsverfassung.190 Diese Entwicklung der Verselbständigung der Kirchen war nicht
völlig frei von Konflikten.191
Diese Entwicklung ist das Ergebnis des notwendigen, wenn auch beschwerlichen Dialogs
zwischen Glaube und Vernunft, der vorliegend zu einer Reinigung des Glaubens durch die
182
So auch, Meyer-Teschendorf, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, Tübingen 1979.
BVerfGE 18, 385; 30, 415; 42, 312; 53, 366.
184
Vgl. dazu, Smend, ZeVKR 1952/1953, 374.
185
BVerfGE 42, 312.
186
Kritisch dazu, Marré, DVBl. 1966, 10.
187
Vgl. Böckenförde, Der säkularisierte Staat, München 2007, S. 12.
188
Vgl. dazu auch, Heckel, in: Dilcher/Staff, Christentum und modernes Recht, Frankfurt am Main 1984, S. 35.
189
Details dazu bei: von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, München 2006, S. 28ff.
190
Vgl. dazu sehr ausführlich zur geschichtlichen Entwicklung, von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht,
München 2006, S. 1ff.
191
Siehe dazu auch, Heckel, in: FS Mikat, S. 545ff; Huber, Verfassungsgechichte, Bd 4, Stuttgart 1969, S. 651ff;
Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte I, die katholische Kirche, Köln 1972.
183
50
Vernunft geführt hat.192 Deutlich geworden ist, dass Religion sich selbst den Erfordernissen
des Verfassungsstaates anpassen muss, wenn sie der freiheitlich organisierten Gesellschaft
nicht dauerhaft fremd gegenüberstehen will.
Der beschriebene Zusammenstoß der sich auf göttliches Recht gründenden Kirchen mit dem
modernen Staate als souveräner Ordnungsmacht des Weltlichen gibt dabei Lehren für zukünftiges Umgehen mit anderen Religionsgemeinschaften.
Gegenwärtig richtet sich diese Frage vor allem an den Islam, der neue Herausforderungen
schafft193, letztlich aber an alle Religionsgemeinschaften. Das Problem besteht darin, dass die
Kirchen seit Jahrhunderten bekannten Größe waren und man hinreichend sicher sein konnte,
dass diese von den ihnen zugestandenen Freiheiten in sozialverträglicher Weise Gebrauch
machen würden, was nun wiederum von andersartigen Religionsgemeinschaften erst gezeigt
werden muss. Auch die Bedeutung für die Kirchen ist noch ungewiss. 194 Feststeht, dass Kirche und Staat um dauerhaft Frieden zu erreichen, nicht nach entgegengesetzten Grundsätzen
leben können. 195
Mit Blick auf den Islam stellt sich zudem auch die Frage, ob dieser zu einer vergleichbaren
Entwicklung wie die katholische Kirche fähig ist. Die Fähigkeit von Religionen, angesichts
der Geltung von Menschenrechten, einen religiösen Kulturumbruch zu vollziehen, der die
Selbstbestimmung des Individuums auch in religiösen Angelegenheiten nicht nur äußerlich
akzeptiert, sondern auch tatsächlich umsetzt, ist deshalb auch aktuell der Gradmesser dafür,
inwieweit Religionen die Geltung der Menschenrechte akzeptieren. 196 Daraus ergeben sich
neue Herausforderungen. Das religiöse Spektrum hat sich in einer Weise aufgefächert, wie es
bei der Schaffung des Grundgesetzes noch unvorstellbar erschien. Vor allem die Einwanderung von Millionen von Muslimen hat das Bild verändert und Probleme verschärft. Der Islam
konnte sich so zu der drittgrößten Religionsgemeinschaft nach den beiden christlichen Kirchen entwickeln, so dass sich daraus die Grundsatzfrage stellt, ob das Staatskirchenrecht offen
genug ist, um sich den gewandelten Verhältnissen erneut anzupassen.197 Die Gefahren einer
Pluralisierung hatte auch das Bundesverfassungsgericht bei seiner Entscheidung über die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts im Blick. 198 Es ließ zwar den
Versagungsgrund mangelnder „Staatsloyalität“ nicht gelten, stellte aber klar, dass eine solche
Verleihung die prinzipielle Rechtstreue der jeweiligen Gemeinschaft zur Voraussetzung habe.
Die Religionsgemeinschaft müsse sich in die verfassungsgemäße Ordnung einfügen und insbesondere Gewähr bieten, die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die Grundrechte Dritter sowie die Grundlagen des freiheitlichen Religionsund Staatskirchenrechts (Religionsfreiheit, Toleranz, Parität) nicht durch ihr Verhalten oder
das ihrer Mitglieder zu gefährden.
Es gilt langfristig einen Mittelweg zu finden, der die Strukturen unseres Religionsverfas192
Böckenförde, Der säkularisierte Staat, München 2007, vgl. auch Listl, Kirche im freiheitlichen Staat, Band 2,
Berlin 1996, S. 989.
193
Vlg. dazu Stempel, Zwischen Koran und Grundgesetz, Hamburg 1986.
194
So auch Müller-Vorbehr, ZRP 1991, 345; Weber, NJW 1983, 2541.
195
Thieme, AöR 1955/56, 423.
196
Bielefeld, u.a., Religionsfreiheit. Jahrbuch der Menschenrechte 2009, Wien, u.a. 2009, S. 214f.
197
Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, München 2009, S. 248.
198
BVerfGE 102, 370.
51
sungsrechts wahrt, ohne dessen freiheitssichernde Institutionen in religionsgemeinschaftlicher
Beliebigkeit zu zersetzen und ohne die unabdingbaren Werte der rechtsstaatlichen Demokratie
zur Disposition zu stellen. Nur so kann einer Parallelgesellschaft entgegengewirkt werden, die
sich in Teilen dem gemeinsamen Rechtskonsens des freiheitlichen, demokratischen Verfassungsstaates entziehen. Das deutsche Staatskirchenrecht kann dies leisten, denn es schreibt
keine kirchlichen Privilegien fest, sondern ist vielmehr bestrebt, einen freiheitlichen Ordnungsrahmen für das sozialverträgliche Wirken aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften bereitzustellen.
Für den Islam in Deutschland lässt sich eine abschließende Prognose noch nicht vorhersehen,
da es keine verbindliche Instanz mit entsprechender Autorität gibt, die sich im Namen aller
Muslime gegenüber dem säkularen deutschen Staat äußern kann, so dass letztlich bislang nur
auf Einzelmeinungen von islamischen Verbänden oder einzelnen Muslimen abgestellt werden
kann.
1. Der Widerstand der katholischen Kirche gegen die Schwangerschaftsunterbrechung
als symptomhaftes Beispiel für den Infallibilitätsgedanken der katholischen Kirche
Wie der Islam, gibt auch die katholische Kirche, trotz jahrhundertelangem Ringen um Vernunft, regelmäßig Anlass zur Kritik. An den folgenden Beispielen soll kurz aufgezeigt werden, dass die auftretenden Konflikte nicht nur islamischen Hintergründen zugerechnet werden
können.199
Das Thema der Schwangerschaftsunterbrechung, oder auch unter Verwendung des Begriffs
der Abtreibung, ist oftmals einer großen öffentlichen Diskussion ausgesetzt. Diese ist wesentlich bestimmt durch Vorurteile auf der einen Seite und Rationalisierungsgedanken auf der
anderen Seite.
Die katholische Kirche lehnt die direkte Tötung eines unschuldigen Menschen immer ab und
bezeichnet Abtreibung als ein „verabscheuungswürdiges Verbrechen“ (2. Vatikanum). Johannes Paul II. widmete sich 1995 sogar intensiv dem Thema in der Enzyklika „Evangelium vitae“. Gemäß des Standpunktes der Kirche ist jedes Leben, auch das kranke oder behinderte,
von Gott her gesehen lebenswert und die Entscheidung darüber steht grundsätzlich nur Gott
zu. Der Mensch handelt anmaßend, wenn er sich zum Herrn über das Leben erhebt. Es wird
dabei häufig das Lebensrecht des „ungeborenen Kindes“ beschworen und man regt sich darüber auf, dass eine schmerzlose Tötung erfolgt, obwohl noch keine (weit entwickelten) Fähigkeiten vorhanden sind. Es wird dabei auch von Widernatürlichkeit der Abtreibung gesprochen. Hinter dieser behaupteten Menschenwürde des Fötus steckt im Wesentlichen allenfalls
eine religiöse Glaubensannahme. Eine „indirekte“ Abtreibung wird von der Kirche zudem
geduldet. Darunter ist eine Maßnahme zu verstehen, durch die der Abgang der Leibesfrucht
199
Das Beispiel der Schwangerschaftsunterbrechung sei hier nur rein exemplarisch benannt. Es gibt sicherlich
noch einige weitere wichtige Problematiken, in denen die katholische Kirche einen angreifbaren Standpunkt
vertritt, vgl. z.B. zur Stellung der Frau, Pahl, Soziale Rolle von Frauen in Religionsgemeinschaften:ein Forschungsbericht, Münster 2003, S. 55.
52
hervorgerufen wird, ohne dass man ihn beabsichtigt. Ein solches Tun kann sittlich erlaubt
sein, wenn z.B. eine schwere Gefahr für die Mutter anders nicht behoben werden kann (Pius
XII, UG 1111). Dass ein Wesen von Gott mit einer unsterblichen Seele ausgestattet ist, mag
einen hinreichenden Grund darstellen, diesem Wesen ein Lebensrecht einzuräumen. Dass
diese Bedingung auf den Fötus zutrifft, ist jedoch eine religiöse Glaubensannahme, die in einem säkularen Staat nicht zur Grundlage des Strafrechts gemacht werden darf.200
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen beiden Urteilen zur Schwangerschaftsunterbrechung201 deutlich gemacht, dass der Fötus ein menschliches Individuum ist, das zwar ein eigenes Überlebensinteresse hat, welches jedoch in besonderen Konfliktfällen den Interessen
der Schwangeren zu weichen hat.202 Für die verfassungsrechtliche Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs ist also zwischen des Lebens- und Menschenwürdeschutzes zu unterscheiden. Hinsichtlich des Grundrechts des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG hängt die Intensität des Lebensschutzes nach dem Konzept des anwachsenden Lebensschutzes vom Entwicklungsstand
des Embryos ab.203
Somit besteht zwischen der kirchlichen Anschauung und der gesetzlichen Grundlage ein wesentlicher Unterschied, der bislang nicht in Einklang gebracht werden konnte und auch absehbar nicht gebracht werden kann, da die jeweiligen Kriterien, die der Entscheidung zugrunde liegen, in einem Maße divergieren, das bislang unüberbrückbar erscheint. Ausdruck gefunden hat diese Divergenz, als Papst Johannes Paul II im Jahre 1998 den sog. Papstbrief an die
deutschen Bischöfe204 schrieb und sich darin besorgt zeigte, dass die kirchliche Beratungsarbeit durch das Ausstellen der Beratungsbescheinigung in die Tötung Unschuldiger verwickelt
sei. Der Schein bestätige zwar, dass eine Beratung stattgefunden habe, er sei andererseits aber
ein notwendiges Dokument für die straffreie Abtreibung, vgl. § 218 a Abs. 1 Nr. 1 StGB, sog.
Beratungslösung. Dies widerspreche jedoch dem christlichen Glauben, der den absoluten
Schutz des ungeborenen Kindes bedeute und Abtreibungen verurteile. Die Unrechtmäßigkeit
des Tuns solle der Gesellschaft verdeutlicht und nicht weiter verschleiert werden. Aus diesem
Grund solle zwar weiterhin eine umfassende Beratung von Schwangeren erfolgen, jedoch
werde in absehbarer Zeit keine Bescheinigung mehr ausgestellt werden. Die Bischofskonferenz hat daraufhin in mehrere Arbeitsgruppen Lösungsmodelle ausgearbeitet. Schließlich
wurde 1999 der Verein Donum vitae gegründet, der die Förderung des Schutzes menschlichen
Lebens zur Aufgabe hat, aber auch Beratungsscheine ausstellen kann, denn die katholischen
Beratungsstellen verzichten seit dem Papstbrief hierauf.
Diese Thematik zeigt auf der einen Seite die verschiedenen Standpunkte von Staat und Kirche, zeigt aber wiederum auch, dass eine Mittellösung gefunden wurde, die die Beteiligten
bislang akzeptieren können.
200
Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, Frankfurt am Main 1991, S. 145.
Vgl. BVerfGE 39, 1 (Abtreibung I) und 88, 203 (Abtreibung II).
202
Vgl. detaillierte Darstellung bei Hoerster, Abtreibung im säkularen Staat, Frankfurt am Main 1991; sehr kritisch dazu: Stahl, Bundesverfassungsgericht und Schwangerschaftsabbruch, Hamburg 2004 m.w.N; allgemein
zur Entwicklung: Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn. Kulturgeschichte des Abtreibungsverbots, Stuttgart 1988.
203
Sacksofsky, KJ 2003, 274.
204
Vgl. Abdruck des Papstbriefes bei Reiter, Der Schein des Anstoßes. Schwangerschaftskonfliktberatung nach
dem Papstbrief, Freiburg 1999, S. 34; Schlegel, Die Identität der Person, Freiburg 2007, S. 333ff.
201
53
2. Die Kruzifix-Problematik205
Ähnliche Divergenzen zwischen Staat und Kirche erscheinen in diesem Zusammenhang auch
in der sog. Kruzifix-Diskussion. Ausgangsbasis für den jahrelangen „Streit um das Kreuz“
war die Nichtigerklärung des § 13 Abs. 1 S. 3 der bayerischen Schulverordnung (VSO) vom
21.06.1983 wegen Verstoßes gegen Art. 4 Abs. 1 GG.206
Die Vorschrift hatte gelautet: „In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen.“ Ein Elternpaar in Bayern hat wegen seiner die Volksschule besuchenden Kinder Verwaltungsklage
mit dem Ziel erhoben, dass aus sämtlichen Räumen in öffentlichen Schulen die Kreuze entfernt würden. Das Bayerische Verwaltungsgericht Regensburg wies den Antrag ab. 207 Das
Kreuz, dessen Anbringung § 13 Abs. 1 S. 3 VSO vorschreibe, diene lediglich der verfassungsrechtlich unbedenklichen Unterstützung der Eltern bei der religiösen Erziehung ihrer Kinder.
Der Verwaltungsgerichtshof verwies auf die Schranken der Glaubensfreiheit, sich ergebend
aus dem Schulorganisationsrecht und den Grundrechten anders denkender Schüler, Schülerinnen und Eltern. Das bloße Vorhandensein einer Kreuzesdarstellung verlange weder eine Identifikation mit den dadurch verkörperten Ideen und Glaubensvorstellungen noch ein irgendwie
sonst darauf gerichtetes Verhalten. Es werde damit kein Absolutheitsanspruch erhoben und
auch
nicht
für
eine
bestimmte
christliche
Konfession
geworben.
Angehörige anderer Glaubensvorstellungen oder Weltanschauungen würden nicht diskriminiert.208 Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns war in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht worden. Damit kam der Wille zum Ausdruck, die obersten
Bildungsziele der Verfassung auf der Grundlage christlicher und abendländischer Werte unter
Wahrung der Glaubensfreiheit zu verwirklichen.
a. Die Kruzifix-Kontroverse und das Bundesverfassungsgericht
Das Bundesverfassungsgericht erklärte Kreuze/Kruzifixe unabhängig von der je konkreten
grundrechtlichen Situation aus objektiv-rechtlichen Gründen, nämlich wegen Verstoßes gegen
die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates, generell für verfassungswidrig. Das
Kreuz sei nämlich ein Symbol des Christentums, das den Christen an seinen Glauben erinnert
und seinen Glauben stärken kann. Das Kreuz sei weiterhin ein Symbol von Religion als we-
205
Sehr ausführlich dazu: Brugger/Huster, Der Streit um das Kreuz in der Schule, Baden-Baden 1998; Böckenförde, DÖV 1980, 323; Böckenförde DÖV 1980, 513; Gregor, Das Kreuz im „Kruzifix-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts, Münster 1999; Gut, Kreuz und Kruzifix in öffentlichen Räumen, Zürich 1997; Bayer, Wertekonsens in der Demokratie, Grünwald 1995; Kästner, Lernen unter dem Kreuz, ZevKR 41 (1996), 241; Benda,
ZRP 1995, 427; Benda, NJW 1995, 2470; Flume, NJW 1995, 2904; Goerlich, NVwZ 1995, 1184; Isensee, ZRP
1996, 10; Jestaedt, Journal für Rechtspolitik 1995, 237; Link, NJW 1995, 3353; Müller-Vorbehr, JZ 1995, 996;
Neumann, ZRP 1995, 381; Renck, ZRP 1996, 16; Höffe, JZ 1996, 83; Stricker, NJW 1996, 440; Zuck, NJW
1995, 2903; Häußler, ZevKR 1998, 461;Würtenberger, in: FS Knöpfle, München 1996, S.397.
206
Mittlerweile hat sich die Bezeichnung „Kruzifix-Beschluss“ eingebürgert. Dies ist aber insofern ungenau als
dass der Beschluss auch Kreuze mit umfasst.
207
BayVBl. 1991, 345; kritisch: Pawlowski, NJW 1989, 2240.
208
Detaillierte Darstellung bei Badura, BayVBl. 1996, 33.
54
sensbestimmender Teil der menschlichen Existenz schlechthin.209 Das Kreuz im Gegensatz
zum Kopftuch, das mehrere Deutungsmöglichkeiten zulässt, ist Symbol einer bestimmten
religiösen Überzeugung und nicht etwa nur Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten
abendländischen Kultur.210 Für den Nichtchristen oder den Atheisten wird das Kreuz zum
sinnbildlichen Ausdruck bestimmter Glaubensüberzeugungen und zum Symbol ihrer missionarischen Ausbreitung. Im Schulzimmer hat das Kreuz zudem appellativen Charakter und
weist die von ihm symbolisierten Glaubensinhalte als vorbildhaft und befolgungswürdig aus.
Der Andersdenkende kann sich der Präsenz und Anforderung des Kreuzes im Schulzimmer
nicht entziehen. Der negativen Dimension des Grundrechts kann demnach, über das Toleranzgebot hinaus, eine Schutzpflicht des Staates entspringen, wegen des Nichtglaubens oder
der Andersgläubigkeit nicht Zwang oder Nötigung ausgesetzt oder diskriminiert zu werden.211
Zusammen mit der allgemeinen Schulpflicht führen Kreuze in Unterrichtsräumen dazu, dass
die Schüler während des Unterrichts von Staatswegen und ohne Ausweichmöglichkeit mit
diesem Symbol konfrontiert sind und gezwungen werden, „unter dem Kreuz“ zu lernen. Nach
Dauer und Intensität („Unausweichlichkeit“) ist die Wirkung von Kreuzen in Unterrichtsräumen noch größer als beispielsweise in Gerichtssälen. Dennoch fordert das Gebot der religiösweltanschaulichen Neutralität des Staates nicht eine laizistische oder religionslose Schule
oder Schulerziehung. Der Staat kann im Rahmen seiner Schulhoheit Schulen mit religiösen
Bezügen ausstatten und in zulässigem Umfang mit religiösen Elementen versehen. Die christliche Gemeinschaftsschule ist aber keine missionarische Schule und beansprucht keine Verbindlichkeit christlicher Glaubensinhalte.212 Das Gericht verkennt nicht, dass, entsprechend
seiner früheren Rechtsprechung213, die bayerische Gemeinschaftsschule, in der gemäß Art.
135 S. 2 BayVerf die Schüler nach den Grundzügen der christlichen Bekenntnisse unterrichtet
und erzogen werden, „religiöse Bezüge“ aufweisen darf.214 Im Einklang mit dieser Rechtsprechung setzt es allerdings voraus, dass die Bejahung des Christentums in den Fächern außerhalb des Religionsunterrichts sich in erster Linie auf die Anerkennung eines prägenden
Kultur- und Bildungsfaktors bezieht, jedoch nicht auf verbindliche Glaubensbekenntnisse.
Entscheidend an dem Beschluss ist, dass das Anbringen von Kreuzen in Schulräumen wegen
der besonderen Bedeutung und Wirkung des christlichen Kreuzessymbols als eine staatliche
Handlung gewertet wird, die den zulässigen Umfang des Spielraums überschreitet, eine Gemeinschaftsschule mit religiösen Elementen zu versehen. Im Gegensatz zu den freiwilligen
209
BVerfGE 41, 65; BVerfGE 93, 1.
Ein Blick in die abendländische Geistesgeschichte und ihre Kulturtradition zeigt aber, dass seit jeher das
Kreuz einen nicht allein auf seine spezifisch theologische Aussage zu reduzierende Symbolfunktion hat: als
Zeichen einer sich christlich legitimierenden Herrschaft (Konstantin) als Zeichen einer von christlichen Werten
geprägten politischen Gemeinschaft (Staatssymbolik), als Zeichen der Nächstenliebe (Rotes Kreuz), als Zeichen
der auch zwischenmenschlichen Versöhnung, als Friedens- und Segenszeichen. Alles dies hebt den theologischen Symbolgehalt nicht auf, sondern übersetzt ihn gleichsam in konkrete Aspekte des menschlichen Lebens.
Der religiös neutrale Staat bleibt offen dafür, dass der Einzelne den tieferen Gehalt im Sinne des Glaubens erkennt, sich mit ihm auseinandersetzt oder dazu angehalten wird. Gerade darin liegt auch die vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobene Entwicklung zu einer autonom-sittlichen Persönlichkeit, zu der die Schule verpflichtet ist; Link, NJW 1995, 3353.
211
Badura, BayVBl 1996, 71.
212
Badura, BayVBl 1996, 71.
213
BVerfGE 41, 65.
214
Das Neutralitätsprinzip verpflichtet nicht zu einer wertneutralen Erziehung, vielmehr hat das Grundgesetz in
Art. 7 Abs. 3 GG ausdrücklich religiös oder weltanschaulich geprägte Schulformen zugelassen.
210
55
Schulgebeten, die für verfassungsrechtlich zulässig erklärt wurden,215 bewertet das Bundesverfassungsgericht das Anbringen von Kreuzen in Schulräumen als eine unausweichlich mit
der Identifikation des Staates mit dem Christentum konfrontierende Zwangssituation für diejenigen Schüler und Eltern216, die anders denken. Der entscheidende Gesichtspunkt ist demnach die Einschätzung von Bedeutung und Wirkung des Kreuzes als Symbol des Christentums in einem staatlichen Schulraum. Wegen dieser Feststellung treten die Befugnis des Staates, die religiösen Bezüge der christlichen Gemeinschaftsschule unter Beachtung des Toleranzgebotes (Art. 136 Abs. 1 BayVerf) auszugestalten, und die christliche Überzeugung anderer Schüler unverhältnismäßig zurück. Außerhalb des Religionsunterrichts, zu dessen Besuch
niemand verpflichtet ist, darf sich eine solche Schule nicht missionarisch verstehen und
christliche Glaubensinhalte als absolut voraussetzen. Sie muss auch für andere religiöse und
weltanschauliche Werte offen und nicht christlich-konfessionell fixiert sein. In der Sache
heißt das, dass in den „profanen“ Fächern der christliche Charakter in erster Linie durch die
Anerkennung des Christentums als prägender Kultur- und Bildungsfaktor bestimmt wird, wie
er sich in der abendländischen Geschichte herausgebildet hat.217
b. Versuche der Deutung des Kreuzes aus anderer Perspektive
Der ehemalige bayerische Ministerpräsident Stoiber hingegen führte aus, dass das Kreuz
Hoffnung, Toleranz, Solidarität, Nächstenliebe, Versöhnung bedeute, es also unsere Wertorientierung symbolisiere und zwar unabhängig davon, wie kirchennah oder kirchenfremd wir
seien. Der Staat definierte an dieser Stelle somit, das Kreuzsymbol habe keinerlei religiöse
Bedeutung, sondern lediglich eine geschichtlich-kulturelle und somit profane Bedeutung.218
Verbindlich festzulegen, was zu den Werten christlichen Glaubens gehört, ist dem säkularen
Staat ohnehin verschlossen und könnte überdies selbst theologisch gesehen nicht einheitlich
pauschal beantwortet werden. Die einzige Ideologie, die staatliche Schulen einseitig verbreiten dürfen, ist die des Grundgesetzes, und diese stellt lediglich einen stets individuell auszufüllenden Rahmen zur Verfügung. Eine etwa mögliche säkulare Bedeutung des Kreuzes im
Klassenzimmer könnte so niemals für rechtliche Zwecke von seiner religiösen Bedeutung
abgelöst werden. Die Suggestivwirkung des Kreuzes als ein in jahrtausendlanger Geschichte
verwurzeltes Glaubenssymbol ist, noch dazu in Verbindung mit der maßgeblichen konkreten
Bedeutung im Verständnis des jeweiligen Betrachters, nicht vollständig zu beseitigen. Die
etwaige ablehnende Haltung Andersgläubiger und ihre damit verbundenen negativen Empfindungen sind durch einen Hinweis auf die gewachsene Kultur nicht zu ändern.219 Der nach der
bisherigen Rechtsprechung in der staatlichen Ordnung des Schulwesens zu suchende Ausgleich, der unter Berücksichtigung der religiösen und weltanschaulichen Verhältnisse des jeweiligen Landes und der Schule zwischen dem Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates
215
BVerfGE 52, 223.
Das Elternrecht ist dennoch nicht ausschließlich, sondern wird durch den ihm gleich geordneten staatlichen
Erziehungsauftrag der Schule begrenzt, sog. Interdependenz von Elternrecht und staatlichem Erziehungsauftrag.
217
Link, NJW 1995, 3353.
218
Czermak, DöV 1998, 107.
219
Czermak, DöV 1998, 107.
216
56
(Art. 7 Abs. 1 GG), dem Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 GG) und der Glaubensund Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) zu finden ist, wird angesichts der durchschlagenden Bedeutung und Wirkung des Kreuzes im Schulzimmer aufgrund der unbedingten staatlichen Anordnung von vorneherein nicht für möglich gehalten und deshalb nicht in Betracht
gezogen. Das Gericht überging auch die Frage, ob es nicht genügen könnte, in Ausnahmefällen unzumutbaren Glaubens- und Gewissenszwangs eine vom grundsätzlichen Gebot des Anbringens eines Kreuzes abweichende Handhabung vorzusehen. Zusammenfassend haben folgende Aussagen des Beschlusses vom Bundesverfassungsgericht vom 16.05.1995220 Bindungswirkung:
- Das Kreuzsymbol hat in der staatlichen Schule immer auch die Bedeutung als „Symbol einer bestimmten religiösen Überzeugung“, d.h. es handelt sich um ein spezifisches Glaubenssymbol des Christentums.
- Der Staat hat hinsichtlich der Religion keine Kompetenz und hat demgemäß allen religiös-weltanschaulichen Überzeugungen gegenüber auf neutrale Art und Weise zu
begegnen.
- Das Symbol des Kreuzes übt mit seinem spezifisch-christlichen Symbolgehalt in der
Schule von staatlicher Seite her einen Einfluss auf die Schüler aus, sog. appellativer
Charakter.221
- Eben diese Einflussnahme kann nur im Widerspruch zur Neutralitätspflicht des Staates stehen und ist daher in Unterrichtsräumen generell unzulässig.
- Darüber hinaus wird in die Grundrechte der Glaubensfreiheit und des Elternrechts
ohne verfassungsrechtliche Rechtfertigung eingegriffen.
Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sind zwei Sondervoten angeschlossen. Diese abweichende Meinung unterstreicht, dass das Schulrecht und damit die Befugnis, Erziehungsziele festzulegen, Sache der Länder ist. Es kann dem Landesgesetzgeber nicht verwehrt
sein, bestimmte schultyp-prägende Wertvorstellungen in Unterrichtsräumen durch Kreuze zu
symbolisieren. Auch werde dadurch das weltanschaulich-religiöse Neutralitätsprinzip nicht
verletzt. Der bayerische Verordnungsgeber löste den notwendigen Ausgleich im Spannungsverhältnis zwischen negativer und positiver Freiheit gerecht. Das Symbol des Kreuzes hat für
einen Christen eine andere Bedeutung als für einen Andersgläubigen. Für diesen ist das Kreuz
nur ein Sinnbild für die Vermittlung der Werte der christlich geprägten abendländischen Kultur und daneben noch Symbol einer von ihm nicht geteilten, abgelehnten und vielleicht bekämpften religiösen Überzeugung.
Die Landesgesetzgeber222 haben nach der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung nun das
220
BVerfGE 93, 1.
Czermak, DÖV 1998, 107.
222
§ 5 BremSchulG, § 2 NSchG, § 2 HmbSG, § 4 SchulG SH, § 2 NRW SchulG, § 2 HSchG, § 2 SchulG M-V,
§ 4 Bbg SchulG, § 3 SchulG Berlin, § 1 SchulG LSA, § 1 SchulG Sachsen, § 2 ThürSchulG, § 1 SchulG Rheinland-Pfalz, § 1 SchulG BaWü, Art. 7 Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen, § 1
SchulG Saarland. Es fällt dabei auf, dass die Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin eher auf christliche Be221
57
Thema der christlichen Bezüge jeweils für sich geregelt und dem lag folgende Argumentationslinie zugrunde: Das Grundgesetz stelle fest, dass es sowohl Gemeinschaftsschulen, Bekenntnisschulen sowie Weltanschauungsschulen geben kann (Art. 7 Abs. 5 GG). Über diese
allgemeine Feststellung des Schultyps hinaus stehe dem Landesgesetzgeber die weitergehende Prägung der jeweiligen Schulform zu, d.h. er dürfe im Schulwesen die Erziehungsziele
festlegen und müsse bei dem gebotenen Ausgleich mit der Religionsfreiheit der Schüler auf
religiös-weltanschauliche Bezüge nicht völlig verzichten. So auch die Bestimmung über die
religiösen Bezüge einer christlichen Gemeinschaftsschule bis hin zu der Regelung des Schulgebets223 und der Anbringung von Kreuzen in Schulzimmern. Somit könne es den Ländern
nicht verwehrt sein, auch im Schulwesen die religiöse und konfessionelle Lebensform sowie
auch eine christlich gewachsene Tradition des Volkes zur Geltung zu bringen.
Die Konfrontation mit einem Weltbild, das die prägende Kraft christlichen Denkens bejahe,
diskriminiere nicht in einem verfassungsrechtlich unzumutbaren Glaubens- und Gewissenskonflikt, da das Ziel einer autonomen Persönlichkeitsbildung im weltanschaulich-religiösen
Bereich gewahrt sei. Dem elterlichen Erziehungswillen bleibe dann genügend Raum, um dem
Kind die eigenen Vorstellungen über den richtigen Weg zu Glaubens- und Gewissensbildung
oder deren Verneinung zu vermitteln.224 Er müsse dabei allerdings das unvermeidliche Spannungsverhältnis durch gerechten Ausgleich lösen, dürfe dabei aber nicht missionarisch auftreten und Verbindlichkeit für christliche Glaubensinhalte verbreiten. Dieser Auslegungsmöglichkeit begegnen jedoch folgende Bedenken: Das Anbringen des Kreuzes kann verfassungsrechtlich eben nicht durch die an sich zulässige religiös-weltanschauliche Ausrichtung der
Schule und auch nicht aus der positiven Glaubensfreiheit der Eltern und Schüler christlichen
Glaubens gerechtfertigt werden. Warum eigentlich nicht? Angenommen in einer betroffenen
Klasse befürworten beispielsweise 29 Schüler die Anbringung und lediglich ein einziger
Schüler findet sich in einer Zwangssituation seines Gewissens wieder. Warum kann darüber
denn nicht abgestimmt werden? Warum kann hier das Demokratieprinzip einer Mehrheitsentscheidung gegenüber dem Freiheitsprinzip nicht dominierend sein? Weil die positive Glaubensfreiheit allen gleichermaßen zusteht, nicht lediglich den christlich geprägten. Der daraus
entstehende Konflikt kann nicht nach dem Mehrheitsprinzip gelöst werden, denn gerade der
Schutz von Minderheiten steht bei dem Grundrecht der Glaubensfreiheit im Vordergrund. Die
Empfindungen Andersdenkender völlig zurückzudrängen, wäre auch im Sinne praktischer
Konkordanz undenkbar.225 Die so auf diese Weise gewonnenen Konsense, wären sozusagen
faktisch „Verträge zulasten Dritter“ und damit rechtlich unhaltbar. Denn sofern dabei nicht
ein Einstimmigkeitsprinzip vorgesehen würde, sondern sich die Mehrheit durchsetzen könnte,
wäre die Einführung eines Modells der Elternabstimmung mit einem verfassungsrechtlichen
Risiko verbunden. Im Schulgebets-Beschluss von 1979226 reichte der Widerspruch eines
Schülers oder dessen Eltern übrigens nicht aus, um das Schulgebet zu verhindern. Doch wurde das Schulgebet auch nur dann als unbedenklich erachtet, solange es auf freiwilliger Basis
züge verzichten im Vergleich zu den Flächenländern; vgl. zur „Ehrfurcht vor Gott als schulisches Bildungsziel in
Bayern“, Pawlowski, NJW 1989, 2240, der hier eine Bestimmung ohne normative Verbindlichkeit mit nur symbolischer Bedeutung sieht.
223
BVerfGE 52, 23 (Schulgebets-Urteil); vgl. allgemein dazu u.a. Lorenz, JuS 1974, 436.
224
Link, NJW 1995, 3353.
225
So auch: Badura, BayVBl 1996, 33.
226
BVerfGE 52, 223.
58
stattfand, es also mit anderen Worten eine Ausweichmöglichkeit gab, was in diesem Punkt
den entscheidenden Unterschied zum Kruzifix-Urteil ausmacht.
Die dargestellten Konflikte, die staatlicherseits mit der katholischen Kirche bestanden bzw.
auch zum Teil heute noch bestehen, dienen nur beispielhaft der Verdeutlichung, dass nicht
allein „der Islam“ die einzige Religionsgemeinschaft ist, die sich Kritik ausgesetzt sieht, sondern dass gerade auch die katholische Kirche über Jahrhunderte bis heute mit dem Staat Konflikte austrägt. Weitere Beispiele wären zudem die Haltung der katholischen Kirche zur
Kriegsdienstverweigerung227 oder die Frauendiskriminierung der katholischen Kirche hinsichtlich der Priesterweihe.228
c. Laizismus als Lösungsform bei kulturellen Spannungen?
Deutlich ist nunmehr, dass es grundsätzlich einen Ausgleich der widerstreitenden pluralistischen Interessen geben muss. International besonders häufig wird der sog. Laizismus praktiziert.
Der Laizismus beschreibt religionsverfassungsrechtliche Modelle, denen das Prinzip strenger
Trennung von Religion und Staat zugrunde liegt. Der Verfassungssatz „Es besteht keine
Staatskirche“ (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 1 WRV) gebietet in der Bundesrepublik
Deutschland dennoch bewusst keine streng laizistische229 Trennung von Staat und Kirche.
Die Weimarer Nationalversammlung von 1919 ordnete das Verhältnis von Kirchen und Staat
in der Weimarer Reichsverfassung dabei neu. Es wurde nicht ein vorgelagertes Verständnis
von Laizismus zugrundegelegt, sondern ein eigener Regelungskomplex geschaffen, der auf
Religionsfreiheit, weltanschaulicher Neutralität des Staates und der Selbstbestimmung sämtlicher Religionsgemeinschaften basierte. Dadurch wurde Religion nicht lediglich zur Privatsache erklärt, sondern blieb vielmehr öffentliche Angelegenheit, auf die der Staat jedoch keinen
227
Art 4 Abs. 3 GG befand sich seit jeher im Fokus von Diskussionen. Aus katholischer Sicht war eine Kriegsdienstverweigerung zunächst undenkbar, weil aus theologischer Tradition eine Kriegsdienstpflicht bestand, um
den gerechten (Glaubens-) Verteidigungskrieg führen zu können. Erst als die Problematik von Massenvernichtungswaffen auftauchte, ergab sich eine differenziertere Haltung und auf dem 2. Vatikanum wurde 1965 verkündet, dass aus Sicht der katholischen Kirche die Kriegsverweigerer, die eine andere Form eines Dienstes für die
menschliche Gemeinschaft bereit sind zu leisten, gesetzlich geschützt werden müssen, vgl. dazu Beckmann,
Hoffnung für die Kirche in dieser Zeit, Göttingen 1981, S. 299 ff.; Krücken, Kriegsdienstverweigerung, Bonn
1987; Diringer, IVB-Texte Kriegstdienstverweigerung und katholische Kirche, Uetersen 1989; Kubbig, Kirche
und Kriegsdienstverweigerung in der Bundesrepublik, Stuttgart 1978.
228
So hat Papst Jonannes Paul II im Jahre 1994 noch einmal klargemacht, dass es in der römisch-katholischen
Kirche keinen Platz für weibliche Priesterinnen gebe. Diese sei den Männern vorbehalten. Dies sei dem geschichtlichen Hintergrund zu entnehmen und bedeute keine Abwertung, denn Jesus selbst habe auch nur männliche Apostel auserwählt, vgl. zu diesem Thema z.B. Raming, Priesteramt der Frau, Münster 2002 (die sich 2002
hat weihen lassen, was vom Vatikan jedoch nicht anerkannt wurde) und im Vergleich zum Islam, Raming, Aufbruch aus männlichen „Gottesordnungen“: Reformbestrebungen von Frauen in christlichen Kirchen und im
Islam, Weinheim 1998.
229
Vgl. z.B. Fischer, Trennung von Kirche und Staat, Frankfurt am Main 1971; Huster, Die ethische Neutralität
des Staates, Tübingen 2002, S. 209 ff; Herms, der Staat (40) 2001, 327; Nagel, Eine Abhandlung über Gleichheit
und Parteilichkeit, Paderborn 1994, S. 214; Baynes, in: van den Brink/van Reijen, Bürgergesellschaft, Recht und
Demokratie, Frankfurt am Main 1995, S. 432.
59
Zugriff hatte. Rechtlichen Niederschlag fanden diese Prinzipien in Art. 135 bis Art. 141
WRV, die größtenteils weiterhin auch Bestandteil des geltenden Staatskirchenrechts sind.
Es wäre ein grundlegendes Missverständnis, wenn man davon ausgehen würde, dass die staatliche Rechtsgemeinschaft, die jedem sowohl Gerechtigkeit als auch Rechtsfrieden zugestehen
soll, allein auf freier Entfaltung der Persönlichkeit, den Rationalismus einer traditionslosen
Ethik und das positive Verfassungsrecht gegründet werden könnte. Der religiösweltanschauliche Staat, der sich den Ideen der Renaissance, der bürgerlichen Aufklärung und
der Französischen Revolution verpflichtet hat und der zum totalitären Staat entarten könnte,
wenn er die sittlichen Bedingungen seiner politischen Institutionen und Entscheidungswege
selbst gewährleisten wollte, muss dazu fähig sein, seine Legitimität in einer rechtlichen Lebensordnung zu sichern, die Selbstverwirklichung und Interessen des Einzelnen mit dem
Recht und der Freiheit aller zum Ausgleich zu bringen. Der verfassungsrechtlich gebotene
Schutz der individuellen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung ist eine Schranke
staatlichen Rechtsgebots, bedarf auch der gesetzlichen Sicherung, bestimmt aber nicht den
Inhalt des Rechts insgesamt.230
Festzuhalten bleibt, dass die staatliche und kirchliche Rechtsordnung zwar voneinander getrennt sind, jedoch erstrecken sich ihre Tätigkeiten auf ähnliche Arbeitsbereiche, so dass sich
Überschneidungen ergeben können, Art. 7 Abs. 3 GG ist Ausdruck davon.231 Dieses Kooperationsmodell hat sich bislang bewähren können und die dem Staat auferlegte Neutralitätspflicht
wird als ausreichend erachtet, so dass laizistische Gedankenmodelle nicht notwendig erscheinen.
3. Die Bhagwan-Fälle der 80er Jahre232
Die Kernfrage der Neutralität war auch bei den sog. Bhagwan-Fällen bedeutsam und zeigt an
einem anderen Beispiel, dass die vorliegende Problematik kein ausschließliches Problem der
christlichen Kirchen oder des Islams ist.
Das Verhältnis von Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland beruht auf dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der rechtlichen und organisatorischen Trennung. Die vom
Grundgesetz her gebotene weltanschauliche Neutralität des Staates bedeutet jedoch keine religiöse Indifferenz, sondern wird vielmehr als positive Neutralität verwirklicht, so dass ein
vielfältiges Beziehungsgeflecht der Zusammenarbeit besteht, das unterschiedliche Gebiete
gemeinsamer Interessen umfasst. Pluralistische Offenheit und kulturstaatlich intendierte
„Grundrechtsvorsorge“ sollen vielmehr Freiheit für die Grundrechtswahrnehmung in den
stsaatlichen Institutionen ebenso ermöglichen, wie einer „verständigen Kooperation“ des
Staates mit den Religionsgemeinschaften Raum geben und die staatliche Förderung grund230
Badura, BayVBl 1996, 33.
von Campenhausen/ de Wall, Staatskirchenrecht, München 2006, S. 94ff.
232
BVerwG NVwZ 1988, 937; OVG Hamburg, NVwZ 1986, 406; VGH München, NVwZ 1986, 405; BayVBl.
1985, 720; Alberts, NVwZ 1985, 92; Hufen, JuS 1987, 720; Zum Bhagwan-Verständnis: vgl. Karow, BhagwanBewegung und Vereinigungskirche, Stuttgart 1990; Haack, Die „Bhagwan-Rajneesh-Bewegung“, München
1984; Flöther, Der Todeskuss. Wahn und Wirklichkeit der Bhagwan-Bewegung, Stuttgart 1985.
231
60
rechtlichen Handelns auch auf dieses Gebiet legitimieren.233 Eine solch positive, offene Neutralität, die jeden Religionszwang ausschließt, kennzeichnet in ihrer Differenziertheit fortan
das religionsverfassungsrechtliche System unter dem Grundgesetz treffender, als es die klassischen Schlagworte von „Trennung“ oder „Verbindung“ von Staat und Kirche vermochten.
Eine derartige Ordnung grundrechtsgesicherter Freiheit gründete sich auch nicht mehr auf
eine Exklusivbeziehung des Staates zu den christlichen Kirchen, da ihr grundrechtliches Fundament die allen Glaubensrichtungen und Religionsgemeinschaften zukommende Religionsfreiheit bildete, soweit diese die verfassungsrechtlichen Grundwerte respektierten und sich
dort, wo die Wahrnehmung der verfassungsrechtlichen Angebote eine Kooperation mit dem
Staat zur Voraussetzung hatte, zu einer solchen Kooperation fähig und bereit zeigten. 234 Auch
unter den Bedingungen der sichtbar werdenden religiös-weltanschaulichen Pluralisierung, wie
sie bei Schaffung des Grundgesetzes noch unvorhersehbar war, erwies sich diese Ordnung als
offen genug um den gewandelten Herausforderungen größtmöglich freiheitssichernd gerecht
zu werden.235
Unter Bezugnahme dieser Grundsätze wurden auch die sog. Bhagwan-Fälle behandelt.
„Rajneesh“ Chandra Mohain Jin war ein indischer Philosophieprofessor und Begründer der
Neo-Sannyas Bewegung. Er nannte sich zuerst Acharya Rajneesh, danach Bhagwan Shree
Rajneesh und später Osho. Er war gegen jedes Glaubenssystem und betonte den Wert einer
authentischen religiösen Erfahrung gegenüber der Zugehörigkeit zu einer Religion. Der Weg
zur authentischen religiösen Erfahrung liegt in seiner Lehre darin, das Leben als Ganzes anzunehmen, es in allen seinen Facetten zu lieben und täglich zu feiern. Die von Osho ins Leben
gerufene Bewegung war in den 1970ern und 1980ern außerordentlich kontrovers und nicht
selten wurde sie, auch von öffentlicher Seite, als „Sekte“ bezeichnet. In den Bhagwan-Fällen
haben die angerufenen Verwaltungsgerichte einhellig den betroffenen Lehrern das Recht abgesprochen, die rote Kleidung eines Anhängers, eines Sanyasins, und dessen religiöse Kette
(sog. Mala) im Unterricht zu tragen. Diese Rechtsprechung war einerseits auf das aus Art. 4
Abs. 1 GG hergeleitete Neutralitätsprinzip gestützt. Andererseits wurde darauf hingewiesen,
dass die Sanyasin-Kleidung der Meditation diene und daher den Charakter einer Religionsuniform habe.236 Nun ist es in der Tat die Aufgabe eines Lehrers, in der Schule zu unterrichten
und nicht zu meditieren. Der BayVGH hat folgerichtig entschieden, dass es mit den Dienstpflichten eines Lehrers nicht in Einklang gebracht werden könne, unter diesen Umständen die
rote Kleidung eines Sanyasins nebst der Mala im Unterricht zu tragen. Daher sei diese Art,
sich zu kleiden, auch nicht von der Religionsfreiheit gegen die Durchsetzung der genannten
Dienstpflicht geschützt.237 Diese Entscheidung ist auch nicht zu kritisieren, denn die
Sanyasins würden anderenfalls bereits durch ihren bloßen Anblick missionarisch tätig, was
dem Staat und seinen Bediensteten aber gerade verwehrt ist. Im Gegensatz zum Kopftuch
konnte bei den Sanyasins keine andere Deutungsmöglichkeit festgestellt werden als die der
missionarischen, so dass das Verbot des Tragens der Sanyasins bei Lehrern auch als konsequent erscheint.
233
Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, München 2009, S. 229.
Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, München 2009, S. 229.
235
Pirson, in: FS Maurer, München 2001, S. 409.
236
BayVBl. 1985, 721; BVerwG, NVwZ 1988, 932; VBIBW 1998, 361.
237
Häußler, ZAR 1999, 32.
234
61
Dieses Beispiel zeigt erneut, dass die vorliegende Diskussion keine „islamische Problematik“
ist, sondern vielmehr eine grundsätzliche Spannungssituation darstellt, die sich in vielfältiger
Weise mit verschiedensten Religionsgemeinschaften wiederholt.
IV. Die Kirchenverträge238 als Ausgangspunkt zur Regelung des Verhältnisses von Staat
und Glaubensgemeinschaft
Im Hinblick auf die „großen“ Kirchen wurden bereits seit langem Vereinbarungen zwischen
Staat und Glaubensgemeinschaft getroffen, um gewisse Verhältnisse des gemeinsamen Wirkens verbindlich zu einer Regelung zu bringen und Konflikte beizulegen.
Der säkulare Staat und Religionsgemeinschaften im Allgemeinen stehen sich als zwei unterschiedliche Rechtssubjekte gegenüber, die unabhängig voneinander existieren. Da ihr personelles Substrat aber identisch und sich deren Aufgabenbereiche überlappen, stehen sie in vielfältiger Berührung.239 Auch wenn der Staat dabei die weltliche Rechtsordnung beherrscht, ist
es im Hinblick auf die Religionsgemeinschaften sinnvoll, Regelungen über diese nicht einseitig zu treffen, zumal die Verfassung die Eigenständigkeit der Religionsgemeinschaften fordert. Durch Kooperationsverträge kann dies Berücksichtigung erfahren.
Das sog. Vertragsstaatskirchenrecht240 bildet dabei eine nicht zu unterschätzende Quelle des
geltenden Rechts zwischen Staat und Kirche. „Konkordat“ bezeichnet umfassende Staatskirchenverträge mit dem Heiligen Stuhl, der Begriff des „Kirchenvertrages“ wird im Zusammenhang mit evangelischen Kirchen benutzt.241 Früher als die evangelische Kirche erkämpfte
sich die katholische Kirche einen konkordatsgesicherten Freiraum.242
Als Vorbild der Kirchenverträge und Oberbegriff wirkte der sog. „Loccumer Vertrag“ vom
März 1955243, dessen Präambel feststellt, dass Staatskirchenverträge „im Bewusstsein der
gemeinsamen Verantwortung“, „geleitet werden von dem Wunsche, das freundschaftliche
Verhältnis (...) zu fördern“.
Sogar die Verträge aus der Weimarer Zeit beanspruchen fortgesetzte Geltung, soweit sie nicht
durch neuere Regelungen ersetzt wurden. Ein solcher Vertrag zwischen Staat und Kirche hat
sich dahingehend bewährt, als dass es als Mittel zu einem Ausgleich widerstreitender Interessen gesehen werden kann. Bei Staatskirchenverträgen stehen solche Abreden im Vordergrund,
238
Vgl. dazu allgemein: Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche, Frankfurt am Main, 1965; Czermak,
der Staat 2000, 69; Pirson, in FS Liermann S. 176; Scheuner, in FS Ruppel, S. 312; Listl, Die Konkordate und
Kirchenverträge in der Bundesrepublik Deutschland in zwei Bänden, Berlin 1987; zur Regelung in den neuen
Ländern z.B. von Campenhausen, NVwZ 1995, 757;
239
Vgl. dazu von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, München 2006, S. 141ff.
240
Vgl. dazu allgemein: Keuffel, Staatskirchenverträge in der Praxis, Tübingen 2003; Pirson, in: FS Liermann, S.
177ff; Renck, ThürVBl. 1995, 31.
241
Vgl. dazu Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, S. 68ff; Listl,
Die Konkordate und Kirchenverträge in der Bundesrepublik Deutschland in zwei Bänden, Berlin 1987; Müller,
DÖV 1955, 421.
242
Obermayer, in: Fuchs, Staat und Kirche im Wandel der Jahrhunderte, Stuttgart 1966; weiterer Überblick bei,
Ebers, Grundriß des katholischen Kirchenrechts, Wien/Mainz 1950, S. 225.
243
Näher dazu von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, München 2006, S. 45 ff.
62
die im Wege der vertraglichen Übereinkunft in Bezug auf bestimmte Sachverhalte abstrakte
Regelungen schaffen.244 In Klauseln über Schulfragen haben sich die Beteiligten beispielsweise darüber geeinigt, den christlichen Charakter der jeweiligen Schulen festzulegen,245 zu
klären, wie die Fortbildung der Beziehung von Staat und Kirche im Hinblick auf die praktische Zusammenarbeit auszusehen hat, unzeitgemäß gewordene Leistungspflichten zu bereinigen und auch Fragen aus dem Bereich Theologischer Fakultäten festzulegen. Tatsächlich
vollzieht sich die Weiterbildung der Fragen des Staatskirchenrechts nach 1945 sogar in wesentlichem Maße durch solche vertraglichen Verabredungen.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass eine Regelung mit der katholischen Kirche meist schwieriger zu treffen ist als mit der evangelischen Kirche. Dies liegt darin begründet, als dass der
katholische Vertragspartner ein Interesse daran hat, dass die älteren Abmachungen nicht ersetzt werden, um nicht deren Gültigkeit zu bezweifeln.
Das Recht einer Religionsgemeinschaft, mit dem Staat einen Vertrag zu schließen, ist nicht
ausschließlich auf die großen Kirchen beschränkt. Seit 1949 haben viele Länder auch Vereinbarungen mit jüdischen und anderen kleinen Religionsgemeinschaften geschlossen, die jedoch
nicht verfassungsrechtlicher Natur sind.246 Die Verträge sind Ausgestaltung verfassungsrechtlicher Vorgaben und werden vom Gesetzgeber als Gesetze verabschiedet und verkündet, um
auf diese Weise den Vollzug für Behörden und Staatsbürger anordnen zu können. Tatsächlich
ist die Bindungswirkung bzw. Rechtsnatur solcher Abmachungen unter Berufung auf die
Souveränität des Gesetzgebers immer wieder in Zweifel gezogen worden.247 Teilweise werden die (evangelischen) Kirchenverträge lediglich als Verwaltungsvereinbarung angesehen,
die jederzeit zur Disposition des Gesetzgebers und der Verwaltung stehen.248 Weit überwiegend jedoch werden die Verträge verbindlich anerkannt. Wenn man dann davon ausgeht, dass
staatliche Verträge immer einer Ermächtigungsgrundlage bedürfen, so lassen sich diese heute
im Verfassungsrecht sowohl des Grundgesetz als auch der Landesverfassungen finden, so
kommt dies beispielsweise in Art. 140 GG i.V.m. Art. 138 Abs. 1 WRV zum Ausdruck, wo
die auf „Vertrag“ beruhenden Staatsleistungen der Ablösung durch die an Bundesgrundsätze
gebundene Landesgesetzgebung unterworfen werden.249 Die übrigen Rechtssätze des staatlichen Rechts sind bei Vertragsschließung zu beachten.250
Interessant ist vielmehr, wie der Staat seinen Kooperationspartner ansieht. Dieser darf nicht
unterstellt, sondern muss gleichberechtigt und unabhängig sein.251 Aus rein spiritueller Sicht
244
Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main
1965, S. 81.
245
Niedersachsen Art. 5, Schleswig-Holstein Art. 6, Hessen Art. 15, Rheinland-Pflalz Art 17,20, Scheuner, in:
FS Ruppel, S. 315.
246
Zum Begriff des „Staatsvertrages“, vgl. Scheffler, Islam-Vertrag in Hamburg, Berlin 2012 unter 7, der feststellt, dass Religionsgemeinschaften des Privatrechts, wie Islamverbände, wegen der fehlenden Eigenschaft der
Körperschaft öffentlichen Rechts nicht den Kirchen gleichgestellt sind und daher nicht Partner eines „Staatsvertrages“ sein können.
247
Vgl. dazu ausführlich, von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, München 2006, S. 146ff; Quaritsch,
in: FS Schack, S. 125; Quaritsch, der Staat 1962, 175.
248
Quaritsch, in: FS Schack, S. 127.
249
Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main
1965, S. 83.
250
Pirson, in: FS Liermann, Erlangen 1964, S. 179.
251
Scheuner, in FS: Ruppel, Hannover 1968, S. 324.
63
gebührt der Kirche aus ihrer Sicht jedoch ein ideeller Vorrang vor dem Staat, der jedoch keine
Auswirkung auf die vertraglichen Bindungen hat.
Sämtliche Arten von Vereinbarungen unterliegen den jeweiligen gesetzlichen Regelungen
über Zustandekommen und Wirksamkeit öffentlich-rechtlicher Verträge. Diese gelten nur
inter partes, sind also kein objektives Recht und können daher nicht als Rechtsquelle bezeichnet werden, gelten aber grundsätzlich unmittelbar und sind justiziabel, so dass eine Transformation entfällt.252 So wird beispielsweise auch in Staatskirchenverträgen mit der katholischen
Kirche sowie den evangelischen Landeskirchen die Mitwirkung der Kirchen bei der Ausgestaltung des Religionsunterrichts festgeschrieben. Die Lehrpläne werden dabei zwar von den
jeweiligen Bundesländern herausgegeben, sie bedürfen jedoch der Zustimmung der Kirchen.
Die Ausbildung der Religionslehrer ist eine gemeinsame Angelegenheit von Staat und Kirche,
sog. res mixta.253 Das Zusammenwirken von Staat und Kirche ist in den Staatskirchenverträgen teilweise bis ins kleinste Detail geregelt ebenso wie die Gestaltung von Lehr- und Prüfungsordnungen.254
1. Die Islamkonferenz255 als Initiator zu Staatsverträgen, Staatskirchenverträgen oder öffentlich-rechtlichen Verträgen
In der neueren Geschichte und auch aktuellen Diskussion versucht man, das Spannungsverhältnis zwischen religiösen Gemeinschaften und dem Staat dahingehend aufzulösen, indem
man Vereinbarungen trifft, die sich als Kompromisslösung für beide Seiten darstellen. Im
Hinblick auf eine deutsche Kooperation mit dem Islam wurde die Islamkonferenz ins Leben
gerufen, um einen Dialog zu ermöglichen und verbindliche gemeinsame Ziele von Staat und
Religionsgemeinschaft festlegen zu können.
Die am 27.09.2006 in Berlin eröffnete Deutsche Islam Konferenz (DIK) widmet sich der besonderen Situation der Muslime in Deutschland. Sie soll als langfristiger Verhandlungs- und
Kommunikationsprozess zwischen dem deutschen Staat und Vertretern der muslimischen
Bevölkerung verstanden werden und so auf diese Weise Wege zu einer besseren religionsund gesellschaftspolitischen Integration aufzeigen.
Die Konferenz besteht aus 30 ständigen Teilnehmern. 15 davon sind staatliche Vertreter aus
Bundesressorts, aus den zuständigen Fachministerkonferenzen der Länder und Vertreter aus
kommunalen Spitzenverbänden. Die Einbindung der Muslime erfolgt über die TürkischIslamische Union der Anstalt für Religion e.V. (DITIB), über den Zentralrat der Muslime in
Deutschland e.V. (ZMD), über den Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland e.V., über
den Verband Islamischer Kulturzentren e.V. (VIKZ) sowie über die Alevitische Gemeinde
Deutschlands e.V. (AABF). Allerdings muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass
lediglich 10 bis 15 % der muslimischen Bevölkerung überhaupt in islamische Organisationen
eingebunden sind. Aus diesem Grund wurden auch Einzelpersönlichkeiten aus Wirtschaft,
252
Czermak, der Staat 2000, 69.
Thormann, DÖV 2011, 945.
254
Walter, DVB. 2010, 993.
255
www.deutsche-islam-konferenz.de.
253
64
Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur eingeladen, um dem vielfältigen Leben der Muslime
Rechnung zu tragen und einen möglichst ausgedehnten Dialogprozess erreichen zu können.
Die Konferenz hat dafür eine Reihe von interessanten Arbeitskreisen eingerichtet, der die
wichtigen Bereiche „Deutsche Gesellschaftsordnung und Wertekonsens“, „Religionsfragen
im deutschen Verfassungsverständnis“ und „Wirtschaft und Medien als Brücke“ abdecken
soll. Zusätzlich gibt es einen Gesprächskreis „Sicherheit und Islamismus“. Insgesamt werden
dort grundlegende Fragen des Zusammenlebens, der rechtlichen Rahmenbedingungen und
religionspraktische Schwierigkeiten erörtert und abgewogen.256 Die bisherigen Diskussionen
machen deutlich, dass ein gemeinsames Verständnis von Integration als der Schlüssel für ein
gedeihliches Miteinander von Muslimen und Angehörigen der nicht-muslimischen deutschen
Mehrheitsgesellschaft angesehen wird. Der Weg dorthin versteht sich als Prozess, in dem kulturelle und religiöse Differenzen zum einen anerkannt werden und der gleichzeitig aber auch
die vollständige Akzeptanz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verlangt. Einigkeit herrscht darüber, dass noch verstärkte Bemühungen notwendig sind, denn Zuwanderer
erleben Identifikationsprobleme durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Kulturen und erleben dadurch auch Ablehnungs- und Diskriminierungserfahrungen.
Die Entwicklung eines in Deutschland gelebten Islam kann sich nur innerhalb des durch den
Rechtsstaat gesetzten Rahmens vollziehen. So hat auch die Arbeitsgruppe „Religionsfragen
im deutschen Verfassungsverständnis“ als Zwischenstand ihrer Beratungen festgehalten, dass
das Grundgesetz die maßgebliche Grundlage für das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern
und für das Zusammenleben der Bürger im Staat darstellt.
2. Die Möglichkeit und die Rechtsnatur der Verträge zwischen Staat und Islam, insb. das
Beispiel Hamburg
Seit den Diskussionen um die Staatsangehörigkeitsreform und spätestens seit der Novellierung des Einwanderungsrechts ist die Notwendigkeit der Integration anerkannt. Man spricht
insoweit von einem normativen Konsens. So auch der Gesetzesentwurf der Bundesregierung:
„Die Notwendigkeit einer systematischen Förderung der Integration von Ausländern zeigt
sich vor allem an Defiziten in der sprachlichen Verständigung, die zugleich zu einem beschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt und damit oft zu entsprechenden sozialen Folgelasten
führt.“257 Ziel sollte demnach das Einfügen in die rechtlichen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Bedingungen unseres Landes sein.258 Da sowohl die Mehrheit als auch die Minderheit mit dem Recht den Erhalt ihrer kulturellen Identität fordern, ist nach solchen Lösungen zu suchen, die beides ermöglichen, indem sie sich weder differenzblind zeigen, noch zu
einer Verfestigung von Parallelkulturen und soziokultureller Abschottung führen. Die Analyse der Konfliktsituation erfordert sowohl die objektiven Gegebenheiten genau zu untersuchen
als auch die Motive, Werte, Missverständnisse, unterschiedlichen Interessen, die die Konfliktparteien prägen. In der Regel formen sich die Konflikte in pluralistischen Gesellschaften
256
Vgl. Rogall-Grothe, ZAR 2009, 50.
BR-Drs. 22/03 vom 16.01.2003, S. 129.
258
So auch Schönbohm, ZAR 1997, 3.
257
65
in mehreren Dimensionen gleichzeitig:259 der ökonomischen, politischen, sozialen und psychologischen. Es ist darauf zu achten, die objektiven und subjektiven Gründe klar voneinander zu trennen. Nicht zuletzt sind es Aspekte, die aufgrund von unterschiedlicher kultureller
Prägung bei der anderen Partei ein ganz anderes Gewicht haben. Ziel sollte es sein, neue Perspektiven zu vermitteln, Selbsthilfe zu stärken, eine Machtbalance herzustellen, damit
Gleichberechtigung auch „gefühlt“ wird. Um es noch einmal zu verdeutlichen: Integration
erfordert dabei ein Entgegenkommen von beiden Seiten. Auf Seiten der Einwandernden sind
unabdingbare Integrationsanforderungen, die deutsche Sprache zu lernen und die Werte und
Normen des Grundgesetzes260 zu achten, vor allem die Grundrechte und dabei die beispielsweise nach Art. 3 Abs. 2 GG festgelegte gleichberechtigte Stellung der Frau respektieren261,
sog. normativer Konsens.262 Diese Grundvoraussetzung stellt sozusagen die Grenze für die
Verträge dar, die darüber hinaus inhaltlich völlig frei sind und eine Vielzahl von Regelungsgegenständen umfassen können.
Menschenrechte richten sich an Deutsche und Immigranten gleichermaßen. Dabei ist in diesem Rahmen die kulturelle Identität zu akzeptieren und jeder Assimilationsdruck zu vermeiden. Der Perspektivenwechsel vom Gesichtspunkt der Sicherung kollektiver Identität zum
Projekt der Verantwortung für individuelle Identität fragt nunmehr, ob normative Integration
auch auf der Basis bewusster Entwürfe und intersubjektiver Vereinbarung möglich wäre und
so ihren zwanghaften Charakter verliert. Die Frage nach der „Integrität“ stellt sich dann nicht
mehr als die Frage nach kollektiver normativer Integration, sondern als die Frage nach der
bewussten und rationalen Aneignung des eigenen, individuellen Lebens, eine Aneignung, die
so frei wie möglich des Fundus bedient, den die unterschiedlichen kulturellen Traditionen in
der Bundesrepublik im Laufe der letzten Jahrzehnte hinterlassen haben. Der aktive, interreligiöse und interkulturelle Dialog wird damit zum Medium des kulturellen Fortschritts. Die
Zuhilfenahme von Verträgen, um das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaft deutlicher auszugestalten hat sich bislang als äußerst wirksam erwiesen, eine Möglichkeit eines
vorurteilsfreien Dialoges zu schaffen und bei Berührungspunkten konfliktfreie Regelungen zu
treffen.
Welche grundsätzlichen Anforderungen müssen an einen solchen Vertrag gestellt werden,
dies wird im Folgenden zu erörtern sein.
Verträge des Staats, d.h. vor allem der kompetenzrechtlich vordergründig zuständigen Bundesländer, mit Religionsgemeinschaften, wie eben gesehen vor allem mit den traditionellen
Kirchen, aber auch mit einer Weltanschauungsgemeinschaft i.S.d. Art. 137 Abs. 7 WRV, haben faktisch zudem eine besondere Bedeutung. Da die Vereinbarungen zwischen Staat und
Religionsgemeinschaft regelmäßig parallel als staatliches Gesetz erlassen werden, unterliegen
sie insoweit den allgemeinen Regeln, insbesondere dem Gebot der Verfassungskonformität
und die besondere Qualität der vertraglichen Bindung soll den Staat möglichst dauerhaft binden.263 Sie bieten die Möglichkeit von Kooperationen und verfolgen dabei folgende wesentli259
Winkler, ZAR 1996, 123.
So auch Schuleri-Hartje/Reimann, ZAR 2005, 164.
261
Vgl. Süssmuth, ZAR 2004, 85.
262
Scheuner, in: Jakobs, Rechtsgeltung und Konsens, Berlin 1976, S. 33.
263
Czermak, der Staat 2000, 69.
260
66
chen Zwecke:264
-es geht um die Nähe von Staat und Religionsgemeinschaft.
-es geht um das beiderseitige Wohl von Staat und Kirche/Glaubensgemeinschaft.
- die Verträge werden der „Notwendigkeit der Errichtung einer dauerhaften Friedensordnung“
gerecht und dienen der Wahrung des „konfessionellen Friedens“.
- sie helfen, Konfrontationen zu vermeiden.
- das Vertragsrecht ist Ausdruck eines „freien und offenen politischen Lebensprozesses“, in
dem die Verantwortlichkeit der Regierung der „Sachangemessenheit von Regelungen“ den
Vorzug gibt vor der „Wahrung formaler Souveränität“.
- die Verträge sind von dem Wunsch geleitet, das freundschaftliche Verhältnis zwischen Land
und Landeskirchen zu festigen und zu fördern (Auszug des Loccumer Vertrags).
- es ist erklärte Absicht, die Position und das Ansehen der Religionsgemeinschaft in der Gesellschaft zu stärken; andererseits sind die Religionsgemeinschaften an den zahlreichen staatlichen Aktivitäten interessiert.
- die Verträge sind ein Element der konkreten Verständigung bis ins Detail hinein.
- die klare Entfaltung der jeweiligen Sachkonzeption und die besonderen Förmlichkeiten haben eine „gesunde Warnfunktion“.
- spätere Gesetzgebung beruht dabei auf vorangehender Absprache
Die Idee der Kooperation mit Vertretern des Islams basiert zunächst auf den
(Staats)Kirchenverträgen, mit denen gute Erfahrungen gemacht wurden. Auf diese Weise
wurde ein gegenseitiger Respekt einhergebracht, der weitergehendes Zusammenarbeiten fördern kann und gewisse strittige Bereiche festlegen kann, sog. Win-Win-Situation.
Zur Rechtsnatur dieser Verträge gibt es durchaus verschiedene Standpunkte265. Es könnte sich
dabei um
- Staatsverträge handeln:
Darunter ist ein völkerrechtlicher Vertrag mit zwei oder mehreren Staaten zu verstehen. Auch
die einzelnen Bundesländer können Staatsverträge abschließen. Der Begriff wird jedoch nicht
einheitlich gebraucht und daher werden auch Verträge mit Nichtregierungsorganisationen
Staatsverträge genannt.266 Möglich wäre auch, dass es sich um
- Staatskirchenverträge handelt:
Darunter ist ein Vertrag zwischen Staat und Religionsgemeinschaft zu verstehen. Das klassi264
Gute übersicht bei: Czermak, der Staat 2000, 69.
Vgl. dazu bereits Fn 165: Scheffler, Zum Islam-Vertrag in Hamburg, Berlin 2012.
266
Ein sog. Staatsvertrag wurde beispielsweise auch mit den Juden am 27.01.2003 geschlossen, die mit dem
Zentralrat der Juden auch die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts erlangt haben. Bei dem
Vertrag geht es vornehmlich um die Zahlung staatlicher Leistungen.
265
67
sche (im Hinblick auf den Pluralismus der Religionsgemeinschaften beschränkte) Verständnis
geht dabei jedoch davon aus, dass dieser Terminus nur bei den „großen“ Kirchen anzuwenden
ist. Wenn es sich bei der Religionsgemeinschaft um eine Form der nicht-christlichen handelt,
wird diese wiederum Staatsvertrag genannt.267 Weiterhin wäre die Form eines
- öffentlich-rechtlichen Vertrages möglich:
Darunter sind verwaltungsrechtliche Verträge zu verstehen, die nicht verfassungs- und völkerrechtlicher Natur sind. Inhaltlich muss der Vertragsgegenstand öffentlich-rechtlicher Natur
sein. Problematisch könnte dies dann sein, wenn im Vertrag eine Festlegung über die Koordination von Religionsunterricht erfolgt, weil es sich dann bereits um ein verfassungsrechtliches
Thema handeln würde. Es käme hierbei ganz entscheidend auf den jeweiligen Regelungsgehalt an.
Schließlich kann es sich auch um
- Verträge sui generis handeln,
da eine ausdrücklich Regelung bislang nicht besteht.
Eine Festlegung kann letztlich sogar dahinstehen, da es bei der Schließung des Vertrages
vorwiegend darum geht, ein moralisches und politisches Signal zu setzen. Aus rechtlicher
Sicht handelt es sich bei den sog. Islamverträgen am ehesten um einen Staatskirchenvertrag,
wenn man den jeweiligen Vertragspartner als „Religionsgemeinschaft“ anerkennt. Dass dieser
Begriff ursprünglich auf die Vertreter der „großen Kirchen“ beschränkt war, steht dazu nicht
wesentlich im Widerspruch, da wir in einer Zeit des Wandels leben und sich auch die Begrifflichkeiten an die tatsächlichen Verhältnisse anpassen lassen müssen.
Zu den Unterzeichnern des Hamburger Islamvertrages vom 13.11.2012 gehören der DITIBLandesverband Hamburg, der Schura-Rat der islamischen Gemeinschaften in Hamburg und
der VIKZ-Verband der islamischen Kulturzentren. Im Hamburger Islamvertrag werden in 13
Artikeln Bestimmungen geschlossen, die die besondere Bedeutung und weitreichende Toleranz des islamischen Glaubens betonen, es wird sich gemeinsam zu den Wertegrundlagen des
Grundgesetzes bekannt (Art. 2), wobei die Gleichberechtigung der Frau besonders hervorgehoben wird (Art. 2 Abs. 2). Darüber hinaus werden Einzelfragen geregelt, der Bau von Moscheen mit Kuppeln und Minaretten (Art. 9), die Bestattung auf öffentlichen Friedhöfen (Art.
10), die Beteiligung in öffentlich-rechtlichen Institutionen (Art.4, 5, 8), die Achtung der Speisevorschriften (Art. 7), die Anerkennung von drei islamischen Feiertagen (Art. 3) u.v.m.
Sogar die schwierige Behandlung des Religionsunterrichts wurde angesprochen und dergestalt gelöst, dass dieser in gemischt-konfessionellen Klassenverbänden unterrichtet wird. Unbeschadet davon, können die islamischen Religionsgemeinschaften bei Vorliegen der entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen einen besonderen islamischen Religionsunterricht
gemäß Art. 7 Abs. 3 GG verlangen (Art. 6).
Dieser Vertrag bedeutet jedoch (noch) nicht die Anerkennung als eine Körperschaft öffentlichen Rechtes, was wiederum bedeutet, dass wichtige Mitspracherechte und Finanzmittel noch
267
So auch der Vertrag zwischen Schleswig-Holstein und den Sinti und Roma vom 14.11. 2012.
68
nicht beansprucht werden können und die finanzielle Verantwortlichkeit daher vollständig bei
den Religionsgemeinschaften liegt.
Interessant erscheint auch, dass die Vertragsparteien von einer absehbaren Weiterentwicklung
der Beziehungen ausgehen und daher nach Ablauf von zehn Jahren erneut ergänzend verhandeln werden (Art. 13).
Der Vertrag hat einen bedeutsamen Symbolcharakter und man wird nunmehr abwarten müssen, wie Wohlfahrtsverbände, Kirchen und andere öffentlich-rechtliche und zivile Organisationen damit umgehen werden.
3. Die Problematik eines solchen Vertrages im Land Bremen „Bremer Klausel“268
Innerhalb des grundrechtlichen Rahmens haben also auch die Länder die Möglichkeit, besondere Akzente im Religionsverfassungsrecht zu setzen, was auch tatsächlich so erfolgt ist.
Bremens Verfassung von 1947 zeigt eine deutlich hervortretende Tendenz zur Distanzierung
des Staates von der Kirche, Art. 59 I der Landesverfassung stellt die Trennung von Staat, Kirche und Religionsgemeinschaften an vorderste Stelle des entsprechenden Abschnitts. Im
Schulrecht wird in Art. 33 S. 1 „der Grundsatz der Duldsamkeit“ betont und entsprechend
dazu ergänzt, dass die allgemeinbildenden öffentlichen Schulen Gemeinschaftsschulen sind
mit einem „bekenntnismäßig nicht gebundenem Unterricht in biblischer Gesichte auf allgemein christlicher Grundlage“, Art. 32 I, was wiederum Anlass für die sog. Bremer Klausel des
Art. 141 GG ist.269 Art. 141 GG ist nicht nur ein Novum des deutschen Religionsverfassungsrechts, sondern rechtsvergleichend betrachtet auch ein deutsches „Spezifikum“.270 Die Vorschrift bezeichnet einen Kompromiss, der auf Bremer Verhältnisse zugeschnitten ist und als
eng auszulegende Ausnahmevorschrift zu Art. 7 Abs. 3 S.1 GG anzusehen ist. Im Hinblick
auf Gesetzessystematik ist Art. 141 GG so zu lesen, als ob er in Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG integriert wäre. Dieser „bekenntnismäßig nichtgebundene“ Unterricht ist mangels Konfessionsgebundenheit kein Religionsunterricht i.S.d. Art. 7 Abs. 2 und Abs. 3 GG. Rein tatsächlich
gesehen ist die Stellung des Biblischen Geschichtsunterrichts jedoch die gleiche wie die des
Religionsunterrichts in den übrigen Ländern. Er ist ordentliches Lehrfach mit allen daran geknüpften Folgen.271 Darüber hinaus gibt es noch das Fach „Religionskunde“. Die Freie Hansestadt Bremen hat die Beziehungen zur evangelischen Kirche vor nicht allzu langer Zeit umfassend geregelt.272
Nach der Hansestadt Hamburg hat Bremen nun auch als zweiter Stadtstaat am 11.12.2012
einen Vertrag mit den islamischen Religionsgemeinschaften geschlossen. Die Vertragspartner
sind wiederum DITIB, Schura und VIKZ.
268
Zum geschichtlichen Hintergrund, vgl. z.B. Neumann, die Verfassung der Freien Hansestadt Bremen, Art. 32,
Stuttgart, u.a., 1996; Schmoeckel, der Religionsunterricht, Berlin 1964, S. 301ff; von Campenhausen/Unruh, BK,
Art. 141 GG m.w.N.
269
Kröning, Handbuch der Bremischen Verfassung, Baden-Baden 1991, S. 254; Link, ZevKR 24, 54.
270
Dreier, GG, Art. 141.
271
Schmoeckel, der Religionsunterricht, Berlin 1964, S. 303.
272
Vertrag vom 31.10.2001, GBl. 2002, 15.
69
Der Regelungsgehalt deckt sich im Wesentlichen mit dem Inhalt des Hamburger Vertrages.
Auch in Bremen erfolgt keine Anerkennung der Religionsgemeinschaften als Körperschaft
öffentlichen Rechts.
Wie bereits bei den Konflikten von Staat und Kirche ist auch bei dem Konflikt Staat und islamische Glaubensgemeinschaft der Trend erkennbar, dass der Staat vorwiegend versucht,
Probleme durch Kooperationsverträge zu lösen, was zu einem erheblichen Vorteil hinsichtlich
einer weitreichenden Akzeptanz führt. Indem die Länder vorliegend auf einen Dialog hinwirken, setzen sie zugleich ein Signal des gegenseitigen Respektierens und einer weitreichenden
Toleranz. Wie weit diese Toleranz im Einzelfall führen darf und bei welchen Verfassungsvorgaben es keinerlei Toleranz geben kann, wird im Folgenden näherer Betrachtung unterzogen.
V. Einleitende Vorüberlegung zu den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen als
Grundkonstrukt
Bislang ist deutlich geworden, dass der Islam in Deutschland zu einiger Verwirrung geführt
hat, wie damit umzugehen ist. Dies liegt sicherlich daran, dass die muslimischen Wertevorstellungen andere sind, als jene, die uns durch das Grundgesetz vermittelt werden. Dennoch
werden aktuell Bemühungen staatlicherseits deutlich, die auf einen Dialog abstellen (und
nicht gleichsam Vorschriften oktroyieren), wie dies bereits bei den traditionellen staatskirchenrechtlichen Diskussionen erfolgte.
Auf welche äußeren Bedingungen muss ein solches erfolgreiches Integrationsmodell weiterhin treffen können, um möglichst erfolgreich zu sein und die Beteiligten einander näherzubringen? Ist überhaupt Integration erforderlich oder gibt es andere Formen des Zusammenlebens?
Um dies näher zu untersuchen, müssen zunächst die ganz allgemeinen verfassungsrechtlichen
Rahmenbedingungen eines gemeinschaftlichen Zusammenlebens fokussiert werden:
Demokratie, Republik, Rechtsstaat und Sozialstaat prägen im Wesentlichen den Staat nach
dem Grundgesetz. Warum sind diese Voraussetzungen optimal, Grundrechte zu gewährleisten
und zu realisieren? Gibt es keine Alternativmodelle, denen ebenfalls Beachtung geschenkt
werden sollte und die sich unter Umständen als weiterführender in unserem Konflikt darstellen? Gibt es weitere, sekundäre Voraussetzungen, deren Bestand für das Grundgesetz als unverzichtbar erscheint?
Im Allgemeinen besteht die Substanz der Republik, z.B. im Unterschied zu kollektiven Kulturen, in der individuellen, kulturellen Freiheit eines jeden Bürgers. Sie ist offen für Fremde und
Fremdes. Begrenzung erfährt der Pluralismus allein durch die Normen der Verfassung und
deren rechtliche und politische Ordnung. Der Individualismus und Pluralismus ermöglicht
und bedingt demnach kulturellen Wandel und Dynamik. Unsere Verfassung bietet unter diesem Aspekt daher grundsätzlich weitreichende Möglichkeiten des Zusammenlebens.
Man wird also die These wagen können, dass gerade das Zusammenwirken verschiedener
Voraussetzungen mit einem Grundrechtsschutz erst eine Optimallösung versprechen könnte.
70
Welche Grundbedingungen dies sein könnten, wird zu untersuchen sein.
B. Verfassungsrechtlicher Rahmen als Basis einer offensiveren Integrationspolitik,
das Freiheitsverständnis im liberalen Staat, die Reichweite der Menschenrechte,
Demokratie und Republik als Sicherungselemente
Welches ist die Basis unseres Zusammenlebens? Über welchen kleinsten gemeinsamen Nenner muss Einigkeit bestehen, damit das Gemeinwesen Einheit stiften kann und der Einzelne
immer noch freiheitlich leben kann? Dies muss die zentrale Frage sein.
Zunächst werden die Grundlagen von Menschenrechten untersucht und anschließend deren
Sicherungselemente.
I. Vernunft und Liberalismus als tragende Prinzipien jeder Gesellschaftsform der Grundebene und deren Kritiker
Die Grundlage von Menschenrechten als Idee hat zuerst in greifbarer Form im klassischen
Liberalismus Niederschlag gefunden.273
1. Die Zielsetzungen der klassischen liberalen Bewegung
Die Geschichte des Liberalismus ist älter als der Begriff.274 Er entwickelte sich in etwa zeitgleich mit der Aufklärung als politische Gegenbewegung zum Absolutismus des 17. und 18.
Jahrhunderts. Mit dem Begriff des klassischen Liberalismus werden die Lehren der philosophischen Theoretiker wie John Locke und Immanuel Kant275 bezeichnet, die den Liberalismus
als politische Ideologie systematisch begründeten. So postulierte John Locke in seinem 1689
veröffentlichten Werk „Two Treatises of Government“276 Leben, Freiheit und Eigentum als
273
Vgl. zur allgemeinen Literatur beispielsweise: Raico, Die Partei der Freiheit. Studien zur Geschichte des
deutschen Liberalismus, Stuttgart 1999; Clapham, Die internationale Ordnung in wirtschaftlicher, sozialer und
ökologischer Sicht, Stuttgart 2006; von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 2005.
274
Vgl. allgemein zum Liberalismus: Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1971;
Freund, Der Liberalismus, Stuttgart 1965; Schriftenreihe der Friedrich-Naumann-Stiftung zur Politik und Zeitgeschichte Bd.10, Geschichte des deutschen Liberalismus, Opladen 1966; Mill, Über die Freiheit, Frankfurt
1968; Becker, Die Freiheit, die wir meinen, München 1982.
275
Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Hamburg 2003; vergleichend auch zur Idee
des Guten: Held, Eigentum und Herrschaft bei John Locke und Immanuel Kant: ein ideengeschichtlicher Vergleich, Berlin 2006; vgl. zu der nicht näher bestimmbaren Glückseligkeit: Kersting, Wohlgeordnete Freiheit,
Paderborn 2007; aber auch allgemein: Luf, Freiheit und Gleichheit. Die Aktualität im politischen Denken Kants,
Wien 1978; von der Pfordten, Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant, Paderborn 2009; Ottmann, Kants
Lehre von Staat und Frieden, Baden-Baden 2009; Jakl, Recht aus Freiheit, Berlin 2009; Klein, Gibt es ein Moralgesetz, das für alle Menschen gültig ist?, Würzburg 2008; Arndt; Zwischen Konfrontation und Integration,
Berlin 2007; Cattaneo, Menschenwürde und ewiger Friede: Kants Kritik der Politik, Berlin 2004; Lim, Der Begriff der Autonomie und des Menschenrechts bei Kant, Frankfurt am Main 2002.
276
„Zwei Abhandlungen über die Regierung“ .
71
unveräußerliche Rechte des Bürgers. Während der Liberalismus die politische Szene in England und den USA während des 18. und 19. Jahrhunderts fast vollkommen beherrschte, hatte
er in den kontinentaleuropäischen Ländern zunächst weit weniger Einfluss. Das änderte sich
nach der Französischen Revolution von 1789 und der bürgerlichen Revolution in Frankreich
von 1830.277
Die bürgerliche Gesellschaft als Thema der politischen Theorie wurde in Deutschland selbst
vergleichsweise recht spät, nämlich erst zu Anfang des 19. Jahrhunderts entdeckt und wurde
einheitlich mit der Idee der Demokratie begriffen. Erst mit der Rezeption der englischen
Staats- und Wirtschaftstheorie des 17. und 18. Jahrhunderts, der Schriften von Thomas Hobbes (1588-1679), Adam Smith (1723-1790) und David Ricardo (1772-1823) setzte die Diskussion ein, die zunächst auf philosophischer Grundlage argumentierte und in der Gesellschafts- und Staatstheorie von Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770-1831) ihren ersten
Höhepunkt fand. Gemeinsam ist den genannten Autoren das, was diese als Wesensmerkmal
der bürgerlichen Gesellschaft bezeichnen, die Tatsache nämlich, dass der Einzelne, indem er
seine partikularen Interessen befriedigt, doch zugleich auch die anderen befriedigt, so dass aus
der Vielzahl der konkurrierenden Einzelinteressen letztlich doch ein gesellschaftliches Gesamtinteresse entsteht. Charakteristisch für das gesellschaftliche Verhältnis der Menschen
untereinander ist daher die wechselseitige Abhängigkeit voneinander.278
Sowohl die Lebensform, das Gerechtigkeitsempfinden als auch die rechtliche Ausgestaltung
in westlichen Staaten sind seit den großen bürgerlichen Revolutionen im Allgemeinen liberal
ausgeprägt. Dabei werden Normen nicht unter religiösen Ansichten berücksichtigt, sondern
kritisch auf rechtfertigende Gründe befragt.279 Es besteht also eine argumentative Ebene, die
nicht von sich aus besteht. Kennzeichnend für den klassischen Liberalismus ist demnach eine
Legitimationstheorie für politische Herrschaft, die auf den Elementen Menschenrechte, Verfassung und vernünftiger Selbstbestimmung der Bürger beruht.
Bei wirtschaftlicher Betrachtung281 bedeutet Liberalismus freie Aktivität.282 In dieser Form
wendet er sich gegen jede Bevormundung durch den Staat und gegen jede Beschränkung
durch gesellschaftlichen Zwang, wie etwa Bindung an die Herkunft oder gar eine Art Zunftzwang. Umfangreiche individuelle Freiheit ist danach die Grundnorm und Basis einer
menschlichen Gesellschaft, auf die hin der Staat seine politische wie wirtschaftliche Ordnung
auszurichten habe. Der klassische Wirtschaftsliberalismus wird auf das Werk von Adam
Smith von 1776 „ Der Reichtum der Nationen“ gestützt. Wenn man alle Aktivitäten freigibt,
so meinen Smith und seine Anhänger, dann wird das Marktgesetz von Angebot und Nachfra277
Die Wurzeln des französischen Liberalismus lassen sich auf Montesquieu, Voltaire und Turgot zurückverfolgen.
278
Hegel formuliert das wie folgt: „In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm
nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen; (…) indem die
Besonderheit an die Bedingung der Allgemeinheit gebunden ist, ist das Ganze der Boden der Vermittlung (…),
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt am Main 1976, S. 3339f.
279
Wesentlich inspiriert wurde der Liberalismusgedanke von der Philosophie der Aufklärung ab der zweiten
Hälfte des 17. Jahrhunderts und stellte sich in erster Linie als politische Gegenbewegung zum Absolutismus dar.
281
Vgl. weiterführend: Lüling, Freiheit und wirtschaftlicher Liberalismus, Göttingen 1979.
282
Vor allem der sog. Neoliberalismus strebt vorwiegend marktwirtschaftliche Ziele unter Ausblendung gesellschaftlicher oder ökologischer Folgen an und ist dabei nicht gänzlich unumstritten, vgl. Kritik dazu: Rüstow, Das
Versagen des Wirtschaftsliberalismus, Marburg 2001; Butterwegge, Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden
2008.
72
ge den gesamten Wirtschaftskomplex so regeln, dass sich optimale Harmonie gleichsam „von
selbst heraus“ einstellt.283 Dieses Phänomen der Selbstregulierung wurde von Adam Smith
mit dem Begriff der „unsichtbaren Hand“284 beschrieben. Aufgabe der Marktordnung ist es
unter Nutzung285 des Marktes ein Zusammenfallen des Eigennutzens mit dem Gemeinwohl zu
erreichen.
Im gesellschaftlichen Bereich betont der Liberalismus den eigentlichen Spielraum des Individuums, Chancengleichheit für alle, Freizügigkeit, Bildung für jeden, auch Frauenemanzipation.287 Die Parallele zum Wirtschaftsmodell des Liberalismus ist offensichtlich: Freie, sich
selbst regulierende Konkurrenz der gesellschaftlichen wie der ökonomischen Kräfte ist das
alles überragende Prinzip.
In seiner politischen Vorstellung ist der Liberalismus geprägt vom Glauben der Aufklärung an
ein Naturrecht. Er tritt ein für Volkssouveränität, eine institutionalisierte Form der Grundbzw. Menschenrechte und Gewaltenteilung.288 Er bekämpft den Absolutismus und später den
totalitären Staat.289 Von hier aus erklärt sich die profunde Skepsis vieler Liberaler gegen jeglichen staatlichen Interventionismus. Das Misstrauen gegen den Staat ist ein Grundelement
allen klassischen liberalen Denkens. Historisch ist der Liberalismus also als Gegenreaktion
auf die übermächtige Gewalt der Fürsten und absoluten Herrscher entstanden und bis heute
betrachtet der Liberale den Staat eher als ein notwendiges Übel und weniger als sittliches
Prinzip. Seine Funktion beschränke sich im Wesentlichen auf Freiheitssicherung, Schutz des
Eigentums und Vermeidung jeglicher Störung privaten Wohlergehens. Dem liberalen Denker
geht es in erster Linie um Freiheit vor dem Staat und erst danach um Freiheit im bzw. durch
den Staat.
Der Komplex von Idealen der nach und nach erreicht wurde, ist nunmehr in Menschenrechten
formuliert. Angefangen hat dies mit dem Kampf um die Religions- und Gewissensfreiheit.
Nach und nach kamen Pressefreiheit, Rede- und Versammlungsfreiheit und akademische
Lehrfreiheit hinzu. Kaum weniger grundlegend als dieses Prinzip und eng mit ihm verbunden
ist das des „Rechtsstaates“. Das Wesentliche sind hier strenge Bindung aller Gewaltausübung
und Regeln, die jede Willkür auszuschließen vermögen. Die Regeln finden in gleicher Weise
auf alle Gesellschaftsmitglieder Anwendung, damit Privilegien abgeschafft werden können.
Diesem Prinzip liegt der Wunsch zugrunde, dass der Bereich der Entscheidungsfreiheit des
Individuums so weit wie möglich erweitert werden soll, die Eingriffe der Staatsgewalt vor283
Begründungen erfolgen entweder naturrechtlichen Argumentationsmustern: „Wenn dem Bürger sein Körper
gehört, so gehört ihm auch die Arbeit aus diesem Körper.“ oder auch utilitaristischen Ideen, die auf die Effektivität eines auf Privateigentum basierenden Gesellschaftssystems verweisen.
284
Vgl. dazu beispielsweise: van Suntum, Die unsichtbare Hand, Berlin 2003.
285
Der utilitaristische Ansatz wurde vor allem durch Jeremy Bentham (1748-1832) und John Stuart Mill (18061873) systematisch entwickelt. Unter dem Begriff des Utilitarismus ist das Prinzip des Nutzens zu verstehen:
„Handle so, dass das größtmögliche Maß an Glück entsteht!“ Dabei ergibt sich das allgemeine Glück aus dem
Zusammenwirken des Glücks einzelner Individuen, vgl. z.B. Nasher, Die Moral des Glücks. Eine Einführung in
den Utilitarismus, Berlin 2009; Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik, Tübingen 1992.
287
Vgl. beispielsweise: Schwaetzer, Die liberale Frauenbewegung, Berlin 2007.
288
Als Begründer des Konzeptes der Gewaltenteilung gilt Charles de Montesquieu, der 1748 „Vom Geist der
Gesetze“ veröffentlichte, „ De l ´esprit des lois“.
289
Vgl. auch weiterführend: Kersting, Gerechtigkeit und öffentliche Vernunft: über John Rawls´ politischen
Liberalismus, Paderborn 2006.
73
aussehbar zu machen und zugleich auf solche Fälle zu beschränken, in denen sie nicht bestimmte Personen begünstigen, sondern für alle günstige Gelegenheiten bieten, und es dabei
jedem Einzelnen überlassen, ob und wie er davon Gebrauch macht. Die Anerkennung des
Privateigentums, mit dem die Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen verwirklicht werden
kann, kam schließlich noch hinzu.
Die Entdeckung des Individuums mit seinen ihm spezifischen Bedürfnissen bildet durchaus
eine Errungenschaft der europäischen Neuzeit. Die Idee der Freiheit als ein verbürgter individueller Rechtsanspruch für alle war kein verbindlicher Maßstab der bekannten Kulturen oder
Staatsformen. Der Sinn für Privatsphäre, das anerkannte Recht auf einen Bereich persönlicher
Beziehungen, Gewissens- und Glaubensfreiheit, also alles, was man unter dem Begriff des
Individualismus zusammenfasst, gehört erst zu den Merkmalen der neuzeitlich europäischen
Hochkulturen. Selbst in der jüngsten Geschichte der demokratischen Verfassungsstaaten der
westlichen Welt ist die Einräumung solcher Menschen- Bürger- und Freiheitsrechte des Einzelnen mehr oder minder ein Kampfprodukt der sich im nationalen Rahmen emanzipierenden
bürgerlichen Klasse und nichts Selbstverständliches. Der gesamte Katalog jener bürgerlichen
Freiheitsrechte, der erst seit dem 18. und 19. Jahrhundert in den klassischen Demokratien des
Westens verfassungsmäßig garantiert wird, ist bis heute nichts, was für alle Ewigkeit hin gesichert erscheint. Es musste und muss weiterhin ständig gegen die Bedrohung durch autoritäre
Regime verteidigt werden. Nur soweit das Wohl anderer berührt wird, darf im liberalen
Selbstverständnis legitimerweise in die Freiheitsrechte Einzelner eingegriffen werden, ansonsten ist jeder selbst Herr seiner Person, Fähigkeiten und Handlungen.
Liberale Geisteshaltung verbindet aufgeklärte Kritik mit einem optimistischen Glauben an die
Vernunft und einer allgemein wohlwollenden, aufgeschlossenen humanen Gesinnung. Mit
dem Begriff der Menschenwürde ist ein humaner Anspruch gestellt, hinter den man nicht zurückgehen kann.
Fast jeder Bürger konnte durch das Lebenskonzept des Liberalismus ein hohes Maß an Freiheitlichkeit und Wohlstand erlangen, was Jahrhunderte zuvor noch undenkbar gewesen wäre.
Im Folgenden werden verschiedene gerechtigkeitstheoretische Ansätze vorgestellt, diskutiert
und gegeneinander abgewogen, denn der Liberalismus wird trotz seines großen „Erfolges“
nicht von jedem unterstützt.
2. Das Verhältnis von Liberalismus und Religion
Ein weiteres Gerechtigkeitsmodell stellen Religionen im Allgemeinen dar.
Der Liberalismus als Grundlage einer Gerechtigkeitsordnung hat von Anfang an gegenüber
Religion und Kirche ein distanziertes Verhältnis. Die Grundlagen dazu wurden im 17. Jahrhundert gelegt, um eine neue Ordnung auf den materiellen und geistigen Verwüstungen der
europäischen Religionskriege aufzubauen. Als John Locke 1689 in seinem ersten Brief über
die Toleranz die Sphären schied, in denen jeweils die Religion bzw. die weltlichen Autoritäten das Sagen haben sollten, zog er die Grenzen nach Maßgabe der Vernunft, nicht der Religion. In den folgenden beiden Jahrhunderten bildete der Liberalismus eine Allianz mit dem
74
Unternehmergeist, der Wissenschaft und der Demokratie, während die Religion allgemein als
reaktionäre Kraft angesehen wurde, die in ihre Grenzen verwiesen und eingedämmt gehörte.
Im 20. Jahrhundert hatte sich der Liberalismus gegen die politischen Religionen des Kommunismus und Nationalsozialismus zu behaupten. Am Ende des Jahrhunderts konnte es einen
Moment lang scheinen, als hätte der Liberalismus über alle ernst zu nehmenden Gegner gesiegt und sei alternativlos geworden. Er würde sich künftig nur noch selbst gefährden können.
Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist aber eine neue Herausforderung auf den Plan getreten, die
abermals Kraft aus der Religion bezieht. Der Einsturz der Zwillingstürme wird auf absehbare
Zeit das Symbol dieser Auseinandersetzung sein. Es stellt sich heute, unter dem Eindruck der
religiös motivierten Feinderklärung an den Liberalismus, mit neuer Dringlichkeit eine alte
Frage: Ob das Toleranzprinzip bestmögliche Freiheitsmaximierung erfüllen kann oder ob es
nicht doch Ausdruck allein westlichen Glaubens ist, wie die Kritiker der liberalen Tradition,
zuletzt unter der Fahne des Kommunitarismus, es immer wieder behauptet haben.298 Die Forderung nach Religionsfreiheit und religiöser Toleranz ist hauptsächlich pragmatisch bestimmt.
Mit der römisch-katholischen Kirche entstanden und entstehen regelmäßig Konflikte, da die
römisch-katholische Kirche einen umfassenden Anspruch erhebt, was liberalem Denken, das
individualistisch ausgeprägt ist, entgegensteht, wohingegen es mit einem Teil des Protestantismus eher Berührungspunkte gibt (aufgrund der Individualität der Gottesbeziehung).299
Was letztlich deutlich wird, ist, dass der Ansatz einer rein religiösen Lösung dieses Problems
schwierig erscheint.
3. Kontextualismus/Kommunitarismus/Kohärentismus300 und weitere theoretische Ansätze als Antwort auf die liberale Bewegung
Schon lange bevor erste liberale Ideen aufkamen, gab es Theorien über menschliche Moral
und Gerechtigkeit. Diese, am ehesten durch Hegel oder Aristoteles begründete, traditionelle
Lehre tritt heute als westlich-kulturrelative, islamische, etc. auf. Gleichsam war sie jedoch
auch der Ausgangspunkt des Marxismus und vieler heutiger Globalisierungskritiker.
Kommunitarismus wiederum ist eine Idee, die als Antwort, Korrektiv und Lösungskonzept zu
gesellschaftlichen Fehlentwicklungen verstanden werden kann. In der Sache bedeutet er die
modernitätsimmanente Kritik an einem Individualismus, welches sich libertär aus sozialen
Bezügen heraus verselbständigt hat und damit die modernen Gesellschaften in Frage stellt mit
ihren extremen Ausuferungen einer modernen Ich-Bezogenheit.301
298
Vgl. zur Frage, ob ein echter Liberaler ein guter Christ sein kann: Graf Lambsdorff, Freiheit und soziale Verantwortung, Frankfurt 2001.
299
Vgl. dazu obige Ausführungen unter A III.
300
Vgl. allgemein dazu: Burri, Relativismus und Kontextualismus, in: FS Lauener, Graz 1993; Steiner, Die Entwicklung des britischen Kontextualismus, Heidelberg 1983; Mohrs, Weltbürgerlicher Kommunitarismus: zeitgeistkonträre Anregungen zu einer konkreten Utopie, Würzburg 2003; Haus, Kommunitarismus: Einführung und
Analyse, Wiesbaden 2003; Honneth, Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt am Main, 1993; Brugger, Kommunitarismus als Verfassungstheorie des Grundgesetzes, Tübingen 1998.
301
Mayer, in: Estel/Mayer, Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften, Opladen 1994, S. 115;
75
Kommunitarismus erscheint in dieser Form als eine kapitalismus- bzw. liberalismuskritische
Strömung in der politischen Philosophie, die um 1980 als kritische Reaktion auf John Rawls
in den USA aufkam. 1971 hatte dieser sein Werk: „Theorie der Gerechtigkeit“302 veröffentlicht. Dort versucht er aus liberaler Sicht, eine wohlfahrtstaatliche Konzeption des Liberalismus zu entwerfen, universell gültige Gerechtigkeitssätze zu formulieren und ihre Geltung
mittels der sog. „Theorie des Gesellschaftsvertrages“ zu begründen. Diese basiert auf der individuellen Vernunft freier und gleicher Menschen sowie der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit.
In der Auseinandersetzung mit Rawls entstand eine ganze Reihe theoretischer Schriften, deren
Autoren mit dem Sammelbegriff „Kommunitaristen“303 belegt werden. Die Debatte über Liberalismus und Kommunitarismus ist das beherrschende Thema der amerikanischen politischen Philosophie geworden und hat mittlerweile auch auf Deutschland übergegriffen. Anders
als beim Liberalismus und seinen vielfältigen Varianten stehen beim Kommunitarismus nicht
die Freiheit von Unterdrückung durch staatliche Gewalt und damit die Freisetzung individueller Wahl im Vordergrund, sondern die hiermit verbundenen Gefahren für die Gesellschaft und
den Einzelnen, die mit den Begriffen Isolierung, Atomisierung, Anonymität und
Ausbeutbarkeit beschrieben werden. Diesen gegenübergestellt werden Positivstichworte wie
Partizipation, Zugehörigkeit und Gemeinschaft. Gegenstand der Auseinandersetzung ist damit
letztlich die Verhältnisbestimmung von Individuum und Gemeinschaft, von Freiheit und Bindung in Gesellschaft und Staat.304 Bei den Kommunitaristen handelt es sich allerdings nicht
um eine homogene Argumentationsgemeinschaft, sondern der Kommunitarismus umfasst
eine ganze Reihe, zum Teil stark divergierender, politisch-philosophischer Positionen.305 Einig sind sich Kommunitaristen aber über das Wesen des Liberalismus: Im Zentrum des Liberalismus stehen politische (und nicht ethische) Werte wie persönliche Freiheit, gesellschaftlicher Pluralismus und politischer Konstitutionalismus. Liberale Gesellschaften belassen Bürgern ihre ethischen Vorstellungen, aber sie fordern von ihnen, sie nicht anderen verbindlich
vorzuschreiben, die diese Überzeugungen nicht teilen. Politische, kulturelle und soziale Minderheiten genießen in diesem rechtlichen Rahmen weder Vorrechte noch werden ihnen Rechte
vorenthalten. Von der Rechtsordnung her gesehen genießen Minderheitskulturen also keine
besondere Berücksichtigung und sind damit unvermeidlich der nivellierenden Kraft der
Mehrheitskultur ausgesetzt.
An dieser Stelle setzt die kommunitaristische Kritik ein: Sie wirft dem Liberalismus vor, blind
Es wird aus dem Geiste christlicher und aristotelisch-republikanischer Denktraditionen heraus versucht, eine
Selbstkorrektur der modernen liberalen Gesellschaften kommunikativ zu erreichen. Dabei werden auch diskursethische Kommunikationskonzepte positiv aufgegriffen. Also nicht eine autoritäre Restaurierung von Gemeinschaftsbezügen, sondern die Revitalisierung republikanischer, z.T. auch puritanischer Gemeinschaftstugenden
und Sittlichkeitsmodelle wird pluralismusimmanent angestrebt. Solidarität contra Individualismus wird zur intellektuellen Kampfformel der sozialmoralischen Kritik einer Gesellschaft, die sich zusehends sozialpathologisch
entwickelt, die Eigeninteressen der Individuen prämiert, anstatt Lebenschancen gerecht zu verteilen.
302
Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1975.
303
Als bekannteste Vertreter kommunitaristischer Positionen werden im Allgemeinen die folgenden Autoren
aufgeführt: Michael Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, 1982; Alasdair Macintyre, After Virtue, 1981;
Charles Taylor, Sources of the Self, 1989; Michael Walzer, Spheres of Justice, 1983.
304
Langenfeld, Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten, Tübingen 2001, S. 308.
305
Übersichtliche Darstellung bei Langenfeld, Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten,
Tübingen 2001, S. 309ff.
76
zu sein gegenüber dem Eigenwert und der Identität gewachsener Gemeinschaftsstrukturen.
Hinter der scheinbar liberalen Neutralität des Rechts verberge sich eine partikulare, in Wahrheit sich aber universalistisch gerierende Rechtsordnung. Diesem Befund wollen die
Kommunitaristen einen kontextbezogenen Gerechtigkeitsbegriff entgegensetzen. Sie treten
für die Berücksichtigung der Anerkennungs- und Geltungsansprüche von politischen, religiösen, ethnischen oder kulturellen Minderheiten ein, die an den demokratischen Verfahren bereits strukturell oder nur am Rande teilnehmen können und deswegen von den liberalen Theorien zu Unrecht ausgeblendet würden. Sie stellen fest, dass liberale Gesellschaften unter einem Verlust an individueller und kollektiver Gemeinwohlorientierung leiden und dass dies
eine Gefahr für den Erhalt der Demokratie darstelle. Das entwurzelte, bindungslose, bindungsscheue Individuum sei nämlich unfähig, eben dies einzugehen, was eine gesellschaftliche Kontinuität trage: Bindung. Und zwar Bindung in unmittelbaren sozialen Kontexten, wie
Ehe und Familie, wie aber auch im größeren Zusammenhang, der Nation etwa, an die es sich
nicht gebunden fühle. Die mangelnde Verbundenheit mit verpflichtenden Gemeinschaften
bedrohe letztlich diese Gemeinschaften, beute diese aber auch aus. Eine Nation, deren Bürger
nicht mehr politisch partizipieren, sondern sich nur noch auf ihr Konsumleben und ihre
Selbstverwirklichung reduzierten, sei nur schwer überlebensfähig, weil sie sich nicht mehr
über gemeinsam praktizierte Werte im Sinne einer guten Gesellschaft verständigen könne.
Der Verlust an Bindung, den die Institutionen Familie, Kirche, Nation haben hinnehmen müssen, stelle die gesellschaftliche und moralische Herausforderung dar, auf die mit
kommunitärem Denken geantwortet wird.
Der kommunitaristische Ansatz will bewusst machen, dass der anhaltende Prozess externer
libertärer Entbindung aus sozialen und moralischen Kontexten durch die Perspektive auf
Ganzheiten ausbalanciert werden müsse, deren gesellschaftlich und moralisch konstruktiver
Sinnzusammenhang bislang nicht ausreichend beachtet worden sei. Zu diesen Ganzheiten
gehörten auch die Nation im Allgemeinen, die ethnischen Gruppen und deren Verhältnis zueinander.
Fasst man den kommunitaristischen Ansatz zusammen, so ist er, wie bereits dargestellt, anhand des Begriffs der Bindung zu fokussieren. Kontextualisten beurteilen das als gerecht, was
sich aus den „kulturellen Grundwerten“ der jeweiligen Gemeinschaft ergibt. In der Gemeinschaft herrschen bestimmte, gemeinsam geteilte Wert- und Moralvorstellungen sowie Traditionen. Nur auf der Basis dieser gemeinsamen Wertvorstellungen könne sinnvoll über Gerechtigkeitsgrundsätze verhandelt werden. Auf den Punkt gebracht bedeutet dies, dass es in jeder
Sozialgemeinschaft faktische Verhaltensmaßstäbe gibt und der Kommunitarismus befürwortet
die freie Entfaltung des Einzelnen innerhalb seiner Gemeinschaft, solange sie sozial verträglich ist. Alles muss also der „Kultur“ überlassen bleiben. Dies erscheint zunächst angenehm
und vertraut.
Aber warum sollten die tatsächlichen Moralüberlieferungen grundsätzlich Wahrheit beanspruchen? Es wird ohne kritische Betrachtung von der faktisch vorherrschenden Moral auf
deren automatische Richtigkeit geschlossen. Zudem stellt sich weiter die Frage des
Institutionenproblems: Wer soll letztlich über die maßgebliche Moral verbindlich entscheiden? Daran ist zu erkennen, dass Beliebigkeit das eigentliche Problem der Kontextualisten ist
und sie somit keine Argumentationskraft gegenüber Fundamentalismus, Faschismus, etc.
77
entwickeln können, denn auch diese Ideen werden in deren jeweiligen Kontexten als achtenswert angesehen, auch wenn sie in besonders ausgeprägtem Maße Menschenrechte missachten
und verletzen. Außerdem erscheint die Orientierung am Mikrokosmos des eigenen Seins in
Zeiten der Globalisierung eher hinderlich, da auf neue Probleme kaum reagiert werden kann.
Als Reaktion auf die Kommunitarismusidee entstanden weitere Strömungen, die sich deutlich
vom Liberalismusgedanken entfernten und die ein optimales, gerechtes Zusammenleben in
anderen Determinanten des Lebens suchten. So wurden vor allem in den USA religiöse Gruppen gebildet, die sich selbst als „Exklaven der Differenz“ ansahen.307 Heutzutage finden sich
ideologische Nachfolger z.B. in der New-Age-Bewegung308 oder in neureligiösen Gruppierungen wie die indische „Bhagwan“.309
Auch der Skeptizismus311 versucht, die Liberalismusidee zu korrigieren.
Darunter ist eine philosophische Richtung zu verstehen, die den Zweifel zum eigentlichen
Prinzip des Denkens erhebt und die darüber hinaus jede Möglichkeit einer Erkenntnis von
Wirklichkeit und Wahrheit in Frage stellt. Die Skepsis richtet sich vor allem gegen (zur jeweiligen Zeit) allgemein Anerkanntes, gegen das, was als wahr gilt. Der Skeptizismus hat seinen
historischen Ursprung in der dritten nacharistotelischen Schule des Pyrrhos von Elis (ca. 360270). Pyrrhoismus und Skeptizismus sind gleichbedeutend. Einfluss auf die Moderne in der
Neuzeit hatte vor allem Montaigne (1533-1592).312
Der Skeptizismus vertritt insbesondere den Standpunkt, dass zum Beweis einer Hypothese
stets grundlegendere Erkenntnisse herangezogen werden müssen. Dadurch komme man zu
einer unendlichen Reihe von Beweisen, deren Boden nicht zu ergründen sei. Insbesondere
führt die skeptische Auffassung, dass die Gründe für jede Behauptung und für ihr Gegenteil
gleich stark sind, zur Nicht-Begründbarkeit allen Wissens. Im Gegensatz zu Realisten nehmen
Skeptiker nicht an, dass es grundlegende Wahrheiten bzw. Evidenzen gebe, die keines Beweises bedürfen. In der neueren Philosophie wurde der Skeptizismus vor allem vom David Hume
systematisch begründet. Die Vertreter des Skeptizismus gewannen größeren Einfluss, als das
englische Bürgertum nach der Revolution mit der Aristokratie einen historischen Kompromiss
307
Als Beispiel kann hierfür die Oneida-Kommune von John H. Noyes genannt werden, die 1848 gegründet und
1879 wieder aufgelöst wurde. Die Mitglieder glaubten, dass ein sündenfreies Leben auf der Erde durch Zwiesprache mit Gott in Verbindung mit dem Verzicht auf persönliches Eigentum und bindende zwischenmenschliche Beziehungen erreichbar sei. Wegen äußerer Widerstände gegen das angewandte Konzept der „komplexen
Ehe“, nach dem alle Erwachsenen in der Gemeinde als miteinander verheiratet galten, wurde diese Form des
Zusammenlebens 1879 aufgegeben, vgl. dazu: Hinds, American communities, Gloucester 1971; Robertson,
Oneida community, The breakup 1876-1881, Syracuse 1977.
308
Dies war eine Hippie-Bewegung, die sich gegen die vorherrschenden kulturellen Trends und gegen die westliche Gesellschaft richtete, vgl. dazu: Lamers, Erziehung zu einem „Neuen Denken“? Eine kritische Würdigung
von Impulsen der New-Age-Bewegung, Hildesheim 1994.
309
Vgl. obigen Ausführungen unter A III 3.
311
Allgemein dazu: Heidemann, Der Begriff des Skeptizismus, Berlin 2007; Sommer, Die Kunst des Zweifelns.
Anleitung zum skeptischen Philosophieren, München 2007; Hönigswald, Die Skepsis in Philosophie und Wissenschaft, Göttingen 2008. Auch unter der Idee des Skeptizismus lassen sich verschiedene Formen und Ausprägungen erkennen, die hier jedoch nicht im Detail dargestellt werden können.
312
Auch Kant hatte die Absicht, einerseits sowohl Wissenschaft als auch Moral auf ein sicheres Fundament zu
stellen, andererseits aber auch die dogmatismus- und ideologiekritische Haltung des Skeptizismus zu bewahren.
Deshalb entwickelte er einen Weg zwischen Skeptizismus und Dogmatismus, die „skeptische Methode“ und
machte dadurch eine Unterscheidung zu beispielsweise Descartes deutlich, der den Rationalismus befürwortet.
Hegel (1770-1831) hat den Skeptizismus zu überwinden versucht, indem er den Skeptizismus als negative Form
von Allwissenheit betrachtete, der selbst alles weiß und von daher alles Wissen bestreitet.
78
einging. Hume führte aus, dass alle Bewusstseinsinhalte des Menschen auf sinnlichen Wahrnehmungen beruhen und alles Erkennen nur in Verknüpfungen von Bewusstseinsinhalten
bestehe, von denen der Mensch nicht wissen könne, ob ihnen in der Wirklichkeit etwas entspreche. Er bestritt den objektiv-realen Charakter der Kausalzusammenhänge und betrachtete
sie nur als subjektiv-psychologisches Ordnungsprinzip und begründete dies damit, dass nur
Sinneseindrücke dem Verstand als gegenwärtig erschienen. Dies sei der Grund, weshalb die
Existenz materieller Dinge außerhalb des Bewusstseins, die objektive Realität überhaupt,
nichts weiter als die Annahme sei, die sich aus der Gewohnheit herleite.
Skeptiker steigen also an dieser Stelle in die Gerechtigkeitsdiskussion ein und behaupten, dass
auch das Liberalismusmodell etwas rein Subjektives ist. Da all unsere Erkenntnisse historisch
relativ, von den konkreten geschichtlichen Bedingungen des Erkenntnisprozesses abhängig
sind, seien echte Erkenntnisse unmöglich. Danach sind auch Freiheits- und Menschenrechte
eine subjektive Ideologie. Liberalismus ist daher eine unbegründbare Lehre und auch nicht
ersichtlich besser als andere Lehren.
Neben dem eigentlichen Skeptizismusmodell hat sich allerdings auch eine vermittelnde Position zwischen Liberalismus und Skeptizismus herausgebildet, der postmoderne Skeptizismus.
Postmoderne Skeptiker leugnen in diesem Zusammenhang nur die Begründbarkeit von Normen und nicht per se den Liberalismus als solchen. Sie erkennen sogar die Freiheitsrechte und
liberale Inhalte an. Richtig wäre demnach lediglich das, was sich politisch real durchsetzen
ließe, wobei das Entscheidungsfindungsgremium differiert. Bei näherer Betrachtung bedeutet
dies, dass jede Kritik an unhaltbaren gesellschaftlichen Zuständen damit überflüssig würde.
Gewalt, Diskriminierung oder auch sexuelle Übergriffe könnten demnach nicht vorwerfbar
sein, denn, wenn alles nur Ansichtssache ist, besteht kein Grund, andere Menschen und deren
Freiheiten in irgendeiner Art und Weise besonders zu beachten.
Insgesamt lässt sich erkennen, dass der Liberalismus als einzige Form des Zusammenlebens
in politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht zu überzeugen vermag, weil
dieser möglichst weitreichende Freiheiten ermöglicht und unabhängig von religiösen oder
anderen Gemeinschaftwerten ein universelles Konzept anbietet. Die Freiheitsgefahren, die
dabei dennoch entstehen (können) müssen gleichsam ausgehalten werden, denn die alternativen Theorien des Zusammenlebens stellen deutlich größere Gefahren dar.
Das Gesellschaftsmodell des Liberalismus hebt insbesondere das Bestehen von Menschenrechten hervor.
II. Die Menschenrechte als verfassungsrechtliche Charakteristik
Wie kann nun die Verfassung Lösungen dafür bieten, kulturelle Konflikte zu lösen? Es ist die
scharf diskutierte, abstrakt-übergreifende Frage danach, wie kulturelle und ethnische Vielfalt
und universale Normen zu vereinbaren sind. Sie entzündet sich einerseits vor allem an der
konkreten Kontroverse, ob die in Europa als solche verstandenen, die Freiheit des selbstbestimmten und selbstverantwortlichen Individuums garantierenden (Menschen-) Rechte allge-
79
meingültig, gleichsam kosmopolitisch356 sind. Die Frage lautet demnach: Sind die Menschenrechte jedem Individuum ohne Ansehen seiner historischen Kontextualität angeboren und
somit Recht quasi kraft menschlicher Existenz? Oder sind sie vor allem kulturell, aber auch
politisch, geographisch und sozio-ökonomisch determiniert und somit im Endeffekt relativ,
jedenfalls nicht universal gültig? Kann es also Multikulturalität im Bereich der Menschenrechte geben?
Anstelle der normativ begründbaren Universalität der Menschenrechte357, fordern streng
gläubige Muslime die Universalität ihres Verständnisses von der Scharia, dem göttlichen
Recht. Zwei Universalitätsansprüche, die zwangsläufig einander bestreiten.
Die erste Frage, die gerade den Komplex Menschenrechte/Islam und seine Relevanz für übergeordnete weltpolitische Zusammenhänge betrifft, bezieht sich darauf, dass Menschenrechte
überall und global verletzt werden. Dennoch nehmen islamische Länder insofern einen Sonderstatus ein, als sie sich erst gar nicht zur westlichen Konzeption der Menschenrechte bekennen. So stellt sich auch die Frage, ob es überhaupt möglich ist, eine Akzeptanz verbürgter
Menschenrechte zu erreichen.
1. Der individuelle Charakter der Menschenrechte358
Bereits in den politischen Schriften der europäischen Aufklärer, in den britischen (1689) und
amerikanischen (1776) “Bill of Rights“ sowie vor allem in der Deklaration der Menschenund Bürgerrechte der Französischen Revolution (1789) werden die individuellen Menschenrechte im einzelnen näher erläutert. Sie können mit dem Begriff „Freiheit des Individuums“
zusammengefasst werden; ihre philosophische Grundlage ist das Subjektivitätsprinzip, demzufolge der Mensch ein freies, sich selbst bestimmendes und zur Entfaltung fähiges Subjekt
ist. Die europäischen Menschenrechtsdenker haben nicht an „Europa“, sondern an die
Menschheit gedacht und damit universelle Geltung für die von ihnen entfalteten Ideen beansprucht.359 Sie waren eine ganz neue Art von Rechten, die gegenüber Herkommen und traditionellen Gewalten, Gott, Kirche und feudalen Herren, von „unten“ kamen. Den verschiedenen
Anlässen und Zielsetzungen entsprechen unterschiedliche Dimensionen oder Generationen
von Menschenrechten. Zur ersten Generation gehören die für den Okzident geltenden klassischen Freiheits- und Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber staatlicher Willkür und Gewalt.
Die zweite Dimension fokussierte soziale Teilhaberechte, wie sie beispielsweise im Paket der
356
Vgl. dazu auch: Brugger, Das Menschenbild der Menschenrechte, Tübingen 1995; Kokott/Rudolf, Gesellschaftsgestaltung unter dem Einfluss von Grund- und Menschenrechten, Baden-Baden 2001.
357
Vgl. auch: Batzli, Menschenbilder, Menschenrechte: Islam und Okzident, Kulturen im Konflikt, Zürich 1994;
Petersohn, Islamisches Menschenrechtsverständnis unter Berücksichtigung der Vorbehalte muslimischer Staaten
zu den UN-Menschenrechtsverträgen, Bonn 1999; Schröter, Das Gesetz Allahs: Menschenrechte, Geschlecht,
Islam und Christentum, Königstein/Taunus 2007; Krämer, Gottes Staat als Republik: Reflexionen zeitgenössischer Muslime zu Islam, Menschenrechten und Demokratie, Baden-Baden 1999.
358
Fleiner, Was sind Menschenrechte? Zürich 1996; Benedek, Menschenrechte verstehen: Handbuch zur Menschenrechtsbildung, Wien 2009; Gander, Menschenrechte: Philosophische und juristische Positionen, Freiburg
2008; Sandkühler, Menschenwürde als Fundament der Grund- und Menschenrechte, Bremen 2007.
359
Hasse, Menschenrechte: Bilanz und Perspektiven, Baden-Baden 2002; Janz-Risse, Menschenrechte: Globale
Dimension eines universellen Anspruchs, Baden-Baden 2007.
80
UNO über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966) oder in der Europäischen Sozialcharta (1961) zum Ausdruck kamen. Die dritte bezog sich auf Grundrechte politischer
Gemeinschaften, wie etwa ein etwaiges Minderheitenrecht, Recht auf Frieden oder Entwicklung, was letztlich jedoch tatsächlich nicht zur Umsetzung gelang. Die Besonderheit und
Strittigkeit dieser Rechte der dritten Dimension bestand zunächst einmal darin, dass sie nicht
als individuelle Ansprüche, sondern als kollektive Rechte einer Gruppe oder Gemeinschaft
konzipiert waren. Schon an dieser unterschiedlichen Anbindung könnte eine kulturelle Differenz zum Ausdruck kommen.
Damit wird deutlich, dass, nicht nur aufgrund umfassend geltender internationaler Vereinbarungen, positiver Rechtsregeln und Garantien zum Schutz der Menschenrechte, diese bislang
keine umfassende Universalität beanspruchen.360
Vielmehr sind die politischen, sozialen, historischen und kulturellen Differenzen ursächlich
dafür, dass die Menschenrechte nicht ohne weiteres überall als Instrument gegen bewusst zugefügtes Unrecht, gegen Krieg und Vertreibung taugen, noch sich im Einzelfall zur Abwendung von Folter, Vergewaltigung und den vielfältigen Formen der Verletzung der Menschenwürde bewährt haben.
Es stellt sich somit die Frage, in welcher Weise unter Berücksichtigung der Vielfalt der Völker und Kulturen die entscheidenden Hinsichten für einen von allen Menschen gleichermaßen
akzeptierten Katalog der Menschenrechte überhaupt formuliert werden können. Wie die Geschichte zeigt, sind die Menschenrechte jeweils Antworten auf konkrete historische Unrechtserfahrungen oder spezifische Krisen der modernen Welt.362 Dies hält sie grundsätzlich offen
für unterschiedliche und kulturspezifische Sinngebungen. Es muss also ein Anknüpfungspunkt gefunden werden, der überkulturell und übernational jedem Menschen gleichermaßen
zusteht. Dies können, als sozusagen kleinste, gemeinsame Basis, die Würde des Menschen
und die daraus ableitbaren Freiheits- und Freiheitsvoraussetzungsgarantien sein.363
Gegenüber den Bürger- bzw. Staatsbürgerrechten zeichnen die Menschenrechte aus, dass sie
Rechte aller Menschen sind, ohne Ansehen der Herkunft, des Geburtsortes, der Zugehörigkeit
zu einer bestimmten Gemeinschaft, etc. Das bedeutet, dass ihr normativer Anspruch über die
Grenzen des Einzelstaates hinausgeht. Auch wenn die ersten Menschenrechtserklärungen
schon gut 200 Jahre alt sind, ist der Versuch ihrer völkerrechtlichen Normierung und damit
ihr universaler Geltungsanspruch noch keine 50 Jahre alt.364
360
Zwar gibt es UN-Menschenrechte, doch es gibt auch andere, eigene Menschenrechtskonzeptionen, die diese
unterlaufen, z.B. die Charta der Arabischen Menschenrechte.
362
In Europa zuerst infolge der Religionskriege und Glaubensspaltungen, dann gegen die Repression absolutistischer Herrscher, gegen das Elend durch die Industrialisierung, gegen kolonialistische Bevormundung und imperialistische Ausbeutung der Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas, gegen Rassismus und Völkermord
durch den Nationalsozialismus.
363
Vgl. auch Tibi, in: Hoffmann/Kramer, Anderssein, ein Menschenrecht?, Frankfurt am Main 1994, S. 51ff;
Hoffmann, in: Hoffmann/Kramer, Frankfurt am Main 1994, S. 125ff; Kramer, in: Hoffmann/Kramer, Frankfurt
am Main 1994, S. 139; allgemein zur Problematik: Bielefeldt, Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft, Bielefeld 2007; Galtung, Menschenrechte, Frankfurt am Main 1994.
364
Den Anstoß durch die Vereinten Nationen dafür im Jahre 1948 wurde vom Nationalsozialismus und dem
Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Die wichtigsten weiteren Vereinbarungen sind die beiden Menschenrechtspakete
der UNO von 1966 und 1976, die für ca. 153 Unterzeichnerstaaten als verbindlich gelten. Doch die unvollständige Zahl von Unterzeichnerstaaten, überhaupt die Begrenztheit der Einwirkungs- und Sanktionsmöglichkeiten im
internationalen Rahmen oder zwischen den Staaten, lassen diesen Konsens immer wieder als fragwürdig er-
81
In unserem Zeitalter des globalen Fundamentalismus und des ethnischen Nationalismus können wir internationale Politik nicht mehr verstehen, ohne die Prozesse der Bildung kultureller
Gruppenidentitäten als Bezugsrahmen für religiös-ethnische Kollektive und deren Konfliktpotentiale zu berücksichtigen. Wenngleich eine Einheitlichkeit von Menschenrechtsstandards
auf internationaler Ebene unabdingbar ist, vollzieht sich die Umsetzung dieser Rechte in einer
Vielzahl verschiedener kultureller Kontexte, die unterschiedlich berücksichtigt werden müssen.
2. Die Reichweite der Menschenrechte
Der Streit um die Reichweite der Menschenrechte wird vor allem zwischen den europäischsäkularen Staaten und den traditional-religiösen Ländern geführt. Die Ablehnung der weltweiten Geltung der Menschenrechte wird in den Entwicklungsländern, vor allem in den islamischen, hauptsächlich damit begründet, die Menschenrechte seien von der europäischnordamerikanischen Zivilisation geprägt und besäßen daher im Islam keine Geltung. Denn im
Islam sind die Menschenrechte weder universell geltend noch dem Menschen angeboren, sie
sind vielmehr abhängig von dem Tun des Menschen und seiner Rechtsgläubigkeit im islamischen Sinne.365 Hinter dem Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit der Menschenrechte in
der westlichen Welt stecke daher vielmehr der kulturimperialistische Versuch, anderen eine
westliche Denkfigur gleichsam aufzuzwingen.
Islamische, afrikanische und auch asiatische Staaten wehren sich dagegen, im Namen der
Menschenrechte auf bestimmte kulturelle Traditionen ihrer Heimat zu verzichten und sich auf
einen bestimmten menschenrechtlichen Mindeststandard verpflichten zu lassen.366 Von diesen
prinzipiellen Erwägungen zum „Export“ der Menschenrechte westlicher Prägung ist andererseits die Überlegung zu trennen, in wie weit man den Zuwanderern aus Staaten mit einer anderen Basis an Grundwerten und einer divergierenden Auffassung vom Verhältnis kollektiver
und individueller Rechte gestattet, auch hier in Deutschland nach ihren importierten Sitten
und Bräuchen zu leben.
Das Grundgesetz ist dazu nämlich insoweit kulturoffen, als dass die Ausübung fremder Kulturen von der Verfassung grundsätzlich gewährleistet wird. Zwar hat auch das Grundgesetz von
1949 den vollen Schritt zur Menschenrechtsverfassung nicht realisiert, hat als Verfassungsgeber das deutsche Volk benannt und wichtige Grundrechte als Deutschengrundrechte den deutschen Staatsangehörigen ausgestaltet. Faktisch und normativ ist das Grundgesetz aber mehr
als nur die Verfassung des deutschen Volkes. Es knüpft in Art. 1 und 3 GG an die Menschenrechte an, verbietet die Diskriminierung nach Rasse und Herkunft, also auch der Nation, und
scheinen, vgl. ausführlich Gerhard, in: Hoffmann/Kramer, Anderssein, ein Menschenrecht?, Frankfurt am Main
1994, S. 49.
365
Vgl. obige Ausführungen unter A II 11.
366
So z.B. auf der Weltfrauenkonferenz 1995 und auf der Menschenrechtskonferenz 1993 in Wien. Dort entstand
ein Streit darüber, wie die Beschneidung der Genitalien bei jungen Mädchen in rund 20 Staaten Afrikas im Namen der Kultur und der sozialen Anpassung praktiziert wird, zu werten ist. Die Kontroverse wird außerdem
deutlich an der Rushdie-Affäre und der islamischen Figur der Fetwa, die mit Argumenten der Scharia die straffreie Tötung jedes Moslems gebietet, der öffentlich Trennung von Politik und Religion befürwortet; Ehringfeld,
Eltern-Kind-Konflikte in Ausländerfamilien, Berlin 1997, S. 116.
82
ordnet die meisten und wichtigsten Grundrechte allen Menschen zu, die unter dieser Verfassung zusammenleben. Durch die europäische Menschenrechtskonvention, durch Gesetze und
internationale Verträge haben ausländische Mitbürger überdies an weiteren Gewährleistungen
der Verfassung Anteil, sie wirken in Freiheit und Gleichheit mit und sind, wenngleich auch
keine Staatsbürger, jedenfalls Verfassungsbürger.
Der hohe deutsche Grundrechtsstandard ist ein Grund dafür, dass bei uns die Entwicklung
eines europäischen Verfassungsrechts bisweilen auf Vorbehalte stößt.367
Die Religionsfreiheit insbesondere ist dabei nicht ein klassisches Grundrecht nationaler Verfassungen, sondern auch in internationalen Vereinbarungen geschützt.368
Art. 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 ist zwar nur eine
politische Deklaration und keine verbindliche Rechtsquelle, zeigt jedoch die Bedeutung der
Religionsfreiheit auf. Begrenzte Reichweite findet sich auch im Genfer Abkommen über die
Behandlung von Kriegsgefangenen und zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten,
12.08.1949. Des Weiteren gibt es internationale Erklärungen und Konventionen zum Schutze
verschiedener, auch religiöser Minderheiten. Eine verbindliche Garantie der Religionsfreiheit
enthält Art. 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom
19.12.1966, allerdings verpflichten völkervertragliche Gewährleistungen in erster Linie die
Staaten untereinander und kann daher nur selten vom Individuum geltend gemacht werden.369
Auf europäischer Ebene enthält die KSZE-Schlussakte von Helsinki vom 01.08.1975 in Prinzip VII und das Abschlussdokument des KSZE-Folgetreffens in Wien 1989 in Nr. 16 und 17
die Anerkennung der Religionsfreiheit, welche jedoch auch nur begrenzte Verpflichtungskraft
in völkerrechtlicher Hinsicht haben. Seit 1999 kann der Einzelne sogar nach Erschöpfung
sämtlicher innerstaatlichen Rechtsbehelfe (Art. 35 EMRK) unmittelbar den Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte anrufen und Individualverfassungsbeschwerde erheben.370
Die Religionsfreiheit wird in Art. 9 EMRK371 geschützt und seit Urteil vom 26.10.2000 steht
Art. 9 EMRK nicht nur Individuen zu, sondern auch Religionsgemeinschaften.372
Im Folgenden werden die verschiedenen umfangreichen Schutzmöglichkeiten näher dargestellt.
367
Michael/ Morlok, Grundrechte, Baden-Baden 2012, S. 38.
Zu den internationalen Garnatien der Religionsfreiheit, Kimminich, Religionsfreiheit als Menschenrecht,
München 1990; Bausback, EuR 2000, 261; Weber, ZevKR 45, 109, zur Konkurrenz zwischen nationalen und
internationalen Regelungen, Kirchhoff, EuGRZ 1994, 16.
369
Vgl. dazu auch übersichtlich, von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, München 2006, S. 78ff.
370
Zuvor hatte es noch eine vorgeschaltete Kommission gegeben, die ihrerseits eine Vorlage beim Gerichtshof
erwirken konnte.
371
Allgemein dazu: Blum, die Gedanken- Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, Berlin 1990; Bleckmann, Von der individuellen Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK zum
Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, Köln 1995; Weber, ZevKR 47, 265.
372
EGMR 26.10.2000-30985/96; dazu Weber, ZevKR 47, 265.
368
83
3. Der Schutz der Menschenrechte373
Der Schutz der Menschenrechte im internationalen Vergleich ist bislang zwar als wichtig erkannt worden, aber es besteht gegenwärtig noch kein einheitliches Vertragswerk, das den
Schutz dieser Rechte umfassend garantiert. Stattdessen gibt es verschiedene Menschenrechtskonzeptionen374, die im Folgenden dargestellt werden. Diese Darstellung dient in erster Linie
wiederum dazu, einen Überblick über die gesamte internationale Situation erlangen zu können, damit dadurch die späteren Ausführungen zur grundgesetzlichen Problematik in einem
großen globalen Zusammenhang gesehen werden können und nicht für sich allein.
Überblick: Der Begriff der Menschenrechtscharta steht für
- die UN-Menschenrechtscharta, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, ist
das ausdrückliche Bekenntnis der Vereinten Nationen zu den allgemeinen Grundsätzen der Menschenrechte und ist Grundlage des humanitären Völkerrechts und besteht
aus 30 Artikeln über die grundlegenden Ansichten, die jedem Menschen zustehen.
- die EU-Menschenrechtscharta, die Charta der Grundrechte der Europäischen Union.375 Sie ist eine rechtlich bindende Kodifizierung der Grundrechte auf Ebene der Europäischen Union;
- Diese orientiert sich an der Europäischen Menschenrechtskonvention zum Schutz
der Menschenrechte und den Grundfreiheiten und erfasst erstmals schriftlich in verständlicher Form die Grundrechte. Sie existiert schon seit 1950 im westlichen Europa
und bietet mit der Einrichtung eines Europäischen Gerichtshofes auch für Individualklagen den vergleichsweise effektivsten Schutz.
- die Amerikanische Menschenrechtskonvention von Nord- und Südamerika (Pakt
von San José 1969), die allerdings bis heute von so wichtigen Staaten wie Brasilien
oder den USA nicht, zumindest nicht vollumfänglich, ratifiziert worden ist; zu denken
ist dabei in erster Linie an die Abschaffung der Todesstrafe, die bisher nur von neun
amerikanischen Staaten unterschrieben wurde.
- die KSZE (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa)-Schlussakte
von Helsinki aus dem Jahr 1975, die entscheidend zu einer Erweiterung des Menschenrechtsbewusstseins und zum Umbruch in Osteuropa beitrugen, die mittlerweile
373
Internetadressen: http://forum-menschenrechte.de; www.amesty.de; www.ecchr.de; www.hrw.org/german/;
www.igfm.de; www.ilmr.de; www.institut-fuer-menschenrechte.de; www.tdh.de; www.unicef.de; www.un.org.;
weiterhin beispielsweise: Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, München 1993;
Ruffert, EUGRZ 1995, 518; Wetter, Die Grundrechtscharta des EUGH, Frankfurt am Main 1998; Alber/Wiedmaier, EUGRZ 2000, 497, Bernsdorf, NdsVBl. 2001, 177.
374
Vgl. auch zur UN-Kinderrechtskonvention, die vorliegend nicht näher untersucht wird, z.B. Cremer, AnwBl.
2011, 159.
375
Vgl. allgemein dazu: Jarass, EU-Grundrechte, München 2005; Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Kommentar. Baden-Baden 2006; Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Baden-Baden 2002; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union. Charta der
Grundrechte und allgemeine Rechtsgrundsätze, Köln 2004; Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar
zur Europäischen Grundrechte-Charta, München 2006.
84
jedoch durch die Charta von Paris 1990 keine Bedeutung mehr hat. 1994 wurde die
KSZE in die OSZE umgewandelt (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa).
- schließlich die Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker, die
sog. Banjul-Charta, die 1981 beschlossen wurde und 1986 in Kraft trat; Sie soll in besonderem Maße die Eigenart des afrikanischen Kontinents berücksichtigen, vor allem
Traditionen und Gebräuche. Sie statuiert ein eigenes Menschenrechtsverständnis. So
sei am Rande darauf hingewiesen, dass es z.B. am Recht der freien Wahl des Ehegatten fehlt, auch ein Schutz des Privatlebens existiert nicht. Insgesamt werden viele
Rechte der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ebenso wie die Charta der
Vereinten Nationen eingeschränkt oder missachtet. Über die Banjul-Charta wacht seit
2004 der Afrikanische Gerichtshof.
- Darüber hinaus existiert eine Vielzahl von Konventionen, die den Schutz einzelner
Menschenrechte regeln, wie etwa: die Genfer Flüchtlingskonvention, die UNKinderrechtskonvention, die Konvention zur Beseitigung jeder Diskriminierung der
Frau, die UN-Anti-Folter-Konvention, die internationale Konvention zur Beseitigung
aller Formen von Rassendiskriminierung, die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, die internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller
Wanderarbeiter und ihrer Familienangehörigen, die UN-Behindertenrechtskonvention.
Hinzukommen außerdem verschiedene regionale Menschenrechtsabkommen auf den
verschiedenen Kontinenten.376
Die wichtigsten Regelungen werden nun eingehender betrachtet.
a. Die UN-Menschenrechtscharta von 1947, der internationale Menschenrechtsrat und
der internationale Strafgerichtshof
Die UNO bietet in ihrer gegenwärtigen Verfassung einige Instrumente zur Überwachung der
Verletzung von Menschenrechten, kann aber gegen diese Übertretungen des Völkerrechts
nichts unternehmen. Die UN-Charta hebt zwar die Bedeutung der Menschenrechte hervor,
aber sie betont gleichzeitig das Souveränitätsrecht der Nationalstaaten. Hinter diesem Recht
verstecken sich sozusagen die Menschenrechtsverletzer in der Welt des Islam und anderenorts.
Sicher ist zudem, dass der Anti-Terror-Krieg kein Mittel im Kampf um Menschenrechte sein
kann, bewahrt er doch die Streiter für Menschenrechte nicht davor, selbst Menschenrechte zu
verletzen. Diese Erfahrung mussten auch bereits die Alliierten während des Zweiten Weltkrieges machen. Folgerichtig übertrug man den Vereinten Nationen bei ihrer Gründung 1945
als Hauptaufgabe die Wahrung des Weltfriedens sowie die Förderung und den Schutz der
376
Detaillierte Ausführungen bei Korioth, VVDStRL 62, 117; vgl. zur Frage des internationalen Verfassungsrechts, Haltern, AöR 128, 511.
85
Menschenrechte und Grundfreiheiten. Lange Zeit wurde die Menschenrechtsarbeit der Vereinten Nationen durch die bereits 1946 gegründete Menschenrechtskommission geprägt. Anfangs erarbeitete sie hauptsächlich menschenrechtliche Standards, später befasste sie sich
auch mit Menschenrechtsverletzungen. Allerdings blieben auch ihre Resolutionen rechtlich
unverbindlich und zogen keine Sanktionen nach sich. Ihre Stärke lag darin ebenfalls in der
Mobilisierung der Öffentlichkeit. In Misskredit geriet die Menschenrechtskommission dadurch, dass ihr Staaten angehörten, deren Regierungen die Menschenwürde missachteten.
Deshalb löste im Rahmen einer Reform der UN im Juni 2006 ein neuer Menschenrechtsrat die
Kommission ab.378 In dem mit 47 Sitzen etwas kleineren Gremium dominieren entsprechend
der festgelegten regionalen Einteilung die Länder aus Afrika und Asien, während auf die
westlichen Industriestaaten sieben Sitze entfallen. Ob der Rat mehr zu leisten vermag, bleibt
abzuwarten. Seine Mitglieder sollen höchste Menschenrechtsstandards erfüllen, doch Länder
wie China, Kuba oder Saudi-Arabien lassen daran Zweifel aufkommen. So hat der Menschenrechtsrat beispielsweise Israel kritisiert, dagegen den Bericht einer UN-Mission unter Leitung
der Friedensnobelpreisträgerin Jody Williams über das Morden in Darfur als parteiisch zurückgewiesen.
Die Generalversammlung der UNO beschloss zudem 1993, nach dem Vorbild des Flüchtlingskommissars, einen Hochkommissar für Menschenrechte einzusetzen. Seine Aufgabe besteht darin, die Aktivitäten aller mit Menschenrechtsfragen befassten UN-Gremien zu koordinieren und allgemein einen Beitrag zu einer Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit zu leisten Doch auch seine Erfolgsaussichten sind limitiert, da wiederum die Souveränität
der Einzelstaaten nicht berührt werden darf.
Einen weiteren Meilenstein auf dem Weg zu einem besseren Menschenrechtsschutz setzte die
internationale Staatengemeinschaft im Juli 1998, als sie sich in Rom auf einen Vertrag zur
Schaffung eines Weltstrafgerichtes, den Internationalen Strafgerichtshof, verständigte. Nachdem die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges 1945 in Nürnberg und Tokio erstmals internationale Tribunale zur Aburteilung von Kriegsverbrechern eingerichtet hatten, gab es Bemühungen um ein Statut für einen ständigen Internationalen Strafgerichtshof der UNO. Echte
Fortschritte waren aber auch erst nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes zu verzeichnen, der
kürzlich jedoch droht, erneut auszubrechen. Der Durchbruch gelang 1993 mit der Errichtung
eines „Internationalen Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien“ mit Sitz in Den
Haag und eines zweiten Gerichtes für den Völkermord in Ruanda, das ein Jahr später in
Arusha (Tansania) etabliert wurde. Diese Spezialgerichtshöfe wurden durch den Sicherheitsrat der UNO ins Leben gerufen.
Der neue Weltstrafgerichtshof ist für vier universell strafbare Kernverbrechen zuständig: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen sowie das Verbrechen der
Aggression. Nachdem das Gerichtsstatut von der erforderlichen Mindestzahl von 60 Staaten
ratifiziert worden war, konnte es am 1. Juli 2002 in Kraft treten. Zwar darf das Gericht erst
tätig werden, wenn ein Land sich nicht „fähig oder willens“ zeigt, das Verfahren selbst durchzuführen, doch wird durch diese Möglichkeit die Souveränität der Staaten zugunsten schutzbedürftiger Menschen wiederum ein Stück eingeschränkt.
378
Vgl. sehr ausführliche Darstellung bei Karrenstein, Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, Tübingen
2011.
86
Einen Rückschlag erlebte der Internationale Strafgerichtshof zudem dadurch, dass die USA
2002 wieder aus dem Vertragswerk ausstiegen. Deren politisch Führung befürchtete offenbar,
dass US-Soldaten und Staatsangehörige an den Gerichtshof ausgeliefert werden könnten,
wenn ihnen vorgeworfen wird, in einem Vertragsstaat Kriegsverbrechen, Völkermord oder
Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Obwohl die USA immer noch
größter Geldgeber für die UNO sind, stellen sie diese in vielerlei Hinsicht in Frage und sperren Gelder für bestimmte Organe oder Projekte, wenn sie den amerikanischen Interessen widersprechen. Damit bringen sie auch ihre Kritik an der UNO zum Ausdruck, die sie für bürokratisch, korruptionsanfällig und reformbedürftig halten. Durch diese Haltung wird die
Durchschlagskraft der UNO geschwächt. Schließlich können die Vereinten Nationen nur so
erfolgreich sein, wie es ihnen ihre Mitglieder ermöglichen. Im weiteren Sinne stehen alle Organisationen im Dienste des Menschenrechtsschutzes, die insbesondere in der Dritten Welt
humanitäre Hilfe leisten. Dem Gründungsziel der UN entsprechend, allen Menschen ein Leben frei von Not zu ermöglichen, sind zunächst wieder die verschiedenen Hilfsorganisationen
der UNO zu nennen, beispielsweise das Kinderhilfswerk UNICEF oder die weltweit tätigen
NGO´s wie Amnesty International379 oder Human Right Watch.
Angesichts der bestehenden Gefahren und Probleme wie beispielsweise dem Afghanistankrieg, der Syrienkrise oder dem Konflikt zwischen der Ukraine und Russland mögen bestimmte Menschenrechtsfragen nachrangig erscheinen. Doch auch in demokratisch verfassten
Staaten mit weitgehend garantierten Menschenrechten stellt sich die Frage, ob staatliche Instanzen auf die Bedrohung der Bürger durch terroristische Netzwerke zwangsläufig mit Ausweitung geheimdienstlicher Aktivitäten und polizeilicher Überwachung bestimmter Personengruppen reagieren, die Freizügigkeit einschränken, sogar das Recht auf Freiheit vorübergehend aufheben dürfen.
Menschenrechte besitzen aus sich heraus einen universalen und unteilbaren Charakter. Sie
basieren auf der Würde des Menschen. Daher können zu ihren Lasten auf Dauer nirgends ungestraft Kompromisse geschlossen werden. So wird beispielsweise die Entscheidung zwischen Freiheit und Sicherheit immer von einem Dilemma begleitet und es kommt auf den
Einzelfall an. Im Ergebnis setzen Menschenrechte Maßstäbe, die sich vielleicht nicht immer
vollständig erfüllen lassen, weswegen man aber dennoch unablässig nach ihrer Erreichung
streben sollte, denn davon wird Frieden und Wohlergehen der Menschheit abhängen.
b. Die EMRK von 1950380
Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarates vom 04.11.1950 wurde geschaffen, um einen gemeinsamen europäischen Grundrechtsstandard zu formulieren und diesen auch der Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof der Menschenrechte in Straßburg zu unterwerfen. Durch eine inhaltliche Ergänzung
über Zusatzprotokolle und die fortschrittliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
379
Hintergrunddaten und Geschichte von Amnesty International in: Frankfurter Rundschau vom 24. Mai 2007.
Die Konvention vom 04.11.1950 gilt mit Gesetzeskraft in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund des
Gesetzes vom 07.08.1952 (BGBl. II S. 685, 953).
380
87
für Menschenrechte war bislang eine dynamische Entwicklung des Grundrechtsstandards auf
europäischer Ebene möglich.
Die EMRK enthält viele Gewährleistungen, die mit denen der Grundrechte des Grundgesetzes
identisch sind. Eine praktische Relevanz entsteht erst, wenn in der EMRK Rechte beschrieben
werden, die im Grundgesetz nicht vorgesehen sind, wie z.B. das Recht auf ein faires Verfahren, Art. 6 Abs. 1 EMRK. Seit 1998 kann ähnlich wie bei einer Verfassungsbeschwerde jeder
Einzelne gegen eine Verletzung seiner Rechte aus der Konvention Beschwerde führen. Daneben können auch die einzelnen Mitgliedsstaaten wegen einer Verletzung der Konvention
durch einen anderen Mitgliedstaat den Gerichtshof anrufen. Ein derartiges Rechtsschutzsystem ist einzigartig und unterscheidet die EMRK beispielsweise in besonderem Maße von der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen.381
Der EMRK liegt kein spezifisches staatskirchenrechtliches Modell zugrunde, so dass die in
Europa auffindbaren vielfältigen Ausprägungen des Religionsrechts (Trennungs- Kooperations- und Staatskirchenmodell) grundsätzlich mit Art. 9 EMRK vereinbar sind.
c. Die Europäische Grundrechte-Charta von 2000/2007
Besonders ehrgeizige Ziele verfolgte die EU, als sie im Dezember 2000 eine eigene Charta
der Grundrechte verkündete. Diese sollte ursprünglich Teil einer EU-Verfassung werden, die
nach dem Scheitern des Ratifizierungsprozesses in der geplanten Weise aber nicht in Kraft
treten wird. Dennoch haben die meisten EU-Mitgliedstaaten 2007 die Grundrechte-Charta
anerkannt.
Die Charta der europäischen Menschenrechte bildet den zweiten Teil des Europäischen Verfassungsvertrages, wie er am 29. Oktober 2004 unterzeichnet wurde und 2007 in Kraft treten
sollte. Bis dahin galten die EU-Grundrechte382 aufgrund der ständigen Rechtsprechung des
EUGH als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze und das Fehlen geschriebener
Grundrechte wurde dadurch kompensiert.383 Nach der EMRK und der bisherigen maßgeblichen Rechtsprechung des EuGH und dessen Grundrechtsentwicklung ist die Europäische
Grundrechte-Charta ein dritter Schritt zur Etablierung eines supranationalen Grundrechtsschutzes.
Im europäischen Primärrecht, d.h. in den Gründungsverträgen der 1950er Jahre waren zunächst keine Grundrechte enthalten.
Die EMRK und das nationale Verfassungsrecht dienten als Rechtserkenntnisquellen und bleiben weiterhin zur Auslegung der EU-Grundrechte relevant384, die Charta fixiert damit das
Schutzniveau der EMRK, was zugleich aus Art. 52 Abs. 2 EUV folgt.
Nachdem die Ratifizierung der Verfassung gescheitert ist, soll nun der Vertrag von Lissabon
(01.12.2009) die europäische Einigung voranbringen. Die Grundrechtscharta ist dann nicht
381
Vgl. z.B. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, München 2009.
Zu den Grundfreiheiten vgl. Michael/ Morlok, Grundrechte, Baden-Baden 2012,S. 83.
383
Muckel, DÖV 2005, 191.
384
Michael/Morlok, Grundrechte, Baden-Baden 2012, S. 67.
382
88
mehr Teil des Vertrages, sie wird jedoch durch den Verweis in Art. 6 EUV für alle Staaten385
bindend erklärt. Nach Art. 6 Abs. 3 EUV werden die Grundrechte der EMRK ausdrücklich
„als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts“ angesehen.386
Die EU-Menschenrechtscharta enthält die auf Ebene der Union geltenden Grundrechte in 54
Artikeln, die bisher nur als allgemeiner Verweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention und auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Vertrag genannt werden. Damit sollen die Grundrechte für den Einzelnen
transparenter werden. Zugleich sollen Identität und Legitimität der Europäischen Union gestärkt werden. In sechs Kapiteln, die die Würde des Menschen, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte und justizielle Rechte betreffen, fasst die Charta die allgemeinen Menschenund Bürgerrechte und die wirtschaftlichen und sozialen Rechte in einem Dokument zusammen. Außerdem gibt es ein weiteres Kapitel, das übergreifend alle anderen Kapitel betrifft,
wie Grundrechtsschranken und das Verhältnis zur Europäischen Menschenrechtskonvention.
Man muss allerdings feststellen, dass einige Abschnitte der Charta relativ unklar gehalten
sind. Als exemplarisches Beispiel sei hier Artikel 6 genannt, der jeder Person das „Recht auf
Freiheit und Sicherheit“ gewährt, es aber unbestimmt bleibt, wie etwa die individuelle Freiheit gegenüber kollektiver Sicherheit zu gewichten ist. Der Schutzbereich der Charta wiederum reicht weiter als das Grundgesetz, denn es sichert neben klassischen Bürgerrechten wie
Meinungs- und Versammlungsfreiheit auch Verbraucherschutz, Datenschutz und Rechte von
Kindern, Behinderten und Alten und „würdige“ Arbeitsbedingungen zu.
Die Reichweite der Grundrechte wird aus der Charta selbst heraus nicht ersichtlich. Die
Grundrechtscharta soll aber nicht in Konkurrenz zu den nationalen Grundrechten stehen, d.h.
wo einige nationale Verfassungen weitgehende Grundrechte garantieren, werden diese nicht
berührt.387 Die Grenzen der einzelnen Grundrechte ergeben sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, auf die verwiesen wird. Der Artikel II-112 VVE ist insofern von weitreichender Bedeutung.
Bei der Bedeutung des fortschreitenden Prozesses der europäischen Einigung für das staatsbezogene Konzept der Integration durch politische Einheit und Identität einerseits, begrenzte
Vielfalt und Differenz andererseits, sind folglich zwei Aspekte zu unterscheiden: Zunächst die
Auswirkungen der europäischen Einigung auf die Integration durch die Verfassung innerhalb
des Mitgliedstaates und außerdem die Möglichkeit europäischer Integration und Identitätsbestimmung durch europäisches Verfassungsrecht.388
Anders gelagert als im nationalen Fokus sind die Möglichkeiten einer Einheitsfindung der
Bürger Europas durch europäisches Verfassungsrecht. Supranationale Politik und Rechtsetzung lässt sich nur in besonderer und begrenzter Weise demokratisieren, obwohl mit dem
385
Ausgenommen: Großbritannien, Polen und Tschechien. Für diese Länder gilt ein „Opt-out“, d.h. dass dort
insbesondere Bestimmungen über Ausnahmen im Hinblick auf die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofes und nationaler Gerichte für den Schutz der in der Charta anerkannten Rechte gelten werden.
386
Vgl. allgemein, von der Groeben/ Schwarze, Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur
Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Bd. 1, 6. Auflage 2003.
387
Das Bundesverfassungsgericht prüft nach seinem Beschluss „Solange II“ ( BVerfGE 73, 339) abgeleitetes
Gemeinschaftsrecht nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, solange der EuGH einen wirksamen Schutz der Grundrechte gewährleistet wird, der im Vergleich zum Grundgesetz als „wesentlich gleich zu
erachten“ ist.
388
Pernice, VVDStRL 60, 149; Ipsen, EuR 1987, 195.
89
direkt gewählten Europäischen Parlament, der vom Parlament bestätigten Kommission und
mit dem Europäischen Gerichtshof Gemeinschaftsorgane bestehen, die denen des Verfassungsstaates nachgebildet sind. Die begrenzte Übertragbarkeit der Kriterien demokratischer
Legitimation auf die Union liegt nicht an behebbaren Mängeln der Institutionen, etwa fehlender Rechtsetzungsbefugnis des Parlaments. Die Gründe liegen auch nicht in erster Linie bei
der im letzten Jahrzehnt viel diskutierten Frage, ob es eines europäischen Volkes als Voraussetzung demokratischer Legitimation bedürfe, ob es ein solches Volk geben könne389 und ob
die Union, fehlender Staatlichkeit zum Trotz, verfassungsfähig sei. 390 Die Voraussetzungen
kollektiver Selbstbestimmung fehlen in der Europäischen Union, es gibt keine, in einer gesamteuropäischen Öffentlichkeit diskutierten, Alternativen in der europäischen Politik, mittelfristig keine Parteien auf europäischer Ebene (vgl. aber Art. 191 EGV), keine kulturellen Voraussetzungen legitimer Mehrheitsentscheidungen.391 Das europäische Parlament ist tatsächlich national gegliedert und Wahlkämpfe werden mit nationalen Themen geführt. Europäische
Politik und Rechtsetzung sind das Ergebnis multilateraler Verhandlungen, deren Ergebnisse
von keinem einzelnen Vertragspartner einseitig bestimmbar sind. Überwinden lassen würde
sich dies nur mit einem Bundesstaat, der im Moment jedoch nicht erwünscht ist.392 Wenn aber
der demokratische Zusammenhang einer europäischen Selbstregierung fehlt, so fehlt auch die
einheitsstiftende Grundlage für grundrechtliche Vielfalt. Unabhängig davon, ob es Erfolg versprechend wäre, die europäische Einigung als Ausprägung einer europäischen Überzeugungsund Wertgemeinschaft zu verstehen393, bietet das polyzentrische europäische Geschehen noch
keine Grundlage für Freiheitsgewährleistungen, die über wirtschaftliche Freiheit hinausgehen.
Die Brisanz einer Grundrechtsinterpretation aus einer nationalen Perspektive wird noch deutlicher, bezieht man die Betrachtung mit ein, dass Art. 9 EMRK im Gemeinschaftsrecht mit
Anwendungsvorrang zur Wirkung zu bringen ist, und zwar nicht erst aufgrund der Europäischen Grundrechtscharta, sondern bereits aufgrund des Art. 6 Abs. 2 i.V.m. Art. 6 EUV.
Die Zurückhaltung der EMRK und ihrer Organe beruht auf der Rücksicht auf die zwischenstaatlich kulturelle Vielfalt, die das Staatskirchenrecht prägt. Diese kulturelle Vielfalt ist nun
innerstaatlich in einem anderen als nur einem schlicht staatskirchenrechtlichen Zusammenhang abzuarbeiten. Vielfalt wäre heute auch innerdeutsch nicht nur zwischen Ost und West zu
berücksichtigen. Sie wird innerstaatlich allerdings umso dringlicher, je stärker multikulturelle
Elemente zunehmen.394 Die Grundrechte des Art. 18, 19 GR-Ch395 inkorporieren zudem völkerrechtliche Vorgaben in das Recht der EU. Das Verbot von Kollektivausweisungen in Art.
4 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK und die Rechtsprechung des EGMR zur Art. 3 EMRK
leiten den Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung nach Art. 19 GR-Ch.396
Dies bedeutet, dass auch diese Vorschriften immer an Bedeutung gewinnen und sie auch zum
389
Grimm, Die Verfassung und die Politik, München 2001, S. 215; Koenig, DÖV 1998, 268.
Scholz, ZG 17, 1.
391
Viehoff/Seegers, Kultur, Identität, Europa, Frankfurt am Main 1999, S. 201.
392
Zuleeg, NJW 2000, 2846.
393
Graf Vitzthum, EuR 37, 1.
394
Goerlich, NJW 2001, 2862.
395
Zur Charta der Grundrechte für die Europäische Union, vgl. Grabenwarter, DVBl. 2001, 1.
396
Meyer, Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Baden-Baden 2006, Art. 19 Rn 14,
18; auch allgemein: Grosse Wentrup, Die Europäische Grundrechtscharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, Berlin 2003; Szczekalla, DVBl. 2001, 345.
390
90
jetzigen Zeitpunkt nicht gänzlich außer Betracht gelassen werden sollten und stetig bereits bei
Grundgesetzreflexion Berücksichtigung finden müssen.
d. Die Bedeutung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des EuGH
Mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der seinen ständigen Sitz in Straßburg hat, verfügt der Europarat auch über ein wirkliches Rechtsprechungsorgan, um Menschenrechtsverletzungen sanktionieren zu können.
Die Rechtsprechung des EuGH zu den Grundrechten ist parallel dazu weiterhin das zentrale
Element des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union, dessen Notwendigkeit bereits
daraus folgt, dass die Rechtsprechung des EuGH selbst unmittelbare Wirkung auch gegenüber
nationalen Grundrechten hat. Der EuGH ist zwar weniger mit der Beachtung von Grundrechten betraut, muss diese jedoch im Hinblick auf andere Auslegungsfragen stets berücksichtigen. Diese Funktion wird auch durch die Grundrechtscharta nicht verändert, solange der Gerichtshof weiterhin auch für die Auslegung von Grundrechten zuständig bleibt. Das Bundesverfassungsgericht hatte insoweit einen im wesentlich vergleichbaren Grundrechtsschutz gefordert, da dieser zuvor nicht normiert war, so dass die funktionelle Notwendigkeit des aktiven Grundrechtsschutzes vom EuGH unter Bezugnahme auf die EMRK einschließlich der
Rechtsprechung des EGMR ausgeübt wurde. Dem Schwerpunkt des Gemeinsamen Marktes
entsprechend stehen im Vordergrund der Rechtsprechung des EuGH die klassischen wirtschaftlichen Abwehrrechte wie Eigentum und Berufsfreiheit. Die Grundrechtskontrolle des
Gerichtshofs bezieht sich auf sämtliche Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane.
4. Menschenrechte in der internationalen Politik und der Krieg gegen den Terror397
Der Grundsatz, dass die Menschenrechte weltweite Geltung besitzen und unteilbar sind, damit
also allen Menschen zustehen, ist eine der zentralen Aussagen der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte. Dementsprechend verabschiedeten auf der Weltmenschenrechtskonferenz
1993398 in Wien die Vertreter von 171 Staaten eine gemeinsame Erklärung, in der es heißt:
„Alle Menschenrechte sind allgemeingültig, unteilbar, bedingen einander und bilden einen
Sinnzusammenhang“. Dieses Ergebnis ist bedeutsam für die Legitimation der Menschenrechte als grundsätzliche Leitschnur allen staatlichen Handelns insofern, als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 nur von ca. 57 Staaten verabschiedet worden war. Damals
gab es die meisten der heute existierenden Staaten noch nicht und viele heute unabhängige
Länder standen noch unter kolonialer Fremdherrschaft.
397
Der Krieg gegen den Terror oder Krieg gegen den Terrorismus ist ein vor allem von der ehemaligen USRegierung unter George W. Bush verbreitetes politisches Schlagwort, das eine Bandbreite von militärischen und
juristischen Schritten gegen den als Problem qualifizierten Terrorismus zusammenfasst. Ende März 2009 kündigte die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton an, dass die US-Regierung den Begriff nicht mehr verwenden werde.
398
Die erste Weltmenschenrechtskonferenz war 1968 in Teheran abgehalten worden.
91
Dennoch zeigen sich die wohlhabenden Länder vor allem aus wirtschaftlichen Gründen gegenüber kollektiven Rechtsansprüchen ärmerer Länder reserviert. Als Argument führt man ins
Feld, dass jene meist soziale Bereiche betreffenden Rechte nicht den gleichen Rang einnehmen könnten wie die individuellen Freiheitsrechte.
Die praktische Durchsetzbarkeit der Rechte aus internationalen Verträgen gestaltet sich ebenfalls in der Regel schwierig. Der Internationale Gerichtshof kann Recht über Staaten sprechen
und somit auch Urteil verhängen, allerdings wie gesagt nur, wenn der betreffende Staat hierin
eingewilligt hat.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist zwar weder juristisch bindend für die verschiedenen Staaten, noch gibt es eine über den Staaten stehende Gewalt, die die Einhaltung
der Menschenrechte durchsetzen könnte. Dennoch hat sie politisch und moralisch ein sehr
großes Gewicht. Ihre Bestimmungen sind in viele nationale Verfassungen aufgenommen
worden. Skepsis gegenüber dem universellen Charakter der Menschenrechte kommt jedoch
aus den Ländern der Dritten Welt. Etliche asiatische und afrikanische Staaten vertreten den
Standpunkt, dass die bestehenden Menschenrechtsstandards weitgehend auf westlicher
Denkweise beruhen und die individuellen Freiheitsrechte überbetonen. Manche autoritären
Regierungen benutzen diese an sich berechtigte Diskussion, um die klassischen Freiheitsrechte generell in Frage zu stellen. Man kann also erneut feststellen, dass die Idee der Universalität der Menschenrechte faktisch noch nicht zu jedem durchgedrungen ist.
Spätestens seit dem 11.September 2001 ist außerdem eine neue weltweite Gefahr in den Fokus der Öffentlichkeit geraten: gewaltbereite Islamisten, die weltweit und mit Nutzung moderner Kommunikationstechniken eine asymmetrische Kriegsführung betreiben und durch
ihre Terrorakte unter Beweis gestellt haben, dass sie fast überall und jederzeit zuschlagen
können. Dementsprechend riefen die USA zu einem weltweiten „Krieg gegen den Terror“
oder „Antiterrorkrieg“ auf.
Aus menschenrechtlicher Sicht wirken solche Ereignisse in zweierlei Hinsicht katastrophal:
zuerst natürlich deswegen, weil die Terroristen vornehmlich wehrlose Menschen zur Zielscheibe ihrer Anschläge machen; zum anderen, weil viele Staaten in berechtigtem Sicherheitsinteresse Menschen- und Grundrechte teilweise unverhältnismäßig stark einschränken oder
gar verletzen. So inhaftierten die USA terrorverdächtige Personen über einen langen Zeitraum
in Afghanistan, im Irak, in Guantanamo auf Kuba, ohne jedoch Anklage zu erheben oder ein
Gerichtsverfahren einzuleiten. Auf öffentliche Kritik stießen die US-Behörden außerdem,
weil sie terrorismusverdächtige Menschen in den Gewahrsam von Ländern überstellten, deren
Sicherheitsorgane bekanntermaßen bei Vernehmungen nicht zimperlich vorgehen. Zuständig
für illegale Gefangenentransporte war der amerikanische Geheimdienst CIA, der nach Einschätzung von Amnesty International ein Netz geheimer Haftzentren rund um den Globus
unterhielt und nach Recherchen des Untersuchungsausschusses des Europäischen Parlaments
solche Flüge auch via Deutschland organisiert hat. Auch sei unklar, unter welchen Bedingungen der „Krieg gegen den Terror“ je ein Ende finden könnte. Terrorismus sei nämlich kein
klar abgrenzbarer Feind, sondern eher eine Methode, um politische Ziele gewaltsam
durchzusetzen. Diese Begrifflichkeit berge somit die Gefahr, verbindliche Rechtsrahmen aufzuweichen. Vor diesem Hintergrund haben sowohl amerikanische als auch internationale Kritiker die Schaffung des „Military Commissions Act“ scharf kritisiert. Dieses Gesetz trat im
92
Oktober 2006 in Kraft und gibt dem amerikanischen Präsidenten sehr weitreichende Vollmachten über die Behandlung von „illegal enemy combatants“ (= ungesetzliche Kombattanten).402
Größeres Aufsehen haben jene Vorgänge in der Bundesrepublik erst durch die Fälle des in
Bremen geborenen Türken Murat Kurnaz und des Deutschlibanesen Khaled-al-Masri erregt.403 Kurnaz saß über vier Jahre wegen Terrorverdachts in Guantanamo ein und al-Masri
war Ende 2003 in Mazedonien irrtümlich von CIA-Agenten nach Afghanistan entführt und
dort über mehrere Monate festgehalten worden. Umstritten ist, welche Mitschuld gegebenenfalls deutsche Behörden am Schicksal dieser Personen haben und inwieweit sich ihr Vorgehen
aus Unsicherheit bei der Einschätzung der Gefahrenlage speiste. Es ist zu befürchten, dass das
Klima der Angst erhalten bleibt und zur Terrorbekämpfung weitere Grundrechte eingeschränkt werden. Jüngste Überlegungen in Deutschland zielen darauf ab, Ermittlern sogar
einen heimlichen Online-Zugang zu Computern verdächtigter Privatpersonen zu ermöglichen.
Manche Experten bezweifeln, ob man damit Erfolg haben wird. Möglich ist, dass der eine
oder andere Verdächtige überführt werden kann; mit Sicherheit wird die Unverletzlichkeit der
Wohnung nach Art. 13 GG beschnitten, massiv in die Privatsphäre von Bürgern eingegriffen
und damit ein weiterer Teil des liberalen Rechtsstaates eingeschränkt. Im Zuge des Antiterrorkriegs wurden auch in Deutschland umfangreiche, auch teilweise weitere strittige Maßnahmen zur Überwachung der Bevölkerung eingeführt, die offiziell mit dem Schutz der Inneren Sicherheit begründet werden.404 Die Notwendigkeit und Wirksamkeit dieser Maßnahmen
wird zum Teil kontrovers diskutiert. Strittig ist in diesem Zusammenhang vor allem, ob Bürgerrechte und dabei insbesondere Freiheitsrechte unzulässig beschnitten werden (dürfen). Der
Staat muss sich in seinem Kampf gegen den Terror in doppelter Weise bewähren: Zum einen
durch eine effektive Gewährleistung innerer und äußerer Sicherheit und zusätzlich als verfassungsrechtlich gebundenen Staat durch konsequentes Festhalten an den freiheitssichernden
rechtsstaatlichen Regeln und Prinzipien. Der Staat muss also, „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Art. 61 EGV) bleiben. Notwendige Prävention darf daher nicht in
rechtsstaatliche Willkür umschlagen, aber ebenso wenig darf der Staat seine Sicherheitsaufgabe vernachlässigen und wehrlos werden. Er muss die Balance von Freiheit und Sicherheit
austarieren.405
Der Kampf gegen den Terror kann damit durchaus als vielschichtiges Menschenrechtsproblem verstanden werden.
402
Dieser Begriff wurde bereits 1942 durch den Supreme Court im sog. Quirin-Fall verwendet; vgl. dazu auch
Wieczorek, Unrechtmäßige Kombattanten und humanitäres Völkerrecht, Berlin 2005, die sich vor allem mit den
vielfältigen Folgen eines Status´als illegaler Kombattant befasst; Schmitz-Elvenich, Targeted Killing, Köln 2007,
S. 210.
403
Vgl. dazu ausführlich, Steiger, Die CIA, die Menschenrechte und der Fall Khaled el-Masri, Potsdam 2007.
404
z.B. die Verabschiedung verschiedener Anti-Terror-Gesetze, wie das Terrorismusbekämpfungsgesetz (TBG);
vgl. auch Luftsicherheitsgesetz: Am 15. Februar 2006 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass § 14 Abs. 3
des Luftsicherheitsgesetzes gegen das Grundrecht auf Leben und gegen die Menschenwürde verstößt und damit
in vollem Umfang verfassungswidrig und nichtig ist, Details bei Hecker, KJ 2006, 179; die Verschärfung der
Polizeigesetze der Länder und des Bundespolizeigesetzes; Verstärkte Sicherheitsvorkehrungen für gefährdete
Objekte wie Botschaften; verstärkte Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern.
405
Hillgruber, JZ 2007, 209.
93
III. Das Verhältnis von Grundrechten und Menschenrechten, die Religionsfreiheit und deren Schrankenproblematik406 sowie die Idee der Schutzrechte
Die durch verschiedene Grundrechtsgarantien entstehende Mehrfachbindung wird zunehmend
aufgrund der nationalen Grundrechtegarantie, den Grundrechten der GRC, der EMRK, und
der Bindung an Landesgrundrechte relevant. Die praktische Bedeutung beschränkt sich jedoch im Wesentlichen auf die nationalen Grundrechte und auf die unionsrechtlichen Grundrechte.407
Menschenrechte beinhalten unveräußerliche, angeborene und vorstaatliche Ansprüche und
Anrechte des einzelnen. Sie kommen den Individuen unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu
Staaten von Natur aus zu und müssen von jedermann gegenüber jedermann zu jederzeit eingelöst werden können.408 Nach Art. 1 S. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
(AEMR) vom 10.12.1948 sind alle Menschen „frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, sie werden als „mit Vernunft und Gewissen begabt“ angesehen und „sollen einander im
Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ Das Menschenrechtsbekenntnis nimmt auch in Art. 1
GG eine zentrale Mittelstellung ein. In dieser Hinsicht haben die Werte der Freiheit und
Gleichheit einen zentralen Stellenwert; sie konkretisieren die Menschenwürde, die ihrerseits
das Fundament der Menschenrechte darstellt.409 Die Menschenrechte sind an der Priorität des
Individuums orientiert und beruhen auf der Auffassung, „dass der einzelne Mensch Vorrang
hat vor allen gesellschaftlichen Gruppierungen, denen die Menschen durch natürliche oder
geschichtliche Umstände angehören (...).“410 Bei den Menschenrechtsnormen handelt es sich
dabei jedoch weniger um existierende Tatsachen, sondern vielmehr um eine Verpflichtung
des Staates, dieses Ideal zu verfolgen, Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG. Im gesellschaftlichen Bereich
verfügen Privatpersonen dabei über große Spielräume der freien persönlichen Entfaltung, was
allerdings nicht gänzlich schrankenlos gilt. Freiheitsrechte können dementsprechend in Bezug
auf andere grundlegende Werte vom Gesetzgeber unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips entsprechend eingeschränkt werden.
Die Menschenrechte, auf welche sich das Bekenntnis des Grundgesetzes bezieht, sind nicht
identisch mit den sog. Jedermann-Grundrechten des Grundgesetzes, die allen Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit zukommen.411 Es besteht auch keine Identität mit dem
Wesensgehalt der Grundrechte, den Art. 19 Abs. 2 GG sichert. Dieser reicht teilweise weiter,
manchmal auch weniger weit als die Menschenrechte. Zuweilen wird das Verhältnis von
Menschenrechten zu Grundrechten nach dem Kriterium des überpositiven bzw. positiven Geltungsgrundes bestimmt, was eine inhaltliche Abgrenzbarkeit zwischen Grundrechten mit und
ohne Menschenrechtsgehalt voraussetzt.412 Nach unbestrittener Auffassung decken die
406
Vgl. allgemein dazu, Fehlau, Jus 1993, 441.
Zum unterschiedlichen Schutzniveau und dem Verhältnis zueinander, vgl. Michael/Morlok, Grundrechte,
Baden-Baden 2012, S. 81ff; Hain, DVBl. 2002, 148.
408
Schulte, ZAR 2013, 24.
409
Bielefeldt, Menschenrechte in der Einwanderungesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten
Multikulturalismus, Bielfeld 2007, S. 25 ff.
410
Schulte, ZAR 2013, 24.
411
Dreier, GG-Kommentar, Band 1, Art. 1-19 GG, Tübingen 2004, Art. 1 II GG m.w.N.
412
Dreier, GG-Kommentar, Band 1, Art. 1-19 GG, Tübingen 2004, Art. 1 II GG m.w.N.
407
94
Grundrechte des Grundgesetzes zumindest die klassisch liberalen und politischen Menschenrechte ab und gehen bei besonderen Bestimmungen über sie hinaus.
In religionsfreiheitlicher Sicht regelt das Verhältnis des Staates zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften vordergründig das Grundgesetz in Art. 4 und Art. 140 GG. Dort wird die
Religionsfreiheit garantiert, in derer sich die Achtung des menschlichen Freiheitswillens manifestiert. Über Art. 140 GG werden die kirchenpolitischen Bestimmungen der Art. 136-139,
141 der Weimarer Reichsverfassung in das Grundgesetz inkorporiert. Sie sind vollgültiges
Verfassungsrecht und nicht von minderem Rang.413 Art. 4 und Art. 140 GG sind so zu lesen,
als ob sie auch äußerlich aneinandergefügt wären.414 Ebenso sind Diskriminierungsverbote
(Art. 3 III GG), Neutralitätsgarantien (Art. 33 III GG), Regelungen über Religionsunterricht
und deren Ausgestaltung an den Schulen (Art. 7 II, III, V und Art. 141 GG) Gewährleistungen, die im weiteren Sinne das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaft betreffen.415
Auch finden sich landesverfassungsrechtliche Regelungen zum Staatskirchenrecht, die in drei
Gruppen unterschieden werden können, abhängig davon, ob ein Erlass vor dem Grundgesetz,
nach dem Grundgesetz oder nach der Wiedervereinigung 1990 erfolgt ist.416
Art 4 GG bestimmt in Absatz 1 die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des weltanschaulichen Bekenntnisses und gewährleistet in Absatz 2 deren ungestörte Ausübung. 417 Wegen der oftmals schwierigen Abgrenzung dieser beider Bereiche, hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass es sich bei Art. 4 GG um ein einheitliches Grundrecht der Religionsfreiheit handelt, lediglich der Bereich der Gewissensfreiheit soll zusätzlich verstanden werden. Die Religionsfreiheit ist ein Jedermannsgrundrecht und steht auch den Religionsgemeinschaften selbst als eigenes Recht zu.418 Man kann dies aus Art. 19 Abs. 3 GG herleiten oder
bereits in Art. 4 GG enthalten sehen. Religionsgemeinschaften419 sind auch dann Träger der
Religionsfreiheit, wenn sie in Form der Körperschaft des öffentlichen Rechts auftreten.420
Diese können sich zwar grundsätzlich nicht auf die Grundrechte berufen, weil es ihnen an der
grundrechtstypischen Gefährdungslage des Staat-Bürger-Verhältnisses fehlt, jedoch sind Religionsgemeinschaften gesellschaftliche und keine staatlichen Einrichtungen, so dass sie dem
Staat genauso wie ein Bürger entgegentreten, woraus wiederum folgt, dass ihnen Grundrechtsträgerschaft gewährt wird.
Der Schutzbereich des Grundrechts auf Religionsfreiheit soll weit gefasst sein. Es soll dem
Grundrechtsträger ermöglicht werden, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß entsprechend zu handeln.
Um bestimmen zu können, ob ein Verhalten als religiös zu betrachten ist, wird zuvorderst auf
das Selbstverständnis421 der Gläubigengemeinschaft abgestellt. Dies ergibt sich bereits aus
413
BVerfGE 19, 206.
Hollerbach, VVDStRL 26, 57.
415
Der unsystematische Aufbau ist der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes geschuldet, vgl. dazu beispielsweise: von Doemming/Füsslein/Matz, JöR NF 1, 73.
416
Vgl. von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, München 2006, S. 41ff.
417
Vgl. dazu ausführlich diverse Kommentierungen des Art. 4 GG.
418
BVerfGE 19, 129.
419
Zur Selbstverwaltungskompetenz vgl. ausführlich beispielsweise, Wieland, der Staat 25, 321.
420
BVerfG 70, 138.
421
Vgl. beispielsweise Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften und seine Bedeutung für die Auslegung staatlichen Rechts, Berlin 1994, 259ff.
414
95
dem Umstand, dass es für einen religiös und weltanschaulich neutralen Staat unmöglich erscheint, dass ihm die inhaltliche Definitionskompetenz überlassen wird. Es ist gerade beabsichtigt, dass der religiös neutrale Staat den Glauben seiner Bürger nicht beurteilt oder definiert.422 Es wäre jedoch für die allgemeine Rechtsordnung sehr problematisch, wenn die
Reichweite der Religionsfreiheit alleinig von Grundrechtsträgern bestimmt wird, so dass dem
Selbstverständnis daher objektive Grenzen zu ziehen sind, es muss sich nach dem äußerlichen
Erscheinungsbild und dem geistigen Gehalt in plausibler Weise um eine Religionsgemeinschaft handeln.423 Dabei ist im Einzelfall auf einen personellen Zusammenhang durch Organisation und einen Mindestkonsens innerhalb der Gruppe abzustellen. Eine Grenze muss dort
gezogen werden, wo demokratische Mehrheiten ihre Mehrheit dazu missbrauchen, religiösen
oder weltanschaulichen Minderheiten ihren religiös-weltanschaulichen Standpunkt zu oktroyieren.424
Diese Grundentscheidung der extensiven Auslegung des Schutzbereiches durch das Bundesverfassungsgericht wird in den letzten Jahren zunehmend kontrovers diskutiert. Hintergrund
dieser Diskussion ist die Befürchtung, dass das großzügige Verständnis des Bundesverfassungsgerichts zu einer sog. „Hypertrophie“425 des Grundrechts der Religionsfreiheit führt.
Die daran aufgekomme Kritik kann in einem größeren Zusammenhang gesehen werden, der
die Frage betrifft, ob nicht generell die Schutzbereiche der Freiheitsrechte enger zu ziehen
sind426, um einer zunehmenden gesellschaftlichen Segregation entgegenzuwirken, die nicht
zuletzt, aber sicher auch nicht ausschließlich, durch den Zuwachs einer multikulturellen Gesellschaft entstanden ist. Es geht dabei um die Problematik der Ehrenmorde, der
Zwangsverheiratungen, des Kopftuchverbots, der Beschneidungdebatte u.v.m.427 Die Religionsfreiheit wird dabei zum Testfall für den Umgang der deutschen Verfassungsordnung mit
kultureller Vielfalt und damit für ihre Integrationsfähigkeit.428 Die bisherige Ordnung beruhte
auf der jahrhundertelangen Verwurzelung der christlichen Kirchen in den gemeinsamen Kulturkreis. Dennoch kann Religionsfreiheit kein Vorrecht nur für Angehörige dieser großen Religionen sein, der grundrechtliche Schutz wird gleichermaßen allen Religionsgemeinschaften
zugestanden.
Art 4 GG enthält keinen Gesetzesvorbehalt für die in Absatz 1 und 2 garantierten Rechte und
gehört daher zu den vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten, die nur zugunsten anderer
Rechte mit Verfassungsrang unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Verfassung
einschränkbar sind. Diese Schranke muss jedoch grundsätzlich durch ein formelles Gesetz
gezogen werden.429
Auf Schrankenebene wird daher auch die Frage aufgeworfen, ob man einem weiten Schutzbe422
BVerfG 12, 1.
BVerfGE 83, 31.
424
von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, München 2006, S. 58.
425
Kästner, JZ 1998, 974.
426
Vgl. zusammenfassend Kahl, der Staat 41, 167.
427
Vgl. auch Muckel, Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Staates, Berlin 2008.
428
von Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, München 2006 S. 52.
429
Anders als das Grundgesetz oder die EMRK enthält die Grundrechte-Charta keine ausgefeilte
Schrankensystemaik mit verschiedenen grundrechtsspezifischen Schrankenbestimmungen. Stattdessen weist Art.
II-112 EUVerfV eine allgemeine Grenze von Grundrechtseingriffen auf, was wiederum über Art. II-113 und II
114 ergänzt wird, Muckel, DÖV 2005, 191.
423
96
reich der Religionsfreiheit nicht dadurch begegnen kann, dass man nach erleichterten Eingriffsmöglichkeiten sucht. Teilweise wird dazu Art. 136 Abs. 1 WRV als Gesetzesvorbehalt430 herangezogen, der über Art. 140 GG gültiges Verfassungsrecht ist. Das Bundesverfassungsgericht hat dies jedoch bereits im Jahre 1972 abgelehnt,431 Art. 136 sei von Art. 4 Abs. 1
GG „überlagert.“
Der unbequeme Weg über die verfassungsimmanente Schranke hat auch dazu motiviert, ein
Verbot von Religionsgemeinschaften über Art. 9 Abs. 2 GG als Schranke zu Art. 137 Abs. 2
WRV zu konstruieren.432 Doch auch hier ist dies letztlich auch deswegen gänzlich abgelehnt
worden, um deutlich zu machen, dass die Vorbehaltlosigkeit der Religionsfreiheit nicht umgangen werden soll.
Im Laufe der Zeit hat sich jedoch gezeigt, dass Einschränkungen dennoch möglich sind. So
kann die Religionsfreiheit keine Legitimationsgrundlage für unsittliche bzw. kriminelle Verhaltensweisen bieten, denn die Religionsfreiheit verleiht keinerlei Recht, über die Rechtsgüter
von dritten Personen zu verfügen. In erster Linie wäre dabei an körperliche Unversehrtheit zu
denken, so dass jegliche Ausübung von Gewalt keinerlei Berechtigung durch die Religionsfreiheit erhält. Ein Verbot des Aufrufes zum Mord kann beispielsweise über die Schutzpflicht
des Art. 2 Abs. 2 GG gerechtfertigt werden. Eine gänzlich unbegrenzte Freiheit zur Selbstverwirklichung würde jede Rechtsordnung sprengen.433
Ein „für alle geltendes Gesetz“ als Schrankenmöglichkeit ist weiterhin dann anzunehmen,
wenn ein Gesetz zwingenden Erfordernissen des friedlichen Zusammenlebens von Staat und
Kirche in einem religiös und weltanschaulich neutralen politischen Gemeinwesen entspricht.434 Den gleichen Regelungsgehalt enthält auch Art. 9 Abs. 2 EMRK.
Entscheidend ist, dass die Schrankenklausel nicht isoliert zu sehen ist, sondern sie ist vielmehr in einem doppeltem Zusammenhang zu sehen: Zunächst zu anderen Freiheitsbegrenzungen der Verfassung, die vom Prinzip der Einheit der Verfassung geprägt sind und des
Weiteren muss beachtet werden, dass der Gesetzesvorbehalt niemals ohne Berücksichtigung
des konkreten Zusammenhangs zwischen Freiheit und begrenzender Norm gesehen werden
darf. Es geht daher nicht ohne jeglichen Abwägungsaufwand, sondern die widerstreitenden
Interessen sind vielmehr durch einen Kompromiss, die sog. praktische Konkordanz 435, zu lösen, um so durch verhältnismäßige Zuordnung zu optimaler Wirkung zu kommen.436 Dies
lässt sich im theoretischen Rahmen nur schwer konkretisieren, da sich jeder Einzelfall unterschiedlich intensiv darstellt.
Anders als Art. 4 GG enthält Art. 9 EMRK einen ausdrücklichen Vorbehalt zugunsten „vom
Gesetz vorgesehener Beschränkungen, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendige
Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit
oder Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind“. Damit geht diese
430
Vgl.ausführlich dazu: von Campenhausen /de Wall, Staatskirchenrecht, München 2006, S. 68.
BVerfGE 44, 37.
432
Vgl. dogmatische Darstellung bei Michael, JZ 2002, 482.
433
von Campenhausen/ de Wall, Staatskrichenrecht, München 2006, S. 68.
434
Hollerbach, VVDStRL 26, 57.
435
Vgl. dazu Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1999, Rn
317.
436
Vgl. dazu Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, München 1961.
431
97
Schrankenregelung eindeutig weiter im Vergleich zur verfassungsimmanten Beschränkungsmöglichkeit der Religionsfreiheit des Grundgesetzes.
Eine weitere Grundrechtsschranke kann zudem das Neutralitätsprinzip darstellen.437
Mit dem Recht, nicht zu glauben, ist die negative Religionsfreiheit geschützt. Diese Feststellung prägt auch zugleich die Garantie der Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK. Die negative
religiöse Bekenntnisfreiheit steht in einem engen Zusammenhang mit der staatlichen Neutralitätspflicht, die staatliche Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen fordert. Diese Neutralität verpflichtet den freiheitlich demokratischen Rechtsstaat
zu einem Verhalten, das weltanschaulich und konfessionell neutral und damit unparteiisch ist.
Es gebietet die Nichteinmischung im Hinblick auf religiös-weltanschaulich berührte Sachverhalte und Problemstellungen und ist damit ein Grundelement demokratisch-rechtsstaatlicher
Ordnung. Der Staat agiert dabei bekenntnisneutral, „er hat kein Bekenntnis, er wirbt für kein
Bekenntnis und er hindert kein Bekenntnis“.438 Positiv wirkt das Neutralitätsprinzip dabei bei
der Berücksichtigung und Förderung von Meinungsvielfalt und in negativer Hinsicht propagiert es die radikale Trennung von Staat und Religion.439 Es ist dem Staat insbesondere verwehrt, Glauben als solchen zu bewerten, die sog. Wahrheitsfrage440 bleibt tabu.441 Allein das
tatsächliche Verhalten der Religionsgemeinschaft, also das rechtskonforme Wirken ist für den
Staat interessant, es kann keinen sog. Kulturvorbehalt geben.442 Dies bedeutet, dass eine
Gleichberechtigung der Religionsgemeinschaften aus deren Gleichwertigkeit und gleichen
Ranges folgt.
Die Begründung liegt darin, dass der Staat die friedliche Koexistenz nur gewährleisten kann,
wenn er in den Glaubensfragen Neutralität bewahrt.443 Aus staatskirchenrechtlicher Sicht erfolgt dieses Prinzip aus der Trennung von Staat und Kirche, was als Weimarer Kompromiss
in das Grundgesetz übernommen wurde (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 1 und Abs. 3
WRV). Die Herleitung der Neutralität erfolgt aus einer Gesamtschau von Grundrechtsgehalten. Zum einen aus dem Verbot der Benachteiligung oder Bevorzugung wegen des Glaubens,
der religiösen oder der politischen Anschauung (Art. 3 Abs. 3 GG), weiterhin aus der Glaubens-, Bekenntnis- und Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG, aus der Sicherung
des bekenntnisunabhängigen Zugangs zu öffentlichen Ämtern des Art. 33 Abs. 3 GG sowie
letztlich aus den staatskirchenrechtlichen Gewährleistungen von Art. 140 GG i.V.m. Art. 137
Abs. 1 WRV.
Die Steigerung des Neutralitätsprinzips ist der Grundsatz der Laizität, wie er etwa in Frankreich, der Türkei und den USA praktiziert wird. Er bezeichnet die Unparteilichkeit gegenüber
weltanschaulichen Gruppen durch Anerkennung eines Pluralismus in der Nation.444
Die Unterscheidung zwischen Neutralität und Laizismus wird bei der Schlichtung von Kon437
Zum Toleranzprinzip als Grundrechtsschranke vgl. Häberle, JuS 69, 265.
von Zezschwitz, JZ 1966, 337.
439
Im Unterschied dazu: das Paritätsprinzip (vgl. Paulskirchenverfassung § 147 Abs. 2), vgl. dazu Heckel,
VVDStRL 26, 5.
440
Zur christlichen Wahrheitsfrage vgl. Heckel, in: FS Stutz, Stuttgart 1938.
441
BVerfGE 33, 23.
442
So auch Möllers, VVDStRL 2009, 47.
443
BVerfGE 93, 1; BVerfGE 108, 282.
444
Vgl. dazu unter III 2 c.
438
98
flikten deutlich.445 Während das Neutralitätsprinzip unter Heranziehung praktischer Konkordanz einen Ausgleich zwischen individueller „negativer“ und kollektiver „positiver“ Religionsfreiheit löst, wird beim Laizismus der Grundsatz der strikten Unparteilichkeit auf solche
Art herangezogen, dass der Konflikt immer zugunsten der negativen Religionsfreiheit gelöst
wird. Die Divergenz dieser Konzepte zeigt sich vor allem deutlich bei der Beurteilung von
religiösen Zeichen und Handlungen im öffentlichen Raum.
Weiterhin können auch Schutzrechte eine Schrankenfunktion haben.
Die Grundrechte vermitteln grundsätzlich keinen Schutz gegenüber Handlungen Privater. Nur
dem Staat zurechenbare Einwirkungen können überhaupt als Eingriff qualifiziert werden.
Das Bundesverfassungsgericht sieht die Grundrechte aber auch als Teil einer objektiven Werteordnung. Daraus kann eine Verpflichtung des Staates abgeleitet werden, dass ein Freiheitsrecht auch durch Beeinträchtigungen von Dritten zu schützen ist und der Staat damit über
seine reine Eingriffsabwehr hinaus einschreiten muss.446
Wenn sich eine Religionsgemeinschaft gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung
richtet, kann dies eine grundrechtliche Schutzpflicht auslösen, die jedoch nur zurückhaltend
ausgesprochen werden kann. Es handelt sich bei den Schutzrechten447 um ein Dreiecksverhältnis mit einem nichtstaatlichen Störer, also einer Person, die selbst nicht Adressat der
Grundrechte des Grundgesetzes ist. Komplementär zum Eingriffsmerkmal bei der Abwehrfunktion der Grundrechte können auch bezüglich eines Schutzrechtes bloße Unannehmlichkeiten, Belästigungen oder reine Vermutungen einer Gefahr nicht die Erheblichkeitsgrenze
überwinden. Bei potentiellen, drohenden Eingriffen in Grundrechtsgüter (Grundrechtsgefährdungen) durch Dritte erfordert die Schutzpflicht, dass die zuständigen Organe die Gefährdungsrealisierung verhindern. In diesen Fällen erweitert sich jedoch der staatliche Handlungsspielraum auf ein vom Liberalismus ursprünglich nicht vorgesehenes Maß. Da sich die
Grundrechtsgefährdung dennoch auch ohne staatliche Maßnahmen nicht notwendig realisieren muss, hat der Staat (primär der Gesetzgeber) die Risikosphären festzulegen und einen
Ausgleich zwischen der Freiheit des einen und der Freiheit des anderen zu suchen.448
Der Staat muss insbesondere dann vor Gefährdungen schützen, wenn die dem grundrechtlichen Schutzgut drohende Beeinträchtigung irreparabel ist.449 Einige Normen haben bereits
ausdrücklich eine Schutzformulierung, vgl. Art 6 Abs. 4 GG. Um wieder ein konkretes Beispiel aufzugreifen, stellen Zwangsverheiratungen solche nicht hinnehmbaren Grund- und
Menschenrechtsverletzungen dar. Betroffenen sind insbesondere das Recht auf freie Eheschließung aus Art. 12 EMRK sowie die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und
Abs. 2 GG und der negativen Eheschließungsfreiheit aus Art. 6 Abs. 1 GG.
Aufgrund der Tragweite des Problems sollte zunächst nicht auf eine schnelle Lösung hingear445
446
Vgl. dazu Blanke, in FS: Stern, Berlin 2012.
Der Staat muss „schützend und fördernd“ zugunsten der Grundrechte agieren, seit BVerfGE 39,1 (Abtreibung
I).
447
Brüning, JuS 2000, 955; Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen
Verfassungsstaates, Berlin/New York, 1983; Kopp, DöV 1994, 1753; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, Berlin 1992.
448
Klein, NJW 1989, 1633.
449
So auch Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, Berlin 1997, S. 28; Göbel-Zimmermann,
ZAR 2007, 54; Pietrzak, JuS 94, 748; Dreier, Jura 1994, 505.
99
beitet werden, wie etwa auf die Einrichtung eines Straftatbestandes. 450 Im Fokus stehen muss
vielmehr die Stärkung der Rechtsposition einzelner Betroffener. Ein Ziel muss die Schaffung
von Ausstiegsoptionen aus Zwangsehen sein. Neben einem effektiven Beratungsangebot ist
etwas an die Eröffnung von Zufluchtsmöglichkeiten in Frauen- bzw. Mädchenhäusern zu
denken. Vor allem Sozialarbeiter vor Ort als direkte Ansprechpartner könnten einen Zugang
zu den Betroffenen erleichtern. Auch wäre eine Prüfung von Abschiebungsverboten unter
dem Aspekt der Zwangsehenproblematik in Betracht zu ziehen. Zivilrechtlich könnte über
eine erleichterte Aufhebbarkeit der Ehe und unterhaltsrechtliche Konsequenzen nachgedacht
werden.451 Dazu später allerdings noch eingehender. Zunächst ist es wichtig, dass es neben
der klassischen Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte, sich auch Schutzrechte aus dem
Grundgesetz ableiten lassen, die die Gewalten dazu zwingen, für einen Ausgleich der sich
divergierenden Interessen zu sorgen.
IV. Das Verhältnis von (Individual-) Grundrechten und Pluralismus
1. Minderheiten452 als Thema für das Grundgesetz?
Eine weitere in diesen Kontext gehörende Problematik besteht in der nicht mehr neuen Diskussion um die Aufnahme eines Minderheitenschutzartikels in das Grundgesetz. Bereits im
Jahre 1992 gab es einen Vorschlag, der dies befürwortete. Eine Notwendigkeit hierfür könnte
sich aus dem Gedanken ergeben, dass durch Globalisierungsprozesse auf der einen Seite und
Nationalitätenprobleme auf der anderen Seite eine stabile Ordnung dazu beitragen könnte,
Gesamteuropa neu zu formieren.
Auf europäischer Ebene sind im Rahmen der KSZE453 (seit 1995 OSZE) und des Europara-
450
Dass dieser Ansatz weitgehend leer zulaufen droht, zeichnet sich bereits insoweit ab, als sich seit Einführung
des strafschärfenden Regelbeispiels des § 240 Abs. 4 S. 2 Nr. 1, 2. Alt StGB im Februar 2005 das Anzeigeverhalten nicht erkennbar verändert hat, Hessisches Kriminalamt, Anhörung des Innen- und Sozialpolitischen Ausschusses des Hessischen Landtages (Teil 4, Nr. 32, S. 4f.); Seitdem wird in der Regel mit Freiheitsstrafe von
sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft, „ wer eine andere Person zur Eingehung der Ehe nötigt.“ Die Hemmschwelle, von diesem repressiv wirkenden Instrument Gebrauch zu machen, scheint angesichts der Notwendigkeit im Zweifel die eigenen Eltern anzuzeigen und sich damit zusätzlich gesteigerten Risiken eines
Schandemordes auszusetzen, aus nachvollziehbaren Gründen hoch. Vor diesem Hintergrund geht von der Strafvorschrift lediglich eine Signalwirkung dahingehend aus, dass eine Verletzung von Grund- bzw. Menschenrechten in diesem Staat nicht geduldet wird. Außerdem gilt die Vorschrift nur innerhalb des Bundesgebietes, so dass
der Bereich der Heiratsverschleppung von vorneherein ausgeklammert wird. Deswegen gab es bereits Vorschläge für einen eigenständigen Paragraphen, der auch diesen Tatbestand erfasst, vgl. BT-Drs. 16/1035 vom
23.03.2006; Gesetzesentwurf zum Zwangsheirats-Bekämpfungsgesetz, dazu später noch genauer.
451
Details bei Göbel-Zimmermann/Born, ZAR 2007, 54.
452
Vgl. dazu: Siegert, Minderheitenschutz in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1999; Kutscha, JuS 1998,
673 mit Erwiderung Rösler, JuS 1999, 309; Blumenwitz/Murswiek, Aktuelle rechtliche und praktischen Fragen
des Volksgruppen- und Minderheitenschutzrechtes, Bonn 1994; Brunner, Minderheitenschutz in Europa, Heidelberg 1985; Kiesel/Wolf-Almaasreh, Die multikulturelle Versuchung: ethnische Minderheiten in der deutschen
Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995; Erler, Das Recht der nationalen Minderheiten, Münster 1931; Frowein/Hofmann/Oeter, Das Minderheitenrecht europäischer Staaten, Band 1, Heidelberg 1993; Walter, in:
Fauth/Satter, Staat und Kirche im werdenden Europa, Würzburg 2003, S. 93.
453
Geschichtlicher Hintergrund dazu bei Franke/Hofmann, EUGRZ 1992, 401, 403, 404.
100
tes454 in den letzten Jahren und Jahrzehnten wichtige Durchbrüche zu einem internationalen
Standard der Menschenrechte und des Minderheitenschutzes gelungen. Diese Maßstäbe sind
Ausdruck der sich bildenden Rechtsüberzeugung der Staatengemeinschaft über gerechtigkeitsorientierte Grundprinzipien des kooperativen Zusammenschlusses auf internationaler wie
innerstaatlicher Ebene.455 Im UN Pakt456 heißt es dazu:
In Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten darf Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen
und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen.
Hier wird also einerseits ein aktiver Gruppenstatus normiert: den Minderheiten wird das
Recht zugestanden, sich unter Wahrung ihrer Identität entfalten zu können. Daneben wird ein
Abwehrrecht gegen diesbezüglich beeinträchtigende Maßnahmen normiert. Deutlicher tritt
dies noch im Kopenhagener Abschlussdokument vom 29.06.1990 in Erscheinung. Dort haben
die Teilnehmerstaaten des KSZE-Prozesses die Rechte nationaler Minderheiten bekräftigt,
ihnen stehe es insbesondere zu, ihre ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität
frei zum Ausdruck zu bringen, zu bewahren und weiterzuentwickeln und ihre Kultur dabei in
all ihren Aspekten zu erhalten und zu entwickeln, frei von jeglichen Versuchen, gegen ihren
Willen assimiliert zu werden. Auch hier steht neben dem aktiven Gruppenstatus ein Abwehrrecht, das sich insbesondere gegen eine Diskriminierung durch Zwangsintegration wendet. In
die gleiche Richtung zielt schließlich auch der Entwurf des Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention über Rechte nationaler Minderheiten und ihrer Angehörigen. Diese abwehrrechtliche Erkenntnis ist nun nicht neu, interessant könnte es aber dahingehend sein, ob man nicht auch zum Schutz eben dieser Rechte nicht auch einen Anspruch gegen den Staat auf Schutz gegen Beeinträchtigung geltend machen könnte. Das völkerrechtliche Verständnis von Integration ist jedenfalls vom Wortlaut abgeleitet von intransitiver Natur.
Es heißt daher nicht: „ich integriere dich“, sondern „ich gebe dir Gelegenheit, dich selbst anzupassen oder unter veränderten Umständen deine Identität neu zu bestimmen; dabei kann ich
dir helfen und ich werde dich mit deinen Schwierigkeiten auch nicht alleine lassen.“457
Zunehmend lässt sich der Minderheitenschutz in Verfassungen europäischer Staaten finden,
auch in Deutschland haben einige Bundesländer diese Idee aufgegriffen und umgesetzt. Für
das Grundgesetz aber hat sich eine derartige Regelung nicht durchsetzen können.458 Die von
454
Geschichtlicher Hintergrund dazu bei Franke/Hofmann, EUGRZ 1992, 401, 404.
Vgl. dazu Franke/Hofmann, EUGRZ 1992, 401.
456
Es handelt sich hierbei um einen multilateralen völkerrechtlichen Vertrag über wirtschaftliche, soziale und
kulturelle Rechte von 1966 und wird durch den UN-Ausschuss über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte überwacht.
457
Albers, DVBl. 1994, 984.
458
So sah die Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849 im Art. XIII, § 188 vor, dass „ den nicht deutsch redenden Volksstämmen Deutschlands ihre volkstümliche Entwicklung gewährleistet ist, namentlich die Gleichberechtigung ihrer Sprachen, soweit diese reichen, in dem Kirchwesen, dem Unterricht, der inneren Verwaltung
und Pflege.“ Der Text der Paulskirchenverfassung ist u.a. wiedergegeben bei Boldt, Reich und Länder. Texte zur
deutschen Verfassungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, München 1987, S. 391ff.; Auch die Weimarer
Verfassung vom 11. August 1919 sah in Art. 113 vor, dass „ die fremdsprachigen Volksteile des Reiches durch
die Gesetzgebung und die Verwaltung nicht in ihrer freien volkstümlichen Entwicklung, besonders nicht im
Gebrauch ihrer Muttersprache beim Unterricht sowie bei der inneren Verwaltung und der Rechtspflege beeinträchtigt werden dürfen.“ Mangels ausführender Gesetzgebung ist dieser Artikel allerdings nicht in die Praxis
umgesetzt worden und wurde in der Literatur daher als bloßer Programmsatz angesehen. Zur Entstehungsge455
101
der Gemeinsamen Kommission des Bundestags und Bundesrats zur Verfassungsreform im
Vereinigungsprozess vorgeschlagene Ergänzung des Grundgesetzes durch einen Artikel 20b
GG hätte heißen sollen: „ Der Staat achtet die Identität ethnischer, kultureller und sprachlicher
Minderheiten.“ Es gab allerdings die Befürchtung, dass Art. 20b GG statt eines Modells der
Integration von Immigranten in Staat und Gesellschaft eher das Modell eines Nebeneinander459 weitestgehend eigenständiger Kulturen bewirke und fördere, wodurch im Ergebnis die
Integration von Immigranten verhindert werde.460
Weder das Völkerrecht noch das Verfassungsrecht haben überhaupt eine allgemein gültige
Definition für den Begriff der Minderheit finden können, deren Akzeptanz internationale Gültigkeit beanspruchen könnte. Grundsätzlich kann „Minderheit“ als Oberbegriff für ethnische,
kulturelle, sprachliche und religiöse Minderheiten verstanden werden. Wann sich der Einzelne
jedoch als „Minderheit“ begreift, ist dadurch allerdings nicht beantwortet und einigermaßen
unklar. Die Entstehung eines Minderheitenbewusstseins könnte z.B. so entstehen, dass das
Gefühl einer Gefährdung der kulturellen Identität vorausgesetzt wird.461 Die akute oder latente Gefährdung der Minderheitenidentität könnte so das Verlangen nach Schutzbestimmungen
begründen. Auf diese Weise könnte der Wunsch einzelner Personen berücksichtigt werden,
selbst über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu entscheiden, die sich gegenüber der Bevölkerungsmehrheit als Minderheit versteht und sich damit im Verhältnis zur Mehrheit ab- oder
ausgrenzt. Das Grundgesetz hat das Problem des Minderheitenschutzes als solches nicht gesehen. Die Freiheitsrechte des Grundgesetzes, insbesondere das allgemeine Persönlichkeitsrecht, die Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie subsidiär das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit, gestatten es den Minderheiten, ihre eigene Identität zu bewahren. Zusätzlich schützt das Diskriminierungsverbot des Art.
3 Abs. 3 GG die Angehörigen sprachlicher und ethnischer Minderheiten vor Benachteiligungen und verhindert einen nachteiligen Rechtsstatus. Das Grundgesetz kennt jedoch nicht die
über den Individualrechtsschutz hinausgehenden kollektivrechtlichen Komponenten sowie die
besonderen Schutz- und Förderungspflichten des internationalen Minderheitenschutzes, welche der besonderen strukturellen Gefährdung der Minderheiten durch die Assimilationskraft
des sich national verstehenden Staates und seiner alle Lebensbereiche durchdringenden Kultur
Rechnung tragen könnten.
Insgesamt wird man sagen können, dass die völkerrechtlichen Bindungswirkungen, die aus
dem o.g. Pakt resultieren, begrüßenswert sind, rein faktisch dennoch nicht über die grundrechtlichen Gewährleistungen des Grundgesetzes hinausreichen und dies auch nicht müssen.
schichte des Art. 113 WRV und dem politischen Hintergrund, vgl. Erler, Das Recht der nationalen Minderheiten, Münster 1931, S. 181ff., Gerber, Minderheitenrechte im Deutschen Reich, Breslau 1926, S. 11ff.
Wobei nicht unberücksichtigt bleiben darf, dass jeweils unterschiedliche politische Situationen diesen Regelungen zugrunde lagen, nämlich dass die Paulskirchenverfassung dies vor dem Hintergrund der auf Einbeziehung
des Vielvölkerstaates Österreich gerichteten großdeutschen Einigungsstreben sah und die Weimarer die deutschen Minderheiten fokussierte, die nach dem Ersten Weltkrieg verloren waren.
459
Zum Gefahrenpotential durch das Nebeneinander statt Miteinander: Huntington, Kampf der Kulturen, Hamburg 2006, S. 291ff.
460
Argumentationslinie vgl. BT-Drucks. 12/6000, S. 74.
461
So Erler, Das Recht der nationalen Minderheiten, Münster 1931, S. 37ff., 328ff.
102
2. Kollektivrechte im Vergleich zu individuellen Menschenrechten
Die im Minderheitenschutz dargestellte Schutzkonzeption ist auf den Schutz von Kollektivrechten ausgerichtet. Die Forderung nach Kollektivrechten als Ersatz für den individuellen
Bezug der Menschenrechte wird oft mit der Begründung vorgetragen, individuelle Rechte
seien westlich geprägt und deshalb abzulehnen.
So vertritt der Wert-Kollektivismus die Auffassung, dass Gemeinschaften unabhängig von
ihrem Beitrag zum Wohlergehen der Individuen einen Wert haben können, während dem
Wert-Individualismus die Auffassung zugrunde liegt, dass Gemeinschaften nur insofern und
insoweit einen Wert haben, wie sie zum Wohlergehen der Individuen beitragen.462
Der Hintergrund dieses Verständnisses beruht darauf, dass die nicht-westlichen Kulturen dem
Westen angesichts seiner ökonomischen Prosperität und militärischen Überlegenheit feindselig gegenüber stehen. In einer defensiv-kulturellen Haltung werden Ansprüche auf kulturelle
Authentizität geltend gemacht. Ziel ist die Entwestlichung der Welt, wobei die Menschenrechte nicht ausgenommen werden. Versuche, eine islamische Menschenrechtskonzeption zu
etablieren, sind noch nicht einmal reformerisch, sie zielen meistens darauf ab, Ungleichheiten
zwischen dem islamischen Rechtssystem und den internationalen Menschenrechten festzustellen, um dann die inhaltliche Substanz der individuellen Menschenrechte unter Bezug auf Religiosität zurückzuweisen.
Die Zurückweisung der Werte und Rechtsnormen der kulturellen Moderne kann aber nicht
nur auf die Ablehnung der politischen Vorherrschaft des Westens zurückgeführt werden, sie
resultiert zugleich aus den substantiellen Unterschieden zwischen modernen industriellen
Kulturen und den vormodernen Werten und Normen nicht-westlicher Gesellschaften. Ethnische und religiöse Gesichtspunkte als Partikularität der Kulturen werden gegen die Universalität der Menschenrechte geltend gemacht. Zahlreiche Dritte-Welt-Vertreter tun dies und ohne
zu berücksichtigen, wie Reichtümer sozial- und wirtschaftsgeschichtlich entstanden sind. Es
wird von diesen Politikern im Sinne einer „Cargo-Mentalität“ gefordert, alle Reichtümer der
Welt unter allen Menschen gerecht zu verteilen. Das verstehen sie unter Kollektivrechten. Der
Begriff der Cargo-Mentalität stammt aus einem Heilskult in Melanesien, der die Aneignung
von Gütern europäischer Herkunft predigt, die ohne eigenes Zutun als Schiffsladung (Cargo)
kommen und den Kulturangehörigen ohne eigene Anstrengung zu deren Produktion gleichsam in den Schoß fallen.463 Die koloniale Erschließung außereuropäischer Gebiete im Rahmen der Expansion Europas hat zwar die Prozesse der Entwicklung der industriellkapitalistischen Gesellschaft beschleunigt, sie aber nicht verursacht. Die ursprüngliche Akkumulation und die damit verbundenen Reichtümer sind Produkte der eigendynamischen
Entwicklung moderner Gesellschaften des Westens.
Aber der aufgeklärte Mensch muss die Durchsetzung der Menschenrechte als ein legitimes
Anliegen der gesamten Menschheit ansehen, denn die Menschheit kann sich ihrer Verantwortung für das Schicksal der Menschen in anderen Teilen der Welt nicht langfristig entziehen.
Zwischen modernen und vormodernen (den Islam als vormoderne Kultur zu bezeichnen, re462
463
Seel, Minderheiten, Migranten und die Staatengesellschaft, Bern 2006, S. 81.
Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994, S. 97 ff.
103
sultiert daraus, dass dieser weder vom Menschen als Individuum noch vom damit korrespondierenden Prinzip der Rationalität einen Begriff hat) Kulturen liegen Welten. Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Moderne und Vormoderne besteht darin, dass die kulturelle
Moderne die geistigen Grundlagen für die Bestimmung des Menschen als Individuum entfaltet hat, während vormoderne Kulturen den Menschen stets als Teil eines Kollektivs einordnen. Sicherlich geht es dabei nicht allein um geistige Prozesse, denn ohne die materielle Entwicklung der industriellen Gesellschaft nach der Auflösung der traditionellen Gemeinwesen
in Europa hätte diese angesprochene Individuation nicht stattgefunden. Unter Individuation
versteht man hierbei die Befreiung des Menschen vom Kollektiv und seine Bestimmung als
Individuum in der gelebten Realität. Sie ist also nicht nur eine Idee, sondern eine gesellschaftliche Entwicklung insgesamt. Allerdings kann ein Hinweis auf die Entstehung der modernen
industriellen Gesellschaft bzw. die Zweiteilung von Zivilgesellschaft und staatlicher Autorität
im Kontext der Marktökonomie allein nicht erklären, wie die Europäer erstmals in der Geschichte der Menschheit im Rahmen der kulturellen Moderne die Idee des Menschen als Individuum entfaltet haben. Auch in vielen zeitgenössischen asiatischen und afrikanischen Gesellschaften sind im Rahmen der Globalisierung der Marktökonomie strukturelle Bedingungen entstanden, die zur Auflösung oder zumindest zur Erschütterung traditioneller, d.h. vormoderner Gemeinwesen beigetragen haben. Dennoch fehlt dort die kulturelle Bestimmung
des Menschen als ein freies Individuum, eben weil die kulturellen Grundlagen hierfür nicht
vorhanden sind. In einem sozialen Gebilde, in dem sich ein Markt entwickelt, zivile Gesellschaft und staatliche Autorität zweigeteilt sind, verkehren Menschen miteinander als Individuen. Hierbei besteht ein Bedarf danach, den Menschen als Individuum vor möglicher staatlicher Willkür zu schützen. Eben dies ist der sozialhistorische Hintergrund für die Entstehung
der modernen Menschenrechte. In vormodernen Gesellschaften hingegen genießt der Mensch,
der in seiner Existenz noch kein Individuum im Sinne der kulturellen Moderne ist, den Schutz
und die Sicherheit seines Kollektivs. Es gibt keine soziale und regionale Mobilität und somit
auch nicht die damit einhergehenden Unsicherheiten. Das Weltbild ist geschlossen und kennt
weder Vermutung noch Zweifel als Kriterien für den Erwerb von Wissen, denn die Einbettung in das Kollektiv bietet den nötigen Schutz. Erst durch die Auflösung traditioneller Gemeinwesen und die Freisetzung des Menschen von seinem Kollektiv wird er in einer Gesellschaft mit einem freien Markt auf sich selbst gestellt und damit den Unsicherheiten des Lebens ausgesetzt.
Auch Muslime gehen von der Zugehörigkeit des Menschen zum Kollektiv aus. Es handelt
sich dabei um ein Kollektiv, welches durch die Verbreitung des Islam beansprucht, sich auf
die gesamte Menschheit zu erweitern. Menschen als Gläubige, nicht als Bürger, haben gegenüber diesem Kollektiv Pflichten, nicht aber individuelle Berechtigungen. Dagegen begreifen
Europäer die Reformation, die Aufklärung und die Französische Revolution als historische
Prozesse, die den Menschen als Individuum hervorgebracht haben. So ist der Unterschied
zwischen Individuation und Kollektivvorstellungen eine schwer überbrückbare Positionsdifferenz normativ-kultureller Art. Menschenrechte im Islam zu etablieren erfordert daher zunächst ein Konzept, das eine Entwicklung initiiert, die wegführt vom Konzept der Pflichten
gegenüber der Gemeinschaft. Um dies zu erreichen, bedarf es einer Auflösung des Kollektivs
im Rahmen einer tiefgreifenden religiös-kulturellen Reform, die eine historische Neu104
Interpretation des Korans einschließen müsste.464
Zudem unterscheidet sich der Islam vom Christentum vor allem dadurch, dass er ein allumfassendes, organisches und kein kirchliches Religionssystem ist und dabei sehr stark diesseits
bezogen ist. Wie oben bereits dargestellt, kennt der Islam keine Trennung zwischen privatem
und öffentlichem Leben. Das göttliche Recht beschränkt sich nicht auf die Ordnung der äußeren Dinge des Lebens, es gilt ohne Einschränkung für alle Lebensbereiche.
Ohne den Individuumsbegriff können Freiheitsrechte jedoch letztlich keine optimale Wirkung
entfalten. Der durch Kollektivrechte vermittelte Schutz kann nicht in gleichem Maße umfassend wirken und erscheint aus diesem Grund nicht freiheitsfördernd.
3. Die kulturelle Restriktion von Menschenrechten
Wie weit kann man dann überhaupt das kulturelle Eigenrecht starker religiös-ethnischer Wertetraditionen in einer multikulturellen Gesellschaft, wie sie in Deutschland vorzufinden ist,
einzuschränken?465 Kann es z.B. zulässig sein, dass schon kleine Kinder zum Koranunterricht
gezwungen werden? Bei so einem Beispiel geht es somit aus differenziert politischer Sicht
um die Frage, wo die Grenze der Gewährung kollektiver Anerkennung und mithin Freiheiten
für die Gruppen ethnischer Minoritäten zu setzen sind.
Dazu müssen in solch einer multikulturellen Gesellschaft die kulturellen Besonderheiten, Riten und Bräuche unterschiedlicher Gruppen innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft in
Einklang gebracht werden. Wie aber kann ein Konglomerat von ungleichartigen Gruppen
politisch stabil bleiben und sich dennoch kulturell entwickeln? Von dieser Prämisse eines
solchen, für alle definitiv bestimmten, Wertekanons ausgehend, kann sich jedoch die Konkretisierung dieses Postulats in der gesellschaftlichen Realität als problematisch erweisen. Gemeinsame Werte sind nur dann relativ einfach auszumachen, wenn die ethnischen Gruppen
einer Kulturfamilie entstammen. Dort haben sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem
Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung gemeinsame Ansichten herausgebildet.466 Sind allerdings Kulturen verschiedener Kulturkreise beteiligt, wie dies bei uns der Fall ist, so kann sich die Ausgestaltung
schon als wesentlich schwieriger erweisen. Damit einher geht die Frage, wer denn nun diese
Werte festsetzt, wer also bestimmt, was elementare Freiheiten einer demokratischen Republik
sind.
Die Lösung kann nur in einer Art übereinstimmender Basis aller beteiligten kulturellen Strömungen gefunden werden. Die multiethnische Gesellschaft setzt mithin die Existenz einer
gewissen Basis verinnerlichter Werte voraus. Diese sind also solche „überethnisch“467 und
daher für alle Gruppen verpflichtend ohne kulturrelativen Zusatz. Normen dieser Art über464
Vgl. Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994, S. 97 ff.
Vgl. dazu auch Richter, Relativierung universeller Menschenrechte durch Religionsfreiheit, in: Grote/Marauhn, Religionsfreiheit zwischen individueller Selbstbestimmung und Staatskirchenrecht, Heidelberg
2001
466
So auch Maunz, in: FS Faller, Wien 2007, S. 178.
467
Ehringfeld, Eltern-Kind-Konflikte in Ausländerfamilien, Berlin 1997, S. 117.
465
105
steigen und ergänzen die kollektiven Werte jeder Gruppe und sind sozusagen elementare
Freiheiten, die nicht einschränkbar sind. Diese Voraussetzungen können nur die Menschenrechte erfüllen (vgl. allgemeine Ausführungen oben). Gewisse Handlungen können dann nicht
von der Religionsfreiheit umfasst sein, wenn sie die Freiheitsrechte eines anderen unzulässig
einschränken.
Sämtliche
Konflikte
könnten
mit
diesem
Bezug auf die Grundrechte begründet erklärt werden und man wäre nicht mehr mit einem
kulturrelativen Vorwurf belastet, denn diese Aussage würde für sämtliche Menschen gelten.
Wenn die Menschen- bzw. Grundrechte die kleinste gemeinsame Basis sind, auf die sich die
multikulturelle Gesellschaft einigen kann, stellt sich die Frage, ob es darüber hinaus nicht
doch möglich ist, besondere kulturelle deutsche Besonderheiten von Einwanderern abzuverlangen, sozusagen z. B. eine Art deutscher „Leitkultur“.468
Grundgedanke der Leitkultur ist, dass das Modell des Nebeneinanders eigenständiger Kulturen als Modell fragwürdig erscheint, aber nicht, weil es die Dominanz einer deutschen Kultur
gefährden könnte, sondern weil es erfahrungsgemäß unter dem Gesichtspunkt der sozialen
und politischen Kohäsion problematisch ist, wenn sich die Gesellschaft in ethnisch-kulturelle
Gruppen zergliedert, die völlig isoliert existieren.469 Als interessant kann in diesem Zusammenhang die über allem stehende Frage sein, woraus „Kultur“ überhaupt besteht, mithin was
„Kultur“ (und demgemäß auch „Multikultur“) ist.
a. Die Komplexität des Kulturbegriffs
Kultur wird naturgemäß sehr unterschiedlich definiert und ist umstrittener als es auf den ersten Blick vielleicht scheint. Bei Personen und Gesellschaften, die sehr unterschiedliche soziale und ökonomische Strukturen haben, muss davon ausgegangen werden, dass ihre Kulturen
und die damit verbundenen Definitionen differieren. „Kultur“ von „colere“ bedeutet ursprünglich „Pflege“ oder „Veredlung“. Das Wort wurde von seiner Prägung durch Cicero an bis gegen 1800 nur in der Einzahl gebraucht: Die Kultur meinte die Pflege oder Veredlung der
menschlichen Naturanlagen, was gerade den Unterschied zur Natur selbst darstellt. Kulturleistungen sind Umgestaltungen eines gegebenen Materials und Religion, der Wirtschaft und
Wissenschaft. Ähnlich wie der Begriff der „Natur“ wurde auch die „Kultur“ zu einem Modebegriff der Aufklärungszeit. Der Kulturbegriff selbst ist immer wieder neu beleuchtet worden
und je nachdem, in welchem Zeitgeist dies geschah, drückt sich in ihm das lebendige Selbstverständnis einer Epoche aus. Wenn man verschiedene Kulturen anerkennt, gibt man zu, dass
es unterschiedliche Art und Weisen gibt, menschliche Naturanlagen zu pflegen, und dass sich
also einzelne Völker und soziale Schichten in dieser Hinsicht nicht problemlos auf ein und
derselben Skala einordnen lassen.470 Diese Pluralisierung erfolgte in Deutschland seit dem 18.
468
Der Begriff geht wohl zurück auf den Politikwissenschaftler Bassam Tibi. Er wurde dann im Jahr 2000 in der
politischen Diskussion von dem ZEIT-Herausgeber Theo Sommer und dem CDU-Politiker Friedrich Merz aufgegriffen und findet sich seit September 2007 im Parteiprogramm der CSU; vgl. Löffler, Die Politische Meinung,
Nr. 435, 14; weiterhin: Pautz, Die deutsche Leitkultur. Eine Identitätsdebatte, Stuttgart 2005; Lammert, Verfassung, Patriotismus, Leitkultur. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, Hamburg 2006.
469
Vgl. Habermas, Inklusion - Einbeziehen oder Einschließen?, Frankfurt 1996, S. 174.
470
Details bei: Stagl, in: Papalekas, Nationale Identität im kulturellen Spannungsfeld, Wien 1995, S. 15.
106
Jahrhundert und galt als liberal und tolerant, als ein Geltenlassen des Andersgearteten ohne
Unterordnungsanspruch. Dies erwies sich jedoch schon bald als tückisch, denn wenn es keine
wirklichen Bewertungsmaßstäbe für unterschiedliche Kulturformen gibt, wozu gab es dann
zivilisatorische Arbeit? Aus dem noblen Geltenlassen des anderen erwuchs unversehens die
rechtfertigungslose Verklärung des Eigenen. Eine klare Lösung kann auch bis heute nicht
angeboten werden. Kultur ist ein hochkomplexes Objekt. Der grundlegende Inhalt von Kultur
besteht darin, die Fähigkeiten, Fertigkeiten und geistigen Möglichkeiten des Menschen in den
Mittelpunkt zu stellen und in jeder Hinsicht weiterzuentwickeln, die wesentlichen Kräfte herauszubilden und zur Reife kommen zu lassen, die den Menschen in die Lage versetzen, die
Natur und den Ablauf des gesellschaftlichen Lebens bewusst zu kontrollieren. Eine allgemein
gültige Definition hat sich bislang noch nicht durchsetzen können, denn Kulturen lassen sich
nicht in eine bestimmte Form pressen oder eingrenzen. Die Kultur der Republik ist pluralistisch und hingegen nicht eine dinghaft vorgegebene kollektive Orientierungsgröße. Auch beeinflussen sich verschiedene Kulturen gegenseitig in unterschiedlichem Maße. Dies geschieht
jedoch langsam, zumindest wird dieser Prozess durch bewusste Reaktionen der
Migrantengesellschaft gegen die Kultur, in der sie lebt, verlangsamt, was natürlich auch umgekehrt gilt.
Übertragen auf die verschiedenen Migranten in Deutschland bedeutet dies, dass ein solches
Thema sehr strittig erscheint und nur behutsam angesprochen werden kann.
Das Kulturverständnis der Migranten und deren Ansichten über Kultur aufgrund unterschiedlicher sozialer, ökonomischer und kultureller Strukturen betrachten Migranten als Kulturgesichtspunkte. Einen großen Einfluss üben Kindheit, Beziehungen in der Familie während dieses Lebensabschnittes, Freundeskreis, Wohnumfeld, Schule, Berufsgruppen, Arbeitsplatz,
Radio, Fernsehen, Presse, Literatur, Kunst, Musik, Video, Internet, CDs, Konzerte, Erziehung, Unterricht, Sitten, Gebräuche, Verhaltensweisen, Religion und Sprache aus. Migranten
haben kein bestimmtes, vorgefertigtes Verständnis für Kultur. Die Ansichten der Menschen
sind sehr verschieden, je nachdem ob sie beispielsweise aus ländlichen oder städtischen Gebieten kommen. Seit Jahren wird beobachtet, dass die aus Städten kommenden Migranten
nach Integration und Teilhabe streben, während die aus ländlichen Regionen kommenden
Migranten vermehrt den Kontakt zur Aufnahmegesellschaft meiden und sich absondern.471
Auch innerhalb verschiedener Generationen lassen sich Unterschiede erkennen. Während sich
beispielsweise die erste Generation mit der Kultur des Herkunftslandes verbunden fühlt, verhalten sich nachfolgende Generationen eher dahingehend, dass sie sich an die hiesige Kultur
anpassen oder eine Art Mischkultur entwickeln.
Ursachen, warum die z.B. Türken in Deutschland mehr Wert auf die Ausübung ihrer religiösen Pflichten legen als in der Türkei sind zum einen Entfremdungsangst im Hinblick auf ihre
Kinder, die sich von der eigenen Kultur und den Eltern entfremden könnten, und Isolationsangst, dass sie von eigenen Landsleuten verachtet werden könnten, wenn sie sich nicht kulturkonform verhalten.
Gerade weil Kultur so ein hochkomplexer Begriff ist, darf der Staat die Kultur selbst und deren Ausprägungen nicht festlegen, solange durch eine kulturelle Handlung nicht in ein Frei471
Özkara, Türkische Migranten in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 1990, S. 191.
107
heitsrecht eines anderen eingegriffen wird.
b. Der Begriff der Multikultur oder Multikulturalität
In der aktuellen Integrationsdiskussion fällt auch regelmäßig der Begriff des
Multikulturalismus. Die deutschen Debatte über die Zuwanderung von Ausländern bezeichnet
als Multikulturalismus meistens die Mischung von Kulturen472 und ihrer Menschen innerhalb
einer politischen Gemeinschaft, also letztlich eine Form des kulturellen Pluralismus. Im heutigen internationalen Sprachgebrauch jedoch steht Multikulturalismus für eine Doktrin der
Gleichheit der Kulturen und des Schutzes aller kulturellen Kollektive vor kultureller Verunreinigung durch Vermischung. Über wechselseitige Abschottung soll solche „Verunreinigung“ sowohl für die dominante Nationalkultur als auch für die Kulturen der Minderheiten
verhindert werden. Die ideologische Grundlage des Multikulturalismus ist die romantische
Tradition der moralischen Gleichberechtigung und unantastbaren Heiligkeit aller kulturellen
Kollektive und ihrer Überlieferungen. Da alle Kulturen gleichermaßen wertvoll sind, müssen
sie in ihrem angeblichen „Naturzustand“ erhalten werden. Wenn also kollektive Kulturen
zwecks wechselseitigen Schutzes vor Vermischung inhaltlich definiert und klar voneinander
unterschieden werden, ist zu klären, wer diese Aufgabe übernehmen soll. Sollen politische
oder juristische Autoritäten die hier angelegten kulturellen Konflikte regeln und entscheiden,
was die authentische Interpretation der Religion oder die richtigen kulturellen Praktiken der
Mehrheit und der Minderheit sind? Ein Artikel 20b GG473 hätte den Multikulturalismus und
die für ihn wesenhaften Einschränkungen der kulturellen Freiheit der Bürger, sowohl der
Mehrheiten als auch der Minderheiten, in das Grundgesetz einführen können.
Im Gegensatz zum Multikulturalismus steht der „Ethnopluralismus“ der deutschen Rechtsradikalen, der wechselseitige Abschottung meint. Die Ethnopluralisten machen sich mit multikulturellem Ideengut sogar zu Sprechern der Kultur ausländischer Arbeiter in der Bundesrepublik. Deren Abschiebung müsste erfolgen, um „ihre“ eigene Kultur zu erhalten.
Man kann die Multikultur auf vier Dimensionen zusammenfassen, in denen sich die Menschen wesentlich voneinander unterscheiden: 474
- Werte = unterschiedliche Einstellungen zu Grundfragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens.
- Kreativität = die Gestaltung der Lebenswelten.
- Kommunikation = ein Ausdruck von Werteordnung.
472
Vgl. allgemein dazu: Frank, Staatsräson, Moral und Interesse. Die Diskussion um die multikulturelle Gesellschaft; Kiesel/Wolf-Almaasreh, Die multikulturelle Versuchung: ethnische Minderheiten in der deutschen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1991; Lukes, Multikulturalismus und Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1995;
Huber, Zur Problematik des Kulturstaates, Tübingen 1958; Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt am
Main 1993; Kaufmann, Religion und Modernität, Tübingen 1998.
473
Vgl. bereits oben unter B V 1die Ausführungen zum Minderheitenschutz.
474
Zu den verschiedenen Arten des Multikulturalismus, vgl. Radtke, in: Kürsat-Ahlers, Die multikulturelle Gesellschaft: Der Weg zur Gleichstellung, Frankfurt am Main 1992, S. 129.
108
- Sozialisation = Vorbereitung der nachfolgenden Generationen auf die individuellen
und kollektiven Lebensbedingungen.
Multikulturalismus wird zudem oft als Bedrohung von Gesellschaften angesehen. Zu fragen
ist nun an dieser Stelle zunächst, was durch die multikulturelle Gesellschaft bedroht sein
könnte, dass Integration notwendig erscheint. Nach konservativer Ansicht bedroht der
Multikulturalismus die Identität der ethnisch definierten Nation als Schicksalsgemeinschaft.475 Die Anerkennung von anderen Menschen als deutscher Herkunft und die Ausstattung jener mit politischen Rechten führen demnach zu einer Auflösung des Gemeinwesens
und zuletzt zu ethnisch motivierten Konflikten. Aber auch unabhängig davon gilt: Allein
schon aus der Sorge um die Erhaltung des inneren Friedens heraus muss der Staat ein fundamentales Interesse daran haben, ein Miteinander innerhalb seines Territoriums lebender Kulturen zu erreichen. Multikulturalismus führt demnach erst einmal zur Trennung der Kulturen,
da so unterschiedliche Gewohnheiten, wie sie sich beispielsweise in den unterschiedlichen
religiösen Riten des Christentums und des Islams zeigen, nicht friedlich nebeneinander existieren können. Es besteht die Gefahr der Aufgabe der eigenen Kultur und dass man quasi zum
multikulturellen Wohngebiet ohne eigene Identität wird. Ein multikulturelles Nebeneinander
kann also leicht in ein Gegeneinander umschlagen.476 Diese These wird umso deutlicher, je
ernster man sich beispielsweise die instabile Lage der Weimarer Republik vor Augen führt,
deren kulturelle und politische Wirren schließlich den Nährboden für Extremisten lieferten.
Auch aktuell erleben wir, geschürt durch Massenarbeitslosigkeit und Ghettobildung, einen
Stimmungsaufschwung bei den rechtsgerichteten Parteien. Gerade aus diesem Grund sind alle
gefordert, dieser Stimmungslage entgegenzuwirken.
Über „Multi-Kulti“ lässt sich sicherlich streiten, nicht aber über die verfassungsrechtlich unbedenkliche Religionsvielfalt in Deutschland und über das Recht, von der garantierten Religionsfreiheit Gebrauch oder auch keinen Gebrauch zu machen. Die Religionszugehörigkeit und
ihre Bekundung in der Außenwelt könnte aber insoweit eine Bedeutung für den Eingliederungsgrad haben. Sind die hiesigen Lebensverhältnisse in der Weise durch das Christentum
geprägt, dass einem Nicht- oder Andersgläubigen die Einordnung nicht gelingen kann, wenn
er nicht zuvor konvertiert? Gibt es „die deutschen Lebensverhältnisse“, die andere Lebensarten und Lebensformen nicht vertragen? Würden die deutschen Lebensverhältnisse umgekehrt
durch die Eingliederung noch mehrerer Atheisten oder Muslime unzulässig verändert? Die
maßgeblichen deutschen Lebensverhältnisse werden in erster Linie durch die hiesige verfassungsrechtlich gewährleistete Rechts- und Werteordnung bestimmt und nicht durch irgendeine tatsächliche Lebensweise, die mehrheitlich von bestimmten Gruppen als erstrebenswert
angesehen und auch gelebt wird. Das Grundgesetz konserviert gerade nicht bestimmte religiös
oder sonst geprägte Lebensformen als Monopol477, sondern gewährleistet die Freiheit jeder
Religion und jeder Weltanschauung, enthält sich jeglicher Parteinahme und verbietet die Dis475
Ermisch, Minderheitenschutz ins Grundgesetz?, Münster 2000, S. 33.
So auch Bayaz/Damolin/Ernst, Integration, Anpassung an die Deutschen?, Weinheim/Basel 1984, S. 89; Dort
wird noch deutlicher formuliert, dass die mögliche Beeinträchtigung des Wir-Gefühls nationaler Identität durch
Zuwanderung von Menschen anderer Kulturkreise destabilisierende politische Bewegungen provoziert. Es wird
demnach auf einen engen Zusammenhang zwischen politischer Stabilität und nationaler Identität abgestellt.
477
Bergmann, ZAR 2004, 130.
476
109
kriminierung einzelner Religionen und Weltanschauungen ihrer Anhänger. Diese Erkenntnis
wiederum gibt bereits einen Hinweis darauf, wie der Gedanke der Durchsetzung einer bestimmten „Leitkultur“ zu behandeln sein wird.
c. Der Begriff der (europäischen) Leitkultur
Der Begriff der sog. „Leitkultur“ spielt immer wieder bei der Multikulturalismusdebatte eine
Rolle, wenn es um kulturelle Restriktionen von Freiheitsrechten geht.
Es geht dabei um die Frage, ob der Staat die Gesellschaft nicht (jenseits der liberalen Prinzipien und der Freiheitsrechte) auf eine bestimmte „Leitkultur“ festlegen darf. Dieses Bestreben
verbindet sich gerechtigkeitstheoretisch mit der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte.478
Das Bestreben, Nation, Kultur, Volk und Staat in möglichst homogener Weise auf einem einheitlichen Staatsgebiet zusammenzuführen, erlangt im Zeitalter internationaler Verflechtung
und Verunsicherung, geprägt von gesellschaftlichem Wertewandel und Identitätsentwicklung479, jedenfalls zunehmende Attraktivität. Nur dieses Konzept des Ethnozentrismus scheint
den Völkern Sicherheit, Nähe und ein „Wir-Gefühl“ bieten zu können. Nicht das Volk als
eine ethnisch-kulturell relativ homogene vorpolitische Schicksalsgemeinschaft so die These,
könne ein modernes, freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen auf Dauer zusammenhalten,
sondern nur die politische Praxis der Bürger, die ihre in der Verfassung verbürgten demokratischen Teilnahme- und Kommunikationsrechte als „plebiscite de tous les jours“ aktiv ausübten. Diese sog. Ethnizität480 ist Bestandteil der sozialisationstheoretischen Begründung der
kulturellen „Basispersönlichkeit“. Die zentrale Vorstellung der Enkulturationstheorie besteht
darin, dass die menschliche Basispersönlichkeit und damit Identität nicht ausgebildet werden
kann ohne die Fixierung auf eine bestimmte (national-) kulturelle Rolle. Diese Rolle ist ethnisch definiert und nach ihrer vollständigen Ausbildung nicht mehr veränderbar, denn Sprache, Gestik, Denkweisen, Werthaltungen, Gefühle, Reaktionen und Verhaltensmuster sind
intrakulturell und zumeist subkulturell determiniert. Kultur funktioniere hier wie eine Art
zweite Natur, die den Menschen wie ein Gehäuse umschließt und ihn nur um den Preis des
Zerbrechens persönlicher Identität entlässt. Nun unterscheiden sich jedoch die kulturellen
Entlastungsfunktionen traditioneller Gesellschaften von denen moderner Industriegesellschaften. Da das kulturelle Über-ich nunmehr außerhalb der Entstehungskultur keine Geltung mehr
beanspruchen kann, wird es in der Aufnahmekultur selbstverständlich im Hinblick auf das
dort geltende Wertesystem und die dort bestimmende gesellschaftliche Hierarchie als defizient definiert und marginalisiert.481 Besonders deutlich wird so eine Wiederaufwertung des
Ethnizitätgedankens, wenn Minderheiten als Problem erachtet werden. Dies war bereits in den
USA482 der Fall, als die schwarze Bevölkerung Bürgerrechte einforderte. Traditionale Kultu478
Vgl. dazu bereits obige Auführungen unter B II 3.
Klages, in: Papalekas, Nationale Identität im kulturellen Spannungsfeld, Wien 1995, S. 23.
480
Kössler/Schiel, Nationalstaat und Ethnizität, Frankfurt am Main 1994; Bukow/Llaryora, Mitbürger aus der
Fremde. Soziogenese ethnischer Minderheiten, Opladen 1988; Dittrich/Radtke, Ethnizität, Opladen 1990.
481
Kritisch dazu: Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main 1979; Habermas, Theorie
des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main 1985.
482
Elschenbroich, Eine Nation von Einwanderern. Ethnisches Bewusstsein und Integrationspolitik in den USA,
Frankfurt am Main 1986.
479
110
ren werden so als schlichtweg nicht transformierbar betrachtet. Die Suche nach den eigenen
Wurzeln und das Wiederaufleben eines ethnischen Gruppenbewusstseins werden zu einem
weit verbreiteten Phänomen, das mit einer zunehmenden Bewusstwerdung, mit der Brüchigkeit des berühmten Assimilationsmythos „melting pot“ einhergeht.
Für Bassam Tibi basiert die europäische Leitkultur zudem auf westlichen Wertvorstellungen:
Die Werte für eine solch erwünschte Leitkultur müssten der kulturellen Moderne entspringen
und könnten nur heißen: Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft.“483
Der Begriff der Europäischen Leitkultur von Tibi bezeichnet so einen Wertekonsens auf den
Werten der „kulturellen Moderne“ (Habermas) und beinhaltet:
- Vorrang der Vernunft vor religiöser Offenbarung.
- Demokratie, die auf Trennung von Religion und Politik basiert.
- Pluralismus und
- Toleranz.
Einig ist man sich im Grunde genommen darüber, dass keine Gesellschaft ohne eine grundlegende Basis von gemeinschaftlich geteilten Werten auskommt. Sie kann sich nicht darauf
verlassen, dass ihre Mitglieder dank eigener Vernunft zur Einsicht in diese Werte gelangen
(wovon die Grundidee des Liberalismus noch ausgegangen ist 484). Deren Verbindlichkeit
muss unmittelbar mit der Zugehörigkeit selbst verknüpft sein. Das ist aber nur möglich, wenn
die Werte in der Idee, die ein Volk von sich selbst hat, festgeschrieben sind. Auch ist für die
Existenz einer Gemeinschaft nicht unabdingbar, dass die involvierten Werte in gleicher Weise
verstanden und akzeptiert werden.485 Zentrale Voraussetzung stellt alleine eine gewisse Handlungskoordinierung dar, die den Beteiligten die Verfolgung ihrer Ziele zumindest nicht verunmöglicht, im besten Fall sie jedoch stützt oder gar erst ermöglicht. Leitkultur beschreibt
demnach Verhaltensweisen und Eigenschaften, die als ureigene oder aber als zur eigenen Kultur disjunkt angesehen werden. Dieses Wir-Gefühl kann sich aus unterschiedlichen Quellen
ergeben. Allerdings kann man auf diese Weise nicht beliebigen Werten eine kollektive Gültigkeit verschaffen, ohne in einen ernsthaften Konflikt mit der Emanzipation des Individuums
zu geraten. Wenn die Idee eines Volkes Werte enthält, die nicht rational begründet sind, so
kann das Volk für seine Mitglieder zu einer Instanz diktatorischer Unterdrückung werden. Es
reicht eben nicht, dass die Einzelnen sich wechselseitig ihres humanen Denkens vergewissern.
Es reicht auch nicht, ein Volk von mehrheitlich aufgeklärt und tolerant gesinnten Menschen
zu sein. Verbindlichkeit erlangen derartige Werte erst, wenn sie ihren letzten Grund nicht nur
in der Überzeugung von Individuen, sondern in der Selbstverständlichkeit der kollektiven
Identität des Volkes haben. Solche Kontextualisten wiederum bezeichnen Gerechtigkeit als
eine Symbiose aus kulturellen Grundwerten, Moralinstitutionen und wertvollen Traditionen
483
Tibi, Europa ohne Identität, München 1994, S. 154.
Vgl. dazu obige Ausführungen unter B I.
485
Vgl. Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, Berlin 1971.
484
111
einer Kultur. Dies könnte schon dahingehend problematisch sein, da sie sich nur auf ihre unmittelbare Umgebung beschränken oder weder einen globalen noch intertemporalen Bezug
aufweisen können.
Welche Werte sind es denn nun konkret, die die (deutsche) Gesellschaft, abgesehen vom verfassungsrechtlichen Konsens, zusammenhält? Die hohe Stellung von Leistung, die Überzeugung, dass sich Anstrengung lohnt, der Glaube an Aufstieg und Gerechtigkeit, die Akzeptanz
von Unterschieden zwischen Menschen, die Bejahung des Wettbewerbs, die Sparsamkeit als
nachahmenswerte Fähigkeit, kurzfristige Befriedigungen zugunsten langfristiger zurückzustellen, der Respekt vor Besitz und Eigentum, die Anerkennung von Autoritäten, das Bildungsstreben, usw. Aber gerade auch diese typisch bürgerlichen Tugenden scheinen mehr und
mehr verloren zu gehen, insbesondere bei den jungen Menschen. Diese Bevölkerungsgruppe
ist zudem stark geprägt von Egalitätsphobie, Arbeitsunlust und Ausweichen vor Anstrengungen jeglicher Art. An die Stelle langfristiger Zielplanung wird die unmittelbare Befriedigung
gesetzt.486
Es bestehen daher keine Zweifel, dass sich unsere elementaren sittlichen Grundwerte in einem
Auflösungsprozess zunehmender Beschleunigung befinden. Beispiele lassen sich gerade im
alltäglichen Leben aufzeigen, vor allem die ansteigende Aggressivität im Umgang miteinander, die wachsende Drogensucht, Neigungen zum politischen Extremismus (am aktuellen Beispiel der NSU) um sich greifende organisierte Kriminalität. Man kann das wie folgt werten:
„Letzte Zerspaltungseinheit im Werteverfall sei das menschliche Individuum, das aus jedem
Wertverband entlassen, zum ausschließlichen Träger des Individualwertes geworden ist. Der
metaphysisch ausgestoßene Mensch, ausgestoßen, weil sich der (Wert-) Verband der Individuen aufgelöst und zerstäubt hat, ist wertfrei, stilfrei und nur noch vom Irrationalen her bestimmbar.“487 Auch wenn diese Formulierung sich weitgehend differenzblind zeigt, so ist jedoch festzuhalten, dass mit dem Verlust des Eingeordnetseins in den Werteverband einer
Gemeinschaft viele Grundwerte zu Leerformeln werden oder ihren ursprünglichen gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsstabilisierenden Gehalt verlieren.
Abschließend kann man feststellen, dass gegen einen Zerfall einer pluralistischen Gesellschaft
in Separatgesellschaften nicht die Orientierung fremder Kulturen auf eine scheinbar intakte
„Leitkultur“ hilft, sondern nur die Verpflichtung auf die Menschenrechte, um so auf diese
Weise universale Gültigkeit und Sicherheit zu schaffen. Fragen der konkreten (kulturellen)
Lebensweise und die jeweilige Ausgestaltung bleiben dabei gänzlich außer Betracht.
d. Der sog. Minimalkonsens
Ähnlich wie der Leitkulturbegriff versucht auch der Begriff des sog. Minimalkonsens eine
Einigkeit von Werten herzustellen, die über die garantierten Freiheitsrechte hinausgeht.
Als Voraussetzung für die Gesellschaftsgründung spielt der Konsens aller Beteiligten immer
wieder eine zentrale Rolle in den Vertragstheorien. Bereits 1762 argumentiert Jean Jacques
486
487
Schmitt-Glaeser, BayVBl. 1995, 577.
Schmitt-Glaeser, BayVBl. 1995, 577.
112
Rousseau, dass für ihn keine Gesellschaft bestehen kann, gäbe es nicht irgendeinen Punkt, in
dem alle Interessen übereinstimmen.488 Später wurde dies dahingehend kritisiert, dass Divergenz in möglichst vielen Einzelfragen bestehen muss, jedoch eine Notwendigkeit dahingehend besteht, dass man in Grundfragen übereinstimmen muss oder kürzer: soviel Freiheit wie
möglich, soviel Einheit wie nötig. Jede freiheitliche Ordnung bedarf eines Grades an Übereinstimmung der Bürger, der ihre Existenz sichert, ohne ihre Pluralität zu bedrohen. Die im
Grundgesetz festgelegten Rechte könnten insoweit als kleinster gemeinsamer Nenner fungieren. Weil zu viel Konflikt den Zusammenhalt jeder Gesellschaft gefährdet, ist Übereinstimmung unverzichtbar, weil aber zu hohe Konsenserwartungen Freiheit und Vielfalt bedrohen,
muss die unbedingt zu fordernde Einigkeit aller auf ein Minimum an Unbestreitbarem beschränkt sein.
Aus verschiedenen Richtungen kann man aus diesem Grund seit einiger Zeit vernehmen, dass
der Minimalkonsens der offenen Gesellschaft in unserem Staat nicht mehr ausreicht, sich
vielmehr zunehmend auflöst und als nicht mehr als stabiles Fundament im Kampf der Gruppen erachtet wird.489 Gemeint ist in dieser Hinsicht damit wohl ein weiteres Mal weniger der
verfassungsrechtliche Grundkonsens, also die durch das Grundgesetz vermittelte Ethik, deren
wesentlicher Gehalt in Anerkennung und Schutz von Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit, Volksherrschaft und Gewaltenteilung liegt.490 Gemeint ist eher
ein weitgehend staatsfreier Grundkonsens, eine metarechtliche Ethik, die für jedes staatliche
Gemeinwesen, dessen Verfassung und dessen gesamte Rechtsordnung unabdingbar ist, weil
sie die rechtliche Ordnung durch eine geistig-mentale Prägung des Menschen festigt.491 Mit
der Rückbesinnung auf das Homogenitätsfundament hat der (an sich nicht neue) Begriff der
Grundwerte neuartige Faszinationskraft erlangt.492 Das Verfassungsrecht deckt nämlich den
sozialethischen Homogenitätsstandard nicht völlig ab. Das leistet noch nicht einmal das staatliche Gesetzesrecht als Ganzes. Das Grundgesetz setzt voraus, dass es allgemein anerkannte
ethische Normen gibt, die nicht in das positive Recht eingegangen sind, und damit nicht zum
staatlich erzwingbaren „ethischen Minimum“ gehören. Die Verfassung enthält den ethischen
Grundkonsens der Nation. Das Bundesverfassungsgericht gebraucht den Terminus „Grundwerte“ als Schutzgut der abwehrbereiten Demokratie. Im SRP-Urteil vom 23.10.1952493 bestimmt es als Voraussetzung für das Verbot einer politischen Partei, dass diese „oberste
Grundwerte des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates erschüttern“ wolle. Diese
Grundwerte bilden die freiheitliche demokratische Grundordnung, die das Grundgesetz innerhalb der staatlichen Gesamtordnung „der verfassungsmäßigen Ordnung“ als fundamental an488
Vgl. Rousseau, Du contract social ou principes du droit politique,1762.
BVerfGE 28, 36; 40, 237; 44, 125; Böckenförde, Staat, Nation, Europa, Frankfurt am Main 2000, S. 34, 37,
58; Pache, DVBl. 2002, 1154; Gebhardt, Verfassung und politische Kultur, Baden-Baden 1999, S. 7; Münch, in:
Viehoff/Segers, Kultur, Identität, Europa, Frankfurt am Main 1999, S. 223; Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, Frankfurt 1998, S. 238.
490
Schmitt-Glaeser, BayVBl. 1995, 577; anders Bothe, VVDStRL 54, 7, der ein gewisses Maß an Konflikt, d.h.
Dissens als förderlich erachtet. Die Gesellschaft brauche dies, daraus erschöpfe sie ihre Entwicklungsmöglichkeiten.
491
Schmitt-Glaeser, BayVBl. 1995, 577; so auch: Choe, in: Matthes, Zwischen den Kulturen, Göttingen 1992, S.
271.
492
So auch Isensee, NJW 1977, 545.
493
1952 verbot das Bundesverfassungsgericht die neofaschistische SRP (Sozialistische Reichspartei), BVerfG 2,
1.
489
113
sieht. Dieser Grundordnung liegt letztlich nach der im Grundgesetz getroffenen verfassungspolitischen Entscheidung die Vorstellung zugrunde, dass der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind. Daher ist die Grundordnung eine wertgebundene Ordnung.
Das Bundesverfassungsgericht deutet in ständiger Rechtsprechung die Grundrechte als „objektive Werteordnung“, in der eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck komme: Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der
sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde
findet, muss als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten;
Diese Grundrechtslehre hat wiederum die Sorge geweckt, die Freiheitsrechte könnten unter
eine „Tyrannei der Werte geraten“.494
Aber auch bei dem sog. Minimalkonsens erheben sich grundsätzliche Bedenken wie beim
Begriff der „Leitkultur“: Werte existieren notwendig in einer hierarchischen Stufung. Eine
solche sei mit dem Wesen der Freiheit nicht zu vereinbaren. Über die Werte könnten unkontrollierbare, geschlossene Ideologiesysteme in die materielle Verfassung einströmen und ihre
Freiheitssubstanz zerstören. Das Bundesverfassungsgericht sei nämlich bislang klare Maßstäbe schuldig geblieben; seine Wertabwägungen blieben im Ergebnis unberechenbar und machten den Verfassungsprozess zum Wert-Roulette. Die Kritiker üben damit Kritik an einem unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Auslegung zusammen mit dem Wertewandel gesehen werden muss und der den lediglich einzigen gemeinsamen Wert in der Verfassung aufgehen lässt,
da es darüber hinaus keine verpflichtenden Gemeinsamkeiten gibt. Auch Demokratie als Beispiel ergibt sich nicht ohne weiteres aus der multikulturellen Situation. Demokratie braucht
ein gemeinsames Verständnis verbindlicher Werte, über die Einigkeit hergestellt werden
muss.495 Es liegt auf der Hand, dass Zuwanderer, die bisher nicht Teilhaber der Wertegeschichte der Gesellschaft gewesen waren, dieses Verständnis vorerst nicht teilen werden.
Die pluralistische Gesellschaft besinnt sich eher auf ihre ureigenen Grundwerte. Das ist eine
neue Entwicklung, die noch andauert. Kennzeichnend dafür ist eine sich wiederholende Reflexion der Möglichkeiten und Grenzen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.496
Lange Zeit wurde Befreiung aus traditionellen Ordnungsfesseln, Aufhebung von lästigem
Rechtszwang, Ausweitung des Freiraums für individuelle und kollektive Selbstentfaltung als
selbstverständlich erachtet. Es regt sich deshalb die Sorge, ob noch jenes Maß an ethnischer
Übereinstimmung497 in der Gesellschaft vorhanden ist, ohne das auch das freiheitlichste System nicht auskommen kann. Das hat nichts mit staatlich verordneten Richtigkeiten zu tun,
sondern mit einem Regelwerk moralischer Maßstäbe unterhalb staatlicher Normen, wie sie
nicht nur die christliche Kirche, sondern alle Weltreligionen zur Verfügung stellen. Rousseau
vertrat beispielsweise zu einer Zeit, als die christlichen Glaubensinhalte längst brüchig geworden waren, die Auffassung, dass der Gottlose unfähig sei, die Gesetze und die Gerechtigkeit aufrichtig zu lieben und folglich als Feind der Gesellschaft gelten müsse. 498 Gemeint ist
damit jener ethnische Minimalkonsens, den jede demokratische Ordnung brauche, wenn sie
494
Vgl. Schmitt, in: FS Forsthoff, München 1974, S. 37.
Cohn-Bendit/Schmid, Heimat Babylon, Hamburg 1993, S. 319.
496
Häberle, Die Verfassung des Pluralismus, Königstein/Taunus 1980, S. 1.
497
Vgl. Lübbe-Wolf, ZAR 2007, 121.
498
Schmitt-Glaeser, BayVBl. 1995, 577.
495
114
existieren wolle. Es müsse sich dabei nicht um ein Regelwerk aus religiösen Geboten handeln. Aber es dürfte schwer fallen, im abendländischen Kulturkreis allgemein überzeugende
moralische Maßstäbe zu entwickeln jenseits der christlichen Vorstellungen.
Das gleiche gilt auch bezüglich einer etwaigen „deutschen“ Kultur: Es gibt keine homogenen
und geschlossenen Kulturen; Es gibt daher auch keine „deutsche“ Kultur, nur eine Ansammlung von kulturellen Traditionen mit eigenen regionalen, sozialen und gruppenspezifischen
Ausprägungen in Deutschland.
Also lässt sich im Ergebnis festhalten, dass ein Minimalkonsens, genauso wie die Idee einer
deutschen Leitkultur, die zwar unterschiedlich Begrifflichkeiten verwendet, jedoch ähnliche
Aussagen hat, jenseits der Verfassung nicht realisierbar ist.
Durch diese Ausführungen wird deutlich, dass eine bestimmte „Sittlichkeit“ unter dem
Grundgesetz nicht besteht, weil dies den Staat nichts angeht. Deshalb können diese Begrifflichkeiten auch nicht zu den faktischen Verfassungsvoraussetzungen gehören, die eine weitreichende Autonomie fördern würden, weil sie eben genau gegenteilig wirken und damit einschränkend wirken würden.
Notwendig sind jedoch Organisationsprinzipien wie Gewaltenteilung und Parlamentarismus,
um einen Minimalkonsens der Freiheitsrechte im Staatsleben zu sichern.
Die Wertentscheidung für die Achtung der Menschenwürde macht auch die Anerkennung
demokratischer Verfahren und insbesondere der Mehrheitsregel für alle akzeptabel, denn
durch diese Wertentscheidung ist Minderheitenschutz gesichert. So ist es möglich, eine Übereinstimmung über die Gültigkeit der Mehrheitsregel zu erreichen, die unabhängig vom Inhalt
der Mehrheitsbeschlüsse ist, solange niemand befürchten muss, durch solche Mehrheitsbeschlüsse in seinen grundlegenden Menschenrechten beeinträchtigt zu werden. Die Achtung
der Menschenwürde aller und die Anerkennung des Mehrheitsentscheids schränken die Freiheit des einzelnen zweifellos ein. Es kann dem Bürger aber nur zugemutet werden, freiwillig
die ihm gesetzten Grenzen einzuhalten, wenn er die Sicherheit hat, dass alle anderen dies ihm
gegenüber auch tun.
e. Die Abkehr vom Kulturrelativismus499
Wer sich in seinem näheren Umfeld um sich blickt, wird bereits hier erkennen, dass die eigenen Normen, Werte und Ideen von anderen nicht notwendig geteilt werden. Andere Menschen
handeln, urteilen oder denken anders als man selbst, ohne dabei jedoch dumm, unehrlich oder
auf andere Weise defizitär zu sein. Und doch kann auch ihr Verhalten von ihrem jeweiligen
Standpunkt gesehen durchaus als sinnvoll erscheinen. Wenn diese Erfahrung von Relativität
als philosophische Doktrin auftaucht, so nennt man sie Relativismus.500 Dieser ist im Grunde
genommen kein völlig neuer Terminus, vielmehr nur eine Ausprägung des
kommunitaristischen Gedankenguts. Relativismus bedeutet demgemäß, dass Normen, Werte,
499
Vgl. dazu: Brumlik, Ratlos vor dem Fremden? Zum Ethnozentrismus und Kulturrelativismus, in: Gieseke,
Ethnische Prinzipien der Erwachsenenbildung, Kassel 1991.
500
Stagl, in: Matthes, Zwischen den Kulturen, Göttingen 1992, S. 145.
115
Haltungen und Ideen niemals aus sich heraus, sonders stets nur für irgendjemanden gelten.
Ihre Geltung hängt damit also einzig von ihrer Funktion für ein beliebiges sozio-biologisches
System ab. Diese Systeme können örtlich, räumlich oder zeitlich begrenzt sein und auch innere Beschränkungen aufweisen. Der kulturelle Relativismus geht von räumlichen Grenzen
aus.501 Indem der Relativismus behauptet, dass Normen, Werte und Ideen lediglich innerhalb
besonderer Systeme gelten, nicht aber außerhalb, bestreitet der Relativismus die universale
Geltung und Wahrscheinlichkeit jeder nur denkbarer Aussagen. Die Relativität des Wahrnehmens, Denkens und Handelns ist ein Sachverhalt, mit dem sich die Wissenschaft auseinandersetzen muss. Es soll hier nicht bestritten werden, dass es überhaupt eine Anerkennung
der relativen Berechtigung verschiedener Standpunkte gibt, es soll nur der radikalen Relativismus fokussiert werden, der behauptet, dass Kulturphänomene nichts anderes als Ausdrucksformen oder Instrumente verschiedener Standpunkte seien und insofern alle gleich gut
oder schlecht seien. Damit tritt der Kulturrelativismus als globaler Humanismus auf, der die
interkulturelle Toleranz betont. Dies macht auf den ersten Blick auch seinen Charme aus,
denn er erscheint in dieser Rolle als der Fürsprecher der von der Menschheitsentwicklung
Benachteiligten. Im Grunde genommen entzieht er sich hier aber einem Dialog eben unter
Berufung auf Werturteilsfreiheit. Aus dieser Beobachtung ergibt sich die Notwendigkeit, die
vorhandene Pluralität der Kulturen zwar zu akzeptieren, ohne aber jedoch der Illusion eines
Kulturrelativismus zu erliegen. Letztendlich bedeutet dieser nichts anderes als die Anerkennung der traditionellen Weisheit „andere Kulturen, andere Sitten“ mit dem Zusatz, dass man
bereit ist, diesen Zustand hinzunehmen, was ohne Einschränkung bedeuten würde, dass z.B.
Frauenbeschneidung im Sudan deren Sache sein muss und den Rest der Menschheit nichts
angehen kann.502
Zwar ist die Religionsfreiheit ein starkes Grundrecht und setzt sich regelmäßig durch, was
dogmatisch mit der Nähe zum höchsten Wert des Grundgesetzes zusammenhängt, da die Religionsfreiheit in besonderem Maße eine Ausprägung der Menschenwürde darstellt.503 Jedoch
steht eine solche Haltung im Widerspruch zu der hier vertretenen Position einer Ethik der
Menschenrechte. Für jene, welche um die Menschenrechte als universelle Rechte besorgt
sind, kann die Anerkennung der kulturellen Vielfalt in unserer Welt nicht bis zu dem Punkt
ausgedehnt werden, an dem sie in einen Kulturrelativismus, d.h. in moralische Gleichgültigkeit umschlägt. Eine Toleranz, die selbst noch die Intoleranz und alltägliche Gewaltverhältnisse als Bestandteil eines fremden kulturellen Kontextes hinnimmt, ist letztlich wertlos und
relativiert Menschen- und Grundrechte. Diese aber sind fundamentale Voraussetzungen einer
aufgeklärten Gesellschaft und müssen verteidigt werden. Aus der Perspektive einer international verbindlichen Moralität darf die Hinnahme menschenrechtsverletzender Praktiken (z.B.
Folter zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit) auch als Ausdruck einer anderen Kultur
demnach nicht toleriert werden. Diktaturen der Dritten Welt kaschieren solche Verletzungen
oftmals unter der Maske ihrer eigenen Kultur.504 Die Pluralität der Kulturen ist dennoch eine
501
Der historische Relativismus geht von zeitlichen Grenzen aus und der soziologische oder psychologische
Relativismus geht von strukturellen Grenzen aus, so dass Teile oder Stadien sozi-biologischer Systeme voneinander getrennt werden, Stagl, in: Matthes, Zwischen den Kulturen, Göttingen 1992, S. 145.
502
Vgl. dazu auch: Püttner, Toleranz als Verfassungsprinzip - Prolegomena zu einer rechtlichen Theorie des
pluralistischen Staates, Berlin 1977.
503
So BVerfGE 32, 98.
504
Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994, S. 36.
116
wertfreie Feststellung der Vielfalt. Diese Pluralität gutzuheißen bedeutet nicht, sie mit kultureller Fragmentation (Konsensverlust innerhalb der Menschheit) gleichzusetzen und sie einem
Basiskonsens über internationale Moralität zu entziehen. Insbesondere in Bezug auf die Menschenrechte darf es keinen Kompromiss geben. Muslime, Hindus und Buddhisten müssen die
Menschenrechte in ihrer Kultur verankern. Die Zurückweisung dieser Ansicht durch muslimische Despoten ist stets eine ideologische Rechtfertigung für Willkür und dafür, den Unterworfenen die zentralen Rechte vorzuenthalten. Um es noch einmal zu wiederholen: Das Grundgesetz leistet keine verfassungsrechtliche Garantie einer „deutschen Kultur“. Welche kulturellen
Traditionen und Richtungen das gesellschaftliche Leben in Deutschland prägen, entscheiden
die Bürger selbst, indem sie sich diesen Traditionen und Richtungen verbunden fühlen, auf
dieser Grundlage ihr Leben gestalten und in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit für sie werben. Die Bürger, die aus anderen Kulturkreisen stammen, sind aufgrund ihrer grundrechtlichen Freiheit in gleicher Weise berechtigt und aufgerufen, an der Gestaltung und Entwicklung
der gesellschaftlichen Kultur mitzuwirken. Der Standard des Grundgesetzes ist nicht irgendein spezifisch deutscher Charakter der Kultur, sondern die kulturelle Offenheit.505 Dabei werden die mehrheitlich vertretenen Traditionen und Richtungen die Gesellschaft natürlich in
besonderer Weise prägen; und wenn politische Entscheidungen zu treffen sind, die
begründeterweise für das gesamte Gemeinwesen gelten sollen, wird sich diese mehrheitskulturelle Auffassung auch in den staatlichen Institutionen und Rechtsnormen niederschlagen.
Dies hat aber nichts damit zu tun, dass das Grundgesetz die politische Mehrheit verpflichtet,
eine bestimmte deutsche kulturelle Prägung des Gemeinwesens zu konservieren.
Man kann sich angesichts der Tatsache, dass die Menschenrechte im allgemeinen nicht energischer verteidigt werden, des Eindrucks nicht erwehren, dass die Europäer ihrer Zivilisation
schon müde und nicht mehr bereit sind, für Menschenrechte überhaupt einzustehen. Wer hinter dem universellen Anspruch der Menschenrechte lediglich bloßen Kulturimperialismus
vermutet, hat nie ermessen, wie viele Freiheiten er in seiner Zivilgesellschaft genießt. Im
Westen bedeutet multikulturelle Toleranz nichts anderes als Gleichgültigkeit gegenüber der
undemokratischen und menschenverachtenden Einstellung vormoderner Kulturen gegenüber
der Moderne.506
Der Kulturrelativismus fordert Toleranz gegenüber Intoleranz und macht sich somit ungewollt
zum nützlichen Handlanger der Fanatiker aus vormodernen Kulturen unter den Migranten, die
sich gegen die Integration in die kulturelle Moderne der europäischen Gesellschaften erheben.
Wer aber dafür eintritt, dass die Migranten die Kultur des Gastkontinents respektieren müssen, setzt sich neuerdings dem Vorwurf des Euro-Rassismus507 aus, der das neueste Etikett
darstellt und der Kampfbegriff all derer ist, die die Gleichsetzung vormoderner Kulturen mit
der kulturellen Moderne in Europa ablehnen.
Wenn im islamischen Sudan Frauen durch Beschneidung ihrer Klitoris in ihrer Sexualität
entmündigt werden, dann ist das für Kulturrelativisten keine Verletzung der Menschenrechte,
sondern schlicht ein Ausdruck anderer Sitten, vergleichbar mit der inhumanen Ganzkörper505
Oberndörfer, Politik für eine offene Republik, in: Bade, Das Manifest der 60. Deutschland und die Einwanderung, München 1993, S. 139ff.
506
Vgl. bereits oben die Ausführungen zum „Kulturrelativismus“.
507
Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994, S. 164.
117
verschleierung von Frauen. Um nicht als „Rassist“ zu gelten, schweigt man über diese Menschenrechtsverletzung. In Wirklichkeit bedeutet Kulturrelativismus jedoch nicht Toleranz
gegenüber anderen Kulturen, sondern eher moralische Trägheit und Entlastung jeglicher Verantwortung, etwa für die Verletzung von Menschenrechten und ist somit die Zuflucht für die
Rechtfertigung der politischen Repression geworden.
Man muss einräumen, dass viele Kulturrelativisten subjektiv nicht zynisch sind, dass sie
vielmehr vom aufrichtigen Ethos des Respekts gegenüber anderen Kulturen geleitet sind, ohne sich jedoch die Konsequenzen ihrer Einstellungen bewusst zu machen. Dabei unterliegen
sie der vorhandenen Verwechslung von Kulturpluralismus mit Kulturrelativismus. Kulturpluralismus ist nichts anderes als die Feststellung, dass es eine Vielfalt an Kulturen gibt, die jeweils ihren individuellen Charakter haben. Diese Feststellung ist gleichermaßen deskriptiv,
wertneutral und enthält kein moralisches Urteil über die einzelnen Kulturen und ihre Werte,
sondern beschränkt sich lediglich auf die Beobachtung der Vielfalt und plädiert für ein friedliches Nebeneinander. Zu diesem friedlichen Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen gehört die gemeinsame Anerkennung von Normen und Werten als Basiskonsens. Bei aller Beschwörung von Multikulturalität und kulturellen Pluralismus sind die Europäer angesichts des
islamischen Fundamentalismus sowie des Imports von Einwandererkulturen, die keine Individuation kennen, gefragt, ob sie die kulturellen und politischen Grundlagen der individuellen
Menschenrechte zu verteidigen gewillt sind.508
Der Kulturrelativismus ist daher im Ergebnis eine übertriebene Freiheitsforderung des
„laissez-faire“ und Konsequenz eines schrankenlosen Werterelativismus, der umzuschlagen
droht in eine zerstörerische Intoleranz.
f. Die Erkenntnis von Werten im Wandel, deren Konsequenz im internationalen Handeln
und die Rolle des Staates
Wie kommt es nun eigentlich zu diesem Missstand des zunehmenden Wertewandels und der
sich daraus entwickelten Probleme?
Zum einen wird die Ursache allen Übels in der Aufklärung bzw. den Emanzipationsschüben
der letzten 300 Jahre und dem daraus folgenden Zerfall der alten Autoritäten gesehen.509 Die
Einheit des mittelalterlichen Weltbildes beispielsweise ruhte in der Einheit des Glaubens und
der göttlichen Gnadenordnung und ähnelt damit dem Islam heute. Sie war allerdings zwangsläufig verbunden mit dem Anspruch des Staates auf das Wahrheitsmonopol und mit dem Verzicht des Menschen auf eine rechtlich geschützte, eigene Individualität und selbständige Persönlichkeitsentfaltung. Die Trennung der religiösen von der politischen Sphäre stellt eine der
großen Leistungen des modernen Verfassungsstaates dar, auch wenn gewisse Rückfälle nicht
vermieden werden konnten. In diesem Sinne zeigt vor allem die grausame Politik des Wahrheitsanspruchs im Nationalsozialismus, wie groß die Errungenschaften des modernen Verfassungsstaates verbunden mit der elementaren Trennung der Politik von der Religion sind. Un508
509
Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994, S. 142.
Die folgenden Ausführungen in Anlehnung an: Schmitt-Glaeser, BayVBl. 1995, 577.
118
ter diesem Aspekt kann es also kein Zurück geben. Des Weiteren darf nicht verkannt werden,
dass die Vernunft der Aufklärung kein Ersatz sein soll für die göttliche Gnadenordnung. Die
Vernunft ist ein Begriff, der überwiegend von weltanschaulicher Prägung ist. Entgegen der
rationalen Naturrechtslehre gibt es aber nicht nur eine universale Vernunft, sondern viele
Vernünftigkeiten, was sich aus dem Pluralismus der Freiheiten von Menschen ergibt. Eine
absolute Richtigkeitsvorstellung, die eine für jedermann verpflichtende Wahrheit widerspiegelt, gibt es nicht. Die Meinung eines jeden muss gleich viel gelten, jeder muss eine moralische Instanz sein. Im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens in der staatlichen Gemeinschaft bedarf es sodann eines fair geregelten Verfahrens, in dem vertretbare Kompromisse
gefunden werden sollten. Als Folgerung des Wertewandels wird man sich eher an den universalen Menschenrechten510, als an einer Zugehörigkeit zu einer Nation orientieren müssen,
deren universelle Geltung insbesondere in der Europäischen Union zum Ausdruck kommt, die
verschiedene Nationen unter Aufrechterhaltung bestimmter gemeinsamer Werte zusammenfasst. Nationale Konzepte müssen natürlich in den übergreifenden Kontext einer europäischen
Migration- und Flüchtlingspolitik eingebracht werden. Ohne die Bereitschaft, auf nationaler
Ebene umzudenken, wird sich sicherlich auch auf euro-internationaler Ebene vieles gar nicht
und alles insgesamt zu spät bewegen. Nötig für die Bewältigung der Zukunft in Deutschland
und Europa sind verstärkte Bemühungen um die Eingliederung zugewanderter oder schon im
Lande geborener Minderheiten. Nötig ist eine multikulturell orientierte Toleranz im Eingliederungsprozess für das Verständnis von Eingliederung als intergenerativer Kulturprozess auf
Gegenseitigkeit, ohne dabei gleichzeitig jedoch Freiheitsgefährdungen oder Freiheitsverletzungen zuzulassen.
Die Frage, ob der Staat als möglicher Hüter der Grundwerte in Betracht kommt, kann nicht
mit der Begründung von vorneherein ausgeschlossen werden, dass diese, gemäß ihrer
Liberalismusherkunft, als Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat aufzufassen seien;
dass sie folglich nur Verantwortung des Einzelnen für sich selbst, nicht dagegen die Verantwortung des Staates für den Einzelnen begründeten. Selbst das klassisch liberale Grundrechtsverständnis drängt den Staat nicht in die Rolle der bloßen Inaktivität. Auch der modellgemäße reine Rechtsstaat hat die positive Aufgabe, durch Gesetze und Einzelfallentscheidungen das Zusammenleben der Freiheitssubjekte auf eine Weise zu ordnen, damit die Freiheit
des Einzelnen neben der Freiheit des anderen bestehen kann. Ein extrem individualistisch
geprägter Staat kann sich der Aufgabe nicht entziehen, die Konkurrenzen der Freiheitsrechte
zu erkennen und deren Konflikte beizulegen, indem er Grenzen absteckt, z.B. zwischen dem
Grundrecht des Eigentümers und dem seines Nachbarn, zwischen der Versammlungsfreiheit
der Demonstranten und der Bewegungsfreiheit der Verkehrsteilnehmer, etc. Solche Beispiele
lassen erkennen, dass die eigentliche Bedrohung der Freiheit in modernen staatlichen Gemeinschaften in den westlichen Industriestaaten und konkret auch in Deutschland, nicht mehr
nur vom Staat, sondern von der Gesellschaft droht. Zunehmend unterliegt die Freiheit des
Einzelnen den Einwirkungen, Beschränkungen, Verkürzungen und Verletzungen von seinesgleichen, während der Staat alle auf souveräne Eigenständigkeit hindeutende Strukturen kon510
Es gibt aber wiederum Politiker, die sich weigern, politische Menschenrechte überhaupt zu erörtern. Diese
seien allein ein Anliegen des verkommenen Westens. Menschenrechte setzten sie gleich mit Zügellosigkeit,
Promiskuität, Homosexualität, Prostitution und Drogenkonsum und mit Demokratie, Tibi, Im Schatten Allahs,
München 1994, S. 32.
119
tinuierlich abbaut und insgesamt nicht nur von Gerichten, sondern von allen möglichen gesellschaftlichen Kräften und den Medien lückenlos kontrolliert wird, so dass von ihm eine
ernsthafte, gleichsam klassische Gefährdung der Freiheit letztlich kaum ausgehen kann. Den
Gesamtzustand der Freiheit, den die grundgesetzliche Verfassungsordnung anstrebt, drohen
so neue Gefahren aus der Sphäre der Gesellschaft, deren Potential sich noch erhöht. Das bedeutet keinesfalls das Mandat und die Kompetenz des Staates zu unbegrenzten Zugriffen auf
die Gesellschaft oder den Ruf nach dem totalen Staat, denn dieser darf und kann der Gesellschaft nicht Moral und Wertbewusstsein verschreiben und inhaltlich vorschreiben. Es bedeutet aber, dass sich der Staat bei der engen Verwobenheit mit der Abhängigkeit der Gesellschaft auch nicht mehr aus allem heraushalten kann, was ihn selbst in seiner Existenz und
damit auch in seiner Aufgabe, die Freiheit zu sichern, betrifft. Es wird auch hier deutlich, dass
das klassisch-liberale Modell, in dem jeder Einzelne seinen persönlichen Lebensentwurf verwirklichen kann, aufgrund der gewandelten Verhältnisse nicht (mehr) vollumfänglich ohne
staatliche Intervention funktioniert.511
g. Die Abhängigkeit der materiellen Verfassung vom realen Wertkonsens der Gesellschaft und die Unentbehrlichkeit des freien Verfassungskonsenses durch staatlichen
Schutz
Die Vorstellung, dass das Grundgesetz aus eigener Kraft seine Existenz und seine Essenz
wahren könnte, ist eine Art normativistisches Perpetuum mobile. Die Hoffnung, dass Gesetze
und nicht Menschen herrschen, ist auch im voll entfalteten Verfassungsstaat unerfüllbar. Es
bleibt die Realität, dass Gesetze nur durch Menschen herrschen können. Die reale Geltung
einer Norm hängt von der Loyalität wie vom Verständnis der Adressaten ab. Die Verfassung,
nicht als Gesetzestext, sondern vielmehr als Ordnungsplan des Gemeinwesens verstanden,
kann nur so in soziale Realität umgesetzt werden, wie sie von der jeweiligen Vollzugsinstanz
aktuell interpretiert wird. Die Verfassung gilt nicht als „Norm an sich“ sondern als Norm, wie
sie von ihrem jeweiligen Adressaten aufgefasst wird. Sie wird nicht transzendent, sondern
transzendental wirksam512 und ist dem stetigen Wandel von Wertvorstellungen unterworfen.
In dem Maße, in dem die Verfassung auf die ethnischen und intellektuellen Leistungen ihrer
Interpreten angewiesen ist, öffnet sie sich deren Wertvorstellungen. Damit strömen die wandelbaren sozialethnischen Auffassungen in das aktualisierte Verfassungsrecht ein. Das Gesetz
schwebt nicht isoliert über der Geschichte, sondern entfaltet sich in ihr. Die Möglichkeit eines
materiellen Normwandels ohne formelle Änderung des Normtextes beschränkt sich nicht auf
das Verfassungsrecht, sondern erfasst die gesamte Rechtsordnung.513 Gleichwohl ist gerade
die Verfassungsnorm in eigentümlichem Maße inhaltsoffen und entwicklungsfähig.
511
Diese Politik wird in den USA als „affirmative action“ rubriziert. Sie verfolgt das Ziel, durch Förderungsprogramme für Benachteiligte, die Folgen ethnischer, wirtschaftlicher, rassistischer oder sonstiger Diskriminierung
zu mindern. Hauptargument für eine solche Politik ist die Feststellung, dass das bloße Fehlen von Diskriminierung im gesellschaftlichen Wettbewerb nicht ausreicht, um die Benachteiligung der Minoritäten zu überwinden;
Details bei Ehringfeld, Eltern-Kind-Konflikte in Ausländerfamilien, Berlin 1997, S. 113.
512
Isensee, NJW 1977, 545.
513
Vgl. zur Rechtsfortbildung in Privatrecht: Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des
Privatrechts, Tübingen 1974, S. 242ff.
120
Auch humanitäre Erwägungen können nur im gesellschaftlich verträglichen Kontext gesehen
werden. Armut und Not der Dritten Welt können nur in den betroffenen Ländern selbst überwunden werden. Die Forderung, zur Beruhigung der Wanderungsbewegungen aus Wohlstandsgefälle heraus, deren Ursachen vor Ort zu bekämpfen, hieße, die Lebensbedingungen in
den Herkunftsländern zu verbessern. Dies scheitert aber an der Dimension des Problems und
der Geringfügigkeit der Interventionsmöglichkeiten auch ökonomisch mächtiger Staaten, die
zudem um die eigene innere Stabilität fürchten müssten, denn bestehen könnte die Lösung
dann nur in einer globalen Umverteilung von Reichtum.
Auf der anderen Seite ist die Aussicht, dass ein ganzes Volk eine eindimensionale Einstellung
teilt, beängstigend. Zudem bildet der Staat für die meisten Menschen die Bedingung für ein
selbstverwirklichtes Leben, nicht aber den Inhalt des Lebens. Politische Einheit lässt sich also
nur theoretisch, aber in der Praxis allein auf die Vernunft gründen. Rationaler Verfassungspatriotismus mag das irrationale Element staatlicher Wirklichkeit ergänzen, disziplinieren und
modifizieren. In der politischen Praxis aber darf theoretische Richtigkeit das menschliche
Maß nicht aus den Augen verlieren.514 So muss man auch das irrationale Moment eines historisch-kontingent gewachsenen, wechselseitigen Zueinandergehören-Fühlens der Bürger beachten.
In der Anerkennung eines auch irrationalen Elements staatlicher Einheit liegt zugleich auch
ein Beitrag zur rationalen Konfliktvorsorge, indem die emotionalen Bedürfnisse der Menschen befriedigt und kanalisiert werden. Denn das Volk lebt weder vom Brot noch von Begriffen allein; es will durchaus etwas Positives zu lieben, zu sorgen und sich daran zu erfrischen; es will vor allem eine Heimat in vollem Sinne haben, das ist seine eigentümliche Sphäre von einfachen Grundgedanken, Neigungen und Abneigungen, die alle seine Verhältnisse
lebendig durchdringen und in keinem Kompendium registriert stehen. Der Gemütsbedarf des
durchschnittlichen Menschen lässt sich allein intellektuell nicht befriedigen. Dies wiederum
stellt den Bereich des Privatlebens dar, in den der Staat nicht eingreifen darf, den er aber sicherlich fördern darf. Die Integration des Verfassungsstaates gründet schließlich auf der Freiheit seiner Bürger. Die freie Zustimmung zu den Grundwerten ist nicht substituierbar, auch
nicht durch gesetzlichen Zwang. Die liberale Demokratie lebt nur, solange ihre Bürger liberale Demokraten sind. Viele scheinen mit diesem Programm nicht zurechtzukommen. Der freiheitliche Staat stellt im Prinzip hohe Anforderungen an den einzelnen Bürger, in dem er vom
Einzelnen nicht nur die Selbstverantwortung des Freiheitsgebrauchs verlangt, sondern auch
die Selbstfindung des Lebenssinnes, auf dessen Basis wiederum der ethische Grundkonsens
gewonnen werden muss, der für den modernen Staat unabdingbar erscheint. Es stehen sich
unvereinbare Positionen gegenüber: der kategorische Geltungsanspruch der Verfassung und
ihrer unausweichliche Verwiesenheit auf den realen Konsens in der Gesellschaft. Bereits die
Selbstfindung des Lebenssinnes ist mit großen Schwierigkeiten verbunden, zumal die Aufklärung zur Schwächung christlicher Selbstverständnisse beitrug. Die Sehnsucht des Menschen
nach Geborgenheit kann in einer Hoffnung, die auf Jenseitiges, auf Transzendentales gerichtet
ist, von dieser Seite immer weniger gestillt werden. Überdies ist die Privatisierung des Lebenssinnes keine einfache Prozedur, nachdem seine Schöpfung und Erhaltung bis weit in dieses Jahrhundert hinein, in der ehemaligen DDR bis zum Ende der 80er Jahre, Sache von Staat
514
Depenheuer, in: Papalekas, Nationale Identität im kulturellen Spannungsfeld, Wien 1995, S. 43.
121
und Gesellschaft war. Trotz alledem bietet der moderne Verfassungsstaat diese Möglichkeiten, deren Wahrnehmung zugleich jedoch nicht erzwungen werden kann.
V. Demokratie, Republik, Sozialstaat und Nation als Ergänzung zur Sicherung von
Grundrechten
Nachdem festgestellt wurde, dass nur die Menschenrechte den wertneutralen Ausgangspunkt
und kleinsten gemeinsamen Nenner menschlichen Zusammenlebens darstellen können, weil
es darüber hinaus keine universal feststellbaren Gemeinsamkeiten gibt, soll nun überlegt werden, wie das rechtliche Konstrukt um diese Überlegung herum zusammengesetzt sein soll.
Die Verfassung selbst wird gestützt durch den Republikcharakter, durch demokratische Strukturen und die Idee der Nation selbst. Diese Rahmenbedingungen sollen nun näher untersucht
werden, ggf. sollen Alternativlösungen aufgezeigt und bewertet werden.
1. Demokratie als Rahmenbedingung für eine erfolgreiche Integration im Verhältnis zur
Freiheit
Auch wenn es durchaus verschiedene Formen des Demokratiegedankens515 gibt, erscheint die
moderne Demokratie516 zunächst als die optimale Antwort, wie sich die Emanzipation der
Individuen mit der Unvermeidlichkeit politischer Herrschaft vereinbaren lässt und erscheint
zudem als eine verfassungsrechtlich abgesicherte Rahmenbedingung, unter der sich die Menschenrechte in optimaler Weise entfalten.
Entscheidend für die Einstufung als „moderne“ Demokratie sind zwei Kriterien: Politische
Rechte und Bürgerfreiheiten, die als Mindeststandards ausgestaltet sein müssen, so dass das
Volk der Inhaber der Staatsgewalt ist. Das demokratische System löst das Problem der verschiedenen Individuen, indem sie die Gesamtheit der Einzelnen zum Subjekt der staatlichen
Gewalt erklärt und Mehrheitsentscheidungen herbeiführt. Dazu reicht es nicht, die Menschen
lediglich mit politischen Bürgerrechten auszustatten. Die Gesamtheit kann nur dann Subjekt
der Staatsgewalt sein, wenn sie nicht erst aus der Addition individueller Wähler entsteht, sondern als Volk über einen eigenen Namen und eine eigene Identität verfügt. Zwischen den
Elementen besteht oft ein Spannungsverhältnis. Auf der einen Seite fordert das Demokratieprinzip die Durchsetzung des Mehrheitswillens, auf der anderen Seite versucht es durch
Grundrechte, Gewaltenteilung, Rechts- und Sozialstaatlichkeit die (negativen) Folgen von
Mehrheitsentscheidungen abzuschwächen. In Deutschland passiert dies wie folgt: In der Bundestagswahl spiegelt sich das Ergebnis des Mehrheitswillens wider, Art. 38 GG. Der Bundeskanzler wiederum wird durch die Mehrheit im Bundestag bestimmt, vgl. Art. 63 GG, der
515
Demokratie ist eine wandelbare Herrschaftsform. Im Laufe der Geschichte und in der politologischen Theorie
hat sie sehr unterschiedliche Ausgestaltungen erfahren: die direkte oder unmittelbare Demokratie, die repräsentative Demokratie, die Demarchie, einige Mischformen wie die plebiszitäre Demokratie, die Rätedemokratie, u.a.
516
Zu der Situation der deutschen Demokratie: Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart
1974.
122
selbst die übrigen Regierungsmitglieder bestimmt, Art. 64 Abs. 1 GG. Der Schutz der Minderheit wird über die Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte, Art. 1-19, 20 Abs. 4, 33,
38, 101, 103, 104 GG, über die Gewaltenteilung, Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG, dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 S. 1 GG, und dem Sozialstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 1, 28
Abs. 1 S. 1 GG, erreicht. Eine weitere Absicherung demokratischer Prinzipien erfolgt über
das Bundesstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG.
Demokratie ist also eine Institution des Ausgleichs der kollidierenden Freiheitsrechte und
ihrer Durchsetzung.
Man muss sich hierbei stets vor Augen führen, dass die Deutschen durch die Folgen des Nationalsozialismus ein demokratisiertes und kein von sich aus demokratisches Volk sind. Das
erweist sich überdeutlich an den Schwierigkeiten, die Grundsätze der Demokratie auf die in
Deutschland dauerhaft lebenden Nichtdeutschen anzuwenden. In einer Demokratie europäischen Stils wirken die Menschen als Bürger in einem Gemeinwesen, also als Individuen, nicht
als Angehörige eines Kollektivs. Des Weiteren muss eine duale Orientierung stattfinden. Der
Begriff der dualen Orientierung bedeutet, dass bei relativer Schwäche der Minderheitenkultur,
ein offenes Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit stattfindet, bikulturelle Bestimmung der Positionen und Lösung des Zugehörigkeitskonflikts durch bewusste Anerkennung
der Herkunft bei gleichzeitiger Offenheit gegenüber der Mehrheitskultur, bei „Ich-Stärke“
gegenüber Kultur- und Selbstwertkonflikten, selbstverständlich wird.
Wie steht nun der Demokratiegedanke im Verhältnis zur Freiheit? Bestimmte Standardelemente okzidentaler Verfassungen, wie hier die Demokratie, können sich als Schutz der Freiheit erweisen. Die Demokratie ist, abgesehen von Würde und den daraus folgenden Freiheiten, das zentrale Grundprinzip einer freiheitlichen Grundordnung. Es dient als eine Institution
für den Ausgleich kollidierender Freiheitsrechte sowie deren Durchsetzung und steht deswegen der Freiheit nicht als Kontrapunkt gegenüber.
Freiheit wird damit nicht nur grundgesetzlich geschützt, sondern auch durch die Existenz eines gewählten und abwählbaren Parlamentes, das die Freiheiten und ihre Voraussetzungen
gegeneinander abgrenzt und damit vor Staat und Mitbürgern schützt. Hingegen ist der Verfassungstext, z.B. Art. 20 GG, für die Relation von Demokratie und Freiheit eher unergiebig. Es
gibt allerdings einige Argumente, die dafür sprechen, dass Demokratie nur zwischen den
Freiheiten vermitteln darf. Zunächst spricht dafür, dass der liberal-demokratische Staat nur
eine Rahmenordnung darstellt, der seinen ausdrücklichen Zweck im Schutz der Freiheitsrechte hat. Des Weiteren ist im Grundgesetz ein eher subsidiärer Charakter der Demokratie in systematischer Sicht zu erkennen, denn das Grundgesetz geht in der Abfolge seiner Normen vom
Einzelnen und seiner Freiheit aus, vgl. Art. 1ff. GG. Erst im Anschluss daran wird in Art.
20ff. GG thematisiert, wie etwaige konkurrierende Freiheiten organisiert werden sollen.
Schließlich wird man zu der Erkenntnis gelangen, dass das Demokratieprinzip als Mehrheitsprinzip der Freiheit dient.
123
2. Das demokratische Mehrheitsprinzip contra individuelle Menschenrechte517
In der Demokratie werden jene Dinge umgesetzt, die die Mehrheit entscheidet. Aber gilt dies
ausnahmslos? Oder gibt es Sachverhalte, in denen das Demokratieprinzip die Freiheit nicht
anzutasten vermag? Ja, die gibt es durchaus:
Die vorstaatlichen, unverzichtbaren Grundwerte sind kein taugliches Objekt von Mehrheitsbestimmungen: und zwar weder im förmlichen parlamentarischen Verfahren noch im freien
Prozess der öffentlichen Meinung. Demokratische Gesetze müssen vom realen Konsens in der
Gesellschaft getragen werden.518 Zerbricht dieser, so entfällt auch deren Legalität. Kein Staat
vermag mehr ihre Verbindlichkeit zu garantieren. Der demokratische Verfassungsstaat hat
weder das Recht noch die Kraft dazu, Grundwerte künstlich am Leben zu halten, wenn ihre
Wurzeln im Boden der Gesellschaft abgestorben sind.519 Die Einsicht, dass das demokratische
Mehrheitsprinzip für individuelle Grundrechte nicht gilt, sondern dass Grundrechte, abgesehen von echten Kollisionen, niemals majorisiert werden dürfen, was einen Kernbestandteil
unseres Grundrechtssystems darstellt520, scheint weithin unbekannt. Jeder soll die Möglichkeit
haben, in Ruhe gelassen zu werden und von Indoktrinationsversuchen der Mehrheit verschont
bleiben, soweit er die Freiheit anderer Menschen einschließlich ihrer Voraussetzungen nicht
tangiert. Das legt es somit nahe, nur insoweit Regeln zu setzen, als dies nötig ist, um die gegenläufige Entfaltung des Bürgers zu regulieren. Der Zweck des Verfassungsstaates besteht
damit nicht in erster Linie in einer gemeinsamen Selbstgesetzgebung seiner Bürger, sondern
eher in einem Ausgleich der gegenläufigen, je individuellen Lebenspläne des Einzelnen. Es ist
daher nicht einsehbar, warum die Bürger über das Instrument der Demokratie das Recht haben sollten, andere Bürger zu beschränken, ohne dass das durch den Schutz der Freiheit und
ihrer Voraussetzungen gefordert ist. In so einem Fall wäre der Verfassungsstaat keine Rahmenordnung mehr, sondern würde konkrete Vorschriften über die Art und Weise der Führung
des Lebens machen.
Das ist es dennoch, was viele Menschen zunächst empört: dass auch in diesem Zusammenhang ein Einzelner sein Grundrecht gegen den gesamten Staatsapparat durchsetzen kann, auch
dann, wenn dies (rechtswidrig) eine Mehrheit privilegiert.521 Es sei doch nicht hinzunehmen,
dass ein einzelner „Querulant“ seinen absonderlichen Willen allen anderen aufzwinge.522 Dass
die Anwendung des Mehrheitsprinzips auf Individualgrundrechte letztlich, wie gezeigt, die
Abschaffung der Grundrechte bedeuten würde, muss aber auch nach so vielen Jahren des Inkrafttretens des Grundgesetzes vielen Bürgern durchaus noch erklärt werden.523
517
Vgl. allgemein: Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation,
Frankfurt am Main 1979; Offe, Journal für Sozialforschung 1982, 311; Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der
Demokratie, Opladen 1973.
518
Vgl. allgemein: Mernissi, Islam und Demokratie: die Angst vor der Moderne, Freiburg 2002; Shabestari,
Islam und Demokratie, Erfurt 2003; Kepel, Allah im Westen: die Demokratie und die islamische Herausforderung, München 1996; Kymlicka, Multikulturalismus und Demokratie: Über Minderheiten in Staaten und Nationen, Hamburg 1999.
519
Isensee, NJW 1977, 545.
520
Vgl. hierzu Stern, Staatsrecht I, München 2006, S. 583ff.; Schnapp, JZ 1985, 857.
521
Vgl. zu dieser Problematik vor allem BVerfGE 52, 223 (Schulgebetsbeschluss)
522
Vgl. auch: von Danwitz, JZ 1996, 481.
523
Czermak, NJW 1995, 3348.
124
Eine verbreitete Meinung, vor allem im Lager der Linken, versteht außerdem unter Demokratie eine möglichst deckungsgleiche Wiedergabe des empirischen Willens des Volkes in den
politischen Entscheidungen des Gesetzgebers, da allein auf diese Weise das demokratische
Ideal zu verwirklichen sei, nämlich den Willen des Volkes unmittelbar Gesetz werden zu lassen.524 Hier wirkt die Lehre Rousseaus nach, dass der Wille des ganzen Volkes ein Souveränitätsakt ist und Gesetz ohne Zwischenschaltung eines Parlaments schafft. Die jederzeitige Abrufbarkeit von Volksvertretern und das imperative Mandant sind nach dieser Konzeption lediglich Vorkehrungen, die in großen Flächenstaaten, eine unvermeidliche Trennung von Volk
und gesetzgebender Volksvertretung gering zu halten. Das Ideal bleibt die Identität von Herrschenden und Beherrschten und die Identität von Volkswillen und Gesetz.525 Hierin liegt bereits insofern ein innerer Widerspruch, als dass sich der empirische Wille des Volkes jederzeit
ändern, sich in neuen Situationen in jeweils neuer Weise artikulieren können muss, um souverän zu sein, während dem Gesetz, zu dem sein Wille werden soll, notwendig ein Element von
Dauerhaftigkeit und Kontinuität innewohnt. So tritt bereits dadurch eine erste politische Entfremdung ein, dass der Volkswille im Gesetz auf Dauer institutionalisiert wird, da dadurch die
Identität von Volkswillen und Gesetz aufgehoben wird. D.h., wenn nicht Vertreter des Volkes
eingeschaltet werden, ist das wirklich versammelte Volk in der Tat auf ein kollektives „Ja“
oder „Nein“ verwiesen, also politisch sprachlos gehalten. In diesem Zustand reinster Identität
und unmittelbarer Volksherrschaft wäre das Volk handlungsunfähig.
3. Die Freiheitssicherung durch ein duales System von Demokratie und Rechtsstaat
Die sichtbare Balance zwischen Mehrheitswillen und Recht des Einzelnen verlangt, in allgemeine Kategorien überführt, den Ausgleich zwischen Demokratieprinzip und Rechtsstaatsprinzip.
Der Verfassungsstaat des Grundgesetzes ist ein demokratischer Rechtsstaat. Die normative
Vorgabe verbindet zwei Prinzipien. Das Rechtstaatsprinzip sichert die individuelle Selbstbestimmung, indem Recht statt Macht als zentrales Ordnungsprinzip gilt. Das Rechtsstaatsprinzip postuliert dabei aber nicht selbstzweckhaft die Herrschaft des Rechts, sondern will mit
dem Vorrang der Verfassung vor den einfachen Gesetzen, dem Parlamentsvorbehalt für wesentliche Entscheidungen sowie Vertrauensschutz, Rechtssicherheit, Bestimmtheitsgrundsatz,
Gewaltenteilungs- und Verhältnismäßigkeitsprinzip gerade die Garantie für einen adäquaten
Ausgleich der Grundrechtspositionen untereinander sorgen, um auf diese Art und Weise einen
insgesamt wirksamen Schutz der Freiheit entfalten zu können.
Hierin liegt zugleich stets die potentielle Abwehr von Herrschaft. Sie ist jedoch nicht abgeschafft oder durch Konsens ersetzt, sondern wird durch das Demokratieprinzip organisiert.
Eine erhebliche Schnittmenge von Gestaltungsbereichen weist darauf hin, dass Rechtsstaat
und Demokratie nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern das staatliche Handeln
komplementär prägen. Das gemeinsame Anliegen der Freiheitssicherung durch Selbstbe524
Vgl. zu den Problemen der direkten Demokratie, Schefold, Bewahrung der Demokratie, Berlin 2012, S. 375
ff.
525
Vgl. Details bei Preuß, Politische Verantwortung und Bürgerloyalität, Frankfurt am Main 1984.
125
stimmung wird einerseits als Gewährleistung autonomiewahrender Distanz, andererseits als
Teilhabe an Herrschaft wirksam. Um Freiheit trotz Mehrheitsherrschaft zu schaffen und zu
erhalten, setzt das Rechtsstaatsprinzip, materiell zusammengesetzt durch die Grundrechte, der
Mehrheitsentscheidung Grenzen. Geschützt werden soll damit gesellschaftliche Identitätsbildung. Die Bildung eines gemeinsamen Ganzen kann auf diesem Feld nur durch freiwillige
Übereinkunft stattfinden. Dort ist zunächst autonome Verschiedenheit und private Selbständigkeit anzuerkennen. Nach Einigung über Verfahren und Verabredungen kann dann, ggf. in
Gruppen, Freiheit auch wieder beschränkt werden. Echte Freiheit im Sinn der Grundrechte ist
auf Verschiedenheit angelegt. Erst in der Situation einer heterogenen Gesellschaft zeigt sich,
was die Verbürgung der autonomen Identität wert ist. Der Staat, der durch Erziehung, durch
Manipulation eine vorrechtliche Homogenität erzeugt, ist totalitär. Er benötigt keinen Zwang
mehr, er kann sich sogar Grundrechte leisten, weil sie nicht mehr im Sinn einer echten Bändigung der Herrschaft wahrgenommen werden. In diesem Sinn sind die Sicherungen des
Rechtsstaatsprinzips Grenzziehung gegenüber der demokratischen Herrschaft der Mehrheit,
gegenüber Assimilierungsanforderungen an Minderheiten und an das Individuum. Das Beispiel staatlicher Erziehung zeigt, dass die Bereiche politischer Einheitsbildung und gesellschaftlicher Identität miteinander in einem ständigen Austausch- und Spannungsverhältnis
stehen. Der Verfassungsstaat ist regelmäßig von neuem gefordert, den Einzelnen in das Zentrum seines Handelns zu stellen und zwischen Freiheitssicherung und Herrschaftsorganisation
zu vermitteln. Deshalb ist die rechtsstaatliche Verbürgung privater Identität nicht nur Grenze,
sondern materielles Programm des staatlichen Handelns.
4. Das Sozialstaatsprinzip als Staatszielbestimmung zum Schutz von Grundrechten
Deutschland ist nach Art. 20 Abs. 1 GG ein demokratischer und sozialer Bundesstaat, nach
Art. 28 Abs. 1 S.2 GG ein sozialer Rechtsstaat. Aus diesen Vorschriften ergibt sich die verfassungsrechtliche Festlegung für den Sozialstaat, der die staatliche Gewalt zur Herstellung
und Erhaltung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit verpflichtet.526 Es dient als ein
Korrektivinstrument der liberalen Vertragsfreiheit und Vertragsautonomie. Auf tatsächlicher
Ebene dient das Sozialstaatsprinzip als verfassungsgestaltende Grundentscheidung als Auslegungsregel für Rechtsnormen und fordert insbesondere und vorrangig den Gesetzgeber auf,
dieses bei der Gesetzgebung zu berücksichtigen,527 was jedoch aufgrund der Unbestimmtheit
des Gestaltungsauftrages nicht bedeutet, dass eine soziale Leistung in einem spezifischen Umfang zu gewährleisten ist. Es bedeutet jedoch, dass die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein der Bürger geschaffen werden. Strittig ist teilweise, ob individuelle
Ansprüche aus dem Sozialstaatsprinzip hergeleitet werden können. Die herrschende Meinung
in Rechtsprechung und Literatur geht grundsätzlich davon aus, dass das Sozialstaatsprinzip
nicht als direkte Anspruchsgrundlage dient, es jedoch in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG
und Art. 2 Abs. 2 GG (ggf. auch Art. 3 Abs. 1 GG) einen Anspruch auf ein menschwürdiges
526
Zippelius/Würtenberger/Maunz, Deutsches Staatsrecht, München 2008, S. 98
BVerfGE 1, 97; 36, 73; 65, 182; 75, 348; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland , München
2006, S. 915.
527
126
Dasein oder den Erhalt des Existenzminimums geben kann.528 Durch die eingeführten Sozialhilfevorschriften bedarf es jedoch keines Zugriffs auf das Sozialstaatsprinzip mehr. Obwohl
das Sozialstaatsprinzip grundsätzlich nicht als unmittelbare Grundlage für Ansprüche auf
staatliche Leistungen in Betracht kommt, kann es jedoch mittelbar bei der Auslegung von
Gesetzen anspruchsbegründend herangezogen werden.
In grundrechtlicher Hinsicht bedeutet das Sozialstaatsprinzip, dass es tatsächliche Voraussetzungen grundrechtlicher Freiheit schafft529 und dem Schutz der essentiellen Grundrechte
dient530, es jedoch dadurch zu einem Spannungsverhältnis von Freiheit und Gleichheit kommen kann. Dies ist vor allem dann anzunehmen, wenn staatlicherseits konkrete familiäre
Strukturen näher ausgestaltet werden und so Freiheitsbeschränkungen zum Schutz der Familie
vorgenommen werden müssen. Die verschiedenen Interessen müssen dann in einen schonenden Ausgleich gebracht werden.
Die Grenzen der sozialstaatlichen Gestaltung liegen im Prinzip der selbstverantworteten,
rechtsstaatlichen Freiheit.531
Zusammenfassend lässt sich damit feststellen, dass in Abkehr vom früh- bzw. klassischliberalen Wächterstaat, die grundrechtliche Freiheit durch Schaffung bestimmter weiterer, vor
allem institutioneller, Voraussetzungen weitreichender geschützt wird und daraus auch individuelle Ansprüche hergeleitet werden können.
VI. Republik und Nation contra Nationalismus: der Nationalstaat als ein Hindernis für ein
dauerhaftes Zusammenleben mit ethnischen Minderheiten?532
Durch die fortschreitende Ausweitung und Verdichtung der weltwirtschaftlichen Verflechtungen, als Folge der großen globalen, die Staatsgrenzen übergreifenden ökologischen Probleme,
werden die überlieferten nationalen Souveränitätsvorstellungen offenbar immer unzeitgemäßer, werden übernationale Kooperation und Zusammenschlüsse zu einem Postulat der Vernunft für das Überleben der Menschheit.533 Die von der Aufklärung geforderte republikanische Weltkonföderation war zunächst eine ferne Utopie, während sie heute bereits Gestalt
annimmt. Trotz aller Erfolge, die der Nationalstaatsgedanke heute in der Dritten Welt oder
auch in der Renaissance des überlieferten ethnischen Nationalismus im Ostblock feiert(e),
handelt es sich letztlich doch um ein ideologisches Relikt aus der politischen Ideologie des
19. Jahrhunderts. Demgegenüber erscheint die weltoffene Republik in der zur Einheit zusammenwachsenden Welt als die Staatsform der Zukunft. Die Prinzipien und die Organisationsformen der Republik, nämlich politische und soziale Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit,
Gewaltenteilung im umfassenden Sinne, auch Föderalismus, eröffnen in viel stärkerem Maße
die Chance des Schutzes religiöser und ethnischer Minderheiten als dies noch vor Jahrzehnten
528
BVerfGE 82, 60; BVerwGE 82, 364.
Kritisch zum Verhältnis Rechtsstaat und Sozialstaat, vgl. Degenhart, Staatsrecht I, Heidelberg 2013, Rn 438.
530
Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, Tübingen 2003.
531
Vgl. diese Problematik bei der Volkszählung, BVerfGE 65,1.
532
Vgl. Treichler, Wohlfahrtsstaat, Einwanderung und ethnische Minderheiten: Probleme, Entwicklungen, Perspektiven, Wiesbaden 2002.
533
Esser, Die Konstruktion der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2002.
529
127
möglich war.
Wie steht das Grundgesetz zu dieser Frage?
Die Grundrechte werden in Art. 1 GG auf die Würde des Menschen bezogen. Konsequent
werden daher in Art. 2, 3 und 4 GG die jeweiligen Grundrechte allen Menschen gewährt.
Demgegenüber ist später, in den Bestimmungen über Freizügigkeit und Auslieferung, von
Rechten nur für Deutsche die Rede. Fundamentale Rechte werden also im Widerspruch zu
dem Grundanliegen des Art. 3 GG allein Deutschen vorbehalten. Wer aber ist Deutscher?
Gerade hier zeigt sich der völkische Kern im Republikverständnis des Grundgesetzes. Nach
Art. 116 GG dürfen deutsche Staatsbürger nämlich nur diejenigen sein, die die deutsche
Staatsangehörigkeit schon besitzen, ferner Nachkommen der im Gebiet des Deutschen Reichs
vom 31. Dezember 1937 schon Ansässiger sowie Flüchtlinge oder Vertriebene deutscher
Volkszugehörigkeit.
Jeder Mensch hat zunächst einmal, sofern er nicht Flüchtling oder auf eine andere Art und
Weise entwurzelt ist, eine Bindung zu einer Gemeinschaft. Als soziales Wesen ist der Mensch
zunächst auf die ihn bergende Familie als Gemeinschaft angewiesen und verwiesen. Die Nation ist die größtmögliche Gesellschaft, der der Mensch identitär angehören kann. Die kulturelle Reproduktion der Vernünftigkeit von Identität und Bindungen gelingt dort nicht, wo
Vereinzelung und Atomisierung soziale Bezüge zerstört haben. In menschlichen Gesellschaften und eben auch in Nationen ist die Bindung auch für den Einzelnen neu erwerbbar, d.h. der
Zugang zur Gemeinschaft ist nicht nur durch Geburt fixiert, sondern über eine neue nationale
Sozialisation und Akkulturation auch herstellbar. Diesen Fragen der Einwanderung und Einbürgerung sehen sich sehr viele der hoch entwickelten Nationen ausgesetzt, weil sie ihren
demographischen Bestand aus sich heraus nicht mehr gewährleisten können bzw. der Regenerations- oder Reproduktionsaufgabe nicht nachkommen können. Einwanderungen bedeuten,
dass individuell neue Identitäten angenommen werden, wie auch, dass bestehende Identitäten
ganzer Gemeinschaften allmählich verändert werden.534 Dazu bedürfte es einer gesellschaftlichen Basis, die es aber bis jetzt in Mitteleuropa (noch) nicht gibt. Die Europäische Verfassung
ist allerdings eine solide Basis, die eine solche Einheit stiften könnte.535
Nationale Gemeinschaften sind nicht nur Naturgemeinschaften im Sinne eines Prozesses organischer Sukzession; sie sind aber noch weniger kulturelle Erfindungen oder mythisch bedingte Imaginationen. Vielmehr ist das spezifische in diesem Zusammenhang, dass Nationen
soziale, kulturelle Vergemeinschaftungen sind, die Identität stiften, die bisher nicht auf Dauer
durch größere politische Gemeinschaften ersetzt wurden. Zivilisationen und Regionen stiften
auch Identität, aber sie sind keine Nationen ersetzenden, politischen Einheiten. Die nationale
Gesellschaft bedarf der Verantwortung und Sorge um die Zukunft als kulturellem Verhaltensmuster. Oder umgekehrt, das Luxurierenlassen des Individuums, seine kulturelle Entbindung kann, auch als Topos der deutschen Kulturkritik bekannt, gemeinschaftszerstörend wirken. Die libertäre Freiheit disharmoniert mit der politischen Freiheit, die die Gleichheit der
Pflichten, der Verantwortungen und der Sorge um die Zukunft ebenso verlangt, wie sie erst
eigentlich die private Freiheit gewährleistet.536 Einreise- und Zuwanderungsbeschränkungen
534
Siehe auch zum „Volk als Tatsache“, Schefold, Bewahrung der Demokratie, Berlin 2012, S. 102ff.
Vgl. bereits obige Ausführungen.
536
Mayer, in: Estel/Mayer, Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften, Opladen 1994, S. 115.
535
128
wiederum haben den Zweck, Freiheit und Wohlfahrt sowie Politik und Kultur einer Gruppe
von Menschen zu bewahren, die sich einander und einem gemeinsamen Leben verpflichtet
fühlen. Und diese Mitglieder entscheiden frei über ihre zukünftigen Gefährten. Kein Außenstehender habe einen Rechtsanspruch darauf, tatsächlich hineinzugelangen. Am ehesten wird
man diejenigen hereinlassen wollen, die als national oder ethnisch „Verwandte“ angesehen
werden können, nämlich jene, die unter der Herrschaft der Verfassung stehen. Anders steht es
mit der moralischen Verpflichtung auf gegenseitige Hilfe, Flüchtlinge aufzunehmen, wenn es
die territorialen und ökonomischen Verhältnisse und Voraussetzungen erlauben. Die Verpflichtung endet, wo sie den Lebensstandard der Gemeinschaft zu senken droht, insbesondere
den der ärmeren Schichten.537 Natürlich bleibt es Recht der Gemeinschaft, einen Strom der
Zuwanderung Einhalt zu gebieten, dieses Recht ist konstituierendes Merkmal gemeinschaftlicher Selbstbestimmung. Rousseau dazu: (…) wie sollten (Menschen) das Vaterland lieben,
wenn es ihnen nicht mehr bedeutet als den Ausländern und wenn es ihnen nur zugesteht, was
es niemand verweigern kann?538 Patriotismus definiert sich als eine Art Loyalität gegenüber
einer bestimmten Nation, die nur die haben können, die diese bestimmte Nationalität besitzen.
Gegenwärtig ist allerdings eine Entwicklung erkennbar, dass die nationalen und demokratischen Gemeinschaften derartigem Entnationalisierungsdruck widerstehen. Dass die Sowjetunion und Jugoslawien nicht als Vielvölkergebilde restauriert werden, stellt anhaltend ein
Problem für die Vertreter kosmopolitischen Denkens dar. Diese Betrachtungen machen deutlich, dass das revolutionäre Prinzip der Nation seit der großen Französischen Revolution immer wieder durch internationalistisches Denken von so gegensätzlichen Figuren wie Monarchen, Kommunisten und Kapitalisten, aufzuhalten gesucht wird. Wenn die Elite eines Landes
keinen Patriotismus vorlebt, d.h. eine Moral der Verpflichtung und des Dienstes an der eigenen Nation, überlässt sie den anspruchsvollen Patriotismus einfacheren Kreisen, die nur noch
unterscheiden, was national Mein und Dein ist. Dass also Patriotismus zum Nationalismus
degeneriert, ist alles andere als ein Normalfall nationaler Gesellschaftsentwicklung. Die
Wachsamkeit der Gesellschaft freier Bürger ist erforderlich, wenn dem Zerfall der Gemeinschaft entgegengetreten werden soll. Der Kommunitarismus ist in diesem Zusammenhang
dann kein konservativer Traditionalismus von oben, sondern ein Konzept für den patriotischen Bürger, der sein Land vor einer moralischen Konfusion schützen will. Moralische Werte sind schnell abgeschafft, weitaus schwieriger gestaltet sich die Wiedereinführung. Der Patriotismus der hier interessant erscheint, ist nur ein Teil der kommunitaristischen Programmatik. John F. Kennedy hat ihn schon vor fünfzig Jahren ausgedrückt: „Don´t ask what your
country can do for you. Ask what you can do for your country”.
Diese Ausführungen zeigen, dass immer wieder Ideen aufkommen, die das Individuum in ein
bestehendes Gemeinschaftssystem eingegliedert sehen wollen. Die Frage, die sich stellt ist, ob
es nicht doch so etwas wie einen „gesunden“ Patriotismus gibt. Interessant ist diese Form als
Verfassungspatriotismus, wie bereits dargestellt. Alle derzeitigen Nationalstaaten sind tatsächlich jedoch in jeweils unterschiedlichen Mischungsverhältnissen Nation und Republik
zugleich.
537
538
Mayer, in: Estel/Mayer, Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften, Opladen 1994, S. 115.
Mayer, in: Estel/Mayer, Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften, Opladen 1994, S. 115.
129
1. Der Begriff des Nationalstaatscharakters
Fast alle Staaten regeln, zusätzlich zu universalen Werten, Sonderrechte für die eigenen
Staatsbürger. Während sich die Republik an den Menschenrechten und dem Grundprinzip
weltweiter mitmenschlicher Solidarität orientiert, kann der Nationalstaat damit charakterisiert
werden, dass sich dieser primär einseitig an partikularen nationalen Interessen und Werten
orientiert. Nationen sind wie Familien auf Dauer gestellte Institutionen, deren Bestand von
der Fähigkeit ihrer Angehörigen abhängt, diese Gemeinschaft wertzuschätzen und deshalb
fortzusetzen. Der Nationalstaat beschränkt sich nicht nur auf Abgrenzung von anderen Staaten
und begründet diese mit der eigenen Geschichte, sondern bestrebt vielmehr ebenfalls eine
Homogenisierung hinsichtlich der nationalen Identität.
In der Sprachnation werden Dialekte vernachlässigt, fremde Sprachen unterdrückt. Im religiösen Nationalismus werden die religiösen oder ethnischen Minderheiten in vielfältiger Form
verfolgt, vertrieben oder sogar vernichtet.539
Nach Herders Ansicht liegt im Ursprung jeglichen Menschseins, die Nation. Aus diesem Nationalcharakter erwächst dann auch die gesamte Kultur, deren entscheidender Ausdruck die
Sprache ist. Er setzt also nicht auf Freiheit des Individuums und die Gesellschaft als einen
freiwilligen Zusammenschluss derselben, sondern die natürliche Nation, sozusagen das Nationalindividuum. Um seine Identität zu begreifen und zur Darstellung zu bringen, muss das
Individuum sich in Beziehung setzen zu solchen, mit denen ihn etwas verbindet, und zu solchen, von denen ihn etwas unterscheidet. Der Mensch brauche eine Zugehörigkeit, die ihn
nicht schon auf Leistung, Interessen und Orientierungen festlege. Diese Zugehörigkeit müsse
so grundlegend und umfassend sein, dass sie alle Aspekte seiner möglichen individuellen
Verwirklichung transzendentiere. Diese grundlegende Zugehörigkeit werde dem Individuum
durch „sein Volk“ ermöglicht.540 Dass differierende Gruppen sich zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, erfordere letztlich einen Integrationsprozess, dessen Ergebnis von den Beteiligten konsentiert werde. Der Konsens, der im Rahmen des Integrationsprozesses erarbeitet
werde, bedeute jedoch nicht notwendigerweise vollumfängliche Übereinstimmung.541
Die klassische, liberale Demokratie, die ihren Ursprung im 18. Jahrhundert findet542, besitzt
539
In den aus der Geschichte des Kolonialismus hervorgegangenen Geschichtsnationen Afrikas und Asiens werden auf Kosten der überlieferten ethnischen und kulturellen Vielfalt Einheitsstaatsbürger konstruiert. In der amtlichen nationalen Mythologie Indiens, Kenias und Tanzaniens, religiös-kulturell und ethnisch gemischte Staaten,
gibt es nur noch „den“ Inder (...). In vielen Staaten Afrikas werden Statistiken über Stammeszugehörigkeit als
Verschlusssache behandelt. Der fiktive Einheitsstaatsbürger in den neuen Geschichtsnationen Asiens und Afrikas ist ein Gebot der Staatsräson, um in multi-ethnischen Staaten den potentiellen Nationalismus der verschiedenen Gruppen unter Kontrolle zu halten. Vielen Geschichtsnationen ist es gelungen, eine relativ friedliche staatliche Koexistenz unterschiedlicher religiöser Gruppen zu erreichen. Diese Leistung ist aber mit besonders ausgeprägter Abgrenzung nach außen verbunden. So wird in der Schweiz zumindest teilweise durch Rotation verhindert, dass durch zu lange Ortsansässigkeit von Ausländern eine Überfremdung entsteht und Forderungen nach
Einbürgerungen erhoben werden. Der Geschichtsstaat Nigeria, ein Vielvölkerstaat, hat nach dem Zusammenbruch des Erdölbooms Hunderttausende von Gastarbeitern aus westafrikanischen Nachbarstaaten auf brutale Art
und Weise zwangsdeportiert, obwohl viele mit nigerianischen Stämmen verwandt waren; Details siehe Oberndörfer, ZAR 1989, 3.
540
Hoffmann, Das deutsche Volk und seine Feinde, Köln 1994, S. 200.
541
Dieth, in: Sahlfeld, Integration und Recht, München 2003, S. 11.
542
Oberndörfer, ZAR 1989, 3.
130
demgegenüber ein weltbürgerliches Wertfundament und leitet demgemäß die Bürgerrechte
aus den universal gültigen Menschenrechten ab. Eine solche Bauweise weist ebenfalls das
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland auf, das die gewährleistenden Rechte aus Art. 1
GG, der Würde des Menschen, und nicht allein aus der Würde „der Deutschen“ begründet,
wenngleich es auch Grundrechte gibt, die als sog. Deutschengrundrechte ausgestaltet sind.
2. Der deutsche ethnische Nationalismus
Unter den verschiedenen Grundtypen des Nationalismus543, dem Sprach- und Kulturnationalismus, dem religiösen Nationalismus, dem Geschichtsnationalismus und dem ethnischvölkischen Nationalismus ist der letztere der Beschränkteste. Er bildet den extremen
Gegentyp zur Idee der offenen Republik. Der ethnisch-völkische Nationalismus akzeptiert als
vollwertige Staatsbürger nur die Angehörigen des eigenen Volks. Die Zugehörigkeit zum
Staatsvolk wird durch Abstammung, durch das „richtige“ Blut einer „Rasse“ begründet, wodurch deutlich eine rassistische Komponente angelegt ist. Sein politisches Grundpostulat ist
die Einheit von Volk und politischer Nation.544 Er kann nicht geeignet sein, verschiedene Individuen zusammenzuführen, sondern kann nur abgrenzend tätig werden, denn für ihn müssen
Ethnie, Volk und Staat in Deckung gebracht werden. In politischen Gemeinschaften, die sich
primär als „Nationen“ verstehen, haben „fremde“ kulturelle Werte und Überlieferungen keinen Platz, denn als ausreichend legitim werden nur „nationale“ Kulturgüter betrachtet. Da die
Legitimität der Nation von der Reinheit ihrer kollektiven Kultur abhängt, muss sie von fremden Elementen gesäubert werden, so dass in der Ideologie kollektiver Nationalkulturen daher
eine Dynamik der kulturellen Selbsthomogenisierung eingebaut ist.545 Ein klassisches Umsetzungselement dieser Homogenisierung ist die erzwungene Assimilierung oder gar die „ethnische Säuberung“.546 Für diese Form der physischen Vernichtung gibt es in der Geschichte
eine Reihe von Beispielen.547
Nation steht damit für das Partikulare, mit dem sich Staaten voneinander abgrenzen. Republik
steht hingegen für das weltbürgerliche Fundament des modernen Verfassungsstaates und damit auch für universal gültige Menschenrechte, die nationenübergreifend Gültigkeit beanspru543
Zu den ideologischen Grundmustern des Nationalismus, vgl. Oberndörfer, Der Wahn des Nationalen - die
Alternative der offenen Republik, Freiburg 1994; auch allgemein: Wicker, Nationalismus, Multikulturalismus
und Ethnizität. Beiträge zur Deutung von sozialer und politischer Einbindung und Ausgrenzung,
Bern/Stuttgart/Wien 1998.
544
Die ideologisch-theoretischen Grundlagen des völkischen Nationalismus wurden im deutschen Idealismus
und der deutschen Romantik von Herder, Fichte und Schelling entwickelt und in der Folge zunächst in Deutschland, Skandinavien, Ost- und Südeuropa rezipiert. Er hat sich dann auch nach Asien ausgebreitet und findet sich
heute im türkischen, arabischen, hinduistischen Nationalismus; Details siehe Obenrdörfer, ZAR 1989, 3.
545
Oberndörfer, ZAR 1998, 3.
546
Eine Politik erzwungener Assimilierung wurde vom französischen Sprach- und Kulturnationalismus praktiziert. Sowohl die Sprache als auch die Überlieferungen der regionalen ethno-kulturellen Minderheiten Frankreichs wurden unterdrückt und verdrängt. Um französischer Staatsbürger zu werden, musste die französische
Sprache beherrscht werden und die französische Kultur übernommen werden.
547
z.B. die Vernichtung der armenischen Minderheit in Anatolien; die Genozide und Vertreibungen von Türken
und Griechen nach dem Ersten Weltkrieg; der Holocaust, der „artfremde“ Völker vernichtete; die Verfolgung
und Vertreibung deutscher Minderheiten in Ost- und Südeuropa sowie die ethnischen Säuberungen in BosnienHerzegowina, Oberdörfer ZAR 1998, 3.
131
chen.
3. Der republikanische Nationalismus, dessen Entstehungsgeschichte und der Charakter
der Republik
Tatsächlich überlagern sich aktuell aber vielfach republikanische und nationalstaatliche Verfassungsprinzipien. So bekennen sich heute alle Nationalstaaten (zumindest formell) durch
die Mitgliedschaft in der UNO zu den Menschenrechten, dem normativen Fundament der Republiken. Alle Staaten verstehen sich heute (noch) als Nationen. Sie haben sich daher alle die
Symbole des Nationalstaates, z.B. Flagge, Hymne, zu Eigen gemacht.548 Zugleich finden wir
in fast allen Staaten, im Gegensatz zu rein universalen Werten, zumindest in der Form einer
verbalen Anerkennung, Menschenrechte und Sonderrechte für die eigenen Staatsbürger. Für
die modernen Verfassungsstaaten ist der Gegensatz zwischen der Anerkennung allgemein
gültiger Menschenrechte und der Festschreibung von Sonderrechten für die eigenen Staatsbürger charakteristisch. Die einseitige Orientierung an partikularen nationalen Interessen oder
Werten charakterisiert hingegen den Nationalstaat549 , der im 19. Jahrhundert in einer Welt
noch relativ schwacher wirtschaftlicher Verflechtung entstand und geprägt war von geringer
räumlicher Mobilität und Kommunikation zwischen den Menschen als Gegengewicht zur
Monarchie. Durch die modernen Verkehrsmittel schrumpfen heute die räumlichen Distanzen
in immer deutlicherem Maße. Der Massentourismus und immer neue Flüchtlingswellen, um
nur einige Faktoren zu nennen, die für den sich in Zukunft eher noch verstärkenden Austausch von Menschen und Ideen ursächlich sind, machen die nationalen Grenzen allerdings
durchlässig. Die fortschreitenden Ausweitung und Verdichtung der weltwirtschaftlichen Verflechtungen sowie die großen globalen, die Staatsgrenzen übergreifenden ökologischen Probleme, machen die nationalen Souveränitätsvorstellungen immer unzeitgemäßer. Die Idee der
offenen Republik als politische Gemeinschaft für Menschen unterschiedlicher ethnischer
Herkunft und kultureller Überlieferungen war bislang eine ferne Utopie. Heute gewinnen sie
erstmals Gestalt. Die Orientierung an den Menschenrechten und ihrem Prinzip weltweiter
mitmenschlicher Solidarität steht für die Idee der Republik, die Orientierung an partikularen
nationalen Interessen oder Werten andererseits für die Idee der Nation. Die Republik hat ein
weltbürgerliches Wertefundament. Sie leitet die Rechte, die sie ihren Bürgern gewährt, aus
universal gültigen Rechten des Menschen ab, vgl. nochmals Art. 1 GG. Republiken sind wegen ihres weltbürgerlich normativen Fundaments in ihrer eigenen Politik zum Engagement für
den Schutz der Menschenrechte aufgerufen. Bürger einer solchen Republik können prinzipiell
alle Menschen werden, die sich zur republikanischen Verfassung bekennen. Republikanische
Verfassungen legitimieren sich durch die ständig neue Verwirklichung ihrer Verfassungsnormen. Im Unterschied zur weltbürgerlichen Republik legitimiert sich der Nationalstaat aus
partikularen, nationalen Überlieferungen. Er konstituiert sich durch die Abgrenzung von anderen Nationen und findet gerade in dieser Abgrenzung seine eigene Identität. Die Republik
erkennt prinzipiell alle Menschen ohne Ansehen ihrer Herkunft und Kultur als potentielle
548
549
Vgl. auch zu Homogenität und Nationalgefühl, Fisahn in: FS Schefold, S. 131.
Vgl. ausführlich Oberndörfer, ZAR 1989, 3.
132
Staatsbürger an. In der Nation hingegen können nur die Angehörigen des Staatsvolkes vollberechtigte Staatsbürger sein. Die Menschheit bildet für den Nationalismus keine Einheit, sondern wird vielmehr als ein Kosmos auf ewig miteinander rivalisierender Nationen gesehen.550
Unter Zugrundelegung dieser Untersuchungsergebnisse wird man sagen können, dass der
Rahmen der Republik am ehesten geeignet ist, die Reichweite der Menschenrechte möglichst
vollumfänglich zu erfassen. Auch wenn die Bundesrepublik als Nation formiert ist, besteht
dennoch eine weitreichende Weltoffenheit durch die entsprechenden weltoffenen Verfassungsvorgaben. Die Nationalismusidee als primäres Ordnungselement erscheint deswegen
nicht als aufgreifenswert, da dort immer wieder die Universalität der Menschenrechte gefährdet oder beschränkt wird.
4. Die Idee der „Kulturautonomie“551
Möglicherweise gibt es noch andere Formen des Zusammenlebens, die ebenfalls weitreichende Entfaltung ohne gegenseitige Behinderung garantieren. Die Menschenrechte, umrahmt von
der Republik, eröffnen eine umfassende Autonomie religiöser Gruppen und können daher,
wie oben bereits erläutert, auch andere Menschenrechte betreffen. Daher muss der Staat an
dieser Stelle intervenieren.
Man könnte aber weiter fragen, ob es im Falle des Multikulturalismus nicht als durchaus ausreichend erachtet werden kann, den unterschiedlichen Gruppen keine umfassende Autonomie
zu gewähren, sondern lediglich, im Rahmen einer übergeordneten Gemeinschaft, eine sog.
Kulturautonomie.
Dieser Gedanke wurde bereits 1866 von dem österreichischen Liberalen Adolph Fischhof
umrissen, einige Jahrzehnte später, 1902 und erneut 1918, von dem sozialistischen Denker
und Politiker Karl Renner im Detail entwickelt, 1923 und 1924 nochmals aufgegriffen von
Otto Bauer, einem anderen führenden Austromarxisten.552 Seine ideengeschichtliche Wirkung
war zunächst nur kurz. 1905 wurde es in Zürich vom russisch-jüdischen Bund und 1912 in
Wien von den Menschewiken unter dem Vorsitz Trotzkis diskutiert. Es ging ein in die jüdischen Vorschläge an die Versailler Konferenz zur Neuordnung Osteuropas. Gesetzesrang erhielt es in der kurzlebigen unabhängigen Ukraine von 1918 und in der Sprachenregelung Estlands während der Zwischenkriegszeit. In den dreißiger Jahren beeinflusste es die Debatte in
der zionistischen Bewegung über die Zukunft Palästinas. Danach verschwand es weitgehend
aus der politischen Debatte, teils aufgrund seiner Ablehnung durch Lenin, vor allem aber wegen der neuen Staatenordnung, die aus dem Willen der siegreichen Mächte resultierte.
Erst in den jüngsten Jahren der Infragestellung des „real existierenden Sozialismus“ entdeckte
550
Vgl. zur Arbeitsmarkt-Kampf-Situation: Oberndörfer, Die offene Republik, Freiburg 1991, S. 91.
Hanf, in: Fröschl/Mesner/Ra`anan, Staat und Nation in multi-ethnischen Gesellschaften, Wien 1991, S. 61.
552
Der Austromarxismus ist die von Otto Bauer nach Ende des Ersten Weltkrieges geprägte österreichische
Schule des Marxismus. Im Gegensatz zu den Lehren des Marxismus machte Bauer die Initiierung der Sozialen
Revolution und die Etablierung der Diktatur des Proletariats vom Erringen der absoluten Mehrheit im Rahmen
der real existierenden parlamentarischen Demokratie abhängig, vgl. Albers, Otto Bauer und der „dritte“ Weg.
Die Wiederentdeckung des Austromarxismus durch Linkssozialisten und Eurokommunisten, Frankfurt am Main
1979.
551
133
das westeuropäische Lager der Linken den Austromarxismus neu und mit ihm die Idee des
Personalprinzips.
Das Personalitätsprinzip ist für Renner ein alternativ zum Territorialprinzip konzipierter Mechanismus der Koexistenzsicherung in Vielvölkerstaaten. Das Interesse aller Volksgruppen
kann nach dieser These nur gesichert werden, wenn Nationen als Personenverbände statt als
Gebietsherrschaften konstituiert werden. Solche Gruppierungen sollen nach Renner völlige
Kulturautonomie genießen und in kulturellen Belangen gleichgestellt werden, d.h. vor Majorisierung der Mehrheit geschützt sein.
Vor Renner hatte bereits Adolph Fischhof diese Forderung gestellt. Er strebte ein
Nationalitätengesetz an, in welchem die Gleichberechtigung der Sprachen in Schule, Kirche,
Verwaltung, Justiz und Gesetzgebung so klar und unzweideutig normiert werden müsste, dass
die nationalen Minderheiten vor jedem Übergriff der Majoritäten völlig geschützt werden.
Um dies zu gewährleisten, sollen die gesetzgebenden Körperschaften zwar gemeinsam beraten, aber gesondert in nationalen Kurien abstimmen. Nur solche Gesetze sollen als angenommen betrachtet werden, für welche die Majorität in jeder Kurie gestimmt hat.
Dieser Vorschlag ist ein Rückgriff auf die itio in partes des Westfälischen Friedens, die von
1663 bis 1806 im immerwährenden Reichstag des Heiligen Römischen Reiches zu Regensburg mit Erfolg praktiziert wurde. Allerdings wurde nur siebzehn Mal in eineinhalb Jahrhunderten davon Gebrauch gemacht, da in der Regel bereits die schlichte Möglichkeit des Vetos
zu präventiven Kompromissen führte. Die Formel des Westfälischen Friedens regelt die Koexistenz zwischen den Konfessionen. Sie bezog sich jedoch nicht nur auf den status
confessionis betreffende, sondern auf alle Fragen, die eine Konfessionspartei für wichtig erachtete. Fischers Vorschlag hob auf die Koexistenzregelung zwischen sprachlich definierten
Nationen ab. Er sah das Vetosystem der Kurialvoten jedoch nur in Fragen von nationalem
Interesse vor, als solche bezeichnete er die Schul- und Sprachgesetzgebung.
Renner wiederum geht über das eigentliche Konzept des Vetorechtes hinaus. Er konzipierte
eine Kulturautonomie in radikaler Form, aber gleichzeitig beschränkt er diese Autonomie
strikt auf den, wenn auch weit definierten, Kulturbereich. Dem Staat nimmt er fast alle kulturpolitischen Zuständigkeiten. Ihm sollen nur formale und materielle Rahmenkompetenzen
verbleiben.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Personalitätsprinzip nach Renners Entwurf
Nationen nach dem Prinzip des freiwilligen Zusammenschlusses von Individuen ungeachtet
ihres Wohnorts konstituiert, sie mit exklusiven Kompetenzen auf dem Gebiet von Bildung,
Erziehung und Kultur, sowie mit eigenen legislativen, administrativen und exekutiven Institutionen für diesen Bereich ausstattet, gleichsam eine Kulturautonomie. Ziel seiner Vorschläge
ist es, durch die Gewährung von Kulturautonomie die Bereiche von Sprache, Kultur und Erziehung, gleichsam die wesentlichen Streitgegenstände, zwischen den Nationen verschwinden
zu lassen.
Fraglich erscheint hierbei, warum eine radikale Autonomie nur auf kulturelle Freiheiten bezogen werden sollte. Dies könnte wiederum auf eine verdeckte Diskriminierung bei anderen
Freiheiten hindeuten, deren Gleichberechtigung jedoch oberstes Prinzip sein sollte. Zudem
löst es die interkulturellen Probleme nicht, sondern verfährt nach einem Prinzip sozio134
kultureller Abschottung gegen externe Einflüsse, ohne dafür jedoch eine innerliche Rechtfertigung umreißen zu können. Im Ergebnis führt ein solches Zugeständnis wiederum nur zu
kleinen, auch politischen Gruppierungen, deren Koexistenz und Ausrichtung danach grundsätzlich geeignet ist, ähnliche Verhältnisse wie in der Weimarer Republik hervorzurufen, deren politische Unsicherheit und Instabilität stets Unmut innerhalb einer Gesellschaft hervorrufen kann. Es kann auch bereits deshalb nicht als Alternativkonzept Berücksichtigung finden,
da es an der umfassenden Achtung der einzelnen Individuen mangelt. Wenn ein Individuum
nur bei Kultur und gewissen Religionsfragen wahrgenommen wird, erscheint dies weder ausreichend noch umsetzbar in die Praxis.
5. Das Verhältnis von Nation und Europa, ein Europa-Ausblick und „amerikanische
Verhältnisse“
Fraglich ist nunmehr, wie steuerungspolitisch auf diese sämtlichen Ergebnisse einzugehen ist.
Im Geflecht regionaler, nationaler und übernationaler Bezüge, wie es in Europa zu finden ist,
zählt Multikulturalität heute zu den soziokulturellen Basiserfahrungen.553 Eingelagert in die
Lebenswelt (ausländischer Arbeitnehmer, Minoritäten, Touristen, etc.) ist sie insoweit längst
europäische Selbstverständlichkeit. Davon abgehoben kursiert Multikulturalität als abstrakte
ideologische Formel, die auf Entgrenzungen aller Art abzielt. Sie vermischt die Idylle potentieller interethnischer Nachbarschaft mit dem Ernstfall weltweiter Migration, schleichender
Unterschichtung und steigender sozialer Aggressivität. Dabei zeigt sich, wie vor allem das
Beispiel der USA sichtbar macht, dass hinter der Idylle nicht Harmonie, sonder latente, ethnische Ressentiments oder gar die Potentiale zu einem umfassenden antiwestlichen Zivilisationskonflikt stecken. Jede nähere soziologische Analyse der Zusammenhänge wird jedoch
darauf achten, monokausale Zuordnungen zu vermeiden.554 Sie wird vielmehr auf die Faktoren in Mehrebenenmodellen verknüpfen und zeigen, wie Nationen, Regionen, europäische
Mechanismen wechselweise, vielschichtig und vernetzt ineinander greifen. Es ergibt sich,
dass Nationalstaaten als oberstes politisches Ordnungsschema zwar ihr Monopol verlieren, als
wichtige untergeordnete soziale Steuerungsinstanz, z.B. für die Pflege des kulturellen Erbes,
aber erhalten bleiben. Multikulturalismus stellt demgegenüber, anders als es für Regionen gilt,
weniger einen Ordnungsfaktor als einen Faktor von Irritationen dar. Sie ist „Umwelt“ gleichsam höheren Grades, erzeugt im System Turbulenzen und weist bestimmte, im Einzelnen zu
ermittelnde, stabilitätskritische Grenzwerte auf. Die Entwicklungen, die im Gange sind, geben
der Nation auf Dauer aber veränderten, in der Reichweite zurückgenommenen Stellenwert,
und es wäre historisch wie politisch falsch, in diese Lage zurückzukehren und in Europa erneut auf die Ordnungslogik etwa der alten, politisch rechtlich ebenso exklusiven wie restriktiven, nationalstaatlichen Souveränität zurückzufallen. So sehr man inzwischen beobachten
kann, dass die Idee des Nationalen heute selbst Intellektuelle bewegt, die bisher anational,
wenn nicht antinational zu argumentieren pflegten, so sehr ist doch daran festzuhalten, dass
die großen politischen Aufgaben der Gegenwart längst nicht mehr nur auf „Nation“ oder
553
554
Vgl. Thym, ZAR 2006, 184 für Großbritannien; Papayannis, ZAR 2006, 399 für Griechenland.
Lipp, in: Estel/Mayer, Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften, Opladen 1994, S. 97.
135
„Wiederherstellung der Nation“ lauten können, sondern Europa heißen und die Schaffung
einer die Nationalitäten übergreifenden, größeren „Europäischen Staatenordnung“ bedeuten.
Die genannten Pole stehen im Verhältnis eines „Mehrebenensystems“ zueinander, sind ineinander verflochten und bauen komplexe Strukturen auf.555
Ähnlich wie der Einzelne den Anforderungen diverser „sozialer Rollen“, die er „spielt“, z.B.
als Berufstätiger, Vereinsmitglied oder Angehöriger einer Religionsgemeinschaft, teils punktgenau, teils variierend, kombinierend und ausgleichend entspricht, pendelt das Dasein auch in
Gesellschaften zwischen unterschiedlichen, wert- und normbesetzten kollektiven Bezugspunkten hin und her. „Europäer“ zu sein, schließt hier keineswegs aus, auch „Heimat“ vor Ort
zu haben, die Interessen der „Region“ zu vertreten oder bestimmte „nationale“ Belange zu
wahren; von Ebene zu Ebene finden, über Konflikte hinaus, vielmehr Verknüpfungen statt
und es kommt zu wechselnden handlungspraktischen Synthesen. Es herrschen durchaus strategische, institutionelle und funktionelle Schwerpunkte vor, ohne die das Zusammenleben der
Menschen in Europa auf Dauer nicht zu verbürgen ist, und diese Schwerpunkte liegen ersichtlich bisher im institutionellen Gefüge, in den Leitideen, in den regulativen Mechanismen von
„Nationen“. Dabei mögen es im Einzelnen diverse, sehr heterogene Gründe sein, die die Menschen des auslaufenden 20. Jahrhunderts bewegen, sich auf ihr „Volk“ zu berufen. Die deutsche Vereinigung und der Zerfall der kommunistischen Imperien, das „ethnic revival“ in den
Vereinigten Staaten und der Fundamentalismus der arabischen Länder, der Regionalismus in
Westeuropa und die Bürgerkriege in Afrika und Asien scheinen kaum etwas gemein zu haben.
Und doch drängt sich die Frage auf, ob hinter der Singularität der Erscheinungen nicht ein
allgemeines Muster liegen könnte. Lipp556 vertritt die These, dass ein derartiges Muster aus
faktischer, nicht normativer Sicht, existiert. Es existiere deshalb, weil die Völker, die Ethnien,
die Nationen selbst existieren, und es existiert aufgrund des Umstandes, ein Volk zu sein und
als Volk zu konkreter geschichtlicher Wirkung zu kommen. Wie aber kann es sein, dass dieser Faktor so lange unentdeckt bleiben konnte? Wer das Dasein auf die blassen kategorialen
Eckwerte, des „Individuums“, der „Gesellschaft“ reduzierte, wer „Volk“, „Nation“ oder
„Staat“ ideologisch verdrängte und auf Abstraktionen wie „Systeme“ oder „Strukturen“ setzte, habe an den Realitäten vorbei gesehen. Zu konstatieren sei des Weiteren die falsche, weil
ideologische Verallgemeinerung negativer oder als negativ unterstellter Teilmerkmale, Darstellung von Nationen (z.B. die der besonderen ethnischen Bindung, die der Begrenztheit des
Territorialprinzips, die der Relativität nationaler Interessen, die Darstellung in Konflikten und
deren Wertbezüge), soweit sie darauf hinausliefe, sie gegen ein mögliches positives Ganzes,
gegen andere Nationen in ihrer komplexen sozialen, kulturellen und existenziellen Gestalt,
hypokritisch auszuspielen. So werde das Phänomen der Nation am Zerrbild eines als künstlich, konstruiert historisch zufällig erwiesenen, bloßen Bluts- und Verwandschaftsfaktor zerredet, als wäre dieser Faktor allein ausschlaggebend. Habermas löste dies auf im Säurebad
555
Parallel dazu ist die Integrationspolitik jedes Landes aufgrund von Geschichte, Interessen und institutionellen
Strukturen eigene Wege gegangen. So entstanden unterschiedliche Integrationsmodelle. Das republikanische
Modell in Frankreich setzt auf den raschen Zugang zur Staatsangehörigkeit und auf kulturelle Assimilation. Das
kanadische Modell feiert die ethnische und kulturelle Vielfalt der Bevölkerung. Das US-amerikanische Modell
ist der Idee nach gegenüber ethnischen Differenzen blind, fordert aber von allen Einwanderern ein eindeutiges
Bekenntnis zur neuen Heimat, Laschet, ZAR 2007, 1.
556
Lipp, in: Estel/Mayer, Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften, Opladen 1994, S. 95.
136
einer stereotyp gegen Deutschland gewandten, generalisierten Ausschwitz-Unterstellung557,
so als ob alles, was die Nation unternehme, in neuem Morden enden würde. Zu beachten ist
natürlich auch auf der anderen Seite, dass man nicht den Fehler machen dürfe, Nationen zu
hypostatisieren und als höchste, exklusive Instanzen „sozialer Steuerung“ selbst anzusetzen.
Nationen unterliegen gesellschaftlichem Wandel; sie haben nicht nur Eigensubstanz, sondern
werden, im Grenzfall, geschichtlich auch erfunden. Ihre Leistungen für Mensch und Gesellschaft schwanken; ihr Stellenwert im Gesamtsystem bleibe aber aktuell. Zwar spreche vieles
dafür, Nationen im Kräftefeld von Regionen, Multikulturalismus und Europa den funktionalen Primat zuzusprechen, den Vorrang im Sinne der zugleich „lebensweltlichen“ wie „institutionellen“ Verankerung des Zusammenhangs. Im Einzelnen wird man die Dominanzen, Spannungen, Widersprüche, die die Faktoren umgreifen, aber durchaus überprüfen müssen. Dies
gilt ganz besonders für das Verhältnis von „Nation“ und „Europa“.
Europa betreffend stellen sich deshalb zwei zentrale Fragen: Als was genau versteht sich Europa in kulturgeschichtlicher, soziologischer und politischer Sicht? Zu welchem Europa wird
es in Zukunft kommen? Zu einem Europa, das selbst nationalstaatlich im Sinne der
Nationenbildung der Moderne organisiert ist (Europa als „Bundesstaat“ bzw. „Europäische
Union“)? Oder aber zu einem Europa der Vaterländer, einem Europa, dessen Basiseinheiten
und autonome Träger die klassischen europäischen Nationen selber bleiben (Europa als Staatenbund)? Oder aber zu einem historisch indifferenten, synkretistisch gewürfelten „multikulturellen Europa“, das nationale wie auch regionale kulturelle Identitäten, einschließlich zugewanderter Minderheitenkulturen, grundsätzlich einander gleichgestellt (Europa gleichsam als
„Ethno- Ghetto-Konglomerat“)?558
Ausgangspunkt für diese Frage ist die evidente Beobachtung, dass Leben in Europa nicht monodimensional, etwa nur nationalstaatlich organisiert ist, sondern auf mehreren Ebenen verläuft, da bestimmte sozialorganisatorische Schwerpunkt existieren, wie z.B. Nationalstaaten,
die das Gesamtsystem tragen. Dass dieser Gedanke immer noch existent ist, sieht man bereits
an den gescheiterten Referenden zur Europäischen Verfassung. Nach wie vor bedeutet Europäer zu sein oder zu werden, die Fähigkeit zu besitzen, auch in multikulturellen Dimensionen
zu denken. Wer sich aufs Nationale, Nur-Nationale, beschränkt, entwickelt zwangsläufig
Fremdenangst, vielleicht gar Fremdenhass und bleibt unfähig, über den eigenen Mikrokosmos
hinauszuschauen. Trotz alledem bedeutet Multikulturalität im Sinne gewinnbringender kultureller Verpflichtungen, den Bogen nicht zu überspannen. Speziell für Deutschland lässt sich
sagen, dass schon die bloße Aufgabe, mit dem nächsten Nachbarn selbst, dem zweiten kulturellen Ich559, den Ostdeutschen und ihrer Gesellschaft, auszukommen, eine Anforderung hoher Größenordnung darstellt. Hier komme ich wieder auf die am Anfang der Arbeit angesprochene Tatsache, dass auch das rational durchdachteste Konzept eines Zusammenlebens immer
die Besonderheiten der Menschen, der jeweiligen Bevölkerung nicht aus dem Auge verlieren
darf, die auch noch so vernünftige Vorschläge u.U. aus psychodynamischen Gründen ablehnt.
Ganz ähnlich ist das mit den Europäern: Die Aufgabe muss vor Ort europäisch bewältigt werden und man kann ihr nicht ausweichen, indem man abstellt auf ein rein äußerliches perfektes,
557
Lipp, in: Estel/Mayer, Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften, Opladen 1994, S. 95.
Details bei Lipp, in: Estel/Mayer, Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften, Opladen 1994, S. 95.
559
Vgl. zum Identitätsbildungsprozess von Ich und Anderen auch Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Main, 1982, S. 142.
558
137
multikulturell Imaginäres. Europa weist zunächst ganz bestimmte, kulturgeschichtlichgeistige Konturen auf: Freiheit, Rationalität, Selbstverwaltung und Demokratie; Individualismus und Personalität; Konkurrenz und Kritik, Reflexivität und Fähigkeit zu Renaissancen, zur
Reform, zur Erneuerung.560 Soziologisch gesehen haben diese Eigenschaften das langfristige
Wirken bestimmter, für Europa typischer Mechanismen der „sozialen Differenzierung“ zur
Voraussetzung: so die Mechanismen der Differenzierung von weltlicher und geistlicher
Macht, d.h. historisch: ursprünglich von Kaiser und Papst; Mechanismen der Differenzierung
von Feudalherrschaft und genossenschaftlicher Selbstverwaltung, d.h. historisch: der Herausbildung der europäischen Stadt; und ferner die Entstehung von Märkten, Fachverwaltungen
von Recht und Wissenschaft, von parlamentarischen Körperschaften. In politisch-praktischer
Sicht ergibt sich heute die Alternative, ob ein vereinigtes Europa aus einem Guss, gleichsam
als „Supernation“ zu bilden sei, mit gestärktem Parlament, einer Länderkammer und einer
Zentralregierung bzw. dem Europäischen Rat, der vermehrte, bisher national verfasste, politische Funktionen, bis hin zur Verteidigung und Außenpolitik, an sich zieht oder ob alle entscheidenden souveränen Rechte bei den bisherigen europäischen Nationalstaaten verbleiben
sollten.
Natürlich zeigt sich sofort, dass Fragen, wie sie hier angeschnitten werden, nicht rein theoretisch gelöst werden können. Problematisch zeigt sich vor allem der Umstand, dass Europa
heute eine sehr komplexe Größe geworden ist. Zum EG-Europa, das Spannungen von Nord
nach Süd, schon in sich aufweist, sind Mittel- und Osteuropa getreten, beide mit sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Potentialen, die am Ende nur abgestuft, mit sehr unterschiedlichen Integrationsgeschwindigkeiten, in ein übergreifendes System
zu bringen wären. Und vielleicht wichtiger noch die Barriere, dass ein supranationales, noch
zu schaffendes Europa, das zwangsläufig unter chronischer politischer Aufgabenüberlastung
stehen müsste, zunehmenden Schwierigkeiten der Legitimitäts- und Konsensbeschaffung ausgesetzt wäre.
In Deutschland hat man die Erfahrung, dass man mit bislang fremden ethno-kulturellen Gruppen zusammenlebt, am Beispiel von Gastarbeitern schon mindestens seit dreißig Jahren zusammenwirtschaftet und die Erfahrung gemacht hat, dass man Millionen Fremde im Lande
aufnehmen und integrieren konnte. Eine andere, nicht weniger wichtige Quelle der gegenwärtigen, längst praktizierten, realen europäischen Multikulturalität ist der Tourismus, jener auf
dem Austausch von Kulturgütern, Kulturtechniken, Kultursymbolen beruhender riesiger Wirtschaftszweig, ohne den ein modernes Leben gar nicht mehr denkbar wäre; Schließlich darf
auch die Verbreitung der Bildwelt des Multikulturalismus nicht verkannt werden: Die Massenmedien, besonders das Fernsehen, haben die Welt bekanntlich zum Dorf gemacht, in dem
jeder alles möglichst hautnah erlebt und sie haben auch auf diese Weise dazu beigetragen,
obsolete provinzialistische oder nationalistische Handlungsschemata aufzulösen.
Immer wieder werden dabei auch Vergleiche zu den USA gezogen, die gleichsam ein Land
von Einwanderern sind. Kann man von den Amerikanern noch etwas über Zuwanderung lernen? Oder passt deren Konzept nur in die amerikanischen Verhältnisse?
Die USA befinden sich gegenwärtig inmitten der zweiten großen Einwanderungsbewegung
560
Vgl. auch Kluth, ZAR 2007, 20.
138
ihrer Geschichte. Im Laufe der 80er Jahre kamen zwischen acht und neun Millionen Immigranten ins Land. In den 70er Jahren lag die Zahl noch um die Hälfte niedriger und in keiner
Dekade seit dem Ende des Ersten Weltkrieges war sie auch nur annähernd so hoch gewesen.
Trotz zwischenzeitlich nachlassenden Zahlen hat sich aktuell wieder ein Anstieg von Immigrantenzahlen entwickelt.561 Während der ersten 50 Jahre amerikanischer Geschichte verlief
die Einwanderung in gemäßigten Dimensionen. Seit 1820 gab es offizielle Aufzeichnungen
über die Einwanderung in die USA und erst in den Jahren ab 1840 verstärkte sich der
Einwandererstrom. Von 1840 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges kamen über 50 Mio.
Menschen in die USA.562 Die erhebliche Zunahme wurde in der amerikanischen Öffentlichkeit als eine objektive Veränderung wahrgenommen, die Unbehagen auslöst, in einer Zeit, da
in den USA der Nativismus neu erwacht und sich ein Rassedenken verbreitete. Es hatte zwar
zuvor schon einwanderungsfeindliche Strömungen563 gegeben, allerdings wurden der Patriotismus der damaligen Neuankömmlinge und ihre letztendliche Eingliederung in das nationale
Leben nicht grundsätzlich in Zweifel gezogen. Die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung
war bisher überzeugt gewesen, dass sich der Wert der Nation durch die Aufnahme neuer
Gruppen erhöhte. Zunehmend wurde aber in den neuen Einwanderern sowohl ein Symptom
als auch eine Ursache für die zunehmenden sozialen Schwierigkeiten gesehen. Die ungewöhnlich hohen Einwanderungsströme erachtete man, quer durch alle sozialen Schichten, als
Bedrohung seines eigenen Wohlergehens. Die amerikanische Nationalität sollte neu definiert
werden, eine restriktivere Immigrationspolitik wurde angestrebt.564 Deshalb wurde schließlich
ein Analphabetentest favorisiert, der im Jahre 1917 in Form des Analphabetengesetzes verabschiedet wurde. Vordergründig diente der Test zur Überprüfung der individuellen Fähigkeiten
des Lesens und Schreibens; tatsächlich diente er als Mittel der Reduzierung der new immigration.565 Man beklagte die fehlende Bildung der neuen Einwanderer, die als Ursache für ihre
schlechten Arbeitsbedingungen gesehen wurde. Dies wiederum war die Erklärung für den
Kriminalitätsanstieg und den fehlenden Willen zur Amerikanisierung. Man beobachte kritisch
ihr Festhalten an den kulturellen und religiösen Traditionen ihrer Heimatländer. Aufkommende Rassetheorien verstärkten das Bestreben der Restriktionisten, soziale Missstände zu beheben, die Slawen, Juden, Menschen aus dem Mittelmeerraum und Asiaten angeblich verursachten.
1921 wurde dann ein Gesetz zur zahlenmäßigen Beschränkung verabschiedet. Diese Quotenregelung legte erstmalig in der Einwanderungsgeschichte der USA gesetzlich fest:566
- Die Notwendigkeit der Einwanderungsbeschränkung.
561
Ebenso in Deutschland, vgl. http://www.migazin.de/2013/11/27/2013-zuwanderung-deutschland-prozent/
Details bei Knight/Kowalsky, Deutschland nur den Deutschen?, Erlangen 1992, S. 109.
563
Wie etwa während der Know-Nothing-Bewegung in den 1840er und 1850er Jahren, Knight/Kowalsky,
Deutschland nur den Deutschen?, Erlangen 1992, S. 109.
564
Die erste entscheidende Kursänderung betraf die chinesischen Arbeitskräfte beim Ausbau des Eisenbahnnetzes. Sie nähmen den Weißen die Beschäftigungsmöglichkeiten. Ähnliche Argumente wurden später gegen die
new immigrants vorgebracht. Sie seien unfähig, sich in eine angelsächsische Kultur einzugliedern, Details bei
Knight/Kowalsky, Deutschland nur den Deutschen?, Erlangen 1992, S. 109.
565
Bisher hatte sich die Gesetzgebung darauf beschränkt, insbesondere eine Art Kontrollfunktion über besondere
Personengruppen auszuüben, z.B. Personen, die gefährliche/ansteckende Krankheiten hatten, Personen mit kriminellem Hintergrund, Anarchisten oder moralisch verwerfliche Personen, wie Prostituierte.
566
Knight/Kowalsky, Deutschland nur den Deutschen?, Erlangen 1992, S. 109.
562
139
- Das Auswahlverfahren nach nationaler Herkunft.
- Die Bevorzugung der Einwanderer aus Ländern der westlichen Hemisphäre.
1924 wurde das Quotengesetz verschärft, da es nach mehrheitlicher Auffassung der Mitglieder des Kongresses zu liberal war.
Die Zahlenangaben der Einwanderungsbehörden zeigen, dass die intendierte Reduzierung der
Einwanderer mäßigen Erfolg hatte. Nun blieben die Einwanderungszahlen aus Großbritannien, Irland und Deutschland unverändert oder erhöhten sich, die Einwanderungsrate aus Kanada stieg erheblich. Deswegen gab es auch Forderungen einer Höchstgrenze für diese Einwanderer bis hin zu einem totalen Einwanderungsstopp. Daraufhin gab es eine Bestimmung, die
Immigranten das Recht auf ein Visum verweigerte, sofern sie vermutlich zur Last der öffentlichen Wohlfahrt werden könnten. Erst im Jahre 1965 gab es eine neue Phase der Immigrationspolitik. Diese beendete die bis dahin geltende Quotenregelung, die einseitig privilegiert
hatte. Das Gesetz hob die Bevorzugung der Einwanderer aus dem Westen auf und ersetzte die
Hemisphäreneinteilung durch eine Gesamtquote.
Von der real praktizierten, gegenwärtigen europäischen Multikulturalität zu unterscheiden ist
dabei das ebenfalls aus den USA stammende, überzogene ideologische Postulat des
Multikulturalismus. Es fordert die verschiedensten, in einem gegebenen soziokulturellen
Raum, einem Territorium anzutreffenden und aufeinander treffenden ethno-kulturellen
(sprachlichen, auch religiösen) Gruppen maßstabslos, ohne Ausrichtung an einem größeren,
übergeordneten kulturellen Ganzen, „gleichgültig“ einander gleichzustellen. Das alte amerikanische Modell der schnellen Integration aller Neuankömmlinge in die Strukturen der amerikanischen Demokratie zeigt eben keine Integration, sondern Abgrenzung. Verlangt wurde
im Grunde die Unterwerfung aller Zuwanderer unter das amerikanische Lebensmodell.567
Auf längere Sicht wird auf diese Weise eine Gegenreaktion provoziert. Gegen die (langfristige) Tragfähigkeit solcher Modelle spricht zunächst die drastische historische Erfahrung, dass
multikulturelle Systeme wie Österreich-Ungarn, Südafrika, der Balkan oder der Nahe Osten
oder auch ganz aktuell der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland, politisch bisher gescheitert sind, unabhängig davon, welche Mittel sie einsetzten. Gegen die Machbarkeit praktikabler multikultureller Lösungen spricht aber auch die vorsichtige Prognose, dass
Multikulturalismus, der über Asylanten- und Migrationsströme aller Art gleichsam heute frei
Haus geliefert wird, mittelfristig zu neuer sozialer Armut zu Unterschichtungen und neuen
Klassengegensätzen, also zu drohenden sozialen Konflikten und hohen Stabilitätsrisiken führen könnte. Im Maße, in dem die Systeme sich ethnisch aufkörnen, wachsen die zentripetalen
Kräfte und sie gehen einher mit steigender, quer über die Gruppen laufender sozialer Aggressivität. Dies gilt dokumentiert z.B. für Paris: Die Vorstädte von Paris, Lyon und Marseille
erlebten in den letzten Jahren Revolten, die sich von den Rassenunruhen in den Vereinigten
Staaten nur wenig unterschieden. Die Polizei meidet bestimmte Stadtteile der „Banlieue“. Die
Einheimischen ziehen aus den verrufenen „Cités“ aus, die Immigrés und ihre Nachkommen
bleiben unter sich. Wie die Großfamilie bietet ihnen die Volksgruppe Rückhalt, schränkt zu567
Vgl. ausführlich zum gescheiterten Modell des Melting Pot, Cohn-Bendit/Schmid, Heimat Babylon, Hamburg
1993, S. 316ff.
140
gleich aber auch die Entscheidungsfreiheit und den Aufstieg des Einzelnen ein. Zwei Entwicklungen tragen zur Abschließung bei: der militante Islam, aus dem junge Nordafrikaner
der zweiten Generation ein neuartiges Selbstbewusstsein ziehen und die Polygamie unter den
schwarzafrikanischen Einwanderern.568 Die Lage nimmt vorzivilisatorische, ja vielleicht
stammeskulturelle Züge an.
Zieht man nun ein Resümee, so lässt sich für den Multikulturalismus auch theoretisch, ordnungs- und institutionentheoretisch, kaum ein Argument finden, das Praktikabilität suggerierte. Mit dem formalen Appell an die Menschenrechte allein und der Geste der Menschheitsverbrüderung lässt sich den Problemen, die nicht nur eine moralische, sondern auch eine sozialökonomische Seite haben, die für Mensch und Gesellschaft mit gravierenden Zwängen,
Friktionen und Belastungen verbunden ist, jedenfalls nicht beikommen. Auch der eilfertige
Vorwurf, wer Einwanderung in Frage stelle und Fremde nicht herzlichst begrüße, sei
„Rechtsextremer“ kann zur Diskussion nichts beitragen. Kriminalität, Gewaltausbrüche und
jener vielfach drohender mafiöse Bandenkampf, der mit Ethno-Ghetto-Konglomeration einhergeht, werden auf diese Weise nicht verhindert, sondern eher verstärkt.
Multikulturalismus unter ideologischem Aspekt stellt übrigens nichts anderes dar, als eine
kaum verhüllte, agitatorisch-aggressive kulturpolitische Streitformel: „Kulturen aller Länder
vereinigt euch gegen die Einheit.“569 Dies würde eine Art Klassenkampf bedeuten und hinterlässt den Eindruck eines Weltbürgerkrieges. Multikulturalismus, wie er sich dort heute entwickelt hat, ist nicht schlicht Pluralismus, er gleicht ihm allenfalls äußerlich. Bleibt Pluralismus
an Einheit, übergeordneter kultureller Einheit, werthaft grundsätzlich ausgerichtet, zieht
Multikulturalismus demgegenüber gegen Einheit zu Felde und bricht den kulturellen Konsens. Zumindest für die Vereinigten Staaten, die Vielfalt von Anfang an begrüßten und als
Basiswert nicht nur ihrer Kultur, sondern von Demokratie und als Ausdruck von Freiheit verstanden, ist inzwischen offensichtlich geworden, dass Multikulturalismus weniger das Nebenund Miteinander, als das Gegeneinander der Kulturen bewirkt. In Absage an die alte liberale
Hoffnung, die Neue Welt fungiere als „Schmelztiegel“, sog. melting-pot, der quer durch die
Einwandererkulturen hindurch eine niveauvolle, fortschrittlichere, einheitliche westliche Kultur vermittele, betreibt der gegenwärtige amerikanische Multikulturalismus den Aufstand gegen den Westen, die Demontage der klassischen kulturellen Herkunft von Europa, die Trockenlegung traditioneller okzidentaler Bildungswerte, Verhaltensstile und Rationalitätskriterien. Namhafte amerikanische Intellektuelle haben den Zusammenhang inzwischen registriert
und sie reagieren bestürzt darauf.570
Es bleibt abzuwarten, wie sich die amerikanische Entwicklung fortsetzt. Deutlich geworden
ist allerdings, dass das Einwanderungskonzept der USA aufgrund der langfristigen Ablehnung
der Betroffenen hinsichtlich des Einwanderungssystems der Assimilation (dazu gleich noch
genauer) für die europäische Debatte keine echte Hilfe leisten kann.
568
Lipp, in: Estel/Mayer, Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften, Opladen 1994, S. 95.
Lipp, in: Estel/Mayer, Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften, Opladen 1994, S. 95.
570
Lipp, in: Estel/Mayer, Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften, Opladen 1994, S. 95.
569
141
VII.
Verfassungspatriotismus als faktische Verfassungsvoraussetzung
1. Die Verfassung als Grundlage staatlicher Einheit
Neben der Garantie der Menschenrechte müssen also weitere Verfassungsvorgaben wie Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat existieren, die eine möglichst weitreichende Freiheit
garantieren und sichern können, aber gleichzeitig auch bestimmte Werte verbindlich festlegen, die von jedem zu achten sind. Diesen Rahmen kann die Verfassung selbst bieten. Bekannt geworden ist diese Idee vor allem durch die weitreichende Umschreibung des sog.
„Verfassungspatriotismus“.
Unter diesem Begriff versteht man die Identifikation des Bürgers mit den Grundwerten, Institutionen und Verfahren der republikanischen Grundordnung und Verfassung und die aktive
Staatsbürgerrolle des Bürgers.571 Verfassungspatriotismus antwortet auf die staatstheoretische
Grundfrage schlechthin, was ein politisches Gemeinwesen im Innersten zusammenhält.572 Der
Staat wird in seiner politischen Substanz also getragen von seiner rechtlichen Grundordnung.
Vermag aber eine Verfassung allein staatliche Einheit herzustellen, zu wahren und zu stabilisieren? Diesem Gedanken liegt eigentlich eine Dichotomie zugrunde, die Teilung der Welt in
das Eigene und das Fremde. Der Gegensatz zwischen aufgeklärtem Universalismus, der aber
die eigene Kulturform naiv für allgemein gültig setzt und dem romantischen Partikularismus,
der zu ebenso naiven Selbstwertverabsolutierung führt, ist bis heute noch nicht ausgetragen.573 Das rührt nicht zuletzt daher, dass Kultur an sich ein hochkomplexes Objekt ist.
Carl Schmitt hatte dies noch ganz anders gesehen. Nach ihm war die Verfassung eine „Entscheidung über Form und Inhalt der politischen Einheit“.574 Die politische Einheit war für ihn
vorgegeben, die Verfassung brauchte sie nur „in Form“ zu bringen. Das hatte einen historischen Hintergrund: Denn gerade auf die Vorstellung einer vorpolitischen Einheit des Volkes
konnte in Deutschland niemand mehr zurückgreifen. Die Idee des Nationalstaates war in
Deutschland absolut überkommen. Nach der finalen Katastrophe des deutschen Nationalstaates war die Idee nationaler Einheit und eines auf das Staatsvolk gründenden Nationalstaates
weithin tabuisiert. Zudem stand die nach dem Krieg nachfolgendende Teilung Deutschlands
einer übergreifend nationalen Identitätsbildung der Deutschen entgegen. Aus diesem Grund
waren die Voraussetzungen für eine Identifikation der Bürger mit ihrer Verfassung so günstig
wie nie zu vor und entstand nicht im Umfeld aufgeregter politischer Debatten, sondern unter
dem Schock der größten Katastrophe Deutschlands. Die Legitimität der politischen Macht
sollte nicht mehr allein auf dem geregelten Mehrheitserwerb beruhen, sondern auf der Evi571
Eine aktive Staatsbürgerrolle ergibt sich für Habermas aus der Volkssouveränität als demokratische Selbstgesetzgebung. Eine solche Staatsbürgernation ist durch die „Praxis der Bürger“ und nicht durch ethnisch-kulturelle
Gemeinsamkeiten zusammengehalten, Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992.
572
Depenheuer, in: Papalekas, Nationale Identität im kulturellen Spannungsfeld, Wien 1995, S. 43; Häberle,
Verfassung als öffentlicher Prozess, Berlin 1998; Zur Verfassung als Programm der Integration: Smend, Staatsrechtlichen Abhandlungen, Berlin 1994; Behrmann/Schiele, Verfassungspatriotismus als Ziel politischer Bildung?, Schwalbach 1993; Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Bern 1945;
Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat, Bonn 1991; Kluxen-Pyta, ZfP 1990, 117.
573
Stagl, in: Papalekas, Nationale Identität im kulturellen Spannungsfeld, Wien 1995, S. 15.
574
Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1928, S. 20.
142
denz bestimmter Politikinhalte, wie Menschenwürde, Volkssouveränität, Gewaltenteilung,
Gesetzesmäßigkeit der Regierung, etc., kurz der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“.575 Das Bundesverfassungsgericht sagt dazu: „Diese Grundwerte bilden die freiheitliche demokratische Grundordnung, die das Grundgesetz innerhalb der staatlichen Gesamtordnung, der verfassungsmäßigen Ordnung, als fundamental ansieht. Dieser Grundordnung liegt
letztlich nach der im Grundgesetz getroffenen verfassungspolitischen Entscheidung die Vorstellung zugrunde, dass der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen
Wert besitzt und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind.
Daher ist die Grundordnung eine wertgebundene Ordnung. Sie ist das Gegenteil des totalen
Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit
ablehnt.“
Die Beschränkung auf das Notwendige führte also zu einer juristischen Nüchternheit ohne
jegliches Pathos. Unter der Herrschaft der Verfassung entfaltete sich bereits in der Vergangenheit ein wirtschaftlich prosperierendes Staatswesen und die Deutschen erlernten die Demokratie. Das Grundgesetz war Grundlage und Gegenstand politischer Identitätsfindung, wodurch politische Integration durch Verfassung erfolgreich wurde. Es kann auch dahinstehen,
ob dieser politische Erfolg der Verfassung Westdeutschlands zu danken war oder dem Zustand des Gemeinwesens im Allgemeinen.
Auf der anderen Seite führten im Laufe der Zeit internationale Verpflichtungen, wirtschaftliche Verflechtung und neu einsetzende Wanderungsbewegungen zu einem fortschreitenden
Prozess sozialer Differenzierung und Individualisierung unter der Herrschaft der Verfassung.
Eine oft formulierte Voraussetzung für die Integration von Immigranten ist daher die Forderung, dass jene sich an der vom Grundgesetz vorgegebenen Prinzipienordnung orientieren und
diese auch als für sich bindend erachten sollen.576 Fraglich ist allerdings, wie dies auszusehen
hat. Diese Art eines Verfassungspatriotismus577 sucht politische Einheit nicht national, sondern rational, durch Identifikation der Bürger mit ihrer Verfassung zu gründen.578 Nicht das
Volk als eine ethnisch-kulturell relativ homogene vorpolitische Schicksalsgemeinschaft, könne ein modernes, freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen auf Dauer zusammenhalten, sondern nur die politische Praxis der Bürger, die ihre in der Verfassung verbürgte Teilnahmeund Kommunikationsrechte aktiv ausübten.579 Die Integration durch Verfassungsrecht zielt im
575
Details bei Preuß, Politische Verantwortung und Bürgerloyalität, Frankfurt am Main 1984.
Dass der Verfassungsstaat im Nachkriegs-Deutschland eine Erfolgsgeschichte wurde, verstand sich keineswegs von selbst. Mit seinen früheren Verfassungen hatte das Land wenig Glück gehabt. Auch das Grundgesetz
1948/1949 war nicht unbedingt eine Herzensangelegenheit der Deutschen. Seine Ausarbeitung ging auf alliierten
Druck zurück. Die Beratungen fanden abseits des öffentlichen Interesses statt. Nach der Verabschiedung überwog in der Fachwelt Kritik. Die Bundesrepublik hat es sich aber in einer Phase wachsenden Wohlstands, fester
Einbindung in die westliche Allianz und zunehmender Modernisierung und Weltläufigkeit zu eigen gemacht und
dem Grundgesetz schließlich eine hohe Achtung entgegengebracht, die in dem Wort vom „Verfassungspatriotismus“ Ausdruck fand, Grimm, in: Brunkhorst/Niesen, Das Recht der Republik, Frankfurt am Main 1999, S.
305.
577
Dolf Sternberger schuf 1979 den Begriff des Verfassungspatriotismus als „Nationenersatz“, den Jürgen Habermas mit seiner Identitätstheorie verband und diskurslenkend in die öffentliche Debatte stellte; zusammenfassend Sternberger, Verfassungspatriotismus, Frankfurt am Main 1990, S. 177ff.; Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt am Main 1987, S. 173ff.
578
Depenheuer, DÖV 1995, 854.
579
Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1970, S. 20ff; so auch Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin 1994,
S. 485.
576
143
Ergebnis auf die Verknüpfung des Verfassungsrechts mit Kultur, Politik, Lebenseinstellungen
und Mentalitäten.580 Offene Gesellschaften müssen ohne substanzielle Mitte, ohne einen eindeutig definierbaren ethnischen, moralischen, kulturellen oder religiösen Identitätskern auskommen. Das Vertrauen auf die Steuerbarkeit der Gesellschaft von einem Zentrum aus
schwindet.581 Befreit man nämlich das gemeinsame Zusammenleben von jeglichen kulturellen
bzw. religiösen Zusätzen und einigt man sich auf die Wahrung der Mindestgemeinsamkeiten,
so sind dies die in der Verfassung verbürgten Menschenrechte und deren Sicherungselemente
der Demokratie und Republik.
2.
Die Verfassung als Basis einer Gesellschaftsordnung und als ethnischer Grundkonsens582
Sämtliche okzidentale Verfassungen sind insgesamt um die liberalen Gehalte Freiheit, Würde
und Demokratie zentriert, daher sind sie vom Grunde her universal gerecht und geboten. Der
Kern besteht in den Menschenrechten und der Freiheit, deren Symbiose eine auf Dauer haltbare Gerechtigkeit bieten kann.
Der klassisch-liberale Freiheitsbegriff garantiert zwar, wie mehrfach betont, grundsätzlich nur
Zwangsabwesenheit, doch die effektive Ausübung eines Freiheitsrechts kann nicht ohne gewisse äußere Rahmenbedingungen wahrgenommen werden. Sollten in der Bundesrepublik
unsichere Verhältnisse herrschen, kann der Einzelne seine Freiheitsrechte nicht in dem Maße
wahrnehmen und es ergäbe sich eher eine Freiheitsbeschränkung als eine weitestgehende Autonomie. Es wird demnach deutlich, dass sich die Aufgabe des Staates nicht nur in bloßer
Zwangsabwesenheit gänzlich erschöpft, sondern an den Stellen regelnd tätig werden muss, in
der anderenfalls eine Freiheitseinbuße erlitten werden würde.
Obwohl das Grundgesetz also einem ständigen Wandel unterworfen ist, hat es aber auch eine
gewisse Stabilitätsaufgabe zu leisten und kann so der Gesellschaft und seinen Bürgern eine
übergeordnete Prinzipienordnung vorgeben.
Das Ziel einer Verfassungsordnung besteht in der Schlichtung interkultureller Konflikte und
in der Integration fremder Kulturen in das Gemeinwesen, sog. Herstellung eines interkulturellen Minimums584, dessen inhaltlicher Bestandteil in der Achtung der Menschenwürde besteht
und dessen prozeduraler Bestandteil die Wahrung der gewaltenteiligen und demokratischen
Vorgaben umfasst. Verhindert werden muss letztlich eine Segregation der im Staate zusammenlebenden Gruppen unter dem Vorwand der Errichtung einer Multikultur, denn in einem
liberalen Staat genießt jeder die gegenseitige Achtung des anderen und diese Achtung muss
gerade dem Individuum gelten. Das Grundgesetz toleriert also eine multikulturelle Gesellschaft und deckt den rechtlichen Rahmen ab, solange sich alle Mitglieder an die demokrati580
Münch, in: Heitmeyer, Was hält die Gesellschaft zusammen?, Frankfurt am Main 1997, S. 55f.
Korioth, VVDStRL 62, 117.
582
Vgl. für die Verfassung der Europäischen Gemeinschaft auch Zuleeg, BB 1994, 581; Schorkopf, Homogenität
in der Europäischen Union - Ausgestaltung und Gewährleistung durch Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 EUV, Berlin
2000; Huster, Die ethische Neutralität des Staates, Tübingen 2002.
584
Pallek, Der Minderheitenschutz im deutschen Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 2001, S. 456.
581
144
schen Grundregeln halten und das im Grundgesetz kodifizierte Wertesystem akzeptieren. Der
liberale Staat ist dagegen gefährdet, wenn viele Bürger seinen Grundprinzipien dauerhaft indifferent gegenüberstehen. Dementsprechend könnte es von der Erhaltung dauerhafter Freiheit her geboten sein, ein gewisses Maß an Integration sicherzustellen, was aber, da es eben
um die Freiheit geht, mit der Idee der Freiheit selbst kompatibel bleiben muss.
3. Funktionen, Realisierung und Probleme einer Verfassungsordnung
Fraglich bleibt zunächst, wie das Grundgesetz eine Auseinandersetzung der innerhalb seines
Geltungsbereiches lebender Kulturen regeln kann, welchen konkreten Beitrag die Verfassung
als rechtliche Grundordnung zu leisten imstande ist.
Über die Funktionen einer Verfassung besteht in der deutschen Staatsrechtslehre weitgehend
Einigkeit.585 Die Verfassung soll 1. die Erzeugung und Ausübung von Macht regeln, 2.
Selbstbestimmung und Rechtsschutz des Einzelnen gewährleisten, 3. durch die Einbeziehung
der Herrschaftsunterworfenen in die Herrschaftsbegründung eine Legitimations- und Leitbildfunktion erfüllen, 4. staatliche und gesellschaftliche Einheit bilden und erhalten.586 Dies kann
man auch als normative Kraft587 der Verfassung bezeichnen. Darunter ist die Fähigkeit der
Verfassung zu verstehen, in der Wirklichkeit geschichtlichen Lebens bestimmend und regulierend zu wirken. Die Verfassung ist somit als gesellschaftlicher Gesamtentwurf und Konzeption richtiger Lebensführung zu würdigen.588 Die Vorstellungen aber, wie die Verfassung
das Ziel der Einheit erreichen soll, sind unterschiedlich. Zumeist beschäftigt man sich mit
dem Begriff des Konsenses, der Übereinstimmung ganz unterschiedlich deuten kann: manche
halten allseits akzeptierte Werte589, zumindest einen Basiskonsens aller Bürger590 für unverzichtbar.591 Andere592 plädieren für eine verfahrensbezogene Kanalisierung und Zuordnung
585
Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, München 2006, Bd. 1, S. 82ff; Grimm, AöR 97, 489;
Vosskuhle, AöR 119, 35; Folke, AöR 120, 32; Preuß, Zum Begriff der Verfassung, Frankfurt am Main 1994, S.
95ff.
586
Zur Verfassung als Ausdruck eines Grundkonsenses BVerfGE 44, 125 (147); Scheuner, in: Jakobs, Rechtsgeltung und Konsens, Berlin 1976, S. 33, 611ff.; Isensee NJW 1977, 545; Karpen, JuS 1987, 593; Vorländer,
Verfassung und Konsens, Berlin 1981; Britz, Kulturelle Rechte und Verfassung, Tübingen 2000; SchmittGlaeser, BayVBl. 1995, 577, unterscheidet unter Hinweis auf Isensee zwischen einem „verfassungsrechtlichen
Grundkonsens“ und einem „staatsfreien Grundkonsens“, der durch eine metarechtliche Ethik gebildet werde,
„die für jedes staatliche Gemeinwesen, seine Verfassung und seine gesamte Rechtsordnung unabdingbar ist, weil
sie die rechtliche Ordnung durch eine geistig-mentale Prägung des Menschen unterfängt und festigt.“ Ohne auf
die Bedeutung der Verfassung hinzuweisen, wird die Notwendigkeit eines Grundkonsenses im demokratischen
Gemeinwesen betont von BVerfGE 63, 230 (242 f.); BVerwGE 82, 76 (80).
587
So auch Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, Tübingen 1959.
588
Bogdandy, VVDStRL 62, 156; vgl. auch: Oebbecke, Muslimische Gesellschaften im deutschen Recht, Münster 2002.
589
Schmitt-Glaeser, Ethik und Wirklichkeitsbezug des freiheitlichen Verfassungsstaates, Berlin1999; Guggenberger, Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? Das Bundesverfassungsgericht im Widerstreit, BadenBaden 1998; BVerfGE 7, 198.
590
Schuppert/Bumke, Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, Baden-Baden 2000, S.
227ff.; Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1974, S. 232ff.
591
Dem entsprechen kommunitaristische Modelle der Gemeinschaft in der politischen Philosophie. Überblicke
bei Brumlik/Brunkhorst, Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1993; Honneth, Kommunitarismus: eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt am Main 1994.
145
des Interessenpluralismus.593/594 Es muss letztlich ein normativer und tatsächlicher Konsens
bestehen, was die Geltung Menschenrechte betrifft. Da jene Menschenrechte in der Verfassung niedergelegt sind, kann die Verfassung diese Funktion erfüllen, da sie den rechtlichen
Rahmen für eben diese Rechte darstellt.
Die ganze Idee einer Verfassungsordnung würde aber damit im Ergebnis einen Abschied vom
nationalen Denken und eine Hinwendung zur universalen Idee der freiheitlichen Verfassung
bedeuten.595 Die Gemeinschaft der Verfassungsbürger wäre also weiter, offener und pluralistischer als eine Hinwendung zur Nation. Seine theoretische Basis findet ein solcher Verfassungspatriotismus im bereits dargestellten neuzeitlichen Individualismus. Mit anderen Worten, im Verfassungspatriotismus erlebt der Universalismus der Vernunft eine neue Dimension.
Es wird ganz auf den Willen freier Menschen und sonst auf nichts abgestellt, weder auf Rasse, Volk, Sprache, Religion, noch auf geographische Unterschiede. Was übrig bleibt, ist der
Wille zum gemeinsamen Staat und seiner Verfassung. Der Beitrag des Einzelnen, den der
Staat fordern kann, ist dann nicht nur Anpassungsleistung, sondern ein Beitrag zur Einheitsbildung. Statt einer Vergemeinschaftung des Einzelnen geht es um den Prozess einer Gemeinschaftsgenese und ihr Verhältnis zur Selbstentfaltung des Individuums.
Die Veränderung der Freiheitsmentalität führt aber gleichzeitig auch zu gewichtigen Verschiebungen und zwar nicht nur im gesamten Grundrechtsbereich, sondern ebenso bei den
Grundprinzipien der Verfassung und im Staatsgefüge. So ist der mündige und verantwortungsbewusste Bürger die unabdingbare Voraussetzung einer Demokratie. Wenn es diesen in
nicht mehr ausreichender Zahl gibt, wird auch die Demokratie brüchig. Ähnliches gilt für den
sozialen Rechtsstaat, der eines rechtsgehorsamen Bürgers aus eigener Einsicht ebenso bedarf
wie sozial besonders kompetente Menschen, die auch eigene Anstrengung und eigene Kosten
investieren.
Der demokratische Verfassungsstaat ist also nicht mehr Herr seiner Voraussetzungen, auf
denen er gründet und befindet sich so in einer Ohnmacht gegenüber seiner tatsächlichen Existenzvoraussetzungen. Woher kommt diese innere Erosion? Vom Verhältnis Staat und Bürger?
Im demokratischen und sozialen Staat der Gegenwart sind die Voraussetzungen eines strikten
Dualismus entfallen. Ohne die organisierende, planende, verantwortliche Gestaltung durch
den Staat ist gesellschaftliches Leben nur schwer vorstellbar und umgekehrt konstituiert sich
der demokratische Staat erst im gesellschaftlichen Zusammenwirken. Besonders ersichtlich
wird diese Verwobenheit beispielsweise im Haushaltsplan des Bundes, in dem der überwiegende Teil der Ausgaben dem sozialen Ausgleich, der sozialen Sicherheit, der Wirtschaftsförderung und Aufgaben der Daseinsvorsorge dient.
Die Theorie des Verfassungspatriotismus ist also, um einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken, auf die kooperative Anstrengung der Staatsbürger angewiesen, was natürlich auch
schwierig sei kann. Dabei erscheint nämlich schon die anthropologische Voraussetzung eines
sich ständig für die Politik interessierenden Bürgers als schwierig. Für einen Großteil der
592
In Parallele zu liberalen und diskurstheoretischen Gesellschaftsvorstellungen, vgl. Habermas, Faktizität und
Geltung, Frankfurt am Main 1992, S. 135ff.
593
Rödel/Frankenberg/Dubiel, Die demokratische Frage, Frankfurt am Main 1989, S. 108.
594
Detaillierte Darstellung bei Korioth, VVDStRL 62, 117.
595
So auch Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, Tübingen 2004, S. 444.
146
Menschen schafft der Staat lediglich die realen Lebensbedingungen, ohne sich daran aktiv
beteiligen zu müssen, so dass politische Einheit allein durch Rationalität nicht zu verwirklichen geeignet ist. Demgegenüber steht nämlich ein irrationales Moment eines historisch gewachsenen Zueinandergehörens der Bürger. Aus diesem Grund könnte es immer soziale Gemeinschaften geben, zu denen man individuell gehört. Grenzen werden hier nur durch einen
unbewussten Prozess der Angleichung aneinander gezogen.
Es gibt demnach auch Stimmen, die sich statt eines Verfassungspatriotismus primär für ein
Modell der deutschen Leitkultur einsetzen.596
Die inhaltlich verworrene Frage lautet: Wie lässt sich eine Desorientierung der Menschen
aufhalten, wie verlorene Güter wiedergewinnen, wie kann ein neuer Minimalkonsens geschaffen werden? Kann das Grundgesetz denn nun eine solche Stabilität herstellen?
Der Staat des Grundgesetzes ist ohne Zweifel in einem exemplarischen Sinne ein moderner
Verfassungsstaat. Es geht ihm nicht nur um einen Frieden im Sinne von Ruhe und Ordnung,
sondern darüber hinaus um allgemeine Friedlichkeit und Sicherheit in Verbindung mit der
Wirklichkeit weiterer Haltungen und Geltungen, die die innere Rechts- und Friedensordnung
wesentlich bestimmen. Zu seinen Essentalia gehören Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit,
Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Sozialstaat, also zusammengefasst, die freiheitliche demokratische Grundordnung. Tatsächlich gibt es auch niemanden, der den Kern unserer verfassungsrechtlichen Ordnung ausdrücklich ablehnen oder auch nur einschränken möchte. Näheres Hinsehen aber macht deutlich, dass dieser Konsens zu einem gewichtigen Teil
allerdings nur formal besteht.
Aber geht es nicht vielmehr um die geistig-mentale Prägung der Menschen, die sich verändert? Mit ihr verändert sich der Inhalt rechtlicher Begriffe. Vornehmlich geht es dabei um das
Verständnis der Freiheit, die im Mittelpunkt unserer Ordnung steht und das, was wir als
menschliche Würde bezeichnen. Grundpostulat der Freiheit ist es, dass wir sie nicht wählen,
weil sie uns das oder jenes verspricht, wie etwa mehr Wohlstand oder mehr Bequemlichkeit.
Wir wählen sie so, weil sie die einzige menschenwürdige Form des menschlichen Zusammenlebens möglich macht, die einzige Form, in der wir für uns selbst voll verantwortlich sein
können. Und die Form, die eben diese Freiheiten absichert, ist unsere Verfassung, die neutral
und unabhängig von Kulturkontexten ist.
Wenn unsere freiheitliche Verfassung in der neuen Bedrohungslage Bestand haben soll, muss
diese Ordnung auch von den hier lebenden Muslimen und anderen Religionsgemeinschaften
angenommen werden. Gefordert ist deshalb eine aktive Verfassungspflege, indem der Staat
die Muslime an die Verfassung heranführt.597 Dies muss als Rechtspflicht mit dem Inhalt angesehen werden, dass sowohl die Grundrechte als auch die freiheitlich-demokratische Grundordnung respektiert wird. Natürlich kann der Staat auf der praktischen Ebene nicht ausnahmslos garantieren, dass diese Heranführung gelingt, zumal gerade islamistische Gruppierungen
alles daran setzen könnten, dies zu verhindern.598 Dies macht es indes nur umso drängender,
dass der Staat muslimische Kinder und Jugendliche für unsere freiheitliche Ordnung zu ge596
Vgl. dazu bereits oben unter B V 3c.
So auch schon im Jahre 1974 Zuleeg, DVBl. 1974, 541; eher kritisch: Böckenförde, NJW 2001, 727.
598
Vgl. zur alarmierenden Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen: Tepecik, ZAR 2003, 240.
597
147
winnen sucht. Hierzu hat er in Art. 7 GG das Mandat erhalten.599
4. Die weltbürgerliche Verfassung
Jenseits der spezifisch deutschen Verhältnisse eignet dem Konzept des Verfassungspatriotismus der Vorzug, den offenbaren und fortschreitenden Funktionsverlust des Nationalstaates
aufzufangen. Die Zeit geschlossener Staatlichkeit geht unaufhaltsam ihrem Ende entgegen.
Internationale Verflechtung der Wirtschaft, weltumspannende Kommunikation, der scheinbar
unaufhaltsame Prozess sozialer Differenzierung und Individualisierung sowie neu einsetzende
Wanderungsbewegungen lassen jeden Weltbürger zum Nachbarn des anderen werden. Im
„global village“ kann sich jeder mit jedem vergleichen. Zwei Jahrhunderte bot der Nationalstaat Rechtfertigung und politische Orientierung zugleich. Der Verweis auf die nationale Zugehörigkeit genügte und der Gleichheitssatz brach an den Grenzen. Von dieser Prämisse aus
kann ein kollektives Identitätsempfinden nicht mehr durch Rückbindung an substanzhafte
Einheitlichkeit gedacht werden, sondern muss rational erarbeitet werden durch politische
Mitwirkung. Politische Einheit wird durch Zustimmung freier Bürger zur Verfassung und
ihrer Mitwirkung im Gemeinwesen gestiftet. Festzuhalten bleibt daher, dass unabhängig davon, wie bestimmte Ideale der Migranten in der Herkunftskultur zu bewerten sind, die aufnehmende Gesellschaft das Recht hat, ihre elementaren, rationalen Freiheiten und Grundwerte
zum Maßstab zu machen. Das muss allein schon aus dem Gedanken folgen, dass die Migranten sich in einer Residenzgesellschaft aufhalten und dieser insofern ein Wertsetzungsprimat600
zukommt. Da sich die offene Republik aber gleichzeitig durch ein weltbürgerlich normatives
Wertefundament auszeichnet, sind diese Werte Ausfluss eines allgemeingültigen Grundbestandes an Toleranz und daraus erwachsende Kernbestände und Normen. Diese sind gleichzusetzen mit Menschen- und Bürgerrechten, die für kein Mitglied der offenen Republik eingeschränkt werden dürfen und daher universelle Geltung beanspruchen. Diese Grundnormen,
die in liberalen Gesellschaften als konstitutiv begriffen werden müssen und Ausdruck in einer
weltbürgerlichen Verfassung und Rechtsordnung finden, stellen somit zugleich die Grenze für
die kulturelle Freiheit der an der multikulturellen Gesellschaft partizipierenden ethnischen
Gruppen dar.
Daher kann es im republikanischen Verfassungsstaat z.B. auch keinen unkritischen Kulturrelativismus geben, der sich jeglicher Bewertung bestimmter Elemente fremder Kulturen enthält. Kulturelle Freiheit hat ihre immer Grenze dort, wo allgemeinverbindliche Menschenund Bürgerrechte in Gefahr sind. Es fragt sich dann nur noch, welche Rechte in einer multiethnischen Gesellschaft unterschiedslos zu gewähren sind und welche demgegenüber bisweilen gegen das Überleben einer Kultur abgewogen werden können. Grundsätzlich muss in
der Politik der Differenz der unterschiedslos zu verteidigende Katalog der Rechte anders ausgeprägt sein als in dem Modell eines streng neutralen Staates, damit so das Fortbestehen ethnischer und kultureller Kollektive verbunden mit der Wahrung und Entwicklung ihrer Identi599
Detaillierte Ausführungen zur Ausgestaltung des Bildungs- und Erziehungsauftrages im Rahmen des islamischen Religionsunterrichts, vgl. unter E IV.
600
Ehringfeld, Eltern-Kind-Konflikte in Ausländerfamilien, Berlin 1997, S. 118.
148
täten in einem rechtlichen und sozialen Rahmen möglich ist.
Zu denken wäre also in erster Linie an die Gleichheit aller Menschen an Würde und Rechten,
die Freiheit der Person, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Gewissens- Glaubens- und
Meinungsfreiheit sowie das Verbot der Folter und Asylrecht zu nennen. Darüber hinaus könnte man noch über die Forderung von sozialen Grundpflichten nachdenken, z.B. den menschenrechtlich verbürgten Freiraum des jeweils anderen anzuerkennen und auch zu achten. 601
Die Form, innerhalb derer diese Rechte unbedingt zu achten wären, könnte dann letztlich auch
ein Weltstaat sein.
5. Die Folgerungen für Europa602
Die weltweite Entwicklung von Wirtschaft, Bevölkerung und Wanderung steht im Zeichen
tiefgreifender Veränderungen: Ökonomische Entwicklungsspannungen und Spannungen zwischen demographischer Alterung und Schrumpfung in hoch entwickelten Regionen einerseits
und einem explosiven Wachstum von demographisch jungen Bevölkerungen in minder entwickelten Regionen andererseits. Abgesehen von Flucht- und Wohlstandswanderungen sind dies
die wichtigsten materiellen Bestimmungsfaktoren des internationalen Wanderungsgeschehens. Das Ergebnis ist ein scheinbar unkalkulierbar zunehmender Migrationsdruck auf hoch
entwickelte Regionen, zu denen auch Europa zählt.603 Neben dem Wanderungsbewegungsproblem gibt es auch nicht immer realitätsbezogene Projektionen von ökonomischer, sozialer
und kultureller Angst in weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit. Auf europäischer
Ebene besteht zwar grundlegende Einigkeit darüber, dass Migrationssteuerung notwendig
erscheint. Allerdings wird gegenwärtig noch, abgesehen von sicherheitspolitischer Einigkeit,
recht wenig Konsens gebildet,604 was auch die ablehnenden Referenden gezeigt haben.
Die Frage nach der Legitimität der Europäischen Gemeinschaft verlangt eine Reflexion auf
die Prinzipien, von denen her die europäische Politik seit den Revolutionen des 18. Jahrhunderts ihren Geltungsanspruch begründet. Es sind dies wohl unbestrittenermaßen die Prinzipien
der Freiheit, Gleichheit und der verantwortlichen Mitwirkung des Menschen in der politischen
Gemeinschaft.605
Individuelle Menschenrechte, zunächst in Europa entstanden, haben ihre Wurzeln in der westlich-liberalen Tradition und sind seitdem universalisiert worden. Sie können weder auf den
Westen eingegrenzt werden, noch von einer liberalen Tradition exklusiv beansprucht werden.
Menschrechte als individuelle Autonomie- und Gleichheitsrechte, die von der Gesellschaft
601
Ehringfeld befürwortet außerdem noch, bestimmte Grundrechte im Lichte des Minderheitenschutzes auszulegen, um relativierbare Grundrechte zu schaffen, die jeweils im kulturellen Zusammenhang gegen Staatsinteressen abgewogen werden könnten, Ehringfeld, Eltern-Kind-Konflikte in Ausländerfamilien, Berlin 1997, S. 120.
602
Zu den europa- und völkerrechtlichen Dimensionen sowie zu rechtsvergleichenden Aspekten siehe die Beiträge in: Grote/Marauhn, Religionsfreiheit zwischen individueller Selbstbestimmung, Minderheitenschutz und
Staatskirchenrecht, Heidelberg 2001.
603
So Bade, ZAR 2008, 396.
604
So betont Petra Bendel, dass verschiedene Ressorts Souveränitätsproblemen begegnen, Aus Politik und Zeitgeschichte, 35/2008, 14.
605
Dicke, Menschenrechte und europäische Integration, Kehl am Rhein 1986, S. 222.
149
mittels der Beschränkung des staatlichen Handlungsbereiches institutionell geschützt werden
müssen, können durch nicht-westliche Auffassungen von Menschenwürde bereichert werden,
die im Westen vielleicht manchmal fehlen. Sie können auch um ökonomische und soziale
Rechte erweitert werden. Individuelle Menschenrechte, wie z.B. das Recht auf körperliche
Unversehrtheit des Individuums, sind natürlich vorgegeben, auch wenn sie von Diktatoren
verletzt werden. Es ist richtig, dass diese ursprünglich liberalen Werte nicht mehr länger auf
die politische Tradition des europäischen Liberalismus beschränkt werden können. Abstrakter
Individualismus, rein politische Rechte ohne soziale Gerechtigkeit und ein formalpartizipatorisches Politikverständnis sind durchaus Fehlentwicklungen der liberalen Theorie.
In unserer Zeit werden diese liberalen Defizite im Rahmen einer Neubewertung des zeitgenössischen Liberalismus daher diskutiert. Dennoch können wir nicht übersehen, dass unser
modernes Menschenrechtsverständnis auf der Globalisierung europäischer Errungenschaften,
vor allem auch der Demokratie, basiert. Die ursprünglich liberalen Werte bestimmen unser
Verständnis von Demokratie. Vertreter des anti-westlichen Denkens qualifizieren die westliche Demokratie schlichtweg ab, um von der politischen Willkürherrschaft in ihren eigenen
Ländern abzulenken. Eine innovative Einbindung der ursprünglich europäischen Tradition der
Menschenrechte in nicht-westliche lokale Kulturen erscheint erforderlich. Diese kulturelle
Synthese beinhaltet die Artikulation der angesprochenen Rechte durch lokal-kulturelle, vermittelnde Elemente, ohne das fundamentale und globale Anliegen zu vernachlässigen; die
Freiheit des Individuums als ein freies Subjekt. Eine kulturelle Aneignung der Menschenrechte durch Nicht-Europäer vormoderner Kulturen bleibt fraglich, wenn dabei die individuellen
Freiheiten außer Acht bleiben. Darüber hinaus müsste ein internationaler, d.h. kulturübergreifender Standard der Menschenrechte auf einer globalen Ebene verbindlich etabliert werden.
Unsere Aufgabe müsste es sein, die entsprechenden lokal-kulturellen Werte mit der Universalität der Menschenrechte in einer Situation zu vereinbaren, in welcher es an einer „universellen“ Moralität fehlt. Der globale Werte-Konsens kann dieses Fehlen kompensieren und die
Grundlage für eine internationale Moralität schaffen. Auf den Islam bezogen bedeutet der
skizzierte Bezugsrahmen, dass nicht ein Auferlegen der Menschenrechte, sondern eine kulturelle Synthese anzustreben ist. Die Durchführbarkeit und Entfaltung einer auf der angestrebten Synthese basierenden islamischen Menschenrechtstradition erfordert die Einbettung des
islamischen Weltbildes in einen universellen, pluralistisch-kulturellen Menschenrechtskonsens. Nur dieser kann die Geltung dieser Rechte im Islam gewährleisten. Demokratische
Strukturen sollten als institutionelle Rahmenbedingung, die sich für Menschenrechte entfaltet,
ebenfalls vorhanden sein.
Der nächste Schritt wäre die Frage nach der realen Verwirklichung dieser Ideen und dem institutionellen Rahmen für ihre Durchsetzung, der die materielle Existenz von Menschenrechten gewährleistet. Von einem historischen Blickwinkel aus können wir argumentieren, dass
nur die legale Herrschaft wirklich einen institutionellen Rahmen zum Schutz der Menschenrechte bietet. In einem freiheitlichen System ist die politische Herrschaft in einem zeitlich
begrenzten Amt verkörpert und durch rechtlich-rationale, von Institutionen kontrollierte Bindung der zeitlich limitierten Herrschaft an ebenso institutionell gültige Normen definiert. Ein
nur einer Person verliehenes Amt kann ihr institutionell wieder aberkannt werden, wenn der
Amtsinhaber die festgesetzten Regeln des Amtes nicht befolgt: eine Unumkehrbarkeit dieser
Entscheidung gibt es im Islam jedoch nicht. Ein ausdifferenziertes institutionelles System, in
150
dem eine nach dem Prinzip der Gewaltenteilung unabhängige und autonome Richterschaft
eine zentrale Rolle spielt, ist der Hüter der legalen Herrschaft. Es reicht eben nicht aus, auf die
Frömmigkeit der Herrscher oder auf ihr subjektives religiöses Pflichtgefühl, so wie dies im
Islam vertreten ist, zu vertrauen. Vielmehr ist eine institutionell kontrollierbare Unterordnung
unter das Recht das Rückgrat jeder legalen Herrschaft. Dies ist eine säkulare, d.h. weltlich zu
regelnde, und keine göttliche Angelegenheit, die zwischen dem Herrscher und Gott unter
Ausschluss des Volkes zu entscheiden wäre. Im klassischen Islam wurde die Vorschrift entwickelt, dass politische Herrscher, vermögen sich auch noch so ungerecht sein, nur Gott gegenüber verantwortlich seien.606 Und auch aktuell gibt es nur wenig Entwicklung. In der „Islamischen Deklaration der Menschenrechte“ kann man lesen607, dass politische Herrschaft ein
Amt sei, das Gott, also nicht das Volk, verleiht. Gott hat das islamische Recht, die Scharia,
verkündet, um die Beziehungen zwischen Herrscher und Beherrschten zu regulieren. Im Bewusstsein dieser Aussage schreiben die Verfasser der islamischen Deklaration dem Islam den
Charakter einer legalen Herrschaft zu. Für sie ist die Scharia nicht nur islamisches Recht,
sondern Recht im Allgemeinen, d.h. für die gesamte Menschheit bestimmt.608 Legale Herrschaft basiert auf modernem Recht, welches legislativ ist. Die Scharia ist jedoch ein interpretatives Recht, das auf der Erforschung des göttlichen Willens, wie er im Koran geoffenbart
worden ist, basiert. Es geht also um göttliche Gebote als ethische und moralische Richtlinien
für das Leben der Menschen, nicht aber um Rechte als materielle Regeln für Institutionen. Ob
Europa den Islam auf seinem Territorium tolerieren kann, ist mit der Frage verbunden, ob
Muslime individuelle europäische Bürger werden oder ethnisch-religiöse Kollektive bilden.
Es ist zu befürchten, dass sich muslimische Migranten in England, Frankreich und Deutschland sich in Zukunft defensiv als ethnische Wir-Großgruppen formieren werden, sollte den
Abschottungstendenzen nicht entgegengewirkt werden. Dies ist eine große Gefahr, die einem
ethnisch-religiösen Konfliktszenario in Europa zugrunde liegt: Islamische Fundamentalisten
lehnen die Einstufung der Muslime als individuelle Bürger ab, weil sie die islamische Gemeinde vorzugsweise als den verlängerten Arm der Welt des Islam sehen möchten. „EuroIslam“ wäre genau das Gegenprogramm zu einer solchen fundamentalistischen Strategie, weil
es Muslime anerkennt und nicht dem religiös-ethnischen Kollektiv einverleibt. Wenn man
ohne Doppeldeutigkeiten und multikulturelles Zögern darauf besteht, die kulturelle Moderne,
also Demokratie, Pluralismus und individuelle Menschenrechte, als Identitätsbasis der Zivilisationen Europas zu bewahren, dann muss man politisch-kulturelle Forderungen an Migranten
aus vormodernen Kulturen stellen. Für einen Muslim aus dem Orient, der durch einen Wahlakt europäischer Bürger geworden ist und somit beiden Zivilisationskreisen angehört, ist daher die Erfüllung solcher Forderungen im Rahmen der Überwindung der Spannung zwischen
Islam und kultureller Moderne, zunächst auf dem europäischen Kontinent selbst, zentral. Die
Muslime können im freiheitlichen Europa ungehindert ihre Religion ausüben, Moscheen errichten und nach dem Modell des einst toleranten Islam einen aufgeschlossenen demokratischen „Euro-Islam“ entfalten, der unter den Bedingungen unseres Zeitalters mit der Moderne
vereinbar ist. Im öffentlichen Leben Europas in unserem Zeitalter gibt es religiöse Toleranz
nach dem Verständnis der säkularen Kultur der Moderne; Toleranz gilt heute nicht mehr nach
606
Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994, S. 257.
Vgl. bereits obige Ausführungen unter A II 7.
608
Vgl. oben detaillierte Ausführungen unter A II 7.
607
151
dem islamischen Vorbild des Mittelalters als Duldung der Christen und Juden. Das müssen
Muslime respektieren, wenn sie europäische Bürger und demokratische Verfassungspatrioten
werden wollen. In der kulturellen Moderne kann der politische Glaube an einen Herrscher als
Allah nicht zu der Identität als Muslim in Europa gelten. Es muss zugestanden werden, dass
viele muslimische Gläubige diese Vorstellung nicht akzeptieren. Genau jene müssen dann
aber darüber aufgeklärt werden, dass die Alternative hierzu das islamische Ghetto ist. Dort
wiederum besteht die Gefahr, an Fundamentalisten zu geraten, die der Religion durch ihre
Ideologisierung Schaden zufügen und einen Keil zu treiben versuchen zwischen der islamischen Welt und Europa, der im Ergebnis dazu führt, dass eine Integration der Muslime unmöglich gemacht wird. Eine Dominanz des Ghettos bedeutet nichts anderes als Eskalation des
Konfliktpotentials.
Nur ein Islam, der entpolitisiert, tolerant und liberal ist, ist überhaupt integrationsfähig. Diese
kulturelle Voraussetzung muss einhergehen mit ökonomischer und sozialer. Der politische
Islam findet seinen Nährboden gerade in Situationen wirtschaftlicher Not. Das Zustandekommen und die Gestaltung einer multikulturellen Gesellschaft sind also auch abhängig von
Entwicklungen und politischen Entscheidungen, die außerhalb der Reichweite der Grundrechte liegen. Die erfolgreiche Gestaltung einer multikonfessionellen, multikulturellen Gesellschaft ist eine prekäre Aufgabe; sie steht vor der Herausforderung, einerseits die gebotene
Freiheit der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu gewährleisten, andererseits aber den
im demokratischen Verfassungsstaat erforderlichen Grundkonsens der Freiheitsrechte und
seiner Voraussetzungen zu bewahren und ein Auseinanderfallen der Gesellschaft in einzelne
gesellschaftliche Gruppen von je eigener Identität zu verhindern. Es bestätigt sich auch und
gerade hier: Der säkularisierte freiheitliche Verfassungsstaat kann jene kulturelle Voraussetzungen, auf denen er beruht, rechtlich nicht garantieren. Nach wie vor kann eine langfristige
Lösung nur darin gefunden werden, dass sich weniger bemüht wird, das Aufhalten der Wirtschaftsflüchtlinge zu regulieren, aber verstärkt die Eindämmung der wirtschaftlichen Ursachen fokussiert werden muss,609 sog. Partizipationsförderung.610 Des Weiteren bleibt allerdings eine parallele Entwicklungsförderung solange ineffektiv, so lange subventionierte europäische Produkte des Agrarmarktes beispielsweise in Afrika billiger angeboten werden als
Produkte des Inlandes, was im Ergebnis die vollständige Entwicklung der afrikanischen
Landwirtschaft bremst.611
Offensichtlich besteht aber ein Bedürfnis nach neuen weltanschaulichen Orientierungsrahmen. Früher haben die Religionen sowohl ethisch-moralische Grundhaltungen als auch Gemeinschaftserfahrungen vermittelt und durchgesetzt. Dies trifft heute nicht mehr zu. Obwohl
zwar damit die soziale Kontrolle und persönliche Vereinnahmung des Einzelnen größerer,
individueller Freiheit gewichen ist, erleben viele Menschen diese größere persönliche Freiheit
immer mehr als Heimatlosigkeit und Kulturverlust. Offensichtlich besteht heute ein dringender Bedarf nach einem neuen gesellschaftspolitischen Weltbild, das einerseits allgemein akzeptierte ethisch-moralische Grundwerte vermittelt und andererseits auf die drängenden gesellschaftspolitischen Fragen und Probleme glaubhafte Antworten gibt. Ein solches gesell609
Bade, ZAR 2008, 396.
Vgl. Details bei Hiesserich, Nachholende Integrationspolitik und Gestaltungsperspektiven der Integrationspraxis, Göttingen 2007.
611
Vgl. weitere Beispiele bei Bade, ZAR 2008, 396.
610
152
schaftspolitisches Paradigma erfordert einen breiten gesellschaftlichen Konsens in der Bevölkerung und ein grundsätzliches Neuüberdenken der Grundwerte Demokratie und Menschenrechte. Kerninhalte und Grundanliegen von Demokratie und Menschenrechten müssen von
allen ethnischen, kulturellen, sozialen und politischen Gruppen grundsätzlich akzeptiert und
unterstützt werden. Gleichzeitig muss aber ein breiter und grundsätzlicher Diskurs über die
konkrete Ausgestaltung und Form von Demokratie und Menschenrechten geführt werden.612
Festzustellen bleibt, dass ein demokratischer Verfassungsstaat als weltanschaulich neutraler
Staat grundsätzlich eine solide Grundlage für eine multikulturelle Gesellschaft bilden kann,
obwohl das Gegenüber von Kulturen gleichwohl stets ein gewisses Konfliktpotential. beinhaltet.613 Oftmals fanden gewaltsame Auseinandersetzungen ihren Ursprung gerade in Polarisierung und Absolutheitsdenken und mit der damit einhergehenden Intoleranz (z.B. Bürgerkrieg
im Kosovo).614 Das zentrale Problem liegt hier in der Furcht vor dem völligen Identitätsverlust durch Integration und Assimilation bei den einen und der Besorgnis der anderen, das
Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen könnte die nationale Identität in Frage stellen.
Dieser psychologische Aspekt der Überfremdungsangst kombiniert mit dem subjektiven
Empfinden einer ökonomischen Mangel- oder Krisensituation darf nicht unterschätzt werden.
Außerdem ist der islamische Fundamentalismus nur zu gut geeignet, bei den Europäern Ängste vor dem Islam zu schüren und entsprechende Feindbilder hervorzurufen. Hinzu kommt
noch, dass das bundesrepublikanische System unter den europäischen politischen Systemen
sich als schwerfällig darstellt, so dass es in der Anpassung an wandelnde politische Bedingungen nachhinkt. Europäische Nachbarstaaten haben damit begonnen, ihre Systeme umzustellen, nachdem sie erkannt haben, dass Europa heute ein Ziel massenhafter Migration geworden ist, die sogar als eine Vorstufe zu Völkerwanderungen betrachtet werden kann.615
Dagegen haben die Deutschen jahrelang bis zur Grundgesetzänderung im Mai 1993 und darüber hinaus bis heute über das politische Asyl diskutiert. Immerhin haben die politischen Kräfte mittlerweile erkannt, dass ein Einwanderungs- bzw. Zuwanderungsgesetz notwendig war.
Die psychologische Komponente einer Überfremdungsangst zusammen mit einer wirtschaftlichen Situation, die einen ungehinderten Zugang zu Sozialabsicherungen nicht erlaubt, war
hier schließlich der Auslöser. Die Erkenntnis hatte sich durchgesetzt, dass auch die Bundesrepublik die Probleme des wirtschaftlichen Elends auf dieser Welt durch die Öffnung der Grenzen für eine uneingeschränkte Zuwanderung nicht lösen kann. Auch kann kein Land der Erde
die Probleme der politischen Verfolgung durch uneingeschränkte Aufnahme von Asylsuchenden mildern.
Ein realistisches Konzept auf europäischer Ebene ist dringend nötig. Es existieren Prognosen,
dass die Migration aus islamischen Mittelmeerländern nach Europa in absehbarer Zukunft
dramatische Formen annehmen wird (die 60 Mio. umfassende Bevölkerung des Maghreb
nimmt jährlich netto um 2 Mio. zu, für die keine ökonomischen Ressourcen und kein Lebensraum vorhanden sind; es bleibt nur der Ausweg der Migration).616 Deshalb ist es wichtig, eine
612
So auch Jäggi, Nationalismus und ethnische Minderheiten, Zürich 1993, S. 214.
Zur Schwierigkeit der Werteermittlung bei zunehmender Pluralisierung: Stumpf/Zaborowski, ThürVBl. 1999,
197; Pieroth, Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit, Berlin 2000.
614
So auch Hufen, in: FS Mahrenholz, Baden-Baden 1994, S. 115.
615
Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994, S. 300.
616
Tibi, Im Schatten Allahs, München 1994, S. 307.
613
153
restriktive, d.h. am Arbeitsmarkt orientierte Einwanderungspolitik zu entwickeln, die mit einem kulturellen Integrationskonzept gekoppelt werden müsste. Denn jeder muslimische arbeitslose Einwanderer befindet sich in einer Krise, die sich nicht auf seine ökonomische Situation beschränkt und ihn folglich für den Fundamentalismus anfällig macht. Es wird einem
solchen Menschen schwer begreiflich zu machen sein, dass der Arbeitsmarkt und nicht irgendeine „kreuzzüglerische Mentalität“ seinen ökonomischen Zustand verursacht. Die importierte, mittlerweile auch öffentlich präsente muslimische Kultur trifft in Deutschland auf eine
nach wie vor christlich-abendländisch geprägte einheimische Kultur.617 Daraus ergibt sich
eine Spannungslage und dadurch wiederum Exklusionsmechanismen, die den deutschen Verfassungsstaat vor eine große Aufgabe stellt: Integration zu leisten und dabei gleichzeitig die
deutsche oder auch europäische (Rechts-) Kultur, mithin seine Identität, zu wahren.
Sämtliche Ausführungen zeigen im Ergebnis, dass die aktuell noch bestehende Situation für
alle Beteiligten noch nicht zufrieden stellend ist, aber jede Menge durchaus gute Vorschläge
existieren und z.T. auch schon umgesetzt wurden, um in der multikulturellen Gesellschaft der
Bundesrepublik Deutschland und auch auf europäischer Ebene ein für alle angenehmes, freiheitliches Leben zu bieten, ohne dabei jedoch völlig außer Acht zu lassen, dass universelle
Grundvorgaben für jeden bestehen, die offensichtlich, mangels anderer Gemeinsamkeiten, nur
die Verfassung bieten kann.
C. Das Spannungsverhältnis von Freiheit, Einheit, Pluralismus
Die harmonische Einheit des Staates hielt den kulturellen Pluralismus, also die Vielzahl von
Interessen und Weltanschauungen im selben sozialen Feld, für unfähig, das Allgemeinwohl
zu binden, da der Wettstreit der diversen Interessen und Ansichten zwischen den verschiedenen Gruppierungen zu einem „Lähmen“ des Staates führen würde. Die gesellschaftliche Tatsache, dass verschiedene Glaubensangehörige neben- und miteinander leben, bedingt die
Konsequenz, dass verschiedene Auffassungen miteinander notwendigerweise kollidieren.
Besonders deutlich wird dies in Fallkonstellationen, in denen es zu besonders stark divergierenden Moral- und Wertvorstellungen kommt, wie beispielsweise die sog. Ehrenmorde, dazu
später noch genauer. Es stellt sich aus dieser Konstellation die Frage, wie ein Zusammenleben
verschiedener sozialer Kräfte friedlich organisiert werden kann.
Pluralismus wird allgemein und wertfrei verstanden als Vielfalt von Ideen und Interessen im
politischen Gemeinwesen. Diese Vielfalt lebt aus einer Fülle von unterschiedlich stark forma617
Der Kulturbegriff selbst ist vielfältig und nicht eindeutig fassbar und regional unterschiedlich. Für Tylor bedeutet Kultur den Komplex von Kenntnissen, Glaubensvorstellungen, Kunst, Moralauffassung, Recht, Bräuchen
und allen anderen Fähigkeiten und Sitten, die der Mensch als Mitglied einer Gesellschaft erworben hat. Zudem
wird Kultur im abendländischen Verständnis traditionell im Gegensatz zu Natur und Technik gesehen. In den
Sozialwissenschaften ist die Bedeutung des Begriffs zudem vielfältiger Natur: Er wird vorwiegend in der Ethnologie und Anthropologie angewandt. Menschliche Gesellschaften leben danach nach selbst definierten oder tradierten Regeln und gehen diese in spezifischer Art und Weise an ihre Nachfahren weiter. Somit ist Kultur die
Gesamtheit der Verhaltenskonfigurationen oder auch der Symbolgehalte wie Religion, Kunst und Wissen einer
Gesellschaft. Weitere Definitionsmöglichkeiten gibt es bei Schweitzer, Kultur und Ethik, München 1981, S. 35;
Naucke, Der Kulturbegriff in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Hamburg 2000; Heinrichs,
Kultur - in der Kunst der Begriffe, München 2007, vgl. dazu weiterhin Ausführungen unter B IV 3.
154
lisierten Verfahren. In ihnen begegnen sich die Interessen und Ideen der realen und idealen
Welt in Konflikt und Konsens. Sie ringen mit- und gegeneinander und objektivieren sich zu
Alternativen. Das Grundgesetz ist verfasster Pluralismus. Der Verfassungsrahmen hält das
Volk als pluralistische Größe zusammen und setzt zugleich dessen vielfältige und auch widersprüchliche Interessen und Ideen frei, er bedeutet ein Höchstmaß an öffentlicher und privater
Freiheit. Pluralismus besteht und lebt aus inhaltlich und verfahrensmäßig unverzichtbaren
Konsensbedingungen wie Menschenwürde, Meinungsfreiheit, u.v.m. Diese Rahmenbedingungen ermöglichen „autonome“ gesellschaftliche und staatliche Integration und Repräsentation wie auch Partizipation.618
Trotz des Bestandes der kulturellen Vielfalt ist es jedoch unbedingt erforderlich, eine möglichst weitreichende gesellschaftliche Einigkeit im Hinblick auf diese grundlegenden Wertvorstellungen herzustellen.
Die Forderung nach individueller Freiheit schreit förmlich nach der Möglichkeit, sich in
Gruppen für gemeinsame Interessen zu verbinden. Die Freiheit ist so dementsprechend Voraussetzung für eine Gesellschaftsordnung mit pluralistischem Charakter. Die Folge daraus ist
der liberal demokratische Aufbau der Verfassung, denn dies stellt den ordnungspolitischen
Rahmen für die Möglichkeit eines nach pluralistischem Vorbild im Wettstreit gefundenen
Konsenses.
Die Grundrechte sind Kernelemente der Verfassung, denn Freiheit ist ein Grundbedürfnis und
Voraussetzung jeglicher persönlicher Entfaltung. Eine isolierte Betrachtung der Grundrechte
findet jedoch nicht statt, die Grenze der grenzenlosen Freiheitsentfaltung finden die Grundrechte in den Freiheiten anderer Menschen und in (hochrangigen) Interessen der Gesellschaft,
die als Schranken dienen.
Die zunehmende religiöse Pluralität berührt die Grundlagen des Religionsverfassungsrechts,
denn das Religionsverfassungsrecht unterliegt aktuell sozio-kulturellen Wandel, denn es war
bislang an einer christlich durchgeformten Gesellschaft orientiert, ohne aber konfessionelle
Christlichkeit selbst zum Strukturprinzip zu erheben, es gibt keine Staatskirche. Wenn die
verschiedenen Freiheitskonzeptionen verschiedener Menschen aufeinandertreffen, kommt es
unweigerlich zu Kollisionen, die im Sinne der Freiheiten gelöst werden müssen.
I. Die Bewertung der unterschiedlichen Prinzipien von Islam und der Werteordnung des
Grundgesetzes
Angesichts der Dominanz vormoderner Werte und Normen in der politischen Kultur des Islam ergibt sich der Gegensatz zum modernen Konzept der Menschenrechte und damit entsteht
ein Konflikt zwischen islamischer und westlicher Zivilisation im Allgemeinen.
Der Konflikt muss auf zwei Ebenen bewältigt werden, einmal auf der zwischenstaatlichen
und zum anderen auf der binnengesellschaftlichen Ebene. Auf der zwischenstaatlichen Ebene
müssen Verkehrsformen gefunden werden, die diesen inter-zivilisatorischen Konflikt in fried618
Häberle, Die Verfassung des Pluralismus, Königstein/Taunus 1980, S.55 ff.
155
liche Bahnen lenken können. Die verbindliche Anerkennung eines Minimums von Individualrechten als Menschenrechte durch Staaten beider Zivilisationen könnte ein erster Schritt sein.
Eine Modernisierung der Sozialstrukturen des islamischen Orients ist zum Scheitern verurteilt, solange sie nicht parallel dazu versucht, die islamische Kultur mit einzubeziehen. Nur
eine Reform von innen kann daher Erfolg versprechen. Die größte Hürde, die sich Muslime
selbst errichten, ist ihr Glaube daran, dass islamisches Recht ein heiliges Recht sei. Es ist von
Gott offenbart und darf daher weder historisch begriffen noch verändert werden; es soll nach
dem islamischen Wertverständnis für alle Zeiten und für die ganze Menschheit ewig gelten.
Nach dem islamischen Rechtsverständnis dient die Scharia den Menschen nicht dabei, ihr
soziales Leben rechtlich zu gestalten, ihre Funktion sei vielmehr, menschliche Handlungen zu
kontrollieren und diesem Willen unterzuordnen. Muslime müssen daher lernen, dass sie auch
von Nicht-Muslimen lernen können, auch im Bereich des Rechts.619 Das bedeutet konkret
eine Öffnung für den Rationalismus und einen Abschied von der Scharia-Orthodoxie.
Schließlich ist die Sicherung der Menschenrechte in einem Staat, der keine säkulare Demokratie kennt, kaum vorstellbar. Der Islam ist dabei eine Religion, die grundsätzlich zwar zu
respektieren ist, was aber letztlich nicht zu einer Selbstverleugnung Europas führen darf, etwa
dergestalt, dass die Vorstellungen anderer über die Gestaltung des Gemeinwesens akzeptiert
und die Übertragung ihrer zivilisatorischen Lebenswelt auf den europäischen Kontinent hingenommen wird. Die Religion selbst soll aber nicht abgelehnt werden, im Gegenteil, es soll
betont werden, dass die Glaubensfreiheit ein grundlegendes Recht ist, jedoch nicht auf Kosten anderer gehen darf.
1. Kollision mit den Wertvorstellungen des Grundgesetzes?
Unter rechtlichen Gesichtspunkten sieht sich die Anwendung traditionellen islamischen
Rechts vielfach der Kritik ausgesetzt. Mit Ausnahme der Türkei, die ihr Rechtssystem unter
Mustafa Kemal Atatürk vollständig säkularisiert hatte, gilt in den islamischen Staaten des
Vorderen Orients das traditionelle Recht weitestgehend fort.620
Diese islamischen Vorstellungen, wie sie unter A II kurz geschildert wurden, stimmen letztlich nicht mit der Wertordnung des Grundgesetzes überein.621 So handelt es sich bei der verfassungsrechtlich durch Art. 3 Abs. 2 GG gebotenen Gleichstellung von Mann und Frau um
eine „Wertentscheidung“ des Grundgesetzes.622 Die im Koran bestimmten grausamen Strafen
sind ebenfalls mit dem Grundgesetz unvereinbar.623 Schließlich ist, was herkömmlich unter
der Geltung des Grundgesetzes als „negative“ Religionsfreiheit bezeichnet wird, die Möglichkeit, auch eine Religionsgemeinschaft zu verlassen, verfassungsrechtlich garantiert. Des
Weiteren stellt auch Toleranz gerade gegenüber Andersgläubigen eine Fundamentalnorm der
619
So auch, Schachtschneider, Grenzen der Religionsfreiheit am Beispiel des Islam, Berlin 2011.
Ende/Steinbach, Der Islam in der Gegenwart, Bonn 2005, S. 199.
621
Vgl. auch: Richter, Konflikte aus laizistischem und islamischen Staatsverständnis, dargestellt am Beispiel der
Türkei, Kiel 1991.
622
Hierzu BVerfGE 17, 1; 17, 99; 22, 93.
623
Hierzu BVerfGE 1, 332; 6, 389; 45, 187.
620
156
grundgesetzlichen Ordnung dar.624 Um dies noch einmal zu verdeutlichen: Nicht alle Muslime
sind tatsächliche, strenge Praktiker ihres Glaubens. Das hier dargestellte gilt nur für diejenigen Muslime, die sich eben strikt an die theoretischen Vorgaben der islamischen Glaubenssätze halten bzw. islamistisch tätig sind. Und nur diese strengen Vorgaben stehen im Konflikt
zu den Wertevorstellungen des Grundgesetzes.
Der deutsche Staat muss in diesem Zusammenhang darauf bestehen, dass seine (Verfassungs) Rechtsordnung nicht in Frage gestellt wird. Insgesamt muss man voraussetzen, dass deren
Wirksamkeit auch entgegen gegenläufigen religiösen Geboten anerkannt wird. In diesem Sinne hat der Muslim die Pflicht zur Toleranz gegenüber abweichenden Glaubensüberzeugungen
und die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Freiheit der Religionsausübung, Meinungsäußerung, etc. als geltende Ordnung zu respektieren.
Unverzichtbar ist darüber hinaus die Akzeptanz der im Kernbereich des Grundgesetzes verankerten Grundrechte. Danach liegt jedenfalls die äußerste Grenze dort, wo grundlegende Freiheiten des Einzelnen bestritten werden, nämlich dort, wo Freiheit und Menschenwürde berührt sind. Das eigene Handeln darf nicht dazu genutzt werden, die Freiheiten anderer in Frage zu stellen. Wie der Muslim jedoch seinen eigenen persönlichen und religiösen Bereich
regelt, kann den deutschen Staat nichts angehen, er ist hinsichtlich der Entscheidung der religiösen Wahrheitsfrage ohne jegliche Entscheidungskompetenz.
Die Möglichkeit einer Vereinbarung von Menschenrechten und Islam aufgrund einer hermeneutischen Interpretation des Korans ist heute, neben weiteren zahlreichen anderen, von großer Bedeutung. Diese Form der Auslegung mit dem Verfahren des „hermeneutischen Zirkels“
kann auf den Koran wie folgt in gekürzter Form angewandt werden: Das einzelne koranische
Wort gehört in den Zusammenhang des Satzes, der wiederum in den Zusammenhang des Textes gestellt werden soll. Der koranische Text seinerseits gehört in den Zusammenhang des
gesamten Korantextes, der im Zusammenhang aller heiligen, von Gott offenbarten Schriften
steht.625 Dabei entstehen wiederum neue Probleme, denn unter der Prämisse, dass der Koran
das geheiligte Wort Gottes ist, könnte es dem Menschen gänzlich verwehrt sein, ein verändertes wörtliches Verständnis im jeweiligen historischen Kontext anzunehmen. Hinzu kommt
außerdem, dass die chronologische Reihenfolge der Koranverse ebenfalls umstritten ist.
Es ist im Ergebnis nicht zu leugnen, dass Koran und Sunna in ihrem traditionellen Verständnis Aussagen enthalten, die gemäß ihres Wortsinns als menschenrechtswidrig bezeichnet
werden können.626
Die islamischen Gelehrten sind sich jedoch darüber einig, dass der göttliche Wille nur das
Wohl der Menschen zum Ziel habe627 und als ewig, also unabhängig von Ort und Zeit, gilt.
Das Verhältnis des Islam zu den Menschenrechten muss im Lichte der Intentionen und mit
Rationalität berücksichtigt werden. Eine entscheidende Rolle nehmen hierbei auch die unterschiedlichen Rechtsgelehrten und Schulen ein. Diese Schulen wurden an verschiedenen Orten
624
Vgl. hierzu etwa die einschlägigen Verfassungsbestimmungen der Länder der Bundesrepublik Deutschland
(z.B. Art. 33 Verfassung Bremen, Art. 131 Abs. 2 Verfassung Bayern, Art. 7 Abs. 2 Verfassung NordrheinWestfalen).
625
Details siehe Ellisie, Beiträge zum islamischen Recht, Frankfurt am Main 2010, S. 73.
626
So auch Müller, Islam und Menschenrechte, Hamburg 1996, S. 190.
627
So auch Nagel, Das islamische Recht, Westhofen 2001, S. 253.
157
der islamischen Welt in der Umgebung berühmter Rechtsgelehrter gebildet, die zu dem
Zweck Schüler um sich sammelten, Rechtsfragen zu studieren, was schließlich dazu führte,
dass verschiedene juristische Schulen entstanden. Die Schulen unterscheiden sich dadurch,
dass sie die Hauptquellen des Rechts durch die wertende Auswahl des Propheten unterschiedlich schlussfolgern. Die Tatsache, dass sich jede Schule in einem anderen geographischen
Gebiet entwickelte, führte zudem dazu, dass sie das Gewohnheitsrecht unterschiedlich interpretierten. Die Schulen tragen die Namen der jeweiligen Begründer.
- Schule der Hanafiten, gegründet von Abu Hanifa (699-767)
- Schule der Malikiten, gegründet von Malik Ibn Anas (713-795)
- Schule der Schafiiten, gegründet von Muhammad Ibn Idris as-Safii (768-820)
- Schule der Hanbaliten, gegründet von Ahmad Ibn Hanbal (780-855)628
Im Ergebnis kann demnach festgestellt werden, dass die islamischen Vorschriften in Bezug
auf die weltlichen Angelegenheiten zeitlich und örtlich grundsätzlich veränderbar sind.
Warum wird dann die Universalität der Menschenrechte bestritten? Viele Länder glauben,
dass die Allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948 Grundsätze enthält, die nicht die
Werte ihrer Kultur widerspiegeln, sondern westliche Werte. Darin wird eine Einmischung des
Westens in die arabisch-islamische Welt gesehen. Zudem werden die Menschenrechte mit
Säkularismus und Ketzerei in Verbindung gebracht629, was wiederum bedeutet, dass christliche Missionierung befürchtet wird. Aus diesem Grund werden seit einigen Jahrzehnten eigene
Menschenrechtskonzeptionen herausgebildet, die sich gegen kulturimperialistische Tendenzen wehren wollen. Dass dies gar nicht der Anspruch der Menschenrechte ist, da sie keine
umfassende Weltanschauung oder rechte Lebensweise vorschreiben, wird dabei weitestgehend ignoriert.630
Die Probleme bei der Realisierung von Menschenrechten sind jedoch nicht nur religiöser Natur. Vielmehr erschweren die autoritären Herrschaftssysteme in Verbindung mit
patriacharlischen Gesellschaftsidealen die Durchsetzung von Menschenrechten.631
Die Akzeptanz von Menschenrechten sollte jedoch nicht nur als ein Problem des Orients verstanden werden, unterschiedliche Ansichten werden auch in anderen Religionen vertreten, so
dass die Universalität der Menschenrechte wie auch deren Inhalt und Verwirklichung weiterhin Gegenstand der Diskussion sind. Sicherlich erscheint die Möglichkeit von Rechtsschulen
interessant, verschiedene Auslegungsmöglichkeiten anzubieten, um so eine langfristige Annäherung zu erreichen.
628
Salem, Islam und Völkerrecht, Berlin 1984, S. 39.
Lorenz, Islam und Menschenrechte, Hamburg 1996, S. 15.
630
Vgl. dazu Elliesie, Beiträge zum islamischen Recht VII, Frankfurt am Main 2010, S. 117.
631
So auch Thumann, Der Islam und der Westen, Berlin 2003, S. 127.
629
158
2. Die Akzeptanz der Grundlagen der staatlichen Ordnung als Zulässigkeitsvoraussetzung
Schließlich ist zu fordern, dass Muslime (neben der Anerkennung der Grund- bzw. Menschenrechte) nicht zu den Grundlagen der staatlichen Ordnung in einem prinzipiellen Widerspruch handeln. Es sollte mithin ein Mindestmaß an Loyalität gegenüber den verfassungsrechtlichen Grundwerten einer offenen, pluralistischen und dem Toleranzgebot verpflichteten
Industriegesellschaft bestehen.632 Eine solch gelebte Neutralität bedeutet nicht zwangsläufig
ein positives Bekenntnis zur Irreligiosität.633 Die Feststellung, dass sich der Islam, der einem
anderen Kulturkreis entstammt, sich in seiner heute dominanten, radikalen Ausrichtung, in der
er sich auch in Deutschland teilweise organisiert hat, in unseren säkularen, freiheitlichen, demokratischen Verfassungsstaat nicht einfügen lässt, wirft abermals die Frage auf, ob nicht
dem Verfassungsvorbehalt, nicht ein faktisch verdeckter Kulturvorbehalt zugrunde liegt und
letztlich eben doch nur das Christentum den Verfassungsstaat westlicher Prägung als Ergebnis
einer jahrhundertelangen abendländischen Kulturentwicklung zu tragen vermag. Wenn daher
auch Muslime in Deutschland individuell und kollektiv in den Grenzen der allgemeinen Gesetze Religionsfreiheit genießen, so ist es gleichwohl wegen des spezifischen, geschichtlichen
wie sachlichen Zusammenhangs von Christentum und politischer Kultur ein Gebot der
Selbsterhaltung dieses Staates, das christliche Erbe als unaufgebbaren geistigen Besitzstand
grundsätzlich weiter zu tragen. Insbesondere ist z.B. die Schule der dafür geeignete Ort: In die
schulische Erziehung greift der Staat nämlich legitimerweise ein und prägt so das Bewusstsein der nachwachsenden Generationen.634 Dies könnte bereits darauf hindeuten, dass das
Grundgesetz keinen „Kulturvorbehalt“ beinhaltet, da eine Hinwendung zum christlichen Gedankengut Freiwilligkeit voraussetzt und eben nicht erzwungen werden kann oder vorausgesetzt wird. Die Freiheit, einen anderen Glauben zu haben, ergibt sich bereits aus der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit.
Man könnte in Hinblick auf die geforderte Akzeptanz oder Loyalität von Religionsgemeinschaften im Allgemeinen auch daran denken, die Verfassungsordnung in eine äußere und innere Sphäre aufzuteilen. Der aus diesem Gedanken resultierende Versuch zwischen einer
Bindung der islamischen Gruppen an die grundgesetzlichen Werte im Außenverhältnis und
einer in der Regel nicht an den grundlegenden Verfassungsprinzipien auszurichtenden Binnensphäre zu differenzieren, begegnet allerdings von vorneherein grundlegenden Bedenken.
Die deutsche Verfassung kennt keine rechtsfreien Räume. Auch erscheint eine so pauschale
Trennung zwischen Binnen- und Außensphäre allenfalls als Gedankenmodell möglich. Die
Überschneidungen beider Sphären, das stete Ineinandergreifen beider Bereiche liegen auf der
Hand. Unterwirft sich ein Mitglied der muslimischen Gemeinschaft den islamischen Glaubensvorstellungen nicht freiwillig, so ist der deutsche Staat zum Eingreifen aufgerufen. Darüber hinaus kann der deutsche Staat aber auch trotz freiwilliger Beachtung islamischer Vorschriften zum Eingreifen in die Binnensphäre der islamischen Gemeinschaft verpflichtet sein.
632
Vgl. allgemein, Allafi, Islam, Gesellschaft und europäische Moderne: Chancen und Hindernisse für Demokratie und Zivilgesellschaft, Frankfurt am Main 2002.
633
von Zezschwitz, JZ 1971, 11.
634
So auch Hillgruber, JZ 1999, 538.
159
Grundrechte stehen nicht unbegrenzt zur Disposition der Grundrechtsinhaber. Es gibt Grenzen, die auch durch freiwilligen Verzicht nicht überschritten werden können. Die dem Staat
auferlegten Schutzpflichten können auch insoweit mit den islamisch geprägten Wertvorstellungen kollidieren und verhindern die sachgerechte Abgrenzung von Binnen- und Außensphäre.
Es muss nach einem möglichen Lösungsansatz der Annäherung gesucht werden, der beispielsweise in einer Neuinterpretation der schariatischen Quellen liegen könnte (was grundsätzlich aufgrund der Auslegungskompetenz der Rechtsschulen möglich ist). Schwierig ist es
jedoch, einen interreligiösen Dialog ohne Aufgabe des Wahrheitsanspruchs der Einzelreligionen und Konfessionen zu erreichen. Festzustellen ist aber, dass solange der theoretische Vorrang der Scharia als Gott gegebenes und im Kern unveränderliches Recht gewahrt ist, dass
dann auch die Akzeptanz der Menschenrechte nicht in vollem Umfange gewährleistet sein
wird, denn die Auslegung der Bestimmungen der Scharia liegt in der Regel in den Händen des
jeweiligen Interpreten in einem jeweiligen Kontext eines bestimmten Umfeldes. Dies wird am
Beispiel der Kairoer Menschenrechtserklärung, wie unter B III beschrieben, deutlich, denn die
dort beschriebenen Menschenrechte werden der Schranke der Scharia unterworfen. Reformbewegungen versuchen zwar eine Neuinterpretation der Scharia dahingehend zu formulieren,
dass eine Anpassung der Moderne erfolgt, dies wird jedoch im islamischen Raum stark kritisiert.635
Es bleibt jedoch bei dem Ergebnis, dass die Akzeptanz der Wertordnung des Grundgesetzes
vorausgesetzt werden muss, damit ein friedliches Zusammenleben auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Freiheitsrechte und Freiheitsvoraussetzungen funktionieren kann. Darüber
hinaus gehende Gemeinsamkeiten bestehen aufgrund verschiedener historischer und politischer Entwicklungen bislang nicht und können auch nicht „im Namen der Freiheit“ erzwungen werden, weil dies wiederum eine Umkehrung von Freiheitsrechten und damit eine Freiheitsgefährdung bedeuten würde.
3. Stehen Erziehung und Bildung in der pluralistischen Gesellschaft im Ergebnis doch
unter einem verdeckten Kulturvorbehalt?
Wie kann insbesondere Bildung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen in pluralistischen Gesellschaften aussehen? Diktiert die liberale Lebensform genau die von uns gelebte
Lebensweise?
In erster Linie ergeben sich hierbei Fragen der Persönlichkeitsentwicklung des einzelnen
Menschen. Hier sind Schwierigkeiten erheblich größer, konsensfähige und gleichzeitig sachgemäße Vorgaben zu entwickeln. Das Bundesverfassungsgericht hat dabei als Leitziel formuliert, das Kind solle sich zu einer „eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft (...) entwickeln, wie sie dem Menschenbild des Grundgesetzes entspricht.“636 Die Literatur ist diesem Ansatz weitestgehend gefolgt und verpflichtet die elterli635
636
Weitere Nachweise bei Waldenfels/Oberreuter, Der Islam, Religion und Politik, Padernborn u.a. 2004.
BVerfGE 24, 199, 144; vgl. ferner BVerfGE 79, 51, 63.
160
che Erziehung auf das Bemühen, „das Kind zu einer eigenständigen, selbstverantwortlich
handelnden mündigen Person zu entwickeln.“ Mündigkeit und Selbstbestimmung werden hier
als Ziele einer Erziehung aufgefasst, deren Absicht vornehmlich darin besteht, dem Kind die
Fähigkeit zur Reflexion und Kritik seiner Umwelt, ihrer normativen Vorgaben und Erwartungen ebenso wie die Gestaltung der Lebensformen und Machtverhältnisse, zu vermitteln. Es
geht in dieser Erziehung primär nicht um die Aneignung einer bestimmten Lebensform mitsamt der damit verbundenen Persönlichkeitsmerkmale und Hintergrundüberzeugungen, sondern um die Vermittlung der Kompetenz, sich von den vorgegebenen Strukturen und Autoritäten zu emanzipieren und im Dienst der Selbstverwirklichung zwischen verschiedenen Lebensformen autonom auswählen zu können.637 So liegt es hier nahe, dass die elterliche Bestimmungsgewalt möglichst frühzeitig und weitgehend gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht des Kindes zurücktritt. Viele Eltern werden aber der Ansicht sein, dass es sehr wohl und
gerade die Aufgabe der Erziehung sei, dem Kind eine bestimmte, in der Regel die eigene und
für richtig gehaltene, Lebensform nahe zu bringen und zur Ausbildung der entsprechenden
Persönlichkeitsmerkmale beizutragen. Das bedeutet, die Entwicklung der Autonomie des
Heranwachsenden bleibt hier doch deutlich eingebunden in einen Hintergrund ethnischer
Vorgaben. Bei Konkretisierung der inhaltlichen Vorgaben existieren verschiedene Ansätze:638
Persönlichkeitsentfaltung reicht als Erziehungsziel nicht aus, vielmehr muss auch eine Richtung angegeben werden, in die sich die Persönlichkeit entwickeln soll.639 Da aber diese Richtung in einem pluralistischen Gemeinwesen gerade umstritten ist, muss dargelegt werden,
dass bestimmte Elemente der Persönlichkeitsentwicklung die Erziehungsbemühungen der
öffentlichen Schule leiten und den Bürgern auch dann zugemutet werden dürfen, wenn sie mit
deren Vorstellungen nicht übereinstimmen. Einige Autoren haben auf diese Situation reagiert
und haben zugestanden, dass öffentliche Schulen auch die Verfassungsessenz zu vermitteln
haben.640 Es ist allgemein akzeptiert, dass die Tradierung der verfassungsrechtlichen Grundwerte und Grundstrukturen zu den legitimen und notwendigen Erziehungszielen der Schule
gehört. Allerdings heißt dies wiederum nicht, dass diese den Schülern auf indoktrinatorische
Weise vermittelt werden dürfen. Einwände wird man aber nicht erheben können, wenn die
Schule die verfassungsrechtlichen Kernaussagen wie die Achtung der Menschenwürde und
die Verpflichtung auf die zentralen Strukturprinzipien der politischen Ordnung, nicht nur positiv darstellt, sondern auch gerade darauf abzielt, dass die zukünftigen Aktivbürger die
Grundlagen des politischen Gemeinwesens innerlich bejahen. Die Schule darf also in normativer Hinsicht nur das vermitteln, was das Grundgesetz selbst dem Streit der Meinungen definitiv entzieht. Die klassische demokratische, nach wie vor gültige Forderung, es solle
„Gleichheit vor dem Gesetz“ gelten, ist als Beispiel nicht nur Ausdruck des Verlangens nach
Gerechtigkeit, sie hat auch eine integrative Komponente. Die Verpflichtung zur Befolgung
des für alle geltenden, allgemeinen Gesetzes zwischen den Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft stiftet eine Solidarität der Rechtsunterworfenen, seien sie nun Christen oder Muslime.
637
Details bei Huster, Die ethische Neutralität des Staates, Tübingen 2000, S. 259.
Details bei Huster, Die ethische Neutralität des Staates, Tübingen 2000, S. 286ff.
639
So Huster, Die ethische Neutralität des Staates, Tübingen 2000, S. 286.
640
Schmitt-Kammler, Elternrecht und schulisches Erziehungsrecht nach dem Grundgesetz, Berlin 1983, S. 41ff.;
Sachs, GG-Kommentar, München 2009, Art. 7; Goerlich, NVwZ 2000, 899; Obermayer, DÖV 1967, 16;
Tomuschat, in: FS Menzel, Berlin 1975, S. 34ff; Kühne, RdJB 1994, 46.
638
161
Ein weiterer Ansatz bezieht neben der Verfassungsessenz zusätzlich noch die Grundrechte
und die Menschenbild-Formel des Bundesverfassungsgerichts mit ein.
„Das Menschenbild des Grundgesetzes (…) ist nicht das des isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum/Gemeinschaft im Sinne der
Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne
dabei deren Eigenwert anzutasten.“ 641
Der dahinterstehende Gedanke ist, dass die Normen der Verfassung, insbesondere die in den
Grundrechten niedergelegten Wertentscheidungen, eine objektive Werteordnung konstatieren,
die die gesamte Rechtsordnung prägt und gleichsam auf sie ausstrahlt.
Die Festlegung der in der Werteordnung des Grundgesetzes zum Ausdruck kommenden
Grundsätze als Erziehungs- und Unterrichtsinhalte und deren Vermittlung als Erziehungsziele
legitimiert deshalb auch ihre Erhebung zum (vorläufigen) Erziehungsmaßstab.642 Das Grundgesetz und die Landesverfassungen sind zudem grundlegende Bestandteile der Rechtsordnung, der der Bürger Gehorsam schuldet. Die Pflicht zum Rechtsgehorsam kann daher auch
zum Gegenstand schulischer Erziehung bestimmt werden.643 Die auf die Grundwerte der Verfassung gerichtete Erziehung soll indessen mehr erreichen. Achtung für das Recht schuldet
der Bürger in hier nicht zu erörternden Grenzen auch Normen, die ihre Grundlage in einem
Wert- und Weltbild haben können, die seinem widerstreiten. Ein solcher Rechtsgehorsam
kann umso mehr verlangt werden, weil der Normadressat die politischen, weltanschaulichen
oder religiösen Motive und Zwecke einer Rechtsnorm als verpflichtende Werte nicht anzuerkennen braucht, sondern sich in der Regel mit äußerem Gehorsam begnügen kann. Dagegen
soll ein auf die Grundwerte des Grundgesetzes gerichtetes Erziehungsprogramm die Anerkennung der hinter den Rechtsnormen stehenden Werte als verpflichtende Werte bewirken;
Dadurch aber weist die Schule der Selbstentfaltung des Schülers eine bestimmte Richtung,
was eine grundsätzlich gewichtige Einflussnahme auf seine politische und geistige Freiheit
bedeutet. Für den Schüler zumutbar ist die Erziehung zur Bejahung der Grundwerte des
Grundgesetzes dann, wenn dieser Erziehungsauftrag nicht absolut gesetzt wird, sondern der
viel weitergehenden Aufgabe, dem Schüler zu seiner Selbstentfaltung zu verhelfen, untergeordnet wird. Sie ist im Geiste der Freiheit wahrzunehmen, wozu gehört, dass vom Schüler
weder Bekenntnisse abverlangt werden, noch einzelne Wertentscheidungen des Grundgesetzes überbewertet und dadurch ideologisiert werden. Es kann nicht bestritten werden, dass die
auf diese Weise gewonnenen Erziehungsziele in mancherlei Hinsicht nicht unplausibel sind.
Fraglich ist aber, ob die Anbindung an die Freiheitsrechte überzeugt. Der Versuch, den
Grundrechten ein pädagogisch verwertbares Verhaltens- und Lebensführungsideal zu unterlegen, beraubt sie gerade einer ihrer wesentlichen Funktionen, nämlich den Staat, der seinen
Bürgern die Art der Lebensführung vorschreiben will, daran zu hindern. Aus dem Schutzrecht
des Bürgers vor staatlicher Bevormundung würde ein Kompetenztitel für staatliche Grundrechtsschutzbereichsdefinitionen und darauf aufbauende Erziehungsambitionen. Allerdings
hat man in einem liberalen Staat gerade auch die Möglichkeit, dies anders zu sehen und gerade diese Möglichkeit muss ebenfalls ausreichend vermittelt werden. Dabei spielt das so dar641
Erstmals BVerfGE 4, 7.
Huber, BayVBl. 1994, 551.
643
Evers, Die Befugnis des Staates zur Festlegung von Erziehungszielen, Berlin 1979, S. 106.
642
162
gestellte Menschenbild des Grundgesetzes eine entscheidende Rolle, das lediglich bedeutet,
dass Freiheitseinschränkungen zugunsten der gleichen Freiheit anderer in einem näher zu bestimmenden Umfang zulässig sind. Dementsprechend übernimmt diese Formel in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch die Funktion, Einschränkungen der grundrechtlich gewährleisteten Freiheit zu legitimieren. Dass derartige Einschränkungen tatsächlich
notwendig sind, wird man angesichts der grundlegenden sozialphilosophischen Einsicht, dass
Freiheits- und Interessenkonflikte immer auftreten werden, wenn Menschen zusammenleben,
nicht bestreiten können.
Für die schulische Erziehung bedeutet dies, dass auf die Rechte und Interessen anderer Rücksicht genommen werden muss.644 Die heterogene Gesellschaft645 kann sich vielleicht noch auf
Bildungsstandards, aber kaum mehr auf kongruente Ziele in der Erziehung einigen. Im Prinzip kann kein Verlust zu beklagen sein, sondern ein Zugewinn an Offenheit gegenüber unterschiedlichen Lebensentwürfen. In so gewonnener Freiheit steckt zugleich eine strukturelle
Rücknahme von Herrschaft, eigene Wege rücken in den Vordergrund. Auf der anderen Seite
muss auch erkannt werden, dass insbesondere kulturelle Gemeinschaften, denen es gelingt,
sich gegen äußere Einflüsse weithin abzuschirmen, in der Lage sein können, ihren Mitgliedern ein Verständnis zu vermitteln, das gänzlich angenommen wird und sich bereits der kritischen Reflexion sperrt, so dass von einer autonomen Entscheidung, dieses Selbstverständnis
zu akzeptieren, kaum mehr die Rede sein kann. Dass die Fähigkeit zur autonomen Entscheidung nicht vom Himmel fällt, sondern der Erziehung und Bildung bedarf, verweist auf einen
weiteren Bereich, in dem die staatliche Gewährleistung die Probleme nicht eindeutig löst.
Mag bei erwachsenen Bürgern die Unterstellung der Autonomiefähigkeit und damit der Freiwilligkeit der Zugehörigkeit noch grundsätzlich begründet sein, so versagt sie gegenüber Kindern und Jugendlichen. Diese Defizit muss durch die Wachsamkeit der staatlichen Gemeinschaft (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG) kompensiert werden. Ausgeschlossen ist es also, einer Gemeinschaft unter Berufung auf ihre Tradition und Kultur zu gestatten, Kinder körperlich zu verstümmeln, weil dadurch irreversible Tatsachen geschaffen werden, die eine freie Entscheidung der Person gerade verhindern.646 Der liberale Staat befindet sich insoweit in einem Dilemma. Ist er nicht bereit, jegliche kulturelle Praxis zu akzeptieren, so muss er sich entscheiden, sich gegen bestimmte Lebensformen zu wenden und dadurch das Neutralitätsgebot zu
verletzen. Akzeptiert er hingegen sämtliche Praktiken, so wird er seiner grundrechtlichen
Schutzpflicht nicht gerecht. Damit verweist dieser Einwand letztlich immer wieder auf die
generell hier aufgeworfene Frage, ob die Vorstellung individueller Grund- und Menschenrechte eine kultur- unabhängige oder eine kultur- übergreifende Plausibilität besitzt.647
644
Vgl. auch allgemein: Bielefeldt, Muslime im säkularen Rechtsstaat, Bielefeld 2003.
Vgl. dazu auch: Fleiner-Gerster, Die multikulturelle und multi-ethnische Gesellschaft, Freiburg, 1997;
Kymlika, Multikulturalität und Demokratie, Hamburg 1999; Taylor, Multikulturalität und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am Main 1993.
646
Richter, Relativierung universeller Menschenrechte durch Religionsfreiheit, in: Grote/Marauhn, Heidelberg
2001, S. 122ff.
647
Allgemein dazu: Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, München 1998, S. 115ff.
645
163
II. Die Konfliktregelungsform der Integration und deren Alternativen
Nachdem festgestellt wurde, dass die Wertvorstellungen von Islam und die des Grundgesetzes
bei konsequenter Anwendung grundsätzlich divergieren, müssen im Folgenden Konzepte untersucht werden, die dennoch ein gedeihliches Zusammenleben sicherstellen können, damit so
eine verfassungsstützende Funktion entstehen kann.
In der aktuellen politischen Diskussion dazu wird stets ein höheres Maß an „Integration“ gefordert, damit ein multikulturelles Zusammenleben für alle Beteiligten zufriedenstellend sein
kann. Es stellt sich dabei die Frage, ob das Gesellschaftsmodell der Integration überhaupt die
einzige Möglichkeit darstellt, ein friedliches Zusammenleben zu sichern und wenn ja, warum,
oder ob es nicht, zumindest theoretische Ansätze eines anders ausgestalteten Miteinanders
gibt, die vielleicht unter Umständen besser standhalten könnten. Das Handlungsfeld soll also
die grundlegende Beziehung zwischen Gemeinschaft und Einzelnem, die durch den Staat beeinflusst wird, umreißen.
1. Überblick über verschiedene Konfliktregelungsformen
Idealtypisch zugespitzt, lassen sich neben der Integration weitere fünf unterschiedliche Formen648 beobachten, in denen ethnische Konflikte geregelt werden können, wovon zunächst
einmal vier im Folgenden dargestellt werden, die fünfte im Vergleich mit Integration unter
einem gesonderten Punkt.
Die radikalste Regelungsform besteht in der Teilung der verschiedenen Gruppen. Darunter
versteht man die einvernehmliche oder aufgezwungene Partition eines Landes. Aus einem
vorher einer einheitlichen Regierung und Verwaltung unterstehenden Gebiet entstehen nach
der Teilung zwei oder mehr voneinander unabhängige Gebiete. Eine solche Maßnahme ist
jedoch eher selten und kann auch nur an solchen Stellen angedacht werden, wo bereits zuvor
die Volksgruppen in klar abgegrenzten Regionen getrennt voneinander existieren. Das würde
den Umstand in der Bundesrepublik bedeuten, dass sämtliche Nicht-Christen oder sämtliche
Nicht-Deutsche, usw. sozusagen in Ghettos untergebracht werden, um Berührungspunkte mit
den „Ur-Deutschen“ zu vermeiden. Bereits die Festlegung auf die Bestimmung einer solchen
Person erscheint unmöglich. Einen solchen theoretischen Ansatz überhaupt als Konfliktvermeidungsmöglichkeit in Betracht zu ziehen, erscheint geradezu zynisch. Abgesehen davon,
dass eine solche Arretierung höchst diskriminierend wirkt, stellt sich die Frage, nach welchen
Kriterien in die Ghettos eingeteilt wird, Herkunft, Konfession, etc. Beachtet werden müsste
zudem, dass unter diesen Gruppen untereinander wiederum unterschiedlichste Lebensformen
aufeinander treffen könnten, so dass man konsequenterweise zur Gründung von Sub-Ghettos
angehalten wäre. Man erkennt hier auf den ersten Blick, dass eine solche Maßnahme in einem
demokratisch verfassten Rechtsstaat unter der Herrschaft des Grundgesetzes unter keinen
Umständen aufgrund des totalitären Charakters ernsthafte Beachtung bzw. Bedeutung gewin648
Vgl. dazu ausführlich Hanf, Theodor, in: Fröschl/Mesner/Ra´anan, Staat und Nation in multi-ethischen Gesellschaften, Wien 1991, S. 68.
164
nen kann.
Eine zweite mögliche Form ist die Dominanz einer ethnischen Gruppe über eine andere. Die
Methoden der Aufrechterhaltung ethnischer Herrschaft variieren beträchtlich, von demokratischer Mehrheitskontrolle einer Gruppe (wie in Israel) über die Leugnung des Bestehens ethnischer Gruppen und die Dominanz einer von ihnen, die strikte Reglementierung einer Ethnohierarchie bis hin zu physischen Repressionen.
Gerade in Fällen von Repressionen zeigt sich jedoch häufig, dass dominierte ethnische Gruppen sich in der Regel nicht auf Dauer mit ihrer Lage abfinden und sich auch in Fällen hoffnungslos erscheinender Unterlegenheit gegen die Dominanz auflehnen. Hieraus entstehen oft
langwierige, gewaltsame Konflikte. Auch bei dieser Theorie werden demokratische Strukturen ignoriert, sogar Gewaltanwendung wird nicht abgelehnt. Auch dies kann unter der Herrschaft des Grundgesetzes niemals eine mögliche Konfliktminderungsform darstellen.
Eine weitere Form der Konfliktregelung zielt weder auf die Ausmerzung der dominierten
Kulturen noch auf die Dominanz einer ethnischen Gruppe über die andere. Sie kann als Konkordanz oder mit dem politikwissenschaftlichen Neologismus consociation bezeichnet werden. Konkordanzsysteme erkennen das Bestehen unterschiedlicher nationaler, sprachlicher
oder religiöser Gemeinschaften an und versuchen, ihre Koexistenz zu organisieren. In ihnen
werden Meinungsverschiedenheiten nicht durch Mehrheitsentscheidungen, sondern im Konsens und durch Kompromiss geregelt. In der Regel besitzen die verschiedenen Gruppen weitgehende Kulturautonomie.649 Konkordanz kann als Konfliktregelung in einer Übergangszeit
praktiziert werden, bis politische Integration erreicht worden ist. Sie kann aber auch eine auf
Dauer angelegte Form der politischen Organisation sein. Konkordanzsysteme beruhen auf der
Einsicht, dass keine der beteiligten Gruppen ihre Dominanz durchsetzen kann oder nur zu
einem zu hohen Preis. Man kann dieses System auch als eine zivilisierte Form des Waffenstillstandes bezeichnen, als Produkt eines Machtgleichgewichts. Daher sind
Konkordanzsysteme immer dann gefährdet, wenn das Gleichgewicht durch demographische
Verschiebungen oder externe Einflüsse in Frage gestellt wird. Was hier als vorteilhaft bewertet werden kann, ist die Tatsache, dass wechselseitige Rechte anerkannt und berücksichtigt
werden. Allerdings wird man einwenden müssen, dass die Theorie der Konkordanz davon
ausgeht, dass sich die verschiedenen Parteien über jegliche fraglichen Punkte einig werden
können. Hier verbirgt sich ein Problem. Gerade in multikulturellen Gesellschaften kann die
Problematik erkannt werden, dass eben häufig keine Lösung gefunden werden kann, auf die
sich zu einigen alle Gruppen bereit sind. Das Konkordanzsystem ist langfristig nicht in der
Lage ist, interkulturellen Konflikte endgültig zu lösen.
Während Konkordanzsysteme immerhin ethnische Gruppen anerkennen und ihre Koexistenz
organisieren, auch politisch organisieren und politisch institutionalisieren, gibt es einen vierten Typus von Konfliktregelung, der Ethnizität ebenfalls erkennt. Man kann ihn als politischen Synkretismus bezeichnen. Synkretismus650 bedeutet die Vermischung von religiösen
Ideen oder Philosophien zu einem neuen System oder Weltbild. Voraussetzung ist, dass diese
649
Vgl. dazu bereits die obigen Ausführungen von „Kulturautonomie“ unter B VII 4.
Vgl. Bernhardt, Multiple religiöse Identität: aus verschiedenen Traditionen schöpfen, Zürich 2008; Drehsen,
Im Schmelztiegel der Religionen: Konturen des modernen Synkretismus, Gütersloh 1996; Siller, Suchbewegungen: Synkretismus, kulturelle Identität und kirchliches Bekenntnis, Darmstadt 1991.
650
165
Ideen oder Philosophien sich zuvor inhaltlich voneinander abgegrenzt haben und dass sie als
religiös-philosophische Teilaspekte auf einen Absolutheitsanspruch verzichten. Synkretismus
nimmt so die Aspekte unterschiedlicher Religionen bewusst auf und formt sie zu etwas Neuem.651 Positionen in der heutigen Religionswissenschaft betrachten ein gewisses Maß an Synkretismus als weit verbreitetes Phänomen, da dies eine naheliegende Folge des Umgangs mit
Fremdheit oder Neuem ist. Diesem Vorgang wird daher umgangssprachlich oft eine gewisse
„Natürlichkeit“ unterstellt. Aber sogar innerhalb einer Konfession treten praktisch Widersprüche und Ansichts-Strömungen auf. Dieser Vorgang widerspricht jedoch dogmatischen Vorstellungen, die im Laufe der Zeit in machen Religionsorganisationen wachsen und einer Beliebigkeit entgegenwirken sollen. Monotheistische Religionen grenzen sich von synkretistischen Tendenzen in der Regel stärker ab als Religionen, deren innere Struktur ohnehin einen
gewissen Pluralismus und eine Widersprüchlichkeit aufweist.
Was immer an ethnischer, sprachlicher oder religiöser Vielfalt in einem Staat besteht, wird
nicht nur hingenommen, sondern als Reichtum der Gesellschaft bewertet und gefördert, die
Vielfalt wird positiv als Charakteristikum einer übergreifenden Einheit gewertet. Möglich
wird dies durch eine strikte Gleichbehandlung aller ethnischen Gruppen und durch Respektierung ihrer kulturellen Eigenart, aber gleichzeitig durch ihre Entpolitisierung. Hier erscheint
eine weitgehende Annäherung an demokratische Strukturen, allerdings gerade eine Negierung
auf politischer Ebene hebt diesen positiven Ansatz wieder auf.
Alle vier bisherigen Theorien erweisen sich bei näherer Betrachtung als nicht geeignet, eine
adäquate Alternative zur der in der Öffentlichkeit oft erwähnten Integration als Konfliktminderungsmöglichkeit darzustellen. Sie finden sich dennoch sowohl in autoritär wie liberal demokratisch verfassten Vielvölkerstaaten und ignorieren Menschen bzw. Freiheitsrechte in
unterschiedlicher Art und Weise. Diese Regelungen werden allerdings nun häufig mit Versuchen verknüpft, das aus ethnischer Vielfalt resultierende Konfliktpotential zu vermindern, um
eine Regelung zu erreichen. Unter diesen Versuchen lassen sich vor allem zwei Mechanismen
beobachten: föderalistische Machtdezentralisierung und Kulturautonomie.
Föderalismus wirkt konfliktmindernd, da er solchen politischen Kräften, die nicht an der gesamtstaatlichen Macht teilhaben, durch die Möglichkeit regionaler Machtteilhabe eine Befriedigung verschafft, die sie von desperater Totalopposition abgrenzt. Eine ähnliche Wirkung
kann auch dem Mechanismus der Kulturautonomie zugeschrieben werden. Dominanzsysteme
werden nur zugelassen, wenn die politische wie kulturelle Überlegenheit der herrschenden
Gruppe völlig unzweifelhaft ist; in diesem Falle nimmt Kulturautonomie nicht selten einen
zwiespältigen Charakter an: Sie bewahrt zwar die Identität der dominierten Gruppe, wirkt
aber gleichzeitig durch den mit ihr verbundenen Ausschluss von der herrschenden Kultur diskriminierend. Die beiden Konfliktminderungsmechanismen sind von unterschiedlicher Eignung für unterschiedliche multi-ethnische Problemlagen. Auf den ersten Blick scheint Föderalismus vor allem für Staaten mit klaren Siedlungsgrenzen geeignet zu sein. Kulturautonomie
dagegen für Gemengelagen. Beide Mechanismen können durchaus miteinander verbunden
sein und sich ergänzen. Sie erscheinen lediglich als Ergänzungen zu klaren Strukturen. Der
651
Der Buddhismus beispielsweise ist offen für andere Lehren. Insbesondere in Japan und China ist es üblich,
nicht einer Religion anzugehören, sondern verschiedene Religionen und Lehren (Buddhismus, Daoismus, Konfuzianismus) nach eigener Vorstellung zu mischen. Auch werden deren Heiligtümer abwechselnd verehrt.
166
hier beschrieben Föderalismus bedeutet im Grunde genommen nichts weiter, als eine Bereitstellung von bürgerlich-rechtlichen Kompetenzen zur Wahrnehmung und Teilhabe am öffentlichen Leben bzw. an politischen Entscheidungen. Diese wird durch das Grundgesetz (als
auch auf europäischer Ebene) umfassend garantiert.
Kulturautonomie auf der anderen Seite garantiert, wie Art. 4 GG noch einmal verdeutlicht,
dass verschiedene Glaubensrichtungen geschützt werden.
Beide Ergänzungen werden demgemäß verfassungsrechtlich unterstützt und können bei der
Konfliktsuche ergänzend herangezogen werden.
Es hat sich aber immer noch keine grundlegende Konfliktregelungsform ergeben, die ein geordnetes und friedliches Zusammenleben insgesamt zufriedenstellend regeln kann. Es bleibt
zu untersuchen, ob nicht die medial viel verbreitete Integration oder eine vor allem in Einwanderungsländern herrschende Assimilation ein solches zu vollbringen im Stande ist.
2. Integration und Assimilation als moderne Konfliktregelungsformen652
Assimilation653 erscheint als eine fünfte Konfliktregelungsmöglichkeit. Sie stellt eine mildere
Variante der Herrschaft einer Ethnie dar. Hier strebt der Staat die schrittweise Verringerung
von Kollektivdifferenzen, im Grunde die Reduzierung der spezifisch ethnischen Gruppenidentitäten, an.654 Die herrschende Gruppe öffnet sich für diejenigen Mitglieder der anderen,
die bereit sind, ihre eigene ethnische, sprachliche oder religiöse Identität aufzugeben, um in
der dominierenden Kultur aufzugehen.
Der Begriff der Assimilation beinhaltet also einerseits sowohl einen Prozess der Angleichung
als auch eine Akkulturation und dies auf vier Ebenen:
- die kognitive Ebene (Wissen, Fertigkeiten, Mittelbeherrschung).
- die identifikative Ebene (Wertschätzung von Wertelementen des Aufnahmesystems).
- die soziale Ebene (Herstellung von Kontakten).
- die strukturellen Ebene (Eindringen in das Status- und Institutionensystem).
Solche Bedingungen sind am ehesten in klassischen Einwanderungsländern vorzufinden. Auf
den ersten Blick mag dies gut klingen, jedoch muss man sich genau vor Augen führen, welche
652
Vgl zu den Begrifflichkeiten auch bei, Kirsch, ZAR 2012, 65; Niesten-Dietrich, ZAR 2012, 85; Schneider,
ZAR 2011, 8.
653
Vgl. außerdem Ausführungen bei Drobnig,, Rechtsrealismus, multikulturelle Gesellschaft und Handelsrecht,
Berlin 1994, S. 45; Esser, Die fremden Mitbürger, Düsseldorf 1983, S. 11ff.; zu den verschiedenen Arten der
Assimilation, vgl. Weidacher/Löpez-Blasco, Ausländerpolitik und Integrationsforschung in der Bundesrepublik
Deutschland, München 1982, S. 56; Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation, Stuttgart 1992, S.
204; Gaitanides, Sozialstruktur und „Ausländerproblem“: sozialstrukturelle Aspekte der Marginalisierung von
Ausländern der ersten und zweiten Generation, München 1983.
654
Ehringfeld, Eltern-Kind-Konflikte in Ausländerfamilien, Berlin 1997, S. 106.
167
Handlungen diese Theorie den Einwanderern abverlangt. Negativ formuliert nimmt die Gesellschaft nämlich nur diejenigen Personen auf, die bereit sind gänzlich und vollumfänglich
auf ihre Kultur zu verzichten und sich der Majorität kritiklos anpassen; der Staat nimmt hier
eine besondere Rolle ein und verfolgt vehement eine Politik der Gleichstellung, indem er uniforme und symmetrische Leistungen an seine Mitglieder vergibt. Hier gilt es zu unterscheiden: Ist jemand freiwillig dazu bereit, kann er dies tun. Angenommen, es gibt aber solche, die
ihre eigene kulturelle Identität nicht aufgeben wollen, kann man diese kulturelle Anpassung
denn dennoch von ihnen verlangen? Denn genau diese geraten in einen sozio-ökonomischen
Zwang des „Nichtaufgenommenwerdens“. Das heißt es wird indirekter Druck ausgeübt nach
dem: „Wenn nicht… , dann darfst du nicht…“- Prinzip.
Der entscheidende Unterschied im republikanischen Verfassungsstaat, der eine Abmilderung
bedeutet, ist, dass die Assimilation hier integratorisch angelegt ist und einhergeht mit der Zubilligung von Bürger- und Beteiligungsrechten an die Angehörigen der Minderheiten bis hin
zur Verleihung der Staatsbürgerschaft. Theoretisches Fundament ist ein politischer Liberalismus wie er in den USA und in den europäischen Wohlfahrtstaaten weit verbreitet ist. Dieser
setzt sich so nachdrücklich wie möglich für die Rechte des Einzelnen ein sowie für einen
neutralen Staat, ohne eigene religiöse und kulturelle Projekte und Ziele. Dieser Liberalismus
sorgt für die Gleichheit der Rechte aller Bürger und sichert nur, dass jedes Individuum seine
Konzeption des „Guten“ verwirklichen kann.655 Ein liberaler Rechtsstaat muss danach im
Hinblick auf die Idee des Lebenskonzeptes eines jeden Bürgers neutral bleiben. Er hat lediglich zu gewährleisten, dass die Bürger unabhängig von ihren Anschauungen fair miteinander
umgehen. Darüber hinaus muss der Staat alle gleich behandeln und gleiche Ausgangsbedingungen für alle schaffen.656 Rechte sind in Gesellschaften westlich-kapitalistischen Zuschnitts
somit in erster Linie Freiheiten von Individuen, die die Chance haben, ihr Leben eigenverantwortlich zu gestalten. Für den Umgang mit Minderheiten bedeutet ein solcher auf Individualfreiheiten zugeschnittener Rechte-Liberalismus, dass er den Angehörigen ohne Anschauung der ethnischen Herkunft die Verwirklichung ihrer Lebensvorstellung garantiert.
Nun werden die Minoritäten aber in der Gesellschaft vielfach unterprivilegiert oder auch diskriminiert, wodurch die Möglichkeit, ihre Lebensführung tatsächlich zu verwirklichen, begrenzt ist. Das Konzept der Assimilation verfolgt also im Ergebnis eine Strategie, welche dem
amerikanischem Bild des „melting-pot“ nahe kommt. In der Theorie verschmelzen dabei die
einwandernden Gruppen mit der Bevölkerung und unterwerfen sich dem amerikanischen Lebensmodell, indem sie selbst ihr eigenes aufgeben. Kulturelle Unterschiede werden tendenziell eingeebnet. Der Schmelztiegel beruht zuletzt also auf einem Verschwinden von Ethnizität
als gesellschaftlich registrierbare Kategorie. Es zeigt sich allerdings mittlerweile, dass eine
Assimilation auf lange Sicht eine Gegenreaktion gegen die anmaßende Mehrheitsgesellschaft
provoziert.657 In diesem auf Individualrechte zugeschnittenen Liberalismus-Modell haben
655
Die Idee geht zurück auf den Kantschen Liberalismus, der die menschliche Würde vor allem als Autonomie
bestimmte, als die jedem Menschen zukommende Fähigkeit, selbst eine Vorstellung vom „guten Leben“ zu entwickeln. In der Gegenwart ist dieses liberale Modell vor allem von dem US-amerikanischen Staatstheoretiker
John Rawls entwickelt worden.
656
Diese Vorstellung eines liberalen Rechtsstaats herrscht auch in der Bundesrepublik vor, wo er um die Vorstellung ergänzt wurde, er müsse als sozialer Rechtsstaat überhaupt erst die Bedingungen der Freiheit schaffen und
sichern.
657
Ehringfeld, Eltern-Kind-Konflikte in Ausländerfamilien, Berlin 1997, S. 109.
168
Sonder- und Gruppenrechte aufgrund Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie keinen Platz.
Die Herkunftskultur bleibt beschränkt auf den privaten Bereich. Aus liberaler Sicht gibt es
keine privilegierte Majorität und keine Minorität mit Sonderstatus. Wenn eine dominante
Gruppe sich für anpassungsbereite Individuen öffnet, wird Erziehung dabei übrigens zur
wichtigsten Agentur der erfolgreichen Akkulturation. Entscheidend für den Erfolg der Assimilation durch Erziehung ist jedoch die Möglichkeit, erfolgreiche Akkulturation ökonomisch
zu belohnen. Für eine effektive Verbesserung von Lebenschancen sind viele Menschen bereit,
eine kulturelle Identität aufzugeben, die dieser im Wege steht. Eine schnell expandierende
Gesellschaft bietet daher die besten Voraussetzungen dafür, kulturelle und ethnische Partikularismen zum Verschwinden zu bringen. Beim Fehlen dieser Voraussetzungen, d.h., wenn
ökonomische Belohnungen für Anpassung nur in begrenztem Maß zur Verfügung stehen,
kann assimilatorische Bildungspolitik nur zu begrenzter Adaption akkulturationsbereiter Eliten der dominierten Gruppen führen. In diesen Fällen pflegen Bildungssysteme rigorose interne Selektivität zu praktizieren. Wer dabei zu den Verlierern gehört, tendiert dazu, seinen
Misserfolg nicht dem System, sondern eigener Unfähigkeit zuzuschreiben. Dies führt gewöhnlich zu Resignation und politischer Abstinenz.
Somit kann auch die Assimilation keine optimale Konfliktlösungsform im Sinne von
Liberalismustheorie und dem abgeleiteten Freiheitssystem von Menschenrechten und Wertordnung sein, denn sie nimmt nur eine Gruppenbetrachtung vor und übt einen derartigen
Druck aus, dass Freiheitsaspekte schließlich beschnitten werden.658
Im politischen Kontext wird der Begriff der Integration insbesondere im Zusammenhang der
Konflikte mit Immigranten verwendet. Es wird allgemein davon ausgegangen, dass eine bestehende stabile Gemeinschaft mit sicherer Identität mit der Ankunft Fremder konfrontiert ist
und sich die Frage stellen muss, ob und wie sie mit dieser Herausforderung umgehen will.659
Integrationsdefizite bergen die Gefahr, dass aus einem Miteinander ein Nebeneinander und im
schlimmsten Fall sogar ein Gegeneinander wird.660 Eine auf Kooperation beruhende Integration als Konfliktminderungsform könnte also in Betracht zu ziehen sein.661 Allerdings ist nach
wie vor heiß umstritten, was darunter konkret zu verstehen ist, eine gesetzliche Definition
fehlt bislang, obwohl das Ziel der Integration im Aufenthaltsgesetz geregelt ist, vgl. § 1 Abs.
1 S. 4 und §§ 43ff. AufenthG, und es sogar eine Integrationsverordnung gibt. Die
Begriffsdebatte reicht von der Ablehnung der multikulturellen Gesellschaft, über die Forderung der Anpassung von Zuwandern und der Vermeidung von Parallelgesellschaften und neu658
Dreier, GG-Kommentar, Art. 1 I GG; Mäder, JuS 2000, 1150; Schneider, ZAR 2011, 8.
Vgl. Dieth, Integration als kreative Gemeinschaftskonstruktion, in: Sahlfeld, Integration und Recht, der sich
mit Systemtheorien von Luhmann (Das Recht der Gesellschaft, 1993), Münch (Legitimität und politische Macht
1976), Teubner (Recht als autopoietisches System), Willke (Ironie des Staates, 1992) und Habermas (Die Neue
Unübersichtlichkeit, 1985; Faktizität und Geltung, 1992; Die Einbeziehung des Anderen, 1996) in diesem Zusammenhang auseinandersetzt.
660
So auch Rogall-Grothe, ZAR 2009, 50.
661
Vgl. allgemein zur Thematik: Goldberg/Sauer, Perspektiven der Integration der türkischstämmigen Migranten in NRW, Münster 2003; Thomä-Venske, Islam und Integration: Zur Bedeutung des Islam im Prozess der
Integration türkischer Arbeiterfamilien in der Gesellschaft der Bundesrepublik, Hamburg 1981; Tibi, Islamische
Zuwanderung: die gescheiterte Integration, Stuttgart 2002; Khaled, Integration im Islam: über die Rolle der Muslime in Europa, Karlsruhe 2005; Luft, Mechanismen, Manipulation, Missbrauch: Ausländerpolitik und Ausländerintegration in Deutschland, Köln 2002; Spezieller: Ghaseminia, Iraner und Iranerinnen in Deutschland: Migrationsgeschichte, Lebenssituation und Integrationsprobleme, Hannover 1996; Esser, Die fremden Mitbürger.
Möglichkeiten und Grenzen der Integration von Ausländern, Düsseldorf 1983.
659
169
en Minderheiten zur Forderung der Anerkennung der deutschen Leitkultur und eines aufgeklärten, selbstbewussten Patriotismus.
Der Versuch einer Definition der Integration662 erscheint also deswegen schwierig, weil der
Begriff so vielschichtige Lebensweisen aufgreift, dennoch wird man sagen können, dass Integration im Allgemeinen ein soziologischer Lebensvorgang von gesellschaftlichen Gebilden
ist, der die Herstellung einer Einheit anstrebt und dessen gewonnene Einheit mehr als die
Summe der vereinigten Glieder darstellt.663 Der Begriff der Integration nimmt folglich dialektisch und reflexiv auf, dass die Freiheit des Einzelnen Ausgangs- und Zielpunkt der Integration ist. Voraussetzung sind die staatsbürgerliche, soziale und kulturelle Gleichberechtigung664
der Zuwanderer und einheimischen Bürger sowie die Akzeptanz der Zuwanderer durch die
Aufnahmegesellschaft. Der Begriff der Integration bezeichnet also vor allem einen Gleichgewichtszustand von personalen bzw. rationalen Systemen. Dieses Gleichgewicht ist in dreifacher Hinsicht zu verstehen:
- individuelles Gleichgewicht (Zufriedenheit der Personen, Verhaltensstabilität).
- gleichgewichtige Verflechtung einer Person in relationale Bezüge.
- Gleichgewicht eines Makrosystems als spannungsarmes, funktionales Verhältnis der
Teilelemente einer Gesellschaft zueinander.
Integration ist dann erreicht, wenn das Individuum selbst in einem Sozialsystem zufrieden ist
und die anderen Mitglieder des Sozialsystems mit dem betreffenden Individuum ebenfalls
zufrieden sind.665 In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, dass man erkennt, dass
auch verschiedene Arten von Aus- und Zuwanderung zu unterscheiden sind:
- Freiwillige und Zwangszuwanderung.
- Auswanderer mit Machtpositionen.
- Auswanderer mit der Absicht, ihr Verhalten zu ändern (innovative Wanderung) und
- Auswanderer mit der Absicht, es beizubehalten (konservative Auswanderung).
- Auswanderer einzelner und ganzer Gruppen.
- Gesteuerte Zuwanderung des Aufnahmestaates
662
Wort und Begriff waren früher überwiegend der wissenschaftlichen Fachsprache vorbehalten. Die Integration
ist im 20. Jahrhundert ein geläufiger Bestandteil des allgemeinen Sprachgebrauchs geworden, weil sie einen
immer wichtiger gewordenen Vorgang unseres gesellschaftlichen und politischen Lebens bezeichnet. Ursprünglich meint das Wort die Wiederherstellung, dann aber überhaupt die Herstellung oder Entstehung einer Einheit
aus einzelnen Elementen, so dass die gewonnene Einheit mehr als die Summe der vereinigten Teile ist, Smend,
Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin 1994, S. 482.
663
Pallek, Der Minderheitenschutz im deutschen Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 2001, S. 457; verschiedene Definitionsbeispiele auch bei Schneider, ZAR 2011, 8.
664
So auch Groenendijk, ZAR 2002, 123.
665
Stang, Ausländerintegration in der kommunalen Praxis, Köln 1982, S. 10.
170
So kann man sagen, dass der Staat dadurch kein ruhendes Ganzes ist, er ist vielmehr geprägt
von einem Prozess ständiger Erneuerung. Eine kooperative Integrationsweise wiederum sieht
die Konstruktion der Gemeinschaftsidentität als gemeinsame, gleichberechtigte Aufgabe aller
Beteiligten, auf deren Wissen und Andersartigkeit nicht verzichtet werden soll. Die Integrationsbemühung umfasst also das Angebot, das auch von Seiten der deutschen Gesellschaft an
die Einwanderer kommen muss.666 Während Assimilation im Vergleich die Vergangenheit in
der Gegenwart bewahren und für die Zukunft retten will, bereitet eine Integration durch intensive Gegenwartsarbeit auf eine gemeinsame Zukunft vor und erscheint dadurch deutlich flexibler.
3. Die Auswertung der verschiedenen Gesellschaftsmodelle
Die Wahl, welcher Konfliktminderungsthese nun zu folgen ist, ist allerdings, wie anfangs
dieser Arbeit bereits angedeutet, nicht nur eine Frage objektiver Erkenntnis oder Vernunft667,
sondern ebenso eine Frage der Bereitschaft, in der entsprechenden Wirklichkeit lebend, die
Verantwortung übernehmen zu wollen. Die Assimilationsbeziehung hat aufgrund ihres totalitären Charakters den Vorteil, dass sie Veränderbarkeit in engsten Grenzen hält und folglich
ein größeres Maß an Stabilität ermöglicht. Allerdings wird diese Berechenbarkeit des Handelns anderer mit einem relativ weitgehenden Verlust an Freiheit erkauft, der auch die Mehrheitsgemeinschaft trifft. Da man sich in einer Art Kampfsituation befindet, muss der Gegner
mit permanenter Beobachtung unter Kontrolle gehalten werden und daher muss ein großer
Aufwand an Zeit und Energie für das Abzuwehrende geleistet werden. Das Fremde wird dadurch zum alles bestimmenden Movens.668 Der damit einhergehende Freiheitsverlust wird in
Kauf genommen, da auf diese Weise einerseits von der Möglichkeit abgelenkt werden kann,
dass Destabilisierung aus den eigenen Reihen kommen kann, andererseits weil auf diesem
Weg der als existenzbedrohend verstandene Diskurs über Sinn und Zweck der eigenen Identität vermeidbar wird. Auf der Grundlage von Handeln und damit, konstitutiv betrachtet, von
Freiheit und Gleichheit, kann eine Gemeinschaft aber lediglich nur dann stabilisiert werden,
wenn die Beteiligten überzeugt sind, in der für sie besten aller Welten zu leben. Diesbezüglich
hat das assimilatorische Modell für Individuen auf Suche nach Orientierungssicherheit und
Stabilität den Vorteil, dank der dichotonomischen Konstruktionsweise, leichter mobilisieren
zu können, denn die Stärke des totalitären Gemeinschaftsentwurfs liegt in seiner inhaltlichen
Konsequenz, seiner Einfachheit und seines alle Lebensbereiche umfassenden Angebotes begründet. Diese Unterscheidung, die hier an Bedeutung erlangt, impliziert eine ontologisch
qualifizierende Polarisierung der Konstruktionsbeziehung. Das Eigene als das wahrhaftig Gute, das Fremde als das unbekannt Böse, das Bedrohende. Hierdurch wird eine attraktive, weil
stabilisierende Reduktion vom Komplexität möglich. Diese als rassisch-natürlich und/oder
modern-kulturell bestimmte, unveränderliche Differenz wird als anthropologische Konstante
666
So auch Schmid-Drüner, ZAR 2005, 93.
Vgl. dazu geschichtlichen Rückblick: Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, Bonn 2003;
Heckmann, Die Bundesrepublik - ein Einwanderungsland?, Stuttgart 1981.
668
Vgl. ausführlich dazu: Dieth, in: Sahlfeld, Integration und Recht, München 2003; Gosewinkel, Einbürgern
und Ausschließen, Göttingen 2001.
667
171
verstanden. Das Fremde bedarf keiner vertieften Aufmerksamkeit, kann angesichts dessen
Bedrohungspotentials ohne weitere Begründungspflicht abgeschoben, interniert oder von der
staatsbürgerlichen Teilnahme ausgeschlossen werden. Die fremdenfeindliche Abwehr neuer
Migrationsbewegungen wird dazu verwendet, die eigene Identität zu bilden ohne dem Anderen eine Mitgestaltungsmöglichkeit zuzuerkennen. Inhaltlich bietet die Assimilation also konkretisierte Vorstellungen von Gemeinschaft an. Das Mobilisierungspotential des Kooperationsmodells ist aufgrund seiner Anforderungen an den Einzelnen tendenziell geringer als bei
dem anderen Modell. Die Suche nach Stabilität kann damit nur beschränkt befriedigt werden.
In Bezug auf Freiheit und Gleichheit ist das Kooperationsmodell jedoch das Überzeugendste.
Andersartigkeit wird hier als Basis von Freiheit und nicht als Gefahr gesehen. Im Identitätsbildungsprozess erscheint des Weiteren die Differenz vom Ich und vom Anderem als konstitutives Konstruktionskriterium. Die Bildung des „Ich“ bedarf einer Entscheidung für bestimmte Handlungen, die als die Eigenen ausgezeichnet werden. Insofern finden hier Selektionsprozesse statt, die aus dem vorhandenen oder selbst kreativ erweiterten Handlungsrepertoire eine aktuell als attraktiv erachtete Auswahl treffen, die eine Lebensform einer anderen
vorziehen. In diesem Konstruktionsprozess des Selbst wird der Andere gleichsam vorausgesetzt und mit konstruiert. Soll Gleichberechtigung maßgebend sein, gehen wir nicht von einer
ontologischen Präferenz des Eigenen aus, sondern betonen die Abhängigkeit der konstitutiv
voneinander abhängenden Wirklichkeitselemente.669
Daher wäre es im Ergebnis sinnvoll, Integration in den Kreis der weiteren Verfassungsfunktionen einzufügen. Dazu muss die Integrationsaufgabe normativen Gehalt dahingehend haben,
das sich das Ziel der Einheitsbildung als Regelungsgegenstand und Regelungsziel in Verfassungsnormen nachweisen lässt. Dass Integration eine Verfassungsfunktion erfüllen könnte
oder ob es ein Grundrecht auf Integration geben kann, ist jedoch letztlich umstritten. Dafür
spricht zwar, dass die Verfassung für die Deutschen im Nachkriegsdeutschland als Zusammenhalt stiftendes Element gedient hat671 und auch freiheitsmaximierend wirkt, allerdings ist
Integration selbst keine selbständige, sondern eine sekundäre, dienende Verfassungsfunktion
mit einer Stützwirkung; sie begleitet und unterstützt die primären Ordnungs- und Regelungsaufgaben der Verfassung ohne einen eigenen, darüber hinaus gehenden Regelungsgehalt herstellen zu können.672
4. Illegale Migration als Integrationsproblem673
Die Innenminister der G6-Staaten haben auf einer weiteren Ebene die herausragende Bedeutung erfolgreicher Integration für die Stabilität einer Gesellschaft ebenfalls betont. Sie beschlossen deshalb die Einrichtung einer Expertengruppe, die die Möglichkeit eines Integrationsvertrages mit Zuwanderern oder vergleichbarer Instrumentarien prüfen und deren wesent669
Vgl. ausführlich dazu: Dieth, in: Sahlfeld, Integration und Recht, München 2003, S. 15.
Vgl. Darstellung bei Kirsch, ZAR 2012, 65.
672
Vorländer, Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002, S. 9ff.
673
Göbel-Zimmermann, ZAR 2006, 81; vgl. auch zur Asylagenda 2010, Kugelmann, ZAR 2007, 81; Kluth, ZAR
2006, 1; Schieffer, ZAR 2005, 372; vgl. zu den Auswirkungen des europäischen Flüchtlingsrechts, Walter, ZAR
2008, 138.
671
172
lichen Inhalte ausarbeiten soll. Gleichzeitig sind sie aber auch überzeugt, dass eine erfolgreiche Integration aber nur dann gelingen wird, wenn sie wirksame Strategien zur Bekämpfung
illegaler Einwanderung674 entwickeln. Dies ist deshalb so notwendig, da im Hinblick auf die
Belastung der Sozialleistungssysteme eine gewisse Steuerung unerlässlich erscheint.
Bei der Bekämpfung des Menschenschmuggels, des Menschenhandels oder damit verbundener Kriminalität sollen „gemeinsame Ermittlungsteams“ mit Unterstützung von EUROPOL
eingesetzt werden. Auch die Europäische Grenzschutzagentur FRONTEX675 soll gemeinsam
mit EUROPOL gemeinsame Lagebilder und Analysen zur illegalen Integration erstellen. Das
Problem bei der Bekämpfung der illegalen Migration sind kriminelle Banden. Es sind organisierte kriminelle Strukturen, die den Menschen und ihren Familien das Geld abnehmen, wenn
sie bei der Flucht in das gelobte Land unter furchtbaren Umständen ums Leben kommen.
Gleichzeitig ergibt es aber wenig Sinn, wenn man jenen Menschen ein Bleiberecht gewährt,
die illegal und häufig auch durch rechtswidrige und systematische Täuschung Aufenthaltsberechtigungen erworben haben. Eine solche Vorgehensweise stärkt die Schleuserbanden, wenn
sie den Flüchtlingen sagen können, am Anfang würden sie ein paar Schwierigkeiten haben
aber dann „könnt ihr bleiben“. Deswegen ist es zur Bekämpfung dieses Missstandes notwendig, dass die Menschen sehen, dass es so nicht funktioniert. Wenn sie nämlich schnell wieder
in die Heimat zurückgebracht werden, haben Schleuser Probleme, ihnen beim nächsten Mal
wieder Hoffnungen und falsche Tatsachen vorzuspielen und sie so auf einen lebensbedrohlichen Weg zu bringen. In diesem Zusammenhang taucht eine neue Begrifflichkeit auf, die eine
Aussicht auf eine Lösung versprechen könnte, nämlich die sog. Migrationssteuerung durch
zirkuläre Migration.676 Im Grunde genommen bedeutet der Begriff zunächst einmal, dass eine
zeitweise Migration von Personen erfolgt, die ihr Herkunftsland verlassen, um in einem anderen Land einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und nach einer gewissen Zeit wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren. Dies soll einen Gewinn für beide Seiten darstellen. Einen Vorteil
verspricht man sich in bilateraler Hinsicht davon, da diese Menschen nach ihrem Auslandsaufenthalt ihr Fachwissen in ihrem Herkunftsland einbringen könnten und damit erheblich zu
einem möglichen Wirtschaftsaufschwung in dem jeweiligen Staat beitragen könnten. Des
Weiteren tätigen diese Menschen bereits während ihres Auslandsaufenthaltes Überweisungen
an die in der Heimat gebliebenen Verwandten und dienen damit als Hauptfinanzierungsquelle
der wenig entwickelten Länder.677
Kritiker wenden hingegen ein, bei der Förderung dieser zirkulären Migration handele es sich
lediglich um eine Erneuerung der Idee der sog. Anwerbung von Gastarbeitern aus den
1950ern und 1960ern, deren intendiertes Rotationsprinzip in der Praxis nicht funktioniere. Ein
entscheidender Unterschied liegt hier aber möglicherweise hinsichtlich des entwicklungspoli674
Schäuble, ZAR 2006, 221; Italien gehört mit Spanien und Griechenland zu den Mittelmeerländern, die seit
Mitte der achtziger Jahre in besonderem Maße Ziel der illegalen Einwanderung aus Afrika und Südosteuropa
sind; Kluth, ZAR 2007, 20.
675
Ziel von FRONTEX ist ein integriertes „border-management“ an den (neuen) Außengrenzen Europas. Durch
Schulungen von Grenzbeamten (insbesondere der neuen Mitgliedstaaten) sollen Grenzkontrolle, Visa-Kontrolle
und Risikoanalyse vereinheitlicht werden. Beamte sollen nach einem EU-Grenz-Codex in jedem Mitgliedstaat
handeln können. Rückführungsaufgaben sind nicht Aufgabe der Agentur, wohl aber Beratung in Grenzschutzfragen der einzelnen Mitgliedstaaten.
676
Vgl. Zerger, ZAR 2008, 1.
677
Die formellen und informellen Rücküberweisungen von Migranten in Entwicklungsländer liegen laut Angaben des BMZ insgesamt bei einer Höhe von 212 Milliarden Euro und die Tendenz ist steigend; www.bmz.de.
173
tischen Aspektes. Wenn man die Hauptursache von Migrationsbewegungen untersucht, wird
man einmal abgesehen von Kriegen und Naturkatastrophen darauf stoßen, dass Armut und
Perspektivlosigkeit in den Herkunftsstaaten entscheidend zu Migration beitragen. Aber genau
diese Ursache soll im Ursprung gelöst werden. Der mit der zirkulären Migration verbundene
Wissens- und Know-How-Transfer soll die Entwicklung der Herkunftsstaaten nachhaltig fördern, die dortige Wirtschaft ankurbeln und schließlich einen Weg aus dem Entwicklungsstaatsstatus weisen.678 Der Vorteil des Ziellandes bestünde darin, dass mit Blick auf den demographischen Wandel die meisten Industriestaaten über kurz oder lang einen Mangel an
qualifizierten Arbeitskräften erwarten und somit, zumindest saisonal bedingt, Nachfrage an
diesen entstehe.679 Im Gegensatz zu einer ständigen Migration hätte ein solches Modell den
weiteren Vorteil, dass das gesellschaftliche Gefüge der Zielstaaten nicht in die Gefahr der
Überforderung gerät, zumal dem Konzept innewohnt, dass eine Sicherstellung der Rückkehr
erfolgen soll, was etwa mit sog. Rückkehrprämien oder Zahlung von Kautionen erreicht würde, die erst nach Rückkehr ins Herkunftsland zur Auszahlung kämen, so dass es sich hier im
Ergebnis um eine Verpflichtung zu einer dauerhaften Rückkehr handelt. Ebenfalls könnte
man an gewisse Sanktionsmöglichkeiten denken, sollten die positiven Anreize nicht ausreichen, wie beispielsweise eine zwangsweise Rückführung, die allerdings in Kooperation mit
den Herkunftsstaaten über Rückübernahmeabkommen erfolgen könnten. Ohnehin auf der
Agenda der Entwicklungspolitik steht zusätzlich die Unterstützung der Herkunftsstaaten dergestalt, dass Demokratisierung, Kapazitätsaufbau sowie Verbesserung des Investitionsklimas
vorangetrieben werden, damit das Konzept auch auf fruchtbaren Boden stoßen kann.
Gleichzeitig gäbe es auch den Grund zur Hoffnung, dass dadurch illegaler Migration entgegengewirkt werden kann.680 Zwar werden gewissen Pilotprojekte mit ausgewählten kooperationswilligen Drittstaaten angestrebt, jedoch ist noch völlig offen, welcher Zeitraum, welche
Zielgruppen und welche verschiedenen Regelungen möglich wären, was aber auch jeweils
von der Arbeitsmarktnachfrage und der Konjunkturentwicklung abhängig sein wird, was wiederum aus arbeitsmarktrechtlicher Sicht (noch) in nationaler Verantwortlichkeit verbleiben
muss.
Empirische Daten über Stärken und Schwächen des Gesamtkonzeptes gibt es derzeit noch
nicht, da bislang kaum größere Projekte erfolgt sind. Eine weitere Entwicklung bleibt also
abzuwarten.
Eine weitere Möglichkeit, illegale Einwanderung zu unterbinden, besteht darin, dass nicht die
illegalen Beschäftigten, sondern deren Arbeitgeber sanktioniert werden, die sog. Sanktionsrichtlinie.681 Ziel soll sein, dadurch einen wesentlichen Anreiz zu reduzieren, es soll nämlich
die Möglichkeit genommen werden, auch ohne rechtmäßige Aufenthaltserlaubnis Arbeit zu
678
Sog. Brain-Drain-Problem (=die Abwerbung Hochqualifizierter); dies könnte durch Ausgleichszahlungen an
die Staaten ausgeglichen werden, sog. Investitionen in das Humankapital.
679
Unter Perspektive der Migranten wird vielfach von einer sog. „triple-win“ Situation gesprochen, vgl. Thränhardt, Entwicklung durch Migration: Globalisierung auch für Menschen. Berlin 2007.
680
In der Mitteilung „Zirkuläre Migration und Mobilitätspartnerschaften zwischen der Europäischen Union und
Drittstaaten“ vom 16.05.2007 hat die EU-Kommission erste konkretere Vorschläge zur Umsetzung des Konzeptes vorgelegt; vgl. COM 2007, 248; Zerger, ZAR 2008, 1.
681
Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaatenangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen, abgedruckt in:
ZAR 2009, 201; vgl. dazu außerdem Voglrieder, ZAR 2009, 168.
174
finden. Die zentrale Vorschrift der Sanktionsrichtlinie ist ein EU-weites Verbot der Beschäftigung von Drittstaatenangehörigen ohne rechtmäßigen Aufenthalt (Art. 3 Abs. 1 der Sanktionsrichtlinie). Weiterhin soll eine Reihe von Präventivmaßnahmen, wie Prüf- und Meldepflichten für Arbeitgeber, verstärkte Kontrollen durch die Behörden der Mitgliedstaaten sowie
Sanktionsmaßnahmen verwaltungsrechtlicher und strafrechtlicher Art, einschließlich Regelungen zur Haftung von Unternehmen, die Subunternehmen beauftragen, die Zentralvorschrift
unterstützen. Auf diese Weise erhofft man sich, kann die Beschäftigung von Drittstaatenangehörigen, die sich illegal in der EU aufhalten, bekämpft werden. Selbstverständlich gibt es
aber auch kritische Stimmen, die darauf hinweisen, dass sich beispielsweise die Situation der
illegalen Einwanderer verschlechtert, wenn sie keine Arbeit mehr finden können.
Der gesamte Themenkomplex der illegalen Zuwanderung hat im Ergebnis auch entscheidenden Einfluss auf die Integration in Deutschland und muss daher zukünftig auf einer zweiten
Ebene stets beachtet werden. Die hier vorgestellten Lösungsvorschläge stellen erste gute Ansätze dar, einer illegalen Einwanderung entgegenzutreten, ohne den Flüchtlingen Hilfe gänzlich zu versagen. Besonders das Konzept der zirkulären Migration erscheint dabei als hilfreich. Es bleibt allerdings abzuwarten, wie sich künftig die Lage entwickelt.
III. Harmonisierung der widerstreitenden Grundrechte i.S.d. Einheitspostulats des Bundesverfassungsgerichts und die Antwort des Grundgesetzes: eine wehrhafte Demokratie
Nachdem nunmehr festgestellt wurde, dass in einer Verfassungsordnung Freiheiten miteinander kollidieren können und nach Lösungen gesucht werden muss, die ein Zusammenleben
unterschiedlichster Freiheitsausübungen organisieren können, stellt sich letztlich die Frage,
wie eine Vermittlungsposition zwischen den Freiheiten aussehen muss. Dabei können wiederum nicht Fragen wie Leitkultur u.ä. Berücksichtigung finden, sondern als Maßstab eignen
sich jeweils nur die verschiedenen universalen Freiheitsrechte682 sowie die Werteordnung des
Grundgesetzes.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits frühzeitig darauf hingewiesen, dass die grundgesetzlichen Vorschriften und ihre Gehalte in einem Ordnungszusammenhang systematischer
Art stehen, was wiederum „eine Gesamtschau des verfassungsrechtlichen Normenbestands
und der in ihm beschlossenen Werteordnung“683 erfordere. Vor allem für den Bereich der
klassischen Konstellation konfligierender Grundrechte wurde die Notwendigkeit einer Verfassungsauslegung „unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems“684 betont, die insoweit als argumentative Brücke für die Ausstrahlungswirkung auf die
gesamte Rechtsordnung dient685 und auf die Vermittlung von einheitlichen Wertungsgesichtspunkten gerichtet ist.686
682
Zur Methodik vgl. Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, Frankfurt am Main 1995.
BVerfGE 39,1.
684
BVerfGE 30, 173.
685
Vgl. dazu die grundlegende Lüth-Entscheidung, BVerfGE 7, 198.
686
von Danwitz, Verwaltungsrechltiches System und Europäische Integration, Tübingen 1996, S. 29.
683
175
Eingriffe in die Religionsfreiheit können demnach nur durch verfassungsimmanente Schranken gerechtfertigt werden, also durch Verfassungsgüter gleichen Ranges, die mit der Religionsfreiheit kollidieren, so dass deshalb unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Verfassung
ein Ausgleich herbeigeführt werden muss.687 Auf praktischer Ebene passiert dies mit Hilfe der
sog. praktischen Konkordanz. Grundrechtskollisionen werden dadurch gelöst, dass eine Abwägung der widerstreitenden Interessen dergestalt stattfindet, dass die kollidierenden Grundrechte zu möglichst optimaler Wirksamkeit688 gelangen können. Dabei ist zunächst eine abstrakte, d.h. vom zu entscheidenden Fall unabhängige Bewertung der widerstreitenden Rechtsgüter vorzunehmen, um dann im konkreten Einzelfall zu entscheiden, bei welchem Grundrecht der Eingriff schwerer wiegt. Diese Einzelfallbetrachtung erfolgt unter E.
D.Integrationsmaßnahmen und neue Ansätze zur erfolgreichen Umsetzung von
Integration
Nach Auswertung der bisherigen Ergebnisse, erscheint es als nur wenig hilfreich, wenn die
Mehrheitsgesellschaft den Einwanderern Integration als Assimilationsleistung von vorneherein ohne weiteres abverlangt. Und ebenso wenig hilfreich erscheint es, wenn versucht wird,
das Besondere der Einwanderer gegen die Mehrheitsgesellschaft auszuspielen. Das eine produziert aller Voraussicht nach den Protest der Zuwanderer und auf der anderen Seite den Protest der Mehrheitsgesellschaft, insbesondere ihrer Unterschichten. Sinnvoller wäre hier ein
Mittelweg, bei dem die Vernunft eine Chance gegenüber den Emotionen bekommen müsste.
Der Diskurs des Multikulturalismus versteht sich als eine Aufforderung an die Gesellschaft,
mit Hilfe einer Neuinterpretation der entstandenen Situation das Verhältnis zu den Fremden
zu bewältigen. Das Angebot kann als eine Sozialtechnik aufgefasst werden, weil mit ihm ein
Steuerungsproblem der Gesellschaft nicht, z.B. im Medium von Recht, sondern durch gezielte
Kommunikation und die Kraft der Moral gelöst werden soll.700
Integration soll im Ergebnis eine dauerhafte politische und gesellschaftliche Aufgabe sein, die
alle im Land lebenden Menschen betrifft. Das Aufnahmeland muss Integrationsangebote bereitstellen, während die Zuwanderer berechtigt, aber auch angehalten sind, sie wahrzunehmen,
sog. Prinzip des Förderns und Forderns. Die Bereitschaft zum Erwerb deutscher Sprachkenntnisse sowie die Anerkennung der Grundwerte unserer Verfassung und der darauf beruhenden
allgemeinen Rechtsordnung müssen dabei notwendige Voraussetzungen für eine Integration
sein. Zuwanderer sollen aber auch im Rahmen der Verfassung und Rechtsordnung ihre eigene
kulturelle und religiöse Prägung bewahren können. Der hier zugrunde gelegte Integrationsbegriff zielt auf die gleichberechtigte Teilhabe der Zuwanderer am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben unter Respektierung ihrer jeweiligen kulturel-
687
Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Heidelberg 1999, Rn 312; BVerfGE 32, 98; 33, 23; 41, 29; 52, 223;
93, 1.
688
BVerfGE 81, 278.
700
Radtke, in: Kürsat-Ahlers, Die multikulturelle Gesellschaft: Der Weg zur Gleichstellung, Frankfurt am Main
1992, S. 129.
176
len Eigenart.701
Das ultimative Ziel jeder Integrationsbemühung ist die Einbürgerung in die deutsche Gesellschaft. Konkret bedeutet dies aber auch die Wahrnehmung von Bürgerrechten in dem Sinn,
dass jeder Einwanderer sich sein eigenes Leben in Freiheit aufbauen kann und sich an die
deutschen, von der Verfassung vorgegebenen, Wertvorstellungen hält, die den Rahmen jedes
gemeinschaftlichen Zusammenlebens bilden. Das Ziel der staatlichen Integrationspolitik ist
die gemeinschaftliche Wahrnehmung dieser Bürgerrechte. Diese Formulierung spiegelt auch
gerade die Bilateralität von Integration wider, wo die Bemühungen von Seiten der Einwanderer wie von Seiten der deutschen Gesellschaft ausgehen müssen, sowie die hierfür notwendige
gegenseitige Offenheit.
Ein zweites wichtiges Grundprinzip muss außerdem die „Integration außerhalb des Aufnahmelandes“702 darstellen. Es besteht Einigkeit darüber, dass eine zusätzliche Bedingung für
Einwanderer eingeführt wurde, die sich auf freiwilliger Basis dauerhaft in der Bundesrepublik
niederlassen wollen, d.h. für alle die, die Zeit haben, um sich auf die Einwanderung vorzubereiten, namentlich Personen, die im Rahmen des Familiennachzugs nachziehen, und Personen,
die zu Ausbildungszwecken nach Deutschland kommen. Diese Einwanderer müssen vor ihrer
Einreise Grundkenntnisse der deutschen Sprache und Gesellschaft nachweisen, um einen befristeten Aufenthaltstitel zu erhalten. Diese Kenntnisse müssen durch eine Prüfung nachgewiesen werden. Die Regierung soll bei der Vorbereitung keine Hilfestellung leisten, außer ein
Informationspaket zur Verfügung stellen. Bei der Ankunft in Deutschland wird die Verbindlichkeit für die Teilnahme am Integrationsprogramm dadurch gewährleistet, dass der Einwanderer, sobald er sich bei der Gemeinde angemeldet hat, zu einem Einschätzungsgespräch eingeladen wird, wo ihm seine Verpflichtung zur Integration und die verschiedenen Modalitäten
genau erklärt werden. Aufgrund der Erfahrung der Vergangenheit, wo die Verantwortung
primär beim Staat lag (der für die Programme zahlte, Betreuer zur Verfügung stellte, etc.) und
die Eigeninitiative der Einwanderer geschwächt wurde, sollen die neuen Regelungen klar
festschreiben, bei wem der Hauptvorteil für eine erfolgreiche Integration liegt, nämlich beim
Einwanderer selbst. Daher wird diesem auch die Verantwortung für seine eigene Integration
in die Hände gelegt. Dies sollte auch die finanzielle Verantwortung umfassen. Ein Mittel zur
Umsetzung dazu stellen auch die sog. Integrationsvereinbarungen dar.703
Dieses Paket kann durch ein System von Anreizen und Sanktionen abgerundet werden: Der
Einwanderer, der die Integrationsprüfung erfolgreich ablegt, bekommt die Kosten (bis zu einer gesetzlich festgelegten Höchstgrenze) erstattet, allerdings nur, wenn die Prüfung innerhalb
von drei Jahren seit Bestehen der Verpflichtung zur Integration, somit meist ab Erteilung des
ersten Aufenthaltstitels, erfüllt wird. Dadurch soll die zügige Erfüllung von Integrationsverpflichtungen angeregt werden. Im Gegenzug werden verwaltungsrechtliche Sanktionen verhängt, wenn der Einwanderer nach fünf Jahren immer noch nicht das erfolgreiche Bestehen
der Integrationsprüfung nachweisen kann. In ähnlicher Weise wird eine verwaltungsrechtliche
Buße verhängt, wenn die erste Überprüfung sechs Monate nach dem Startgespräch ergibt,
701
Vgl. dazu auch: Schulte, in: Kürsat-Ahlers, Die multikulturelle Gesellschaft: Der Weg zur Gleichstellung,
Frankfurt am Main 1992, S. 94.
702
Die folgenden Ausführungen orientieren sich am niederländischen Konzept des Integrationsgesetzes, das
2006 in Kraft ist, Schmid-Drüner, ZAR 2005, 93.
703
Dazu unter D VI 5.
177
dass der Einwanderer noch nicht mit dem Integrationsprozess begonnen hat. In erster Linie
zielt dieses Konzept auf die Koordination der Neuankömmlinge. Andererseits sollte auch von
den „Altankömmlingen“ verlangt werden, dass sie nun ihre Integration selbst in die Hand
nehmen.
Ob so ein Modell langfristig funktionieren kann oder ob es nicht eventuell abschreckende
Wirkung haben kann und daher mit menschenrechtlichen Gewährleistungen, wie Art. 8
EMRK im Rahmen des Familiennachzugs in Kollision tritt704, wird sich zeigen.
I. Das neu geregelte Zuwanderungsrecht705 am Maßstab der Verfassungsvorgaben
Wenn Integration also als beste Konfliktlösungsmöglichkeit erscheint und der Begriff wiederum einigermaßen auslegungsbedürftig ist, muss nun überlegt werden, welche Anforderungen
an Zuwanderer im Rahmen einer Integrationsleistung konkret zu stellen sind.
Eine erstmalige Verankerung von Integration als gesetzliches Programm spiegelt sich zum
einen in dem Zuwanderungsgesetz wider, sowie in den Integrationsgipfeln, die seit 2006 abgehalten werden.706
Vor Erlass des Zuwanderungsgesetzes wurden Integrationsfaktoren erst bei den Entscheidungen über eine Verfestigung des Aufenthaltes und über die Einbürgerung berücksichtigt. Wie
die betroffenen Ausländer die dafür notwendigen Kenntnisse, insbesondere der deutschen
Sprache, erwarben, blieb ihnen selbst überlassen.707 Seit 2005 setzt das Gesetz dagegen bereits an der Erstzuwanderung an und wurde 2007 noch einmal überarbeitet.
Die erste Phase der deutschen Integrationspolitik kannte nur eine individuelle Hilfe bzw. gesellschaftliche Verantwortung für die Integration.708 Der Begriff wurde im Ausländerrecht
nicht benutzt, zumal die Eingliederung in die deutsche Gesellschaft nicht als staatliche Aufgabe betrachtet wurde. Hintergrund dieses Gedankens war, dass man davon ausging, die
meisten Ausländer seien nur vorübergehend hier. Obwohl dies schon lange nicht mehr der
sozialen Wirklichkeit entsprach, wurde diese Idee erst mit dem Zuwanderungsgesetz aufgegeben. Das Kernstück der neuen Integrationspolitik bilden nach niederländischem Vorbild die
704
Vgl. obige Ausführungen, sowie Groenendijk, ZAR 2004, 124.
Zu den verfahrens- und materiellrechtlichen Änderungen ausführlich Feldgen, ZAR 2006, 168.
706
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch das „Netzwerk Migrationsrecht“, das das Ziel verfolgt, den
Austausch, die Kooperation und die Fortbildung junger Wissenschaftler im Bereich des Migrationsrechts zu
fördern. Es wird von der Idee getragen, dass dieses Recht aus der nationalstaatlichen Einzelperspektive nicht
mehr vollständig erfasst werden kann. Sein Regelungsgegenstand lege eine internationale Ausrichtung des Austausches nahe und bereits jetzt bestehen Kooperationen mit dem Centre of Migration aus Nijmegen; vgl.
www.netzwerk-migrationsrecht.de.
707
Vgl. Gercke/Srur, Integrationskurse für Migrantinnen: Genese und Analyse eines staatlichen Förderprogramms, Oldenburg 2003; kritisch auch Farahat/Fisch/Löhr/Truchseß, ZAR 2008, 58.
708
Die Debatte muss allerdings beachten, dass es immer noch eine erhebliche Anzahl von Migranten gibt, die
von vorneherein gar nicht integriert werden sollen, nämlich jene, die auf den Duldungsstatus verwiesen sind.
Neben dem Arbeitsmarktsausschluss und einer sog. Residenzpflicht erhalten sie abgesenkte Leistungen. Da sie
vor diesem Hintergrund auch ständig eine Art Nomadenleben führen, eröffnet die Aufnahmegesellschaft ihnen
keine Grundlage einer vernünftigen Lebensperspektive; vgl. vertiefende Ausführungen bei
Farahat/Fisch/Löhr/Truchseß, ZAR 2008, 58.
705
178
Integrationskurse.709 Ihr Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Sprachvermittlung710, der 600
von 630 Unterrichtsstunden gewidmet sind. Der Einwanderer soll sich im täglichen Leben in
seiner Umgebung selbständig sprachlich zurechtfinden und entsprechend seines Alters und
seines Bildungsstandes ein Gespräch führen und sich schriftlich ausdrücken. Die erworbenen
Kenntnisse werden in einem Abschlusstest geprüft, der auf das durchaus anspruchsvolle Niveau B1 des Zertifikates Deutsch nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für
Sprachen ausgerichtet ist, vgl. § 17 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Integrationskursverordnung (IntV).711
Lediglich 30 Stunden verbleiben für Grundwerte der Staats- und Verfassungsordnung sowie
Geschichte und Kultur. Wer erfolgreich abschließt, erhält Erleichterungen bei der Niederlassungserlaubnis sowie bei der Einbürgerung. Der Staat seinerseits muss aktiv entsprechende
Integrationshilfen wie Sprachkurse712 bereitstellen. Aufgrund der inhaltlich begrenzten Bundeszuständigkeiten sind auch die Länder verpflichtet, integrationsfördernd tätig zu werden.713
Die Durchführung der meisten Maßnahmen erfolgt aufgrund des örtlichen Bezuges sinnvoller
Weise in erster Linie durch die Kommunen.714 Durch das neue Zuwanderungsgesetz werden
also erstmals in der deutschen Geschichte ausländische Staatsangehörige, die nicht aus einem
Mitgliedstaat der EU stammen und erstmals ins Bundesgebiet einreisen und sich hier aufhalten wollen, verpflichtet, einen Integrationskurs gemäß § 44a AufenthG zu besuchen, dessen
primäres Bestreben ist, den Teilnehmern einfache deutsche Sprachkenntnisse nebst Kenntnisse der Rechtsordnung, der Kultur und Rechtsgeschichte (§ 43 Abs. 2 AufenthG) zu vermitteln. Zur Ausführung der Integrationskurse wird die Integrationsverordnung zugrunde gelegt.715 Unterschieden wird zwischen Ausländern und Aussiedlern (bezüglich Sprachförderung, Beratungsdienste und Projektförderung). Unter bestimmten Umständen können Ausländer demnach zur Teilnahme verpflichtet werden.716 Voraussetzung für eine Verpflichtung ist
nach § 44a AufenthG, dass der Ausländer nicht in der Lage ist, sich auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich zu verständigen. Außerdem kann auch bei schon bei länger in
Deutschland sich aufhaltenden Personen die Ausländerbehörde eine Aufforderung zur Teilnahme aussprechen, sofern dies die Stelle anregt, die einem Ausländer Leistungen nach SGB
II bewilligt, oder er in besonderer Weise integrationsbedürftig ist.717 Dieselbe Verpflichtung718 kann von der Ausländerbehörde einem Einwanderer auferlegt werden, wenn er Arbeitslosengeld bezieht oder sonst in besonderer Weise integrationsbedürftig ist. Die Teilnahmepflicht wird bisher durch zwei Arten von Sanktionen flankiert.719 Zum einen ist vorgesehen, dass eine Verletzung der Pflicht zur Teilnahme bei der Entscheidung über die Verlänge709
Davy/Weber, Paradigmenwechsel in Einwanderungsfragen?, Baden-Baden 2006, S. 125ff.
Vgl. dazu näher Schmid-Drüner, ZAR 2005, 93.
711
Groß, ZAR 2007, 315.
712
Gutmann, InfAuslR 2005, 45.
713
Groß, KJ 2006, 1.
714
Näher dazu Schliesky, ZAR 2005, 106.
715
Vgl. Eingangsformel IntV.
716
Zur Wirksamkeit der Verpflichtungen am Beispiel der Türkei bei Ehegattennachzug, vgl. EUGH C-138/13
vom 10.07.2014.
717
Eicher/Spellbrink, SGB II, § 31 Rn 1.
718
Es bestehen Ausnahmen von der Teilnahmeverpflichtung, falls der Einwanderer sich in einer Ausbildung in
Deutschland befindet, eine Teilnahme an vergleichbaren Bildungsangeboten nachweist oder ihm die Teilnahme
auf Dauer unmöglich oder unzumutbar ist. Hierunter fällt allerdings nicht die bloße Erziehung eigener Kinder,
BR-Drs 22/03 vom 16.01.2003.
719
Kau, ZAR 2007, 185.
710
179
rung einer Aufenthaltserlaubnis zu berücksichtigen ist720, § 8 Abs.3 AufenthG. Es handelt
sich dabei jedoch in der Regel um eine Ermessensentscheidung, bei der auch die Dauer des
rechtmäßigen Aufenthaltes, schutzwürdige Bindungen an das Bundesgebiet sowie die Folgen
für die rechtmäßig im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen des Ausländers zu berücksichtigen sind. Damit wird dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und im letzten Fall auch
dem Grundrecht auf Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG Rechnung getragen. 721 Zum
anderen besteht die Möglichkeit, Leistungen nach SGB II um bis zu zehn Prozent zu kürzen,
§ 44a Abs. 3 S. 2 AufenthG, wobei aber auch hier die Umstände des Einzelfalls zu beachten
sind. Interessant erscheint dabei auch die Frage, welche Rolle die staatliche Kostenvermeidung bei freiheitsrelevanten politischen Entscheidungen spielen darf. So war es in Schweden
bereits in den 70er Jahren üblich, Neuzuwanderern einen Sprachkurs auf Kosten der Arbeitgeber anzubieten.722
Bei angeordneten Sprachkursen trifft sich im Übrigen der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag mit dem sprachlichen Territorialprinzip, auf dessen Grundlage der Staat im Sinne der Sicherung gesellschaftlicher Integration und der Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens
eine bestimmte Sprache als Amts-, aber auch als Schulsprache zur Wirkung bringt.
Integration ist, wie man erkennt, bislang ein weit verzweigtes, sperriges Thema 723 und bleibt
dies auch nach dem Zuwanderungsgesetz. Zwar fand eine Bündelung der Zuständigkeiten
beim Bundesamt für Migration für Flüchtlinge statt, aber nach wie vor existiert keine kohärente, bundeseinheitliche Integrationspolitik. Das Bundesinnenministerium ist lediglich aufgefordert, ein bundesweites Integrationsprogramm zu entwickeln, in dem die bestehenden Integrationsangebote von Bund, Ländern, Kommunen und privaten Trägern festgestellt werden.
Nach dem bis Ende 2004 geltenden Ausländergesetz war die Aufenthaltsverfestigung der
Beweis von Integration.724 Durch das Zuwanderungsgesetz findet nun eine Vorverlegung des
Zusammenhangs von Aufenthaltsrecht und Integration auf den Zeitpunkt der ersten Aufenthaltserlaubnis statt. Im Vorfeld des Aufenthaltsgesetzes bestand aber Einigkeit, dass es neuer
Ansätze bedarf, um die in Jahrzehnten gewachsene Unübersichtlichkeit durch eine strukturierte Integrationspolitik abzulösen. Ein wesentlicher Aspekt des Aufenthaltsgesetzes und der
Integrationspolitik des Bundes ist daher die Neuausrichtung der Strukturen zur Integrationsförderung. Dabei können die Regelungen im Wesentlichen an vier Punkten725 noch einmal
verdeutlicht werden:
- Das Aufenthaltsgesetz stellt einen aufenthaltsrechtlichen Zusammenhang zwischen
Neuzuwanderung und Integration her.
- Es sollen so wenige Unterschiede wie möglich zwischen den einzelnen Zuwanderungsgruppen gemacht werden.
720
Ausführlich zu Sanktionsmöglichkeiten, Kau, ZAR 2007, 185.
Zu den grundrechtlichen Bezügen näher, Huber, ZAR 2004, 86; Groß, KJ 2006, 1; Thiele, DÖV 2007, 58.
722
Huber, ZAR 2004, 86, der feststellt, dass auch Dänemark und die Niederlande den Zuwanderern Integrationsprogramme anbieten.
723
Details bei Davy, ZAR 2004, 231.
724
Vgl. § 45 AufenthG.
725
Hausschild, ZAR 2004, 83.
721
180
- Auf Bundesebene erfolgt eine organisatorische Bündelung von Zuständigkeiten und
Haushaltsmitteln.
- Mit dem bundesweiten Integrationsprogramm ist eine Koordinierung der Integrationsaktivitäten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden vorgesehen.
Insgesamt stellen die Integrationsmaßnahmen des Zuwanderungsgesetzes eine deutliche Abkehr von der Politik des früheren Ausländergesetzes dar, das keine Integrationsmaßnahmen
vorsah, da es nach dem damaligen Willen des Gesetzgebers als ausreichend erachtet wurde,
dem legal zugewanderten Ausländer hinsichtlich seines weiteren Aufenthalts Rechtssicherheit
zu verschaffen.726 Dennoch besteht beim jetzigen deutschen Konzept die Gefahr, dass nur
vereinzelte Kurse angeboten werden, sich aber niemand darum kümmert, ob die Einwanderer
auch tatsächlich in den Kurs passen, ob sie „bei der Stange bleiben“ und hinterher auch eine
Anschlussbeschäftigung finden. Hier wären Nachbesserungen wünschenswert, gerade wenn
eine Förderung der Teilnahme der Einwanderer auf dem Arbeitsmarkt und in der Zivilgesellschaft erwünscht ist.727
Daneben geht das Fordern von Integration primär vom Staat aus, der die Kurse bereitstellt,
jedoch wenig Eigeninitiative von den Zuwanderern verlangt. Die Sanktionierung allein der
Teilnahmeverpflichtung könnte dazu führen, dass Einwanderer bei mangelnder Motivation
die Kurse absitzen und niemand wirklich davon profitiert. Es ist daher fraglich, ob durch das
geltende System der Integrationspolitik seit 1. Januar 2005 die Initiative der Einwanderer
wirklich gestärkt wird. Auch wäre es zu überlegen, ob neben einer internationalen Offenheit
das Phänomen der Migration nicht zwingend eine interdisziplinäre Herangehensweise fordert,
dergestalt, dass sich der Teilnehmerkreis der Arbeitsgruppen nicht ausschließlich auf den juristischen Bereich beschränken muss, sondern auch andere wissenschaftliche Erkenntnisse
herangezogen werden sollten, so beispielsweise aus dem Sozialrecht, deren empirische Ergebnisse eine praxisnahe Ausrichtung steuern könnten.
II. Sprachkurse als Integrationsvoraussetzung und Privilegierung durch besondere Integrationsleistungen
Die politische und soziale Integration einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft
setzt voraus, dass man sich sprachlich verständigen kann. Aus diesem Grund blieb Englisch
bis heute im indischen Vielvölkerstaat Amts- und Verkehrssprache. Eine ähnliche Rolle spielte das Lateinische im europäischen Mittelalter oder in Großungarn bis zur Josephinischen
Reform.728
Sowohl der Zuwanderer als auch die Aufnahmegesellschaft sind umso stärker einem Integrationskonflikt ausgesetzt, je weniger Berührungspunkte Sprache, Geschichte, Kultur und Reli-
726
Schmid-Drüner, ZAR 2005, 93.
Zu den Potentialen Hiesserich, ZAR 2008, 102.
728
Oberndörfer, Die offene Republik, Freiburg 1991, S. 89.
727
181
gion haben.729 Zudem erfordert eine fortschrittliche Integrationspolitik eine gleichberechtigte
Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben.730 Darum ist die Sprachkenntnis von
den Zuwanderern das zentrale Medium interpersonaler Kommunikation.731 Im Mittelpunkt
der öffentlichen Äußerungen über Sprache und Integration steht stets die deutsche Sprache
und die herrschende Auffassung ist die, dass eben diese Deutschkenntnisse die Voraussetzung
für eine erfolgreiche Integration seien, besonders hinsichtlich der Berufs- und Arbeitswelt. Es
wäre jedoch irrig, die Sprachfrage auf ihre ökonomische Perspektive zu reduzieren. Sie ist in
hohem Maße emotional aufgeladen. Sprache ist überwiegend Substrat kultureller Identität und
deutsche Sprachkenntnisse sind eine wichtige Voraussetzung für eine bessere Akzeptanz der
Zuwanderer732, da Sprache regelmäßig Identität stiftet und neben einer gewissen räumlichen
Nähe für den Erhalt des Zusammengehörigkeitsgefühl von besonderer Wichtigkeit ist, was
wiederum ein Garant für ein Minimum innerstaatlichen Zusammenlebens ist. Die Perzeption
der geringen Achtung einer Sprache oder Religion innerhalb eines Bildungssystems hingegen
neigt dazu, bei den Betroffenen tiefe Ressentiments entstehen zu lassen. Wenn Schüler733 sich
benachteiligt fühlen und ihre zukünftigen Lebenschancen als begrenzt einschätzen, dann sind
sie wenig geneigt, dem zu glauben, was ihnen in der Schule vermittelt wird. Den Meinungen
ihrer Eltern und Verwandten, ihrer Altersgenossen der gleichen ethnischen Gruppe schenken
sie mehr Vertrauen als dem, was Lehrer aus anderen Gruppen und Schulbücher vermitteln.
Eine offiziell vorgeschriebene Lektüre kann also eine der ihr implizierten Absicht gegenteilige Wirkung haben. In Israel z.B. führte die lehrplanmäßige Behandlung des Zionismus bei
arabischen Kindern zu einer Verstärkung palästinensisch-nationaler Gefühle.734 In sprachautonomen Bildungsanstalten ist es zwar leichter, das Gefühl einer symbolischen Deprivation zu
vermeiden, jedoch führt dies letztlich zu der zu vermeidenden Parallelkultur. Dem Elternrecht
und dem Recht der freien Entfaltung der Kindespersönlichkeit kann m. E. der Grundsatz entnommen werden, dass Kinder ausländischer Herkunft nicht gegen ihren Willen ihrer Heimat
und kulturellen Tradition entfremdet werden dürfen. Die Sprache übernimmt hier die Funktion einer wichtigen Brücke.
Man darf hierbei zwar nicht nur auf eine Bringschuld der Migranten abstellen, Einbürgerungswillige müssten allerdings bereit sein, die Sprache auch erlernen zu wollen, gerade um
die kulturellen Barrieren abbauen zu können. Bei der Ausgestaltung des staatlichen Bildungsund Erziehungsauftrages hat der Staat andererseits nämlich auch die hinter der staatlichen
Schulhoheit stehende Ratio zu bedenken, die in der Verhinderung gesellschaftlicher, d.h. auch
729
Vgl. den Zusammenhang zwischen Sprache und Integrationsverbesserung: Toprak, Sozialisation und Sprachprobleme: eine qualitative Untersuchung über das Sprachverhalten türkischer Migranten der zweiten Generation,
Frankfurt am Main 2000.
730
Andere Auffassung: Oberndörfer, ZAR 2006, 41, der feststellt, dass Sprache im Identitätsverständnis der
meisten Staat eher einen sekundären Rang hat.
731
Huber, ZAR 2004, 86; Haberland, ZAR 2004, 379; zur überragenden Bedeutung der Sprache für die
Nationenbildung und die Gleichsetzung von Volk und Sprachvolk im 19. Jahrhundert, vgl. Haarmann, Die Sprachenwelt Europas, Frankfurt am Main 1993; Kremnitz, Die Durchsetzung der Nationalsprachen in Europa,
Münster 1997.
732
Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer 1998, 291.
733
Strukturelle Defizite weist die Sprachförderung zum jetzigen Zeitpunkt insbesondere in bestimmten Schlüsselphasen der fortgeschrittenen Schullaufbahn auf, etwa beim Übergang von der Primarstufe zur Sekundarstufe,
obgleich spezifische Sprachprobleme gerade dann auftreten und nur in dieser Situation bewältigt werden können,
Langenfeld, AöR 123, 375.
734
Hanf, in: Fröschl/Mesner/Ra´anan, Staat und Nation in multi-ethischen Gesellschaften, Wien 1991, S. 81.
182
sprachlicher Segregation wie auch der Sicherung des Rechts auf chancengleiche Bildung
liegt.
Mit dem Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen
Union (Richtlinienumsetzungsgesetz) hat der Gesetzgeber zudem im Jahr 2007 u.a. auch einige einschneidende und vieldiskutierte Änderungen im Aufenthalts- und Staatsangehörigkeitsrecht vorgenommen.736 Der neu gefasste § 10 Abs. 3 S. 2 StAG eröffnet den Einbürgerungsbehörden ein Ermessen zur Verkürzung der regelmäßig acht Jahre dauernden „Wartezeit“ auf
sechs Jahre, wenn besondere Integrationsleistungen vorliegen. Diese sind, so die gesetzliche
Konkretisierung, insbesondere dann anzunehmen, wenn Sprachkenntnisse nachgewiesen werden, die die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 StAG, also das regulär für die Anspruchseinbürgerung vorausgesetzte Sprachniveau B1 GER737, übersteigen. Die neue Vorschrift ist als Einbürgerungserleichterung gedacht und daher weit auszulegen. Die besondere
Integrationsleistung wird deshalb nicht genauer eingegrenzt, da es viele Möglichkeiten eines
Sich-Einbringens gibt, wie z.B. Bildung- und Ausbildung, Beruf- und Beschäftigungsfelder
oder auch Engagement in Ehrenämtern. Es ist allerdings nicht einfach ein höheres Niveau der
Sprache wie B2 gefordert, vielmehr kann nur eine weit überdurchschnittliche Leistung in
Schule und Ausbildung die Voraussetzungen erfüllen. Als Indiz könnte beispielsweise eine
Berechtigung für die staatliche Begabtenförderung sein.
Bereits vor Inkrafttreten dieser Gesetzesänderung war von der Rechtsprechung anerkannt,
dass es bei besonders hohen Integrationsleistungen bei der Einbürgerung nach § 8 StAG zu
einer Ermessensreduzierung sogar auf null kommen kann.
1. Die verfassungsrechtliche Notwendigkeit von Sprachkursen im Hinblick auf Homogenität und das Wertesystem des Grundgesetzes
Grundsätzlich ist die staatliche Praxis, von dem Ausländer vor seiner Übersiedlung nach
Deutschland einfache Kenntnisse der deutschen Sprache zu verlangen, rechtmäßig und sowohl mit der Verfassung als auch mit der EMRK vereinbar.738
Fraglich ist jedoch, ob man aus verfassungsrechtlicher Sicht davon ausgehen kann, dass die
Sprachkurse notwendig sind.
Unter Zugrundelegung der bisher erarbeiteten Ergebnisse ist festgestellt worden, dass ein
multikulturelles Zusammenleben zur Konfrontationsvermeidung sich auf bestimmte gemeinsame Werte einigen muss. Diese Werte können jedoch nicht subjektiv im Rahmen von kulturellen Kontexten bestimmt werden, sondern müssen vielmehr an übergeordneten objektiven
Maßstäben gemessen werden. Als Grundlage jeglichen menschlichen Zusammenlebens ohne
Zusätze von Pathos und Kultur können einzig die Menschenrechte gesehen werden, deren
Universalität wertneutral, ohne kulturellen Zusatz, ist und auf der Würde des Einzelnen ba736
Vgl. dazu insbesondere Lämmermann, ZAR 2009, 126.
B1 und B2 beziehen sich auf den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GER).
738
Diskussionen entstanden bislang meistens aufgrund des Ehegattennachzugs, vgl. aktuelle Entscheidung
BVerwG 10 C 12/12, wonach der Staat im Einzelfall vom Sprachnachweis absehen muss, die Anordnung von
Sprachnachweisen jedoch mit Grundgesetz und EMRK übereinstimmt.
737
183
siert. Des Weiteren, damit die Freiheitsrechte zur optimalen Wirkung gelangen können, müssen Rahmenbedingungen vorhanden sein, nämlich ein demokratisches und republikanisches
Staatssystem, welches das Grundgesetz auch so vorsieht.
Um diese Grundprinzipien den Zuwanderern entgegenzubringen und deren Integration weitestgehend unter Wahrung ihrer kulturellen Besonderheiten zu gewährleisten, müssen sie sich
mit diesem Wertesystem vertraut machen, wofür wiederum erforderlich ist, dass sie zumindest mit Grundzügen der deutschen Sprache vertraut sind, vgl. § 2 Abs. 8 AufenthG: „Kann
vertraute, alltägliche Ausdrücke und ganz einfache Sätze verstehen und verwenden, die auf
die Befriedigung konkreter Bedürfnisse zielen. Kann sich und andere vorstellen und anderen
Leuten Fragen zu ihrer Person stellen, z.B. wo sie wohnen, was für Leute sie kennen oder was
für Dinge sie haben, und kann auf Fragen dieser Art Antwort geben. Kann sich auf einfache
Art verständigen, wenn die Gesprächspartnerinnen oder Gesprächspartner langsam und deutlich sprechen und bereit sind, zu helfen.“
Eine darüber hinausgehende weitere Sprachqualifizierung ist allerdings nur insoweit notwendig, als dass das Wertesystem des Grundgesetzes auf laienhafte Art verstanden werden kann.
2. Eine Bilanz der Sprachkurse739 in praktischer Hinsicht
Eine erste Bilanz von Sprachkursen durch das Zuwanderungsgesetz veröffentlichte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BMI) für das Jahr 2005 bereits am 08.03.2006.740 Insgesamt hatten zu diesem Zeitpunkt schon 8.196 Integrationskurse begonnen. Fast ein Viertel
davon fand in Nordrhein-Westfalen statt, 12 % in Bayern und 11,8 % in Baden-Württemberg.
215.651 Personen nahmen daran teil, 60.783 Personen wurden zur Teilnahme verpflichtet und
diese Zahl lag damit deutlich unter dem prognostizierten Wert. Im Jahre 2013 hat es bis September 6.705 neue Kurse gegeben, was einer Vorjahressteigerung von 17 % entspricht. In
diesem Zeitraum haben sich 121.832 Berechtigte angemeldet. Insgesamt seit Einführung am
01.01.2005 haben von 1.287.335 Berechtigten 965.860 tatsächlich einen Integrationskurs begonnen, wovon ca. 60 % diesen freiwillig besucht haben.741
Die Integrationskurse waren bis jetzt allerdings nur wenig erfolgreich, auch wenn die Zahl der
Wiederholer aktuell sinkt. Nach einer erneuten Auswertung haben nur 45 % der bisher
360.000 Teilnehmer ausreichende Deutschkenntnisse durch Bestehen des Abschlusstests
nachweisen können.742 Auch war die Zahl der Lehrkräfte, die wegen unzureichender Ausbil739
Göbel-Zimmermann, ZAR 2006, 81; Cernota, ZAR 2006, 388, vgl. auchzur aktuellen Bildungslage, Heckmann, Integration von Migranten: Einwanderung und neue Nationenbildung, Wiesbaden 2015, S. 131ff.
740
Nach dem Aufenthaltsgesetz hatte die Bundesregierung dem Bundestag zum 1.Juli 2007 einen Erfahrungsbericht zur Durchführung und Finanzierung der Integrationskurse vorzulegen. Um hierfür eine Grundlage zu schaffen, hat das Bundesministerium des Inneren im Januar 2006 Ramboll Management mit der Evaluation der Integrationskurse nach dem Zuwanderungsgesetz beauftragt. Ziel der Evaluation war es, die bisherige Umsetzung der
Integrationskurse zu analysieren. Dabei standen Aspekte der Verfahrenseffizienz, Finanzierung und die Kursdurchführung im Zentrum der Betrachtung.
741
Vgl. www.bamf.de
742
Informationen
nach
www.bmi.bund.de/cln_028/nn_122688/Internet/Content/Nachrichten/Pressemitteilungen/2007/04/Integrationspl
an.html.
184
dung nur mit einer Ausnahmegenehmigung nach § 15 S. 3 IntV unterrichten durften, höher als
die Zahl derjenigen, die den Qualifikationsanforderungen nach § 15 S. 1 IntV entsprachen.
Die Konzeption wird als zu schematisch empfunden, da nur in unzureichender Weise auf die
unterschiedlichen Profile der Zuwanderer eingegangen wird.
Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass auch von den bestehenden Sanktionsmöglichkeiten noch
kein umfassender Gebrauch gemacht worden ist. Dies liegt zunächst daran, dass die durch die
Hartz-Gesetze bedingten Umstellungen so umfangreich waren, dass die Integrationskurse als
Förderinstrumentarium zunächst vernachlässigt wurden.743 Außerdem hat der Evaluationsbericht ergeben, dass die Sanktionsvorschriften des Aufenthaltsgesetzes einige tiefgreifende
Fehler aufweisen, die sich in drei Schwerpunkte gliedern lassen:
Kritisch gesehen werden muss, dass die Ausländerbehörden häufig keinerlei Kenntnis von der
Verletzung der Teilnahmepflicht haben. Die in § 8 Abs. 4 S. 1 IntV vorgesehene Meldepflicht
wird verletzt, da teilweise die Kursträger gar nicht wissen, dass die Ausländerbehörden informiert werden müssen, teilweise gehen sie davon aus, dass eine Mitteilung an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge genügen würde oder der bürokratische Aufwand wird gescheut.744 Da das gesamte Sanktionssystem aber auf Informationen über die Erfüllung der
Teilnahmeverpflichtung beruht, müssen notfalls entsprechende Geldbußen für die Durchsetzung der Meldepflicht dienen. Zwar ist denkbar, dass es bei einer Aufwertung der Abschlusstests unerheblich wird, ob der Einzelne zwischenzeitlich am Integrationskurs teilgenommen
hat oder nicht. Allerdings könnten die nachträglich zu übermittelnden Fehlzeiten dazu verwendet werden, festzustellen, ob ein Zuwanderer einen etwaigen Misserfolg beim Abschlusstest zu vertreten hat. Eine Verbesserung dieser Problematik soll dergestalt erfolgen, dass ein
zielführendes Controllingsystem eingeführt wird. Um außerdem Verwaltungsaufwand auf
Seiten des Bundesamtes und auf Seiten der Kursträger zu minimieren, kann die Entwicklung
von Online-Lösungen angeregt werden.
Schon in der Evaluation des Bundesministeriums für Inneres im Juli 2006 wurde davon ausgegangen, dass die Sanktionierung mit erheblichem Aufwand verbunden ist und ihre Erfolgsaussichten häufig offen sind,746 was vor allem bei der Feststellung des „Vertretenmüssens“
der Teilnahmepflichtverletzung gelte, denn das Fehlen könne verhältnismäßig leicht durch
ärztliche Atteste entschuldigt werden. Einem Missbrauch könnte allerdings durch ein amtsärztliches Attest entgegengewirkt werden. Zudem wäre auch als Möglichkeit in Betracht zu
ziehen, die Stundenzahl zu erweitern, um so entsprechenden Nachholbedarf bereitzustellen.
Hinzu kommt außerdem, dass zwischen den freien Bildungsanbietern ein harter Existenzkampf besteht. Grund hierfür seien Lücken im Finanzierungssystem des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge. So führen diese vermehrt dazu, dass die Anbieter keine einheitlichen Qualitätsstandards gewährleisten könnten.747 Auch würden die Heterogenität der Teilnehmer in den Kursen sowie die Kursgröße, die durch Zusammenlegung von mehreren ausgedünnten Gruppen entstehe, die Lernsituation deutlich erschweren, es würden Analphabeten
743
BMI, Evaluation der Integrationskurse nach dem Zuwanderungsgesetz 2006, 66.
BMI, Evaluation der Integrationskurse nach dem Zuwanderungsgesetz 2006, 70.
746
Vgl. ausführlich dazu Kau, ZAR 2007, 185.
747
So Gerhard Gleichmann, Geschäftsführer der Inlingua Sprachschule in Hamburg und Vizepräsident des Bundesverbandes deutscher Privatschulen.
744
185
neben Akademikern sitzen.748 Ein erstes Indiz dafür, dass die Qualität des Unterrichts nicht
den Anforderungen der Teilnehmer entspricht, zeichnet sich durch die geringe Anzahl jener
aus, die eine Abschlussprüfung bestehen.749 Dieser Anteil liegt laut Bundesamt bei nur ca. 40
%, vgl. bereits obige Feststellungen. Vielen Sprachschülern fehlen schlicht die Voraussetzungen. Der Auslöser für den knappen Kostenplan liegt in der seit 2005 geltenden Neuregelung
begründet. Anders als vor der Einführung der Kurse zahlt das Bundesamt heute eine Pauschale von 2,05 € pro Teilnehmer und Stunde, und nicht wie noch zuvor je Lerngruppe, was 2,75
€ pro Teilnehmer durchschnittlich ausmachte. Da sich jedoch die Teilnehmerzahl im Kursverlauf stark dezimiert und somit auch die Mittel pro Schüler wegfallen, stünden viele Träger am
Ende mit hohen Fixkosten wie Lehrerhonoraren und Mieten da. Diese müssen durch andere
Programme ausgeglichen werden und wer nicht umschichten kann, kürzt an der Qualität.
Es wird zwar betont, dass ein funktionierendes System von positiven und negativen Anreizen
einen wesentlichen Einfluss auf die Motivation der Teilnehmenden hat 750, allerdings zeigt
sich, dass die negativen Sanktionen nicht, wie eben bereits angesprochen, hinreichend effektiv
sind und dass es an positiven Anreizen, abgesehen von einer Fristverkürzungsmöglichkeit
nach § 10 Abs. 3 StAG, fehlt. Es fehlen in erster Linie auch positive finanzielle Anreize wie
etwa die prozentuale Rückzahlung von Kursgebühren.
So besteht also insgesamt sicherlich noch Verbesserungsbedarf. Auch muss eine gewisse
Nachhaltigkeit angestrebt werden, so dass z.B. durch eine verbesserte Verzahnung mit der
Arbeitsmarktförderung, eine gezielte Einbettung in kommunale Integrationsstrategien erfolgt.
Zudem soll eine Kooperation mit den Migrationsberatungsdiensten erhöht werden. Außerdem
wird eine Einführung eines Gutscheinsystems empfohlen, welches den administrativen Aufwand verringert und durch eine stärkere Erfolgsorientierung positive Anreize für die Qualität
der Kurse schafft.751
748
Vgl. dazu auch Böß, Migration in Europa am Beispiel der Integration von türkischen Bürgern in der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg 2006, S. 38ff.
749
Vgl. dazu auch Deppermann, Das Deutsch der Migranten, Berlin/Bosten 2013, S. 391.
750
BMI, Evaluation der Integrationskurse nach dem Zuwanderungsgesetz 2006, 159.
751
Vgl. dazu Genswein, Die Vermittlungs von Sprachkompetenz an Migranten: Grundlagen und sozialpädagogische Möglichkeiten, Köln 2003, S. 32ff.
186
III. Die Integrationssituation bei Jugendlichen, Frauen761 und Mädchen762
Bei einem erfolgreichen Integrationskonzept sollte auch darauf geachtet werden, dass die
Immigranten nicht gleichsam als homogene Gruppe behandelt werden, sondern deren individuelle Prägungen und spezifischen Probleme sorgfältig erkannt werden, um dann gezielt auf
eine Integration hinarbeiten zu können.763
In diesem Zusammenhang ist sowohl der Familiennachzug im Allgemeinen als auch der
Nachzug von Ehepartnern eine der hauptsächlichen Ursachen für ungesteuerte Zuwanderung
und damit für die Zuwanderung Nicht-Qualifizierter. Diese Migrantinnen kommen überwiegend aus ländlichen Gebieten oder aus Krisengebieten.764 Armut, geringe Bildung, Orientierung an traditionellen Werten der Agrargesellschaft einerseits, Krieg und Flucht vor politischen Verhältnissen im Heimatland765 prägen sie, so dass ihre konstruktiven Potentiale gering
sind. Dies ist nicht den Personen selbst anzulasten, sondern ihren Lebensumständen. So sind
eine formale schulische Bildung und Grundkenntnisse der deutschen Sprache unverzichtbar,
die bereits im Heimatland gelernt werden muss. Dies gilt umso mehr, als dass in den meisten
ethnischen Kolonien keine ausreichenden Gelegenheiten bestehen, die Sprache dort zu lernen.
Sprachkenntnisse würden zudem das Selbstvertrauen der Ehefrauen stärken und eine eigenständige Handlungsfähigkeit ermöglichen.766 Die Erwartungen berufstätiger Frauen an ihre
Männer werden immer größer und sie verlangen mehr Rechte innerhalb der Familie. Aufgrund der veränderten Positionen entstehen neue Probleme in der Familie, besonders bei der
Familienplanung, beim Geldausgeben, bei der Kindererziehung. Solche neu entstandenen
Probleme spiegeln sich beispielsweise in der immer höher werdenden Scheidungsquote unter
den ausländischen Familien767 wider. Eine türkische Frau, die eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis besitzt, hat, zumindest die theoretische, Möglichkeit, ihre Ansichten ihrem Mann
gegenüber frei zu vertreten. Wenn eine ausländische Frau nicht selbst berufstätig ist, wird ihre
Abhängigkeit von ihrem Mann und ihren Kindern größer. Da sie selbst zu ihrer neuen Umge761
Boos-Nünning/Karakasoglu, Viele Welten leben. Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit
Migrationshintergrund, Münster 2005; vgl. Besprechung von Renner, ZAR 2005, 253; Allgemein zur Frauensituation: Valtink, Identitätsprobleme und Rollenkonflikte türkischer Frauen und Mädchen: Beratung, Sozialarbeit,
Schule, Hofgeismar 1988; Rödig, Zur Lebenswelt türkischer Frauen in der Bundesrepublik Deutschland, Gießen
1988; Schmidt-Koddenberg, Akkulturation von Migrantinnen, Opladen 1989; Bennholdt-Thomsen, Frauen aus
der Türkei kommen in die Bundesrepublik: zum Problem der Hausfrauisierung, Bremen 1987; Fromm/Savier,
in: Savier, Alltagsbewältigung, Opladen 1994; Gerhard, Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht, Frankfurt am
Main 1990.
762
Vgl. Öztoprak, der sich zu den Wertorientierungen türkischer Jugendlicher im Generationen- und Kulturvergleich äußert, in: Reulecke, Spagat mit Kopftuch, Hamburg 1997, S. 418ff; vgl. dazu allgemein: Biehl/Kabak,
Muslimische Frauen in Deutschland erzählen über ihren Glauben, Gütersloh 1999; Klinkhammer, Moderne Formen islamischer Lebensführung: eine qualitativ-empirische Untersuchung zur Religiosität sunnitisch geprägter
Türkinnen der zweiten Generation in Deutschland, Marburg 2000; Nökel, Die Töchter der Gastarbeiter und des
Islam: Zur Soziologie alltagswestlicher Anerkennungspolitiken, Bielefeld 2001; Akashe-Böhme, Die islamische
Frau ist anders: Vorurteile und Realitäten, Gütersloh 2002; Stauch, Die Entwicklung einer islamischen Kultur in
Deutschland: eine empirische Untersuchung anhand von Frauenfragen, Berlin 2004.
763
Schiffauer, Migration und kulturelle Differenz, Berlin 2002, vgl. auch Langeberg, Integrationskurs für MigrantInnen- Integrationsmaßnahme oder Sprachkurs, Norderstedt 2007, S. 14ff.
764
Pries, Transnationale Migration, Baden-Baden 1997.
765
Pries, Internationale Migration, Bielefeld 2001.
766
Toprak, Das schwache Geschlecht - die türkischen Männer. Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Doppelmoral
der Ehre, Freiburg 2005.
767
Özkara, Türkische Migranten in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 1990, S. 117.
187
bung keine Beziehung hat, muss sie die Beziehung zu dieser Umgebung durch ihren Mann
und ihre Kinder aufbauen. Berücksichtigt man dabei, dass sie auch die fremde Sprache nicht
beherrscht, kann sie die neue Umgebung nicht definieren und sich in ihr zurechtfinden. Natürliche Folge ist die Isolation von der Gesellschaft. Weil die ausländische Mutter dann von der
Gesellschaft isoliert ist, kann sie ihre Erziehungsaufgabe gegenüber ihren Kindern auch nicht
erfüllen. Sie kann die Probleme der Kinder nicht lösen, besonders nicht die, die durch das
Leben zwischen zwei Kulturen entstehen. Außerdem kommt es zur Entfremdung zwischen
Mutter und Kindern, da die Sozialisation der Kinder in zwei konkurrierenden Kulturen stattfindet. Diese Entfremdung wird durch die sprachliche Überlegenheit der Kinder noch gefördert. Zudem lässt sich feststellen, dass ein wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang hinzukommt, nämlich die Orientierung an Gleichaltrigen. Diese Orientierung findet im Wesentlichen an Jugendlichen statt, die aus der gleichen ethnischen Gruppe mit ähnlichen Erfahrungen
stammen und ähnliche soziale Identität besitzen. Die Mitgliedschaft in deutschen
Gleichaltrigengruppen wird hingegen nur in den Wohngebieten auftreten, wo Ausländer in
der Minderheit sind; aber aufgrund der Isolierung der ausländischen Jugendlichen wird dies
nicht allzu oft vorkommen.768
Übrigens sieht sich nur eine Minderheit als Deutsche oder als bikulturell. Die Mehrheit identifiziert sich mit der Herkunftsnationalität der Eltern und möchte deren Kultur (wobei offen
bleiben kann, was darunter zu verstehen ist) beibehalten. Die Verankerung der eigenen ethnischen Gruppe ist besonders groß bei Mädchen griechischer und türkischer Herkunft.
Die Probleme der Mädchen aus der zweiten Generation769 bestehen darin, dass in der türkischen Familie sehr viel Wert auf Familienbindung gelegt wird, um die Mädchen vor äußeren
Einflüssen zu schützen. Dadurch wird die Abhängigkeit der Mädchen von ihren Mütter und
Vätern und deren Erwartungen noch größer. Diese Abhängigkeit hat einen negativen Einfluss
auf die Bildung und Freizeitbeschäftigung der Mädchen. Sie werden außerhalb des engeren
Familienkreises von Vater, Brüdern und Onkeln zusätzlich noch von der Gesellschaft kontrolliert. Den Regeln, die für gleichaltrige deutsche Jugendliche gelten, können sie nur bis zu bestimmten Grenzen folgen. Die Bestimmung dieser Grenzen wird durch die Sozialisation innerhalb der Familie geprägt. Häufig wird die Beziehung zu gleichaltrigen Deutschen von der
Familie verhindert. Die drei besten Freunde bzw. Freundinnen kommen besonders bei Mädchen aus Aussiedlerfamilien und mit türkischem Hintergrund aus der eigenen Ethnie (84 %
bzw. 79 %).770 Auf der anderen Seite darf nicht übersehen werden, dass auch die Vorurteile
der deutschen Jugendlichen erschweren, Beziehungen aufzubauen.771 Die zwischen zwei Kul768
Wilpert, Die Zukunft der zweiten Generation, Königstein 1980, S. 144.
Vgl. allgemein dazu: Klutas, Integration junger türkischer Frauen: Das Leben zwischen zwei Kulturen, Saarbrücken 2007; Karpf, Geschlechterrolleneinstellung, Eheorientierung und soziale Kontrolle junger Türkinnen in
der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1980; Weische-Alexa, Sozial-kulturelle Probleme junger Türkinnen
in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1982; Rodens, Lebensstile und Zukunftsaussichten junger Türkinnen
in Deutschland, Konstanz 1999, Gaitanides, Sozialstruktur und „Ausländerproblem“: sozialstrukturelle Aspekte
der Marginalisierung von Ausländern der ersten und zweiten Generation, München 1983; Schlaffke/Zedler, Die
zweite Ausländergeneration: Vorschläge und Modelle zur Eingliederung von Ausländerkindern, Köln 1980;
Schrader/Nikles/Griese, Die Zweite Generation. Sozialisation und Akkulturation ausländischer Kinder in der
Bundesrepublik, Königstein 1979; Wegner, ZAR 1994, 118.
770
Karakasoglu, ZAR 2006, 22.
771
Details bei Auernheimer, Der sog. Kulturkonflikt: Orientierungsprobleme ausländischer Jugendlicher, Frankfurt am Main 1988.
769
188
turen hin und her gerissen und von beiden nicht entsprechend profitierenden muslimischen
Mädchen befinden sich oft in einem Zustand der Orientierungslosigkeit. Weder haben sie eine
Vergangenheit in ihrem Heimatland, noch eine sichere Zukunft. Die Persönlichkeitskrise, in
der sie sich befinden und die durch ihre inneren Widersprüche entsteht, wird durch die Gegensätze, die in der Beziehung zu ihren Eltern und ihrer näheren Umgebung auftreten, noch
verschärft. Auch haben sie keine guten Bildungschancen.
Diesen Entwicklungen muss durch verstärkte Bildung und Aufklärung deutlich entgegengetreten werden.
Im Allgemeinen wird allerdings die Inanspruchnahme von externen Hilfen, die zur Unterstützung im familiären Bereich dienen sollen, eher abgelehnt.772 Wenn überhaupt eine Beratungsstelle von Frauen oder Mädchen aufgesucht wird, so ist es den Betroffenen wichtig, dass die
Beraterin mit der Kultur und Religion des Mädchens vertraut ist, dass die Beratung von Frauen durchgeführt wird und dass sie von den Eltern akzeptiert wird.
Der Ausländerbeauftragte bezeichnet zudem die Migrantinnen als eine äußerst heterogene
Gruppe, weil sie sich in ihren Lebensbedingungen nach vielerlei Faktoren voneinander unterscheiden, wie Nationalität, Einreisealter, Familienstand, Aufenthaltsdauer, Rechtsstatus, Bildung oder Schichtzugehörigkeit. Frauen der ersten Generation haben seltener als deutsche
Frauen formale Berufsabschlüsse gehabt und waren lange unterhalb ihres Qualitätsniveaus
erwerbstätig. Von Entlassungen waren sie betroffen und sind vielfach in prekäre Arbeitsverhältnisse abgedrängt worden. Junge Frauen der zweiten Generation haben demgegenüber wesentlich bessere Schulabschlüsse.773 Spezielle Initiativen zunächst zur Verbesserung ihrer
Situation in Arbeit und Beruf sind notwendig. Erforderlich sind insbesondere die Schaffung
eines positiven Bildes von Frauen ausländischer Herkunft in der Öffentlichkeit, die stärkere
Öffnung auch der Medien, die intensivere Förderung der beruflichen Nachqualifizierung mit
einem auf die Migrantinnen abgestimmten Bildungs- und Beratungsangebot und eine ausbildungsbegleitende sprachliche und fachliche Förderung für spät eingereiste Mädchen und junge Frauen sowie verstärkte Angebote zum Erwerb der deutschen Sprache. Daneben sollten
spezifische Beratungs- Informations- und Aufklärungsangebote in Kooperation mit
Migrantinnenvereinen weiterhin verstärkt werden. Die Ziele dieser Kurse sollten sein, dass
die Frauen aus dem engen Umkreis ihrer Wohnungen herausgeholt werden774, Beziehungen
zu anderen Frauen aufbauen können, ihr Realitätsbewusstsein erhöhen und dadurch das
Selbstbewusstsein stärken können, zum Nachdenken über in ihrer Umgebung existierender
Probleme motiviert werden, den kritischen Zustand der Mann/Frau-Beziehung erkennen.
In der politischen Diskussion wird außerdem immer wieder auf die hohe Kriminalität von
Jugendlichen mit Migrationshintergrund775 verwiesen und eine Verschärfung der Rechtslage
gefordert.
772
Vgl. empirische Ergebnisse bei: Karakasoglu, ZAR 2006, 22.
Kraus, ZAR 1998, 195.
774
Vgl. auch: Ergi, Lebenssituation und politische Beteiligung von Arbeitsmigrantinnen in der Bundesrepublik
Deutschland, Marburg 2000; Halm/Sauer, Bürgerschaftliches Engagement von Türkinnen und Türken in
Deutschland, Wiesbaden 2007.
775
Vgl. Hubert, Zeitschrift für Migration und Soziale Arbeit, Heft 3/4, 92.
773
189
Im Dezember 2007 schlugen zwei junge Männer einen Rentner in der Münchner U-Bahn zusammen, der dabei schwer verletzt wurde. In der medialen Welt wurde im Anschluss daran
heftig debattiert, was denn nun zu tun sei. Im Ergebnis war man sich einig, dass derjenige als
besonders gefährlich gelte, der jung und männlich war, Migrationshintergrund aufweise und
bereits Mehrfachtäter sei.
Aus empirischer Sicht ist dies allerdings eine nur wenig differenzierte Aussage, die in diesem
Maße nicht bestätigt wurde.776 Dies sei deshalb nicht erstaunlich, weil die betroffene Gruppe
eine Große Heterogenität aufweise777 und sich in ihr die unterschiedlichsten Nationalitäten
wiederfinden.778 Zudem gebe es Probleme bei den justiziellen Statistiken und bei der Erfassung von Kriminalität junger Migranten, denn inwieweit Taten registriert werden, ist beispielsweise abhängig vom Anzeigeverhalten, von der politischen Kontrollintensität und von
der Art der statistischen Erfassung. Migranten werden nur nach ihrer Staatsangehörigkeit in
Ausländer und Deutsche unterschieden. Dabei können sich unter den Deutschen aber auch
solche mit Migrationshintergrund befinden. Andererseits müssen Ausländer nicht zwingend
(dauerhaft) in Deutschland leben. So fallen auch Touristen, Durchreisende, Studenten oder
Geschäftsleute hierunter. Insgesamt haben rund 27 % der unter 25-Jährigen einen Migrationshintergrund. Der Anteil derer mit deutschem Pass, die hier geboren wurden, liegt bei ca. 50
%. Diese differenzierte Verteilung findet jedoch in den Statistiken keine Berücksichtigung,
ebenso wenig die Feststellung, welche sozialspezifischen Besonderheiten in den jeweiligen
Wohnbevölkerungsgruppen herrschen.
Folglich lässt sich also keine pauschalisierende Aussage über die Verteilung von Jugendkriminalität treffen. Eine solche birgt nur im Gegenteil die Gefahr von Vorverurteilungen und
Etikettierungen. Ein differenzierter, sensibler, aufmerksamer, aber auch offener Umgang mit
Kriminalität junger Migranten ist daher unverzichtbar. Für eine Verschärfung jugendstrafrechtlicher oder auch ausländerrechtlicher Maßnahmen besteht auch insoweit kein Anlass, als
dass vorhandene Maßnahmenkataloge ausgeschöpft werden können und ein Ausbau sozialer
Kriminalprävention sachliche Bewältigung verspricht.
IV. Die Situation am Arbeitsmarkt und weitere Integrationsprobleme
Fraglich ist in diesem Zusammenhang, welche weiteren Integrationsmaßnahmen779 verfassungsrechtlich zulässig und vielleicht sogar geboten wären. Wie diese konkret ausgestaltet
sein könnten, wird daran anschließend dargestellt.
Fehlende Qualifikation ist eine zentrale Ursache der überproportionalen Ausländerarbeitslo776
Trunk, ZAR 2008, 181; Walburg, NK 2007, 142.
Vgl. Albrecht, in: Alt/Bommes, Illegalität: Grenzen und Möglichkeiten der Migrationspolitik, Wiesbaden
2006, S. 64.
778
Details bei: Konsortium Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2006, S. 143.
779
Vgl. allgemein zu verschiedenen Integrationsmodellen, Bommes/Halfmann, Migration in nationalen Wohlfahrtsstaaten, Osnabrück 1998; Oltmer/Schubert, Migration und Integration in Europa seit der Frühen Neuzeit,
Osnabrück 2005; Walter, Grenzen der Gesellschaft? Migration und sozialstruktureller Wandel in der Zuwanderungsregion Europa, Göttingen 2006; ferner den Nationalen Integrationsplan der Bundesregierung vom
12.07.2007.
777
190
sigkeit. Ende Januar 2014 hatte nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit 75 % der arbeitslosen Ausländer keine abgeschlossene Berufsausbildung im Vergleich zu „nur“ 39 % bei den
deutschen Arbeitslosen. Die Arbeitslosenquote bei Ausländern ist aktuell mit 14,2 % mehr als
doppelt so hoch wie bei den Deutschen. Eine Ursache dafür muss auch sicherlich darin gesehen werden, dass Europa gegenwärtig zu 85 % unqualifizierte Arbeitsmigranten aufnimmt. In
den USA und Kanada ist dem nicht so, da diese über differenzierte Verfahren der Zuwanderung auch Hochqualifizierte anwerben und halten können.780
In einer Leistungsgesellschaft aber, die Einkommen für die Mehrheit der Menschen über Erwerbsarbeit verteilt, ist beruflicher Erfolg die Bedingung einer eigenständigen Lebensführung. Ein langfristiger Ausschluss aus dem Arbeitsleben birgt die Gefahr der sozialen Marginalisierung. Neben materiellem Auskommen sichert beruflicher Erfolg auch Selbstbewusstsein und Selbstwert. Der Zugang zu Arbeit und Einkommen bildet daher über die eigentlichen
wirtschaftlichen Aspekte hinaus das Fundament einer gelingenden Integration.
Sprach- und Bildungsförderung für die neu zugewanderten und schon länger hier lebenden
Menschen muss zur Regelaufgabe für das gesamte Bildungssystem und sämtlicher Bildungseinrichtungen werden.
Bildung781 und Ausbildung werden bei sämtlichen Problematiken als die zentralen Förderungselemente für die berufliche und soziale Integration bezeichnet und stehen häufig im
Zentrum ethnischer Konflikte. Dies ist deshalb so, weil Bildung sowohl eine allokative wie
sozialisierende Funktion hat, die nicht allein den Status und die Einstellungen von Individuen,
sondern auch die ethnischen Gruppen entscheidend bestimmt. Zugang zu Bildungssystemen
und Erfolge in ihnen haben Auswirkungen auf Prestige und Einkommen, sie determinieren
die Lebenschancen. Bildungsprivilegien werden ebenso vehement verteidigt, wie Bildungsdiskriminierung andererseits bekämpft wird. Solche Konflikte sind nicht selten noch schärfer
als unmittelbare Konflikte um Einkommen und Vermögen, da viele Menschen zwar bereit
sind, ihre eigene Benachteiligung hinzunehmen, aber nicht mehr die ihrer Kinder. Gerade der
meritokratische Anspruch moderner Bildungssysteme stellt die Hinnahme askriptiver Statuszuweisung oder traditioneller ethnischer Hierarchien in Frage.782 Versuche der Aufrechterhaltung ungleicher Bildungschancen sind daher besonders geeignet, offenen ethnischen Konflikt
zu provozieren. Die Ursachen für die unbefriedigende Bildungssituation werden als sehr vielfältig bezeichnet. Neben Faktoren wie Schichtzugehörigkeit, Sprachkenntnisse und Einreisealter, spielen auch strukturelle Benachteiligungen eine herausragende Rolle. Ein niedriges
Bildungsniveau erschwert zudem die Akzeptanz bei der einheimischen Bevölkerung, wirke
gleichzeitig auch negativ auf das soziale Ansehen und Selbstwertgefühl und fördere so die
mangelnde Partizipation der nichtdeutschen Kinder und Jugendlichen.783 Dabei ist auch noch
zu beachten, dass bei Migrantenkindern kaum mit Unterstützung des Elternhauses gerechnet
780
Vgl. ausführlich Eichenhofer, ZAR 2008, 81.
Vgl. allgemein dazu: Schröter, Mohammeds deutsche Töchter: Bildungsprozesse, Hindernisse, Hintergründe,
Königstein/Taunus 2002; Cankaya-Kilci, Selbstsein und Bildung: türkische Frauen im Kampf um Selbstbestimmung, Marburg 2006; Behrens/Motte, Politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft: Zugänge, Konzepte,
Erfahrungen, Schwalbach 2006; Tiesler, Muslime in Europa: Religion und Identitätspolitiken unter veränderten
gesellschaftlichen Verhältnissen, Berlin 2006.
782
Hanf, in: Fröschl/Mesner/Ra´anan, Staat und Nation in multi-ethischen Gesellschaften, Wien 1991, S. 79.
783
Kraus, ZAR 1998, 195.
781
191
werden kann. Eine auf Konfliktminderung abzielende Bildungspolitik muss daher die Herstellung möglichst gleicher Bildungschancen für Angehörige aller ethnischen Gruppen anstreben.
Dies kann sowohl im Rahmen zentraler wie auch in kulturautonomen Bildungssystemen erfolgen. Hierbei gibt es nun wiederum zwei Möglichkeiten: In zentralen Systemen bieten sich
kompensatorische Förderungen benachteiligter Gruppen oder Quotensysteme an. Im Rahmen
von ethnisch autonomen Schulsystemen besteht die Möglichkeit einer proportionalen Ressourcenzuweisung. Das Problem des letzteren birgt allerdings die Gefahr, dass die Konkurrenzsituation vom Schulsystem auf den Arbeitsmarkt verlagert wird, also lediglich verschoben wird und von Anfang an nicht ein gemeinsames Vorgehen der differierenden Gruppen
anstrebt.
Den jungen Menschen784 sollten außerdem Angebote zur Verfügung gestellt werden, und
zwar anknüpfend an die Interessen der jungen Menschen, von ihnen selbst mitbestimmt und
mitgestaltet, um sie so zur Selbstbestimmung zu befähigen785 und zur gesellschaftlichen Mitverantwortung und zum sozialen Engagement hinzuführen.786 So ermöglicht beispielsweise
eine frühzeitige zweisprachige Sozialisation in Kindertagesstätten als Ergänzung der familiären Erziehung ein Einleben in die institutionelle Erziehung.
Es scheint dabei unentwegt gefordert zu werden, dass Fremde willkommen sein müssen. Dass
sie dies keineswegs immer sind, hat jedoch auch mit einem grundsätzlichen, keineswegs spezifisch deutschen Problem zu tun, nämlich mit einem tiefsitzenden, offenbar fast anthropologisch verankerten Unwillen nahezu aller Gemeinschaften auf jene, die nicht dazugehören,
zuzugehen. Man definiert sich selbst und gewinnt Kontur, indem man sich von anderen abgrenzt. Dies klappt, da es immer welche gibt, die nicht dazugehören. Das gilt im Übrigen für
beide Seiten: Auch der Fremde kann sich seiner selbst sicherer werden, wenn in der Fremde
die Grenzen zwischen ihm und den ihm Fremden klar gezogen ist. Das Innehalten, die Vorsicht und das Misstrauen gegenüber Fremden sind für Gesellschaften, zumindest westlichabendländischen Zuschnitts, geradezu konstitutiv.787
Bislang wird man sagen können, dass Deutschland dennoch über die Grenzen hinaus als liberales Einwanderungsland galt. Der Staat investierte viel Geld in die sog. Integrationsförderung und ermöglichte den Zuwanderern eine sanfte Landung im neuen Zuhause, indem sie
ihre Sprache, ihre Religion und Kultur beibehalten konnten, indem Moscheen und Bekenntnisschulen gebaut wurden und die Gründung von Vereinen und Verbänden durch Einwanderer gefördert wurde. Nach außen schien also alles bestens, aber nach innen brodelte es schon
länger, die Einwanderer verzeichneten eine stetig sinkende Beteiligung am Arbeitsmarkt und
hatten einen deutlich geringeren Bildungserfolg.788 Bestehende soziale Konflikte wurden
784
Vgl. ausführlich zu Kinder- und Jugendhilfe für Zugewanderte: Kraus, ZAR 2003, 183.
Vgl. auch: Klinkhammer/Jonker, Individualisierung und Säkularisierung islamischer Religiosität: zwei Türkinnen in Deutschland, Berlin 1999.
786
So auch Schmalz-Jacobsen, Einwanderung - und dann?, München 1993, S. 115.
787
Cohn-Bendit/Schmid, Heimat Babylon, Hamburg 1993, S. 322; vgl. auch Caliskan, Ent-fremdung: Migration
und Dominanzgesellschaft, Köln 1996; vgl. Details für junge Migranten: Sauer, Integrationsprozesse von Kindern in multikulturellen Gesellschaften, Wiesbaden 2007; Analysierend: Matjan, Auseinandersetzung mit der
Vielfalt: politische Kultur und Lebensstile in pluralistischen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1998.
788
So erreichten 1995 nur 4,8 % der Türken einen Abschluss berufsbildender Schulen, hingegen 67,8 % einen
Hauptschulabschluss, was darauf hindeutet, dass die Aufnahme einer Arbeit aufgrund der niedrigen Schulabschlüsse fraglich erscheint, Haberland, ZAR 1997, 138. Des weiteren war die Arbeitslosenquote von ausländischen Arbeitnehmern mit 20,2 % doppelt so hoch wie die gesamte Quote, Schuleri-Hartje/Reimann, ZAR 2005,
785
192
nicht thematisiert. Kritik an bestehenden, integrationspolitischen Problemlagen war ein Tabu,
da Kritiker Gefahr liefen, als „Rassisten“ gebrandmarkt zu werden. Eine Evaluation dieser
Politik zeigt nun aber einige der negativen Effekte der Bewahrung der „Gruppenkultur“ auf:
Insbesondere fällt die starke Abhängigkeit der Migranten von staatlichen Fördermitteln ins
Auge, was auch zu einer erheblichen Unruhe innerhalb der deutschen Bevölkerung führt und
Begriffe wie „Sozialschmarotzer“ hervorruft. Das deutsche Integrationsmodell war bis zu den
1990er Jahren durchaus erfolgreich, was auch der internationale Vergleich zeigt. 789 Heute
funktioniert dies aber nicht mehr richtig, denn Arbeit und soziale Rechte stehen als Integrationsressourcen nur noch eingeschränkt zur Verfügung. Der arbeitssparende technische Fortschritt und der grundlegende Wandel der Fertigungs- und Arbeitsprozesse hat die Nachfrage
der Unternehmen nach qualifizierten Arbeitskräften erhöht, die nach Geringqualifizierten ist
zurückgegangen. Da Deutschland nie Elitemigration organisierte, sondern Arbeitskräfte anwarb, die zupacken konnten, sind auch jene Menschen in besonderem Maße von der Beschäftigungskrise betroffen.790
In der aktuellen Diskussion werden zudem Gebiete, in denen Zuwanderer in hoher Anzahl
leben, zunehmend als Problem angesehen, da diese Gebiete als integrationshemmend und als
Ausdruck für Desintegration gewertet werden. Die bauliche Realität in einer multikulturellen
Gesellschaft, gerade in vielen Großstädten, ist die sozialräumliche Ausdifferenzierung, die
Abschottung, teilweise Ghettoisierung und schließlich die daraus resultierende Segregation,
d.h. die räumliche Abbildung sozialer Ungleichheiten, der Wohnbevölkerung nach Herkunft,
Ethnie, sozialer Lage und Lebensstil. Auch wenn eine ethnische Mischung im Baugesetzbuch791 und im Wohnraumförderungsgesetz792 Ziel kommunaler Wohnungswirtschaft sein
soll, hat sich eine Mischung nur in Ansätzen als umsetzbar erwiesen. Oft ziehen sich Angehörige bestimmter Bevölkerungsgruppen aus dem öffentlichen Leben zurück, leben zurückgezogen unter sich, suchen Schutz in der Religion oder teilweise in einer fast aggressiven Ethnizität. Dieser meist „stille Kulturkampf“793 lief in den vergangenen Jahren oft unbemerkt ab. Ein
Beispiel aus Berlin: Heute beträgt der Anteil an Nicht-Deutschen-Berlinern rund 15 % der
Berliner Bevölkerung. Innerhalb der Staatsgrenze lassen sich deutliche Unterschiede der Verteilung feststellen. So beträgt der Ausländeranteil in Kreuzberg 35 %, im Osten hingegen 4-5
%, in den alten Westbezirken 16-17 %.794
164. Daneben hat sich z.B. in den Niederlanden, die ähnliche Regelungen besitzen, gezeigt, dass trotz Bildungsprogramme eine Ausfallquote von 25-30 % besteht, vorrangig aufgrund Arbeitsaufnahme und fehlender Kinderbetreuung. Daneben hat sich gezeigt, dass nur 10 bis 15 % aller Absolventen ein Sprachniveau haben, das für
den Arbeitsmarkt ausreicht, Schmid-Drüner, ZAR 2005, 93.
789
Laschet, ZAR 2007, 1.
790
Wie negativ sich mangelnde schulische und berufliche Qualifikation auswirken, zeigt eine Rechnung des
Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Danach lag das Arbeitslosigkeitsrisiko von Akademikern in
den letzten 30 Jahren mehr oder weniger konstant bei 4 %. Für Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung
ist dieses Risiko von knapp 7 % Mitte der 70er Jahre auf heute 25 % gestiegen. Für alle Industrieländer gilt, dass
Erwerbspersonen umso eher arbeitslos werden, je geringer qualifiziert sie sind; Laschet ZAR 2007, 1.
791
§ 1 Abs. 5 S. 2 Baugesetzbuch sieht vor, „die Wohnbedürfnisse der Bevölkerung bei Vermeidung einseitiger
Bevölkerungsstrukturen zu berücksichtigen.“
792
§ 6 Wohnraumförderungsgesetz, wonach die Schaffung und Erhaltung sozial stabiler Bewohnerstrukturen bei
der Förderung von Wohnungen zu berücksichtigen sind.
793
Zu dieser Gefahr, Prantl, Leitkultur für alle, SZ vom 20.11.2004, zur eigentlichen Bedeutung des Begriffs,
vgl. Ausführungen unter A III.
794
http://www.migazin.de/2013/02/11/berlin-auslanderanteil-steigt-tuerken/
193
Es finden sich 184 verschiedene Nationalitäten in Berlin, von denen die türkischstämmige
Nationalität mit 138.000 die größte Gruppe stellt. Da sich die Türken aufgrund der Sehnsucht
nach Wahrung der heimatlichen Kultur hauptsächlich dort niederließen, wo bereits Landsleute
ansässig waren, trat eine Ghettoisierung ein. Dadurch ist ein Leben ohne Integration in die
deutsche Gesellschaft möglich. So kann man beispielsweise problemlos türkisches Fernsehen
empfangen, es existieren türkische Zeitungen und die Menschen leben meist in einer türkischen Nachbarschaft. Hinzu kommt, dass traditionsbewusste türkische Männer dazu tendieren, junge, in der Türkei lebende, Frauen zu heiraten und in die Bundesrepublik zu holen, deren alleinige Aufgabe die Erziehung der Kinder ist, und die über keinerlei Deutschkenntnisse
verfügen. So werden die Kinder türkischsprachig erzogen, die dadurch große schulische Probleme bekommen. Fehlende Schulabschlüsse und mangelnde Qualifikation wiederum führen
zu großen Problemen auf dem Arbeitsmarkt, so sind 66 % der Jugendlichen in Kreuzberg arbeitslos. Bei Erwachsenen ist die Arbeitslosenquote bei Ausländern immerhin noch niedriger.
Wenn die Sprachkenntnisse nicht deutlich verbessert werden, besteht für die türkischen Jugendlichen kaum eine Möglichkeit, aus dem Teufelskreis der Isolation und Arbeitslosigkeit
auszubrechen.795
Der Ausländeranteil beträgt in Deutschland aktuell etwa 9 % was im EU-Vergleich Spitzenwert ist.796
Daraus könnte sich gleichzeitig eine Notwendigkeit der Steuerung und Begrenzung einer weiteren Aufnahme von Ausländern ergeben. Damit wird ein wichtiger Beitrag gegen Rassismus
und Fremdenfeindlichkeit geleistet.797 Zudem richtet sich das Grundgesetz schon in der Präambel an das deutsche Volk. Die Bezeichnung einer Gemeinschaft als „Volk“ könnte implizieren, dass gerade innerhalb dieser Population eine gewisse Deckungsgleichheit bezüglich
bestimmter im Land vorhandener Werte vorausgesetzt wird, um als Teil dieser Gemeinschaft
zu existieren, was wiederum nur die im Grundgesetz verbürgten Freiheitsrechte zu leisten
vermögen. Die subjektive Annahme der Ausländer durch die Gesellschaft könnte also die
eigentliche Messlatte bilden und ist die Voraussetzung bilateraler Öffnungsprozesse. Das
Überforderungssyndrom ist allerdings die größte Gefahr für eine multikulturelle Gesellschaft,
dies wird vor allem im Hinblick auf Erfahrungen aus geschichtlichen Ereignisse deutlich, vgl.
z.B. den Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien, dessen Bevölkerungsgruppen sich aufgrund
scheinbar unüberwindbarer Differenzen brutal bekämpften. Eine Sichtweise, die dies ignoriert, vernachlässigt die entscheidende Frage, ob es den Fremden nicht schon an der öffnungsbereiten Aufnahmegesellschaft fehlt. Die Integrationsfähigkeit von Gesellschaften ist folglich
begrenzt. Integration wird umso schwieriger, je höher der Anteil der Ausländer ist.798 Auch
werden sich Öffnungsbereitschaft und Akzeptanz nur sichern lassen, wenn die deutsche Bevölkerung nicht das Gefühl hat, übervorteilt und überfordert zu werden. Man darf solch psychologische Aspekte nicht völlig unterschätzen. Die Einheimischen befürchten einen doppelten Schaden. Einerseits sorgen sie sich um den eventuellen Verlust des Arbeitsplatzes auf795
www.laurentianum.de/berlin/berlsw1.htm.
Vgl. www.arbeitsagentur.de; vgl. auch als Vergleich zur Entwicklung: Migrationsbericht 2005;
Landsberg/Stange, ZAR 2006, 392; Bommes/Schiffauer, Migrationsreport 2006, Frankfurt am Main 2006;
Santel, Migration in und nach Europa. Erfahrungen, Strukturen, Politik, Opladen 1995.
797
ZAR-Dokumentation, ZAR 1996, 195.
798
Zur Bedeutung einer Steuerung der Zuwanderung aus wirtschaftspolitischer Sicht: Henkel, ZAR 2003, 124.
796
194
grund Verdrängung. Andererseits könnte bei Eintreten dieses Falles das Auffangnetz des Sozialstaates wegen Überlastung nicht mehr dasselbe Niveau an Versorgung für alle garantieren.
Klar ist jedenfalls, dass die Zahl der Zuwandernden weiter steigen wird. Der wesentliche Teil
der Zuwanderung findet nicht aber über die Grenzen statt, sondern vor allem in den Kreißsälen.799 Im Gegenzug wird immer wieder laut, dass der Arbeitsmarkt zusätzlicher Arbeitskräfte
bedürfe und es deshalb weitere Zuwanderung geben müsse.800 Auch die EU-Kommission
spricht sich dafür aus.801 Dies erscheint allerdings im Hinblick auf rund sieben Millionen Beschäftigungsmöglichkeiten unplausibel.802 Die erste Aufgabe muss darin bestehen, den hier
bereits lebenden Zuwanderern den Eintritt in gesicherte Beschäftigungsverhältnisse zu ermöglichen. Dazu müssen in erster Linie die Qualifizierungsdefizite überwunden werden 803, denn
arbeitsmarkt-orientierte Zuwanderung sollte weiterhin nicht generell als Ausgleich für Versäumnisse in der Bildungspolitik fungieren. Eine zunehmende Zuwanderung Geringqualifizierter würde Verdrängungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt verstärken, die Konkurrenz im
Niedriglohnsektor und bei den „prekären Beschäftigungsverhältnissen“ verschärfen sowie die
Gefahr einer weiteren Belastung der sozialen Sicherungssysteme bedeuten.804 Die deutsche
Einwanderungspolitik muss deshalb eine Auswahl unter den potentiellen Einwanderern treffen, eine sog. selektive Einwanderungspolitik. Deutschland benötigt Einwanderer, die für sich
selbst aufkommen können und für die Bürger und den Wohlstand insgesamt nützlich sind, sog
Win-Win-Situation.805 Immigration aus humanitären Gründen darf nicht die Hauptquelle der
Einwanderung sein, denn die Absorptionsmöglichkeiten Deutschlands und der anderen Industrieländer für Einwanderer sind gering. Die größte mögliche Einwanderung würde nicht
ausreichen, um die Armut in den Entwicklungsländern zu beseitigen.
Zugleich muss die Aufmerksamkeit auch auf die Auswirkungen von Migrationsprozessen
gerichtet werden, die durch Klima- und Umweltveränderungen ausgelöst werden. Verschiedene Prognosen prophezeien für die nächsten Jahrzehnte ein starkes Anwachsen klimabedingter Migration und damit verbunden eine steigende Gefahr von Verteilungskonflikten.806 Unklar ist bislang insbesondere der völkerrechtliche Status von Migranten und Flüchtlingen, die
aufgrund klimatisch oder umweltbedingter Gründe ihr Herkunftsland verlassen.807 Bereits im
Jahre 2007 diskutierte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen über Sicherheitsfragen infolge von Klimaveränderungen.808 Schlussfolgerungen wurden jedoch nicht gezogen, obwohl
„environmental migration“ mehrfach als größter Risikofaktor erkannt wurde. Die vom Klimawandel am stärksten betroffenen Staaten verlangen zwar eine drastische Reduzierung klimaschädlicher Treibhausgase, allerdings verpflichten sich die größten Produzenten dieser
Treibhausgase wie die USA und China nur zögerlich. Neben Treibhausgasen lassen sich vier
799
Hillgruber, JZ 1999, 538.
Ausführlich bei Luft, ZAR 2007, 261.
801
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, KOM (2004) 811, 13.
802
Hickel, Kassensturz. Sieben Gründe für eine andere Wirtschaftspolitik, Reinbeck 2006.
803
Reinberg/Hummel, Höhere Bildung schützt auch in der Krise vor Arbeitslosigkeit, Nürnberg 2005.
804
Ausführlich zu den ökonomischen Folgen von Wanderungsentscheidungen Steinmann, ZAR 2007, 222 m. w.
N.; Borella, ZAR 2007, 229.
805
Simon, The Economic Consequences of Immigration, Oxford 1989.
806
Vgl. dazu Welzer, Klimakriege – Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Frankfurt am Main 2008.
807
Ausführlich Zerger, ZAR 2009, 85.
808
Sitzung des VN-Sicherheitsrates am 17.04.2007.
800
195
weitere klimainduzierte Konfliktkonstellationen809 beschreiben:
- Klimabedingte Degradation von Süßwasserressourcen.
- Klimabedingter Rückgang der Nahrungsmittelproduktion.
- Klimabedingte Zunahme von Sturm- und Flutkatastrophen.
- Umweltbedingte Migration.
Zum Umfang aktueller und zukünftiger klima- bzw. umweltbedingter Wanderungsbewegungen existieren zwar unterschiedliche Schätzungen, allerdings kann kein Migrationsforscher
die komplexen Wechselwirkungen der verschiedenen Faktoren bestimmen. Als allgemein
anerkannt erscheint allerdings die Zahl von 25 Mio. Umweltflüchtlingen810, wobei dieser Begriff, oder auch der des Klimaflüchtlings, relativ neu ist und eine allgemein akzeptierte Definition noch nicht existiert. Dies wiederum wirft vor allem völkerrechtliche Probleme auf,
denn für den Status als international anerkannter Flüchtling ist die Fluchtursache entscheidend.
Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 und das aus dem Jahre 1967 stammende
Zusatzprotokoll erkennen jede Person als Flüchtling an, die „aus der begründeten Furcht vor
Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten
politischen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes
befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will.“
Umweltgründe oder klimatische Veränderungen sind darin also (bislang) nicht vorgesehen.811
Was schließlich zu einer handlungsleitenden Wanderung führt, wird im Einzelfall bei verschiedensten klimatischen, ökonomischen und sozialen Migrations- bzw. Fluchtursachen nur
schwer zu ermitteln sein. Sowohl zeitliche und räumliche Dimensionen als auch ökonomische
Motivationsbündel können auslösend wirken.
Abschließend wird man zu der Feststellung gelangen können, dass wenngleich unterschiedliche Szenarien existieren, dass das Thema der umweltbedingten Migration auch ein hohes
Konfliktpotential birgt und somit die Industriestaaten nicht nur aus Umweltgesichtspunkten
langfristig in die Pflicht genommen werden müssen, die weltweite Reduzierung der Kohlendioxid-Emissionen als eine der obersten Prioritäten zu begreifen und umfassende Gesamtkonzepte zu entwickeln. Auch die besonderen Integrationsprobleme bei einigen Migrationsgruppen und die baustädtischen Probleme sind noch lange nicht für alle Beteiligten befriedigend
zur Lösung gebracht worden und bedürfen weiterer Beobachtung.
809
Details bei Zerger, ZAR 2009, 85 m. w. N.
So beispielsweise auch Stern, The Economics of Climate Change. The Stern Review. Cambridge 2006.
811
Vgl. zur Frage der Ausweitung der GFK oder alternativer Modelle, Zerger, ZAR 2009, 85.
810
196
V. Der sog. Einbürgerungsfragebogen812
Ein anderes Thema, das ebenfalls darauf abzielt, Zuwanderung bzw. Einbürgerung zu begrenzen, ist der Streit um den sog. „Einbürgerungsfragebogen“.
Was zu einer erfolgreichen Integration zweifellos beiträgt, ist die Einbürgerung.827 Diese stellte schon im Ausländergesetz einen „Beweis“ für die erfolgreiche Integration dar.
Streit gibt es allerdings über den integrationspolitisch richtigen Zeitpunkt der Einbürgerung,828 eher am Ende, als Belohnung, oder eher am Anfang, als Motivationsförderung.
Der nicht Eingebürgerte ist zwar nicht von jeder politischen Mitwirkung ausgeschlossen, doch
erst mit der Einbürgerung erhält er den Schlüssel zur vollumfänglich verfassungsrechtlich
garantierten Teilnahme am politischen Willensbildungsprozess. Die demokratische Ordnung
des Grundgesetzes wird sichtbar in der zeitlich begrenzten Herrschaft der Mehrheit über die
Minderheit, in der Chance der Minderheit, Mehrheit zu werden, im repräsentativen Parlamentarismus, im Mehrparteiensystem, in einem freien Wahlsystem, etc. Um genau diesen Status
garantieren zu können, ist das Grundgesetz auf eine freie politische Willensbildung angewiesen. Dies ist eine Voraussetzung, von denen der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt, ohne
sie selbst garantieren zu können.829 Politische Willensbildung vollzieht sich nach dieser Beschreibung von der Gesellschaft hin zu den staatlichen Organen, also sozusagen von unten
nach oben, was wiederum aber nicht auszuschließen vermag, dass der Staat seinerseits Einwirkungsmöglichkeiten durch Information und Aufklärung schafft.830 Die Verfassung regelt
also nicht, sondern setzt voraus, dass gesellschaftliche Kommunikation stattfindet, denn sie ist
darauf angewiesen. Allerdings besteht immer die Gefahr, dass ein solcher Kommunikationsprozess nicht garantiert werden kann, dass Kommunikation also auch tatsächlich in einem
demokratiedienlichen Maße stattfindet. Was wiederum zu steuern ist, ist die Kommunikationsfähigkeit an sich. Dies geschieht in der Regel durch Schulunterricht, dessen Ziel u.a. das
Beherrschen der deutschen Sprache in Wort und Schrift ist. Hier geht es aber insoweit nicht
um das Vermitteln eines bestimmten kulturellen Leitbildes oder einer Leitkultur. Eine staatliche Überprüfung findet nur deswegen statt, wie nur auf diese Weise die für die demokratische
Ordnung lebenswichtige Kommunikationsfähigkeit der Gesellschaft dauerhaft aufrecht erhalten werden kann. Eine Einbürgerung kann einen solchen Prozess sicherlich fördern. Da zuvor
812
Vgl. ausführliche rechtliche Bewertung: Ekardt/Radtke, ZRP 2007, 28; Hanschmann, Zar 2008, 388; Dokumentation ZAR 2006, 76; Solche Einbürgerungstests gibt es unter anderem auch in den USA, Kanada und Österreich; Übersicht über den Fragenkatalog, vgl. z.B. Pohl, Einbürgerungstest. Band 1: Leben in der Demokratie.
Band 2: Geschichte und Verantwortung. Band 3: Mensch und Gesellschaft. Kiel 2008; Müller-Güldemeister,
Einbürgerungsquiz. Antworten auf den hessischen Einbürgerungstest zum Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft, Göttingen 2006; Richter, Schnell und sicher durch den Einbürgerungstest: Alle Fragen und alle richtigen
Antworten, Norderstedt 2008.
827
Ausführlich Dorf, ZAR 2008, 96; Kugler, Ausländerrecht, Göttingen 1995.
828
Ausführlich John, ZAR 2006, 301.
829
Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit Frankfurt am Main 1976, S. 60.
830
Dabei zu denken ist beispielsweise an verschiedene Grundrechtsgarantien wie die Kommunikationsfreiheiten
des Art. 5 Abs. 1 GG (Meinungsfreiheit, Presse- und Rundfunkfreiheit, Informationsfreiheit). Nach Diktion des
Bundesverfassungsgerichts sind diese grundrechtlichen Freiheiten für die demokratische Ordnung konstituierend, BVerfGE 7, 198; 62, 230; 76, 196. Zusätzlich schaffen weitere kommunikationsbezogene Grundrechte wie
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, der privilegierte Status der politischen Parteien sowie schließlich die
Wahlrechte eine Diskussionsplattform.
197
aber eine eher uneinheitliche Verwaltungspraxis in den verschiedenen Bundesländern vorherrschte (z.B. in Form einer Leseprobe oder eines Gesprächs), hing der Erfolg des Einbürgerungsantrags entscheidend von der einzelnen Bundeslandpraxis ab. Unklar war indes auch, ob
reine Sprachkenntnisse als ausreichend erachtet werden sollten oder ob darüber hinaus auch
Schriftsprachkenntnisse erforderlich sein sollten. Die Rechtsprechung zu diesem Thema gestaltete sich eher unsicher.831 Die Frage nach dem demokratisch unabdingbaren Kommunikationsniveau zu stellen, bedeutet eine Ebene zu finden, die eine Plattform schafft, um die in der
demokratischen Ordnung vorausgesetzten Kommunikationsabläufe sicherzustellen.832 Für die
Voraussetzung eines schriftliches Basisausdrucksvermögens spricht unter Zugrundelegung
des verfassungsrechtlichen Nutzens folgende Überlegung: Erst mit der Befähigung, Gedanken
und Meinung schriftlich zu fixieren, ist die Fähigkeit erreicht, im Kommunikationsprozess
Verstetigung, Verlässlichkeit und wechselseitiges Vertrauen herbeizuführen. So kann ein rationaler demokratischer Diskurs, ein pluralistischer Wettbewerb der Meinungen stattfinden. Ein
rein mündlicher Kommunikationsprozess legt die Befürchtung nahe, dass eine komplexere
politische Willensbildung nicht möglich sein kann.833 Wer also als Einwanderer in Deutschland eingebürgert werden will, muss deutsch sprechen, verstehen, lesen und, auf einem gewissen Basisniveau, auch schreiben können. Die neue Einbürgerungsrechtslage stimmt mit dem
verfassungsrechtlich angelegten Zusammenhang von politischer Willensbildung und Kommunikationsfähigkeit der Gesellschaft überein. Allerdings besteht Uneinigkeit darüber, ob bei
der Einbürgerung ein Eid auf die Verfassung geleistet werden soll. Bis jetzt ist dieser noch
nicht Gegenstand der Einbürgerungstestverordnung.834
Mit Aushändigung der von der zuständigen Verwaltungsbehörde ausgefertigten Einbürgerungsurkunde erwirbt der Ausländer dann die deutsche Staatsangehörigkeit (vgl. § 3 Abs. 1
Nr. 5; § 16 S. 1 StAG).835 Der formgebundene Verwaltungsakt ist in doppelter Weise, völkerrechtlich und staatsrechtlich, relevant. Er stellt die Zugehörigkeit zum Staatsvolk als einen der
drei konstituierenden Elemente von Staatlichkeit im völkerrechtlichen Sinne her. Er ordnet
den Eingebürgerten der völkerrechtlichen Personalhoheit der Bundesrepublik Deutschland
unter, was beispielsweise dann besondere Bedeutung erlangt, wenn die Bundesrepublik mit
ihren Strafverfolgungsorganen Auslandsstraftaten verfolgt oder überhaupt Rechtsfolgen an
extraterritoriale Sachverhalte knüpft. Zugleich bildet die Einbürgerung die Grundlage für die
völkerrechtliche Zuständigkeit zur Ausübung diplomatischen Schutzes. Damit ist gemeint,
dass der Heimatstaat den zum Nachteil seines Bürgers begangenen Völkerrechtsverstoß als
eine Verletzung seines eigenen Rechts gegenüber dem Verletztenstaat mit allen zu Gebote
stehenden diplomatischen Mitteln geltend machen kann.836 Gegenstück dieser Befugnis ist die
Verpflichtung des Heimatstaates, den eigenen Staatsangehörigen, der aus dem Ausland aus831
Während als erstes Obergericht der Hessische Verwaltungsgerichtshof im Jahre 2002 den Nachweis schriftlicher Sprachkenntnisse als Voraussetzung für die Einbürgerung bejahte, vgl. NVwZ 2003, 762, verneinte das
Verwaltungsgericht Stuttgart kurz danach eben dieses Erfordernis, vgl. InfAuslR 2003, 164. Auf der anderen
Seite entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass zu der deutschen Sprache auch der schriftliche Ausdruck
gehöre, ZAR 2006, 283 und auch DVBl. 2006, 922, zum letzten Urteil, Wagner, JA 2008, 39, wobei das Mindestniveau „gewisse“ Kenntnisse ausreichen lasse. Details bei Dorf, ZAR 2008, 96.
832
So auch BVerwGE 124, 268.
833
So auch Dorf, ZAR 2008, 96.
834
Einbürgerungstestverordnung aufgrund § 10 Abs. 7 StAG.
835
Vgl. auch § 29 StAG, das sog. „Optionsmodell“, Details bei Kluth, ZAR 2009, 134.
836
Vgl. Kempen/Hillgruber, Völkerrecht, München 2012, S. 125.
198
gewiesen wird, auf dem eigenen Staatsgebiet aufzunehmen.
Unbestritten ist weiterhin, ob der Erwerber gewisse weitere Voraussetzungen erfüllen muss
(vom Einbürgerungsfragebogen einmal abgesehen). Dies war inhaltlich vage, allerdings sollte
die bloße Unterschrift unter eine bundeseinheitliche Loyalitätserklärung, die seit 2000 notwendig war, nicht reichen. In dieser versicherte der Antragsteller, dass er sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekenne und keine terroristischen Aktivitäten entfalte.
Insbesondere bezweifelte allerdings das Innenministerium aus Baden-Württemberg, dass die
(muslimischen) Einwanderungsbewerber dieses Bekenntnis auch ausreichend ernst meinten.
Das Ministerium bezog sich bei seiner Einschätzung auf eine Studie des Zentralinstituts Islam-Archiv-Deutschland, bei der deutlich wurde, dass danach 21 % der in Deutschland lebenden Muslime das Grundgesetz für unvereinbar mit dem Koran hielten. So hegten sich Zweifel, ob gerade bei Muslimen generell ihre innere Einstellung nicht ihren zuvor abgegebenen
Bekenntnissen entspreche. Nun ist diese Studie auch nicht unumstritten und es konnte in der
Gesamtauswertung sogar erkannt werden, dass das Grundgesetz eine steigende Akzeptanz bei
den Muslimen genieße. So scheint diese Studie nicht ausreichend geeignet, eine besondere
Intoleranz der Muslime gegenüber dem Grundgesetz abschließend nachzuweisen.
Neben der Einbürgerung aus Abstammungsgesichtspunkten, erfolgt die Einbürgerung auch
auf Antrag. Dies ist ein Erwerbsverfahren für ausländische Staatsangehörige und Staatenlose.
Die Staatsangehörigkeit wird in diesem Fall durch Verwaltungsakt erfolgen, § 10 StAG: seit
acht Jahren gewöhnlicher rechtmäßiger Aufenthalt in Deutschland ohne wesentliche Straftaten und ohne selbst vertretende Inanspruchnahme von Leistungen nach SGB II oder SGB XII
sowie bei der Bereitschaft zur Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit; bei der erfolgreichen Teilnahme an einem Integrationskurs wird die Frist auf sieben Jahre verkürzt. Diese
Vorschrift lässt kein Ermessen zu.837
Die früheren Regelungen im Ausländergesetz galten bis Ende 2004 und sahen durchaus andere Kriterien vor.
Für die erstmalige Einreise stellte § 7 Abs. 2 AuslG im Jahre 1990 nur auf Negativkriterien
dergestalt ab, dass man lediglich nach Versagungsgründen suchte wie etwa §§ 45ff. AuslG,
Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder ob der Ausländer sich aus eigenen
Mitteln versorgen konnte. Sprach- oder andere Kenntnisse wurden hingegen nicht verlangt.
Dies wurde erst zu dem Zeitpunkt relevant, als unbefristete Aufenthaltsgenehmigungen begehrt wurden. § 24 Abs. 1 Nr. 4 AuslG verlangte, dass der Ausländer sich auf einfache Art in
der deutschen Sprache verständigen konnte. Diese Überprüfung geschah ohne einen behördlichen Test.838 Für die Einbürgerung selber wurde neben den eben genannten Kriterien in § 85
Abs. 1 Nr. 1 AuslG ebenfalls verlangt, dass der Ausländer sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes bekennt. Wie der Ausländer jene Kenntnisse erwerben sollte, war seinem eigenen Verantwortungsbereich überlassen. Implizit ging man wohl
davon aus, dass die Regelaufenthaltsdauer von acht Jahren dazu einen ausreichenden Beitrag
leistete. Zwar gab es auch in dieser ersten Phase Angebote zur Integration, um interkulturelle
Begegnungen zu ermöglichen, allerdings blieben Art und Umfang aber der politischen Initia837
838
Hailbronner/Renner, Kommentar zum Staatsangehörigkeitsrecht, München 2005.
Renner, Ausländerrecht, München 1999, § 24 AuslG.
199
tive der kommunalen Selbstverwaltung oder privaten Vereinigungen überlassen.
Die zweite Phase der Integrationspolitik begann am 01.01.2005 und machte die Integration
erstmals zu einer Staatsaufgabe.839
Einbürgerungskurse zwingen zum Nachdenken: Wofür stehen wir als Deutsche? Welche politischen Grundlagen haben wir? Welche Kompromisse sind möglich? Welche geschichtlichen
Hintergründe legen wir zugrunde? Wer sich selbst nicht einordnen kann und versteht, wie
sollen dann kulturelle Prägungen von Einwanderern verstanden werden? Das Miteinander
erfordert Kenntnis der eigenen Stärken und Schwächen und dadurch einen souveränen Umgang mit den Unterschieden. Thematisch muss es neben Geschichte, politischem Aufbau und
Rechtssystem auch um die Organisation des Alltages gehen, über den gesellschaftlichen
Wandel der Gleichberechtigung und über wichtige Informations- bzw. Anlaufstellen.
Im Januar 2006 hatte das Innenministerium Baden-Württemberg als erstes Bundesland einen
Einbürgerungsfragebogen eingeführt, sog. „Gesprächsleitfaden für Einbürgerungsbehörden“,
der auf die Klärung der Verfassungstreue von Einbürgerungswilligen gerichtet war. Es sollte
die politische und ethnische Gesinnung sowie das staatsbürgerliche Wissen in Bezug auf die
jeweiligen Werte, Geschichte, Kultur und das Staatswesen des Landes geprüft werden, in das
die Einbürgerung gewünscht ist. Im März 2006 führte auch Hessen einen „Leitfaden Wissen
und Werte in Deutschland und Europa“ ein.840 Weil sich abzeichnete, dass weitere Länder
diesem Beispiel folgen würden und aber eine bundesweite einheitliche Regelung sinnvoll erschien, verständigten sich die Innenminister der Länder im Mai 2006 darauf, dass einbürgerungswillige Ausländer sich in deutscher Sprache verständigen können müssen und zudem
einen im Bundesgebiet einheitlichen Einbürgerungstest absolvieren müssen. Demgemäß erfolgte auch zunächst eine Änderung des Staatsangehörigengesetzes bezüglich der Anforderungen an die Sprachkenntnisse841, die am 28. August 2007 in Kraft trat. Nunmehr werden
Sprachkenntnisse nach dem Zertifikat Deutsch in mündlicher und schriftlicher Form gefordert. Seit 1. September 2008 müssen Einwanderungswillige nunmehr in jedem Bundesland
einen bundeseinheitlichen Einbürgerungstest bestehen.842 Die Einzelheiten sind in der Einbürgerungstestverordnung geregelt. Es gibt nunmehr einen Katalog von 310 Fragen 843 (mit
den Themen „Leben in der Demokratie“, „Geschichte und Verantwortung“, „Mensch und
839
Schmid-Drüner, ZAR 2005, 93.
Kritisch Arzt/Geyer, NJW 2006, 1107.
841
Vgl. § 10 Abs. 5, Abs. 7 StAG.
842
Auf der Innenministerkonferenz am 31.05. und 01.06.2007 einigten sich die Innenminister der Länder und der
Bundesinnenminister auf „Bundeseinheitliche Standards für das Einbürgerungsverfahren“. Wenig später schaffte
das Gesetz zur Umsetzung Aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007
hierfür die rechtlichen Voraussetzungen, in dem dessen Art. 5 Nr. 7 lit.c in § 10 StAG einen Absatz 7 einfügte,
der das Bundesinnenministerium ermächtigt, die Prüfungs- und Nachweismodalitäten des Einbürgerungstests
und das Curriculum für den Einbürgerungskurs durch Rechtsverordnung ohne Beteiligung des Bundesrats zu
regeln. Auf dieser gesetzlichen Grundlage erließ das Bundesinnenministerium am 05.08.2008 die Verordnung zu
einem Einbürgerungstest und Einbürgerungskurs, die am 01.09.2008 in Kraft getreten ist, BGBl. I 2008, 1649.
Ebenfalls am 1. September 2008 ist eine entsprechende Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes im Hinblick
auf inhaltliche Kenntnisse erfolgt. Seitdem muss der Einbürgerungswillige über „Kenntnisse der Rechts- und
Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland verfügen.“, vgl. auch § 10 StAG.
843
Der Test wurde an der Humboldt-Universität zu Berlin im Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen innerhalb eines Jahres entwickelt und am 8. Juli 2008 der Öffentlichkeit vorgestellt. Er kostet 25 € und kann
beliebig oft wiederholt werden. Der „Gesamtkatalog der für den bundeseinheitlichen Einbürgerungstest vorgesehenen Prüfungsfragen“ ist als Anlage zur Einbürgerungstestverordnung veröffentlicht worden.
840
200
Gesellschaft“) aus dem 33 Fragen gewählt werden. 17 müssen dabei richtig beantwortet werden.844 Unter den 33 Fragen befinden sich jeweils drei Fragen aus den für jedes Bundesland
gesondert entworfenen Fragekatalogen, die sich auf das Bundesland beziehen, in dem die einbürgerungswillige Person ihren Wohnsitz hat. Kontrovers diskutiert wurde dieses Thema insbesondere deswegen, weil der Fragebogen anfangs in erster Linie auf Muslime (aus 57 islamischen Staaten) Anwendung finden sollte und auch neben verfassungsrechtlichen Aspekten
wie Demokratieverständnis und Gleichberechtigung, die Akzeptanz beispielsweise von Homosexuellen getestet werden sollte. Eine Diskriminierung von Muslimen sah das Innenministerium bei diesem Verfahren nicht. Im Übrigen war dem Innenministerium bewusst, dass die
überwiegende Zahl der in Deutschland lebenden Muslime durchaus auf dem Boden der Werteordnung des Grundgesetzes stehe. Es müsse aber erlaubt sein, Einbürgerungsbewerber darauf zu überprüfen, ob das abgegebene Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland auch tatsächlich ihrer inneren
Einstellung entspreche845, wenn Anhaltspunkte für Zweifel vorliegen würden.846 Der Gesprächsleitfaden beginnt nun wie folgt:847 Das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen
Grundordnung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland ist Einbürgerungsvoraussetzung nach § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StAG.848 Entsprechendes gilt im Rahmen der Ermessenseinbürgerung. Es darf deshalb keineswegs als Formalie gehandhabt werden, die mit der
Unterschrift unter die Bekenntniserklärung erfüllt ist. Soweit die Einbürgerungsbehörde
Zweifel hat, ob der Einbürgerungsbewerber den Inhalt seiner Erklärung wirklich verstanden
hat und ob sie seiner inneren Überzeugung entspricht, führt sie ein Gespräch mit ihm unter
Verwendung dieses Leitfadens. Die Ergebnisse des Gesprächs sind zu dokumentieren und
vom Einbürgerungsbewerber zu unterschreiben. Dabei sind auch Erläuterungen zu den jeweiligen Antworten zu erfragen und festzuhalten. Der Einbürgerungsbewerber ist darauf hinzuweisen, dass unwahre Angaben als Täuschung der Einbürgerungsbehörde gewertet werden
und auch noch nach Jahren zur Rücknahme der Einbürgerung führen können. Die ursprüngliche Planung, dass eine Anwendung nur bei muslimischen Einbürgerungsbewerbern849 erfolgen sollte, wurde aufgehoben. Nunmehr findet sie bei all jenen statt, bei denen Zweifel an der
Verfassungstreue besteht.
Eine ähnliche, weniger formale Regelung wie in Baden-Württemberg gibt es bereits seit 2003
844
Es wird ein sog. Single-Choice-Verfahren angewandt, d.h. es gibt zu jeder Frage vier Antwortmöglichkeiten,
wovon nur eine richtig ist; kritisch allgemein zu der Anwendbarkeit solcher Verfahren Becker, NJW 1982, 1315
und ders., NVwZ 1993, 1129.
845
So auch Dollinger/Heusch, VBlBW 2006, 216.
846
Überprüft werden soll, ob die Wertvorstellungen mit der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ gemäß
§ 10 Abs. 1 StAG im Einklang stehen; Ein Gutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches
Recht und Völkerrecht in Heidelberg hat nunmehr dadurch einen Verstoß gegen die UNRassendiskrimierungskonvention
festgestellt,
Wolfrum/Röben,
abrufbar
unter:
www.mpil.de/shared/data/pdf/gutacht_gespraechsleitfaden_einbuergerung.pdf; ebenso Bielefeldt, Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft, Bielefeld 2007.
847
Der komplette Leitfaden in: Dokumentation ZAR 2006, 76.
848
In den allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Staatsangehörigkeitsrecht heißt es: Der Einbürgerungsbewerber soll eine seinem Lebenskreis entsprechende Kenntnis der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik besitzen. Er muss nach seinem Verhalten in Vergangenheit und Gegenwart Gewähr dafür bieten, dass er sich zur
freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennt.(… ) er hat eine Loyalitätserklärung abzugeben, John,
ZAR 2006, 301.
849
Dies führte zu Kritik muslimischer Verbände, insbesondere des Zentralrats für Muslime, der Stigmatisierung
und Diskriminierung anführte.
201
in Hamburg in Gestalt einer Befragung der Bürger aus bestimmten Ländern, ebenso wie in
Hessen seit 2006. Ebenfalls das bayerische Innenministerium plante ähnliche Regelungen.850
Herausgenommen wurden nachträglich aufgrund von Nichtkontrollierbarkeit und auch
Zwecklosigkeit: die subjektive Bewertung von Homosexualität, die Thematisierung des Verhältnisses zu den Kindern, Abfrage von staatlich vorgegebenen Moral- und Wertvorstellungen. Nunmehr wird gefragt, was in Art. 1 GG garantiert wird, wer die Abgeordneten des
Bundestages wählt, wie das deutsche Wappen aussieht und welches Tier hierauf zu sehen ist,
welche Organe Verfassungsorgane sind und welche nicht, welche Parteien sich 2007 zu der
Partei „die Linke“ vereinigt haben, was ehrenamtliche Arbeit bedeutet, welche Möglichkeiten
dem Arbeitnehmer im Falle einer unrechtmäßigen Kündigung zustehen, zu welcher Gewalt
Richter gehören, von wann bis wann das nationalsozialistische Terrorregime bestand, wann
der zweite Weltkrieg endete, wann die DDR gegründet wurde, wer der erste Bundeskanzler
der BRD war, was Willy Brandt mit seinem Kniefall im ehemaligen Warschauer Ghetto ausdrücken wollte, etc. Dadurch kann weder die Gestaltung noch die Durchführung des Tests
erkennen, dass auf eine bestimmte Gruppe abgezielt wird oder andere, z.B. sicherheitsrechtliche, Aspekte verfolgt werden als die Nachprüfung historischer und staatsorganisatorischer
Kenntnisse. Damit ähnelt der Einbürgerungstest eher einem staatsbürgerlichen Wissensquiz,
in etwa vergleichbar mit dem US-Amerikanischen „Naturalization Test“.851
Was ist aus rechtlicher Sicht von derartigen Regelungen zu halten?852
Während Fragen nach Demokratieverständnis oder der Einstellung gegenüber Ehefrauen und
Töchtern853 nicht ausschließlich Fragen der Privatsphäre des einzelnen sind, sondern Verfassungsfragen, so sind Fragen nach allgemeiner Sittenkunde nicht akzeptabel, vielmehr subjektiv interpretierbar, denn sie sind der Ausdruck der grundrechtlichen Freiheit des Einwanderers
und stellen keinen zulässigen Eingriffszweck dar. Solche inneren Einstellungen werden im
demokratischen Verfassungsstaat gerade nicht geprüft. Dies liegt darin begründet, dass der
liberale Staat nicht auf eine Art Gesinnungskontrolle zielt. Erst, wenn verschiedene Freiheiten
kollidieren, geht den Staat dies etwas an. Aber auch hier wird man sagen müssen, dass dies
erst dann der Fall ist, wenn sich die konkrete Negativeinstellung gegenüber beispielsweise der
Demokratie, in konkreten Handlungsweisen ausmacht. Solange kann der Einwanderer seine
eigene, auch negative, Meinung über Demokratie haben. Es geht also allein um die Sicherung
850
Ebenso hat das niederländische Parlament am 19.01.2005 der Einführung eines „Inburgeringstoets“ zugestimmt. Ab März 2006 müssen alle Ausländer, die eine Aufenthaltserlaubnis für die Niederlande beantragen
wollen, in ihrem Heimatland den Test ablegen. Dieser kostet 350 € und umfasst Fragen zur niederländischen
Sprache und Kultur. Wer den Test nicht besteht, kann ihn beliebig oft wiederholen, aber muss pro Test 350 €
zahlen. Nach Angaben des Ministeriums müssen Bürger der Europäischen Union, aus der Schweiz, aus Kanada,
USA, Neuseeland und Japan den Test nicht ablegen. Opfer von Frauenhandel oder Zeugen solcher Verbrechen
seien ausgenommen. Jährlich werden rund 14.000 Einwanderungswillige den Test ablegen müssen, die meisten
von ihnen aus der Türkei, aus Marokko und aus Surinam.
851
Detaillierte Informationen dazu kann über die Homepage des U.S. Citizenship and Immigration Service eingesehen werden: www.uscis.gov.
852
Kritisch vor allem Hanschmann, ZAR 2008, 388.
853
„Wie stehen Sie zur der Aussage, dass die Frau ihrem Mann gehorchen soll und dass dieser sie schlagen darf,
wenn sie ihm nicht gehorsam ist?“; „Halten Sie es für zulässig, dass ein Mann seine Frau oder seine Tochter zu
Hause einschließt, um zu verhindern, dass sie ihm in der Öffentlichkeit Schande macht?“; „Halten Sie es für
einen Fortschritt, dass Männer und Frauen in Deutschland kraft Gesetzes gleichberechtigt sind?“; Man hört immer wieder, dass Eltern ihren volljährigen Töchtern verbieten einen bestimmten Beruf zu ergreifen oder einen
Mann ihrer Wahl zu heiraten. Wie stehen Sie persönlich zu diesem Verhalten?“.
202
langfristiger Liberalität, nicht dagegen um eine bestimmte Lebensform. Nachdem die landesrechtlichen Regelungen aber nunmehr bundesübergreifend überarbeitet wurden, sind die noch
restlichen Wissensfragen aus verfassungsrechtlicher Sicht als unbedenklich zu bezeichnen.
Fraglich bleibt natürlich auch, ob ein sog. Einbürgerungstest überhaupt abstrakt geeignet ist,
eine ausreichende, wie intendierte, Sicherung gegen Terrorismus darstellen zu können: Denn
die reinen Wissensfragen erscheinen dazu nicht geeignet, vielmehr müsste eine Prüfung der
subjektiven Einstellung des Antragstellers und ihrer voluntativen Aspekte erfolgen. Ein völlig
ungebildeter Antragsteller kann verfassungstreu sein, wie auch ein gebildeter Antragsteller
verfassungsfeindliche Einstellungen haben kann. Eine solche Überprüfung erscheint allerdings wiederum schwierig im Hinblick auf die Durchsetzung.
Zusammenfassend lässt sich demnach feststellen, dass ein Staat zwischen verschiedenen Kriterien bei der Entscheidung, welche Einwanderer auf Dauer zur Gesellschaft zugelassen werden, wählen kann: Aufenthalt, Beteiligung, Loyalität, moralische Verpflichtungen, Identität
oder gemeinsame ethnische Herkunft. Die Einführung einer neuen Integrationspolitik in einigen Mitgliedstaaten führte zu einer eindeutigen Verlagerung der Kriterien, ob Einwanderer
zugelassen werden, einen Daueraufenthalt erhalten oder die Staatsangehörigkeit erwerben. Im
EU-Freizügigkeitsrecht sind Gegenseitigkeit, Aufenthalt und Arbeitsteilnahme die hauptsächlichen Einbeziehungskriterien von Einwanderern in die Gesellschaft. In Deutschland waren
jahrzehntelang Aufenthalt und Beteiligung maßgeblich. Beteiligung bemaß sich nach Aufenthaltsdauer, Beschäftigungszeiten, Beiträgen zur Sozialversicherung, Sprachkenntnissen und
Straftatabwesenheit. In einigen Mitgliedstaaten wie Dänemark und Niederlande ist erkennbar,
dass Kriterien wie Identität und Loyalität mehr und mehr in den Vordergrund rücken. So wird
die Einführung eines Loyalitätseides, die systematische Prüfung von Sicherheitsdaten, die
Kenntnis der Geschichte oder Politik des Gastlandes und stark erhöhte Anforderungen an die
Sprache verlangt.855
Hier lassen sich Problematiken erkennen: zum einen stellt sich die Frage, wie eben Loyalität
und Identität zu messen sind, daneben müsste zunächst eine Einigung darüber gefunden werden, was denn genau die gemeinsame Identität eines Landes ist und schließlich kann festgestellt werden, dass die öffentliche Debatte über die nationale Identität soziale Spannungen
wohl eher verstärkt, denn mindert. Diese Debatte über Identität tendiert dazu, sowohl innerhalb der Mehrheitsbevölkerung und innerhalb der Einwanderer die Unterschiede zwischen
den verschiedenen Bevölkerungsgruppen stärker herauszustellen als die Gemeinsamkeiten
und kann insoweit auch nicht zu einer sinnvollen Lösung führen.
855
Groenendijk, ZAR 2007, 320.
203
VI. Der Nationale Integrationsplan925
Die Bundeskanzlerin, Angela Merkel, hat im Jahr 2006 einen Integrationsgipfel ins Leben
gerufen, der alle Aspekte in der Verantwortung von Bund, Ländern, Kommunen und der Zivilgesellschaft gemeinsam mit Vertretern der Migranten aufarbeiten soll und inzwischen einen „Nationalen Integrationsplan“ mit insgesamt mehr als 400 Selbstverpflichtungen aller
Beteiligten verabschiedet. Für die in mehrfacher Hinsicht einer grundlegenden Aufarbeitung
und Diskussion benötigten Themen im Zusammenhang mit der Integration des Islam wurde
mit der vom damaligen Bundesinnenminister Schäuble organisierten Deutschen Islam Konferenz926 ein besonderes Forum geschaffen.927 Es wurde im Sommer 2007 ein nationaler Integrationsplan aufgestellt, der die Leitlinien für die Behandlung von Integration festlegt. Dieser
stellt die Integrationsinitiativen des Bundes, der Länder, der Kommunen und der Bürgergesellschaft erstmals auf eine gemeinsame Grundlage und soll nun nähere Betrachtung erfahren.
Der nationale Integrationsplan wurde beim 5. Integrationsgipfel am 31.01.2012 durch den
sog. Aktionsplan Integration ergänzt und weiterentwickelt. Dieser wurde in elf Dialogforen928
erarbeitet. Neben der erneuten Bekräftigung der Sprachförderung und Arbeitsmarktförderung
wurden auch neue Themen aufgenommen wie Gesundheit und Pflege und Migranten im öffentlichen Dienst.
1. Die Ausgangssituation der Notwendigkeit eines nationalen Integrationsplanes, dessen
Zielsetzungen und Vermittlungsmöglichkeiten
Einigkeit wurde bei allen Beteiligten des Integrationsgipfels darüber erzielt, dass mit der Integration von Millionen von Flüchtlingen nach Ende des Zweiten Weltkrieges, später mit der
Aufnahme von Spätaussiedlern und mit der Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften
bereits erfahrungsgemäß erfolgreich verschiedene Menschengruppierungen in diesem Land
zusammengeführt wurden. Die Erkenntnis, dass etwa 1/5 der Bevölkerung Migrationshintergrund hat, mithin 15 Mio. Menschen, die hier leben, zeigt, dass viele von ihnen erfolgreich
mit ihren Fähigkeiten und Leistungen zum Wohlstand und zur gesellschaftlichen und kulturellen Vielfalt des Landes beitragen. Gleichwohl wurde auch deutlich, dass Integrationsprobleme
in den letzten Jahren zugenommen haben. So sprechen Teile der zugewanderten Bevölkerung
nur ungenügend Deutsch, schneiden in Bildung und Ausbildung schwächer ab und sind häufiger arbeitslos. Die meisten Migranten kommen aus der Türkei und Italien. 41 % haben kei925
Dieser kann unter folgender Internetadresse eingesehen werden:
http://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Bundesregierung/BeauftragtefuerIntegration/nap/nip/_node.html
; sämtliche folgende Ausführungen beziehen sich auf dieses Dokument; vgl. außerdem zu den verschiedenen
Parteikonzepten, Gieler/Bhattacharya, Deutsche Migrationspolitik. Die Standpunkte und Strategien der politischen Parteien, Berlin 2013, S. 35ff; vgl. zum Frankreich-Vergleich und zu den Auswirkungen, Kuschel, Integrationspolitik in Deutschland und Frankreich., Hamburg 2012, S. 44.
926
Vgl. bereits Auführungen unter A IV.
927
Rogall-Grothe, ZAR 2009, 50.
928
Diese sind: Frühkindliche Bildung; Bildung, Ausbildung und Weiterbildung; Arbeitsmarkt und Erwerbsleben,
Migranten im öffentlichen Dienst; Gesundheit und Pflege; Integration vor Ort; Sprache; Bürgerschaftliches Engagement; Medien; Kultur.
204
nen Berufsabschluss929, während die Qualifikationsanforderungen am Arbeitsmarkt weiter
zunehmen.930 Einige akzeptieren zudem nicht die Grundregeln unseres Zusammenlebens, dies
gilt auch und vor allem hinsichtlich der Rechte von Frauen. Verhindert werden muss also,
dass eine sog. „verlorene Generation“ aufgrund von fehlenden Perspektiven und mangelnder
Akzeptanz entsteht, die sich mehr durch ein Gegeneinander als durch ein Miteinander auszeichnet. Integration ist deshalb von nationaler, umfassender Bedeutung. Grundlage kann nur
die freiheitliche und demokratische Grundordnung sein. Auf der anderen Seite herrscht auch
Bewusstsein darüber, dass man Integration nicht gleichsam wie ein Medikament verordnen
kann. Anstrengung wird von allen Beteiligten verlangt: „Fordern und Fördern“. Auf der einen
Seite sollen sich die Zuwanderer auf ein Leben in unserer Gesellschaft einlassen und unser
Grundgesetz und die gesamte Rechtsordnung akzeptieren. Auch sollen sie durch Erlernen der
Sprache ein deutliches Zeichen der Zugehörigkeit setzen. Dies heißt allerdings auch, dass
diejenigen Migranten, die sich einer Integration dauerhaft verweigern, auch mit Sanktionen
rechnen müssen. Auf der anderen Seite wird von der Aufnahmegesellschaft verlangt, dass sie
sich tolerant verhält und zivilgesellschaftliches Engagement dahingehend zeigt, dass sie Menschen, die rechtmäßig hier leben, willkommen heißt. Die klaren Regeln des Zusammenlebens
vom 12. Juli 2006 stellen sich demnach wie folgt da:931
Erfolgreiche Integrationspolitik
- heißt Dialog und enge Zusammenarbeit: Bund, Länder und Kommunen, Migranten
und ihre Organisationen werden stärker in Planung und Gestaltung von Integrationsmaßnahmen einbezogen.
- weckt und nutzt Potentiale: Klischees werden vermieden, es werden nur Fähigkeiten
und Leistungen bewertet.
- erkennt die Schlüsselrolle von Frauen mit Migrationshintergrund: Frauen in Familien
prägen die nächste Generation und so müssen sie vor häuslicher Gewalt geschützt
werden.
- baut auf eine aktive Bürgergesellschaft: Menschen außerhalb staatlicher Institutionen
sollen Verantwortung übernehmen und Eigeninitiative entwickeln.
- muss zielgerichtet erfolgen: Migranten sind keine homogene Gruppe. Förderkonzepte müssen also gezielter an ihrem jeweiligen Integrationsbedarf ausgerichtet werden.
- orientiert sich an Fakten: Forschung und Statistik müssen die Rahmenbedingungen
untersuchen.
- muss sich an klaren Indikatoren messen lassen. Regelmäßige Berichterstattung und
Evaluation muss eine Effektivität sicherstellen.
929
Über die Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse in Deutschland vor dem Hintergrund der Lissabonner Anerkennungskonvention, vgl. Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom
07.09.2005; Gesetz zur Umsetzung der RL v. 02.12.2007 (BGBl. I, S. 2686).
930
Walter, ZAR 2009, 131, vgl. dazu auch Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Nationaler Integrationsplan Arbeitsgruppe 3 „Gute Bildung und Ausbildung sichern, Arbeitsmarktchancen erhöhen“. Dokumentation
des Beratungsprozesses, Berlin 2007.
931
Zu den Konzepten vgl. Gesemann/Roth, Lokale Integrationspolitik in der Einwanderungsgesellschaft, Wiesbaden 2009, S. 267ff.
205
Die Integrationskurse sind die größte integrationspolitische Einzelmaßnahme des Bundes. Im
Jahr 2005 lösten sie die bis dahin geltenden Programme des Bundes zur Förderung des Erwerbs der deutschen Sprache durch erwachsene Migranten ab.
Die Arbeit des Bundes konzentriert sich weitgehend darauf, ausreichende Finanzressorts zur
Verfügung zu stellen, die Projekte fördern. Allein 750 Mio. Euro stellt der Bund jährlich für
unmittelbare Integrationsförderung bereit.
Bestehende Förderprogramme sollen regelmäßig mit Zwischenbilanzen überprüft werden und
gegebenenfalls immer wieder neu ausgerichtet werden. Dies ist ein relativ neuer Aspekt. Auf
diese Weise sollen Vergleiche aufgestellt werden, um dann direkt und gezielt darauf eingehen
zu können. Bislang erkannte man viel zu spät, wenn es irgendwo Verbesserungsbedarf gab,
Durch diese regelmäßige Berichterstattung soll dem Trend entgegengetreten werden, gewisse
Situationen eine Zeitlang gleichermaßen „schleifen“ zu lassen. Denn genau diese Einstellung
des Abwartens und des sich Entwickelnlassens sorgte in der Vergangenheit dafür, dass es
überhaupt zu Integrationskonflikten kommen konnte, wie z.B. dem Trend der Ghettoisierung.
Um Kindertageseinrichtungen z.B. als Orte der Integration und der frühen Sprachförderung
nutzen zu können, haben sich Bund, Länder und Kommunen darauf verständigt, bis zum Jahr
2013 für bundesweit im Durchschnitt 35 % der Kinder unter drei Jahren Betreuungsplätze zur
Verfügung zu stellen. Der Bund hat zudem 2,15 Milliarden Euro für die Förderung von Investitionen in Einrichtungen und in die Kindertagespflege unter drei Jahren errichtet. Darüber
hinaus koordiniert der Bund die Arbeit für Länder und Kommunen und schafft Koordinationsplattformen untereinander.932 Auch dies war in der Vergangenheit ein Problem; Länder
untereinander wandten verschiedene Praktiken an und es entstand so eine gewisse Rechtsund Tatsachenunsicherheit. Es sollen auf diese Weise aber auf keinen Fall erfolgreich praktizierte Konzepte der Einzelländer abgelehnt werden, vielmehr sollen durch verstärkte Koordination ein Ideenaustausch und eine gegenseitige Abstimmung erfolgen. Dies hat auch für den
Einwanderer Vorteile, denn er kann sich dann auf die jeweiligen staatlichen Maßnahmen von
vorneherein besser einstellen und unterliegt nicht mehr regionalen Unsicherheiten.933
Um wirksam Erfolge messen zu könne, wurden zudem Arbeitsgruppen eingerichtet, die jährlich Bericht erstatten. Außerdem sollen regelmäßig repräsentative Studien und vertiefende
Fallstudien erfolgen, um zu erkennen, welche Entwicklungsprozesse der Integrationskurs bewirkt und wie sich die Teilnahme am Integrationskurs langfristig für die einzelnen Migranten
auswirkt.
Da Bildung und Sprache der entscheidende Schlüssel zur sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Integration sind, soll zudem ein Bildungssystem entwickelt werden, das Chancen und
Potentiale eröffnet. Menschen müssen in allen Angelegenheiten des täglichen Lebens selbständig handeln können. Für die Bildungserfolge, die gerade auch von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund von entscheidender Bedeutung sind, sind der weitere Ausbau
von Ganztagsangeboten und die stärkere Vernetzung der Bildungs-, Jugend- und Schulsozial932
Vgl. zur Kommunalpolitik, Schnur/Zakrzewski/Drilling, Migrationsort Quartier, Wiesbaden 2013, S. 27ff., S.
41ff.
933
Vgl. dazu, Fuchs, Leitformeln und Slogans in der Kulturpolitik, Wiesbaden 2011, S. 70ff.
206
arbeit vor Ort. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass gegenwärtig das
Bildungsniveau der Arbeitsmigranten geringer ist als der des Durchschnitts in der OECD und
auch geringer als das ihrer Herkunftsländer.934
Außerdem muss eine Erziehung dahingehend gefordert werden, die zu kritischer, verantwortlicher und gemeinschaftsorientierter Selbstverwirklichung befähigt. Für den auf die Freiheit
und Selbstverwirklichung des Einzelnen orientierten Staat hat das staatliche Bildungskonzept
seinen tragenden Bezugspunkt in der Herausbildung und Weckung des spezifischen
Humanums, der zum eigenen Urteil und zur vernunftgeleiteten Selbstverwirklichung befähigter Personen, die in Auseinandersetzung mit der geistigen und sozialen Umwelt ebenso eine
Individualität entfaltet wie der Gemeinschaft Dienste leistet.935
Folgende Konzepte sollen dabei realisiert werden936:
- Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren sollten ausgebaut werden. Man erhofft
sich auf diese Weise positive Effekte für die frühe Sprachförderung, was durch ein
Konzept zur allgemeinen Sprachförderung unterstützt werden soll.
- Einrichtungen mit einem hohen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund sollen
zusätzliche Förderungsmaßnahmen erhalten können. Dies beinhaltet auch eine fortgesetzte Qualifizierung von Erzieherinnen und Erziehern durch Fortbildungen, bei denen
Module zum Erwerb interkultureller Kompetenz festgeschrieben werden.
- parallel dazu soll auf der Forschungsebene ein Verfahren zur Entwicklung gelangen,
das eine zuverlässige Sprachfeststellung ermöglicht.
- Ehrenamtliche, mehrsprachige Elternbegleiter sollen ihre Arbeit mit Eltern aus Zuwanderungsfamilien verstärken und führen zielgerichtet Elterninformation ein.
- Schulen mit einem hohen Migrationsanteil werden ebenfalls spezifische Mittel bereitgestellt für beispielsweise die Senkung der Klassenfrequenzen, Erhöhung des
Lehrpersonals, Unterstützung der Lehrkräfte durch sozialpädagogische Fachkräfte,
Bereitstellung besonders qualifizierten Personals, Einstellung von Lehrkräften und Erziehern mit Migrationshintergrund.
- Es soll ein neues Modellprogramm „Schulverweigerung - die 2. Chance“ eingeführt
werden, Schulverweigerer sollen ihre Chancen auf einen Schulabschluss verbessern.
Jungen Menschen soll außerdem im Anschluss an die Schulzeit der Zugang zu Ausbildungsmöglichkeiten gesichert werden. Auch hier wurde eine Reihe von Maßnahmen beschlossen:
- Partner des Ausbildungspaktes (z.B. die Deutsche Industrie- und Handelskammer)
sollen ihr Engagement verstärken.
- Berufsausbildungsbeihilfen und das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG)
934
Walter, ZAR 2009, 131.
Bothe, VVDStRL 54, 7; so auch Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, Berlin 1978, S. 33.
936
Vgl. zu den Auswirkungen des Integrationsplanes auf die Kommunalverwaltung, Thym, Migrationsverwaltungsrecht, Tübingen 2010, S. 296ff.
935
207
sollen für ausländische Auszubildende ausgeweitet werden, damit wesentlich dazu
beigetragen wird, dass junge Menschen unabhängig von der finanziellen Situation ihrer Familie eine Ausbildung absolvieren können.
- Jungen Frauen soll außerdem ein spezielles Mentoringprogramm zur individuellen
Arbeitsmarkt- und Berufsorientierung angeboten werden; außerdem soll es ein
niedrigschwelliges und anonymes Onlineberatungsangebot für von Zwangsverheiratung Betroffene und Bedrohte geben. Projektträger ist „Papatya“, eine Kriseneinrichtung für junge Migrantinnen. Die Evaluierung des Projekts soll weitere Kenntnisse
über die Gruppe der Betroffenen, effektive Zugangswege zu ihnen und Präventionsund Unterstützungsprogramme liefern.
- Der Bund wird zukünftig den Dialog mit den Migranten und deren Organisationen
stärker in die Planung und Durchführung von Vorhaben einbeziehen.
- Zudem ist seit dem 01.01.2009 das sog. Arbeitsmigrationsförderungsgesetz 937 in
Kraft, das eine Reihe von Maßnahmen erfasst, um mehr Migranten einen Zugang in
die Arbeitswelt zu ermöglichen.
Mit der Einführung der Berufseinstiegsbegleitung wurde befristet außerdem die Möglichkeit
geschaffen, leistungsschwächeren Schülern der allgemeinbildenden Schulen über längere Zeit
individuell beim Übergang von Schule in Ausbildung oder, soweit ein betrieblicher Ausbildungsplatz nicht möglich ist, in das Übergangssystem zu begleiten. Eine Förderung soll in
hohem Maße zugunsten junger Menschen mit Migrationshintergrund erfolgen. Junge Migranten können darüber hinaus mit einem speziell auf ihre Lebenssituation zugeschnittenen Integrationsförderungsplan mit dem Schwerpunkt „soziale und berufliche Integration“ professionelle Hilfe über die bundesweit rund 400 Jungendmigrationsdienste erhalten. Dabei spielt
auch die Einbeziehung der Eltern eine wichtige Rolle. Weiterhin ist es ein gemeinsames Ziel
von Bund und Ländern, die Möglichkeit der Anerkennung von im Ausland erworbenen beruflichen Bildungsabschlüssen kurzfristig zu erweitern und zu verbessern und für alle
Migrantengruppen zu gewährleisten, dass im Ausland erworbene Abschlüsse zügig auf Anerkennung geprüft und gegebenenfalls auch Teilanerkennungen ausgesprochen und die erforderlichen Ergänzungs- und Anpassungsqualifizierungen angeboten werden.
Bei der Überlegung, wie man Menschen unterschiedlicher Herkunft zu einem gemeinsamen
Dialog motivieren kann, war die Überlegung über verschiedene soziale Ebenen eine Annäherung erreichen zu können, nämlich über Sport, über die Medien und über bürgerschaftliches
Engagement, was im Folgenden näher dargestellt wird.
Zunächst kann Sport als Kommunikationsplattform dienen, denn Sport kann im Allgemeinen
dazu beitragen, dass sich Menschen unterschiedlicher Herkunft freundschaftlich begegnen
und so kann ein solches Projekt zu einem Integrationsmotor werden. In diesem Zusammenhang leisten bereits Sportvereine seit Jahren einen großen Integrationsbeitrag. Sport erreicht
nämlich weite Teile der Bevölkerung in Deutschland: Im Deutschen Olympischen Sportbund
(DOSB) sind ca. 27 Mio. Mitglieder organisiert. Mit über 900.000 Vereinen ist der DOSB
937
BGBl. I 2008, S. 2846.
208
damit nicht nur die größte Gemeinschaft in unserem Land, seine Mitglieder spiegeln außerdem die Vielfalt der Gesellschaft wider.
Die Idee soll nunmehr gezielter durch eine Öffentlichkeitskampagne funktionieren: „Integration. Wir machen mit.“ So haben sich der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB), der
Deutsche Turner-Bund (DTB) und der Deutsche Fußballbund (DFB) organisiert und planen
verschiedene Programme und beschlossen mit der Bundesregierung Zielvereinbarungen. Es
soll eine Zusammenarbeit zwischen den Programmen „Soziale Stadt“ und „Integration durch
Sport“ erfolgen. Ziel dabei ist es, wohnortnahe Sport- und Bewegungsangebote vor allem in
sozial benachteiligten Stadtteilen zu fördern und zu etablieren. Der DTB spezialisiert sich
dabei vor allem auf jährliche Sportkongresse, die das Thema „Integration von Mädchen und
Frauen im Turnverein“ behandeln.938 Sport bietet Integrationsmöglichkeiten auf verschiedenen Ebenen: Auf der Ebene der sozialen Integration dadurch, dass Menschen unterschiedlicher Ethnien miteinander in Kontakt kommen, soziale Beziehungen herstellen und soziale
Bindungen aufbauen. Auf der Ebene der kulturellen Integration durch die Vermittlung von
Verhaltensmustern und Fair-Play-Regeln, die international anerkannt und damit allgemeingültig sind. Und auf der Ebene der alltagspolitischen Integration durch demokratische Mitsprache
und bürgerschaftliches Engagement, das in Sportvereinen stattfinden. Der Bund misst dem
Integrationspotenzial des Sports eine erhebliche Bedeutung bei. Er begrüßt und unterstützt die
verstärkten Integrationsmaßnahmen der großen Sportverbände wie DOSB, Deutscher Fußballbund und Deutscher Turner-Bund, die sich z.B. mit der interkulturellen Qualifizierung
von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, dem Ausbau der Netzwerkarbeit an der Basis,
der Stärkung des Gender-Aspekts bei Integrationsmaßnahmen, dem Einsatz gegen Rassismus
und Diskriminierung und für Gewaltprävention engagieren. Bereits seit 1989 fördert der Bund
das Programm „Integration durch Sport“. Träger sind der DOSB und seine 16 Landessportbünde. Das in seiner Frühphase nur auf Aussiedler bezogene Programm steht seit mehreren
Jahren allen Zuwanderergruppen und benachteiligten deutschen Jugendlichen offen. In fast
500 Stützpunktvereinen werden bundesweit mit Unterstützung von Ehrenamtlichen vielfältige
sportliche Aktivitäten angeboten, die sich speziell an Zuwanderer richten und zu einem großen Teil auch von diesen durchgeführt werden. Aktuell werden so in über 1900 integrativen
Sportgruppen rund 36.000 Personen in den organisierten Sport eingebunden. Mehr als die
Hälfte davon sind Zuwanderer. Das Programm „Integration und Sport“ wird derzeit evaluiert.
Um die Integrationspotentiale des Sports auch über die Erarbeitung des Nationalen Integrationsplanes hinaus kontinuierlich und zielgerichtet weiterentwickeln zu können, hat der Bund
eine ständige Arbeitsgruppe unter Beteiligung von Vertretern der Länder, des Sports, der
Wissenschaft und von Migrantenorganisationen ins Leben gerufen. Die konstituierende Sitzung fand am 23.06.2008 statt und die Arbeit wird in einem vierteljährlichen Turnus fortgeführt. Mit diesem Dialog soll erreicht werden, dass dauerhafte Empfehlungsstrukturen auf
Bundesebene mit Hilfe eines Expertenteams geschaffen werden können, damit so die Schnittstelle zwischen Sport und Integration bearbeitet werden kann. Ein weiteres Ziel ist die Förderung der interkulturellen Kompetenz der Akteure in den Netzwerken vor Ort.
Auch hier wird wiederum die Tendenz deutlich, dass sich verschiedene Parteien regelmäßig
938
Ergebnisse und Arbeiten wurden auf dem Internationalen Deutschen Turnfest 2009 in Frankfurt am Main
präsentiert.
209
mit ihren Erfahrungen und Erfolgen austauschen, um immer wieder verbesserte Konzepte
vorstellen zu können. Die Arbeitsgruppe hat sich folgende Schwerpunktthemen gesetzt:
- die weitere kulturelle Öffnung der Sportverbände im organisierten Sport.
- die Einbindung von Migranten in die gestaltende Struktur der Vereine.
- die Verbesserung der Kooperation mit Migrantenorganisationen im Sport.
- sowie die Entwicklung zielgruppenspezifischer Angebote zur Sportsozialisation von
Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund.
Des Weiteren prägen Medien die öffentliche Wahrnehmung von Zuwanderern, wirken dabei
unbestrittenermaßen auch meinungsbildend und sollen deshalb zukünftig auch ein gewisses
Maß an Verantwortung übernehmen.940
Sie können sowohl Vorurteile verstärken als auch abbauen helfen. Lange Zeit präsentierten
die Medien ein weitgehend undifferenziertes Bild der „Ausländer in Deutschland“. Weiterentwicklungen der zweiten und dritten Generation erfuhren keine weitere Beachtung. Die
„Frau mit Kopftuch“ erscheint auch heute noch oft als Symbol für die Mehrzahl der Ausländer. Was hingegen fehlte, waren bislang Alltagsbilder, die positive Konnotationen auszulösen
vermögen sowie Hintergrundinformationen, die ein besseres Verständnis nachsichziehen
können. Beispielsweise wird schon die Zahl der Ausländer oft überschätzt, auch von Menschen ohne Vorbehalte, was aus der dramatisierten Darstellung des Ausländerthemas in den
Medien herrühren könnte, wie „Ansturm der Armen“, „Sturm auf Europa“.
Aus diesem Grunde wird die Zusammenarbeit deutscher und türkischer Medien geprüft. Studien aus klassischen Einwanderungsländern weisen auf die grundsätzliche Problematik beim
Thema „Migration und Medien“ hin:941
- über Minoritäten wird nur wenig berichtet.
- wenn eine Berichterstattung erfolgt, so werden die Minoritäten als soziale Problemgruppen präsentiert: „Sie haben Probleme und sie machen Probleme.“
- Es wird z.B. die illegale Einwanderung betont, die Verursachung hoher Kosten, außerdem, dass die Einwanderer den Einheimischen Arbeit wegnehmen, Straftaten begehen und sich als undankbar gegenüber der Aufnahmegesellschaft zeigen.
- Triviale Darstellung ihrer Probleme, u.U. in unterhaltsamen Rollen wie die des
Schurken.
- stereotypische Darstellung.
940
Vgl. dazu Geißler/Pöttker, Integration durch Massenmedien. Medien und Migration im internationalen Vergleich, Bielefeld 2006; Schiffer, Medien und Erziehung Nr. 2/2005, 43; Hoffmann, Islam in den Medien, Münster 2004.
941
Vgl. Details bei Meier-Braun, ZAR 2009, 89.
210
Man könnte z.B. Workshops und Konferenzen einrichten, die einen Perspektivenwechsel in
der öffentlichen Wahrnehmung fokussieren. Auch sollen integrative Programmformate entwickelt werden. ARD und ZDF942 wurden schon besonders in die Pflicht genommen. Sie haben
sich zum Ziel gesetzt, den Alltag der Menschen aus Zuwandererfamilien als Teil der gesellschaftlichen Normalität abzubilden und dabei die Chancen einer kulturell vielfältigen Gesellschaft glaubwürdig zu vermitteln, ohne ihrer Probleme und Risiken zu negieren.943
Gleichzeitig soll eine sensiblere Begriffswahl einen Beitrag dazu leisten, dass kein Feindbild
aufgebaut wird. Helfen könnte dabei weiterhin der Einsatz von Journalisten die ihrerseits aus
Einwandererfamilien stammen, deren unterschiedlicher Blickwinkel neuen Sachverstand in
die Programmformate einführen könnte. Weiterhin muss mehr Forschungsaktivität zur Mediensozialisation und Mediennutzung von Menschen mit Migrationshintergrund vorangetrieben
werden. Es bedarf inhaltlicher, konzeptioneller Weiterentwicklung von integrativen Medienangeboten, wobei neben der Erfassung von quantitativen Strukturen der Mediennutzung vornehmlich auch qualitative Aspekte in den Mittelpunkt rücken sollten. Bemängelt wird aktuell
außerdem, dass weder ein Verfahren noch wirksame Instrumente der Bilanzierung und Überprüfung der eingeschlagenen Maßnahmen entwickelt wurden. Es fehlt an einem jährlichen
Bericht- und Bilanzierungssystem.
Schließlich kann auch bürgerschaftliches Engagement die gleichberechtigte Teilhabe am Gesellschaftsleben stärken und wird auf diese Weise als ein Katalysator für Integration angesehen. Die Bundesregierung setzt sich daher auf unterschiedliche Art Förderprogramme und
Projektmittel für die gleichberechtigte Teilhabe von Migrantenorganisationen ein. Ziel ist es,
die Rolle von Migrantenorganisationen als selbstverantwortliche Träger von Integrationsmaßnahmen zu stärken. Es gibt dafür eine Reihe von Programmen und Projekten:
- 2007 startete die von der Bundesregierung gestartete Initiative „Zivilengagement –
Miteinander – Füreinander“. Dabei soll die Engagementförderung und die Stärkung
der Engagementforschung ins Zentrum gestellt werden.
- Ebenfalls 2007 startete das Programm „Freiwilligendienste machen kompetent“. Dieses Programm will die Engagement-, Bildungs- und Beschäftigungsfähigkeit junger
Menschen aus bildungsarmen und partizipationsfernen Schichten stärken. Ein besonderer Fokus liegt auf der Beteiligung junger Menschen mit Migrationshintergrund und
942
Kooperation erfolgt hierbei mit dem Grimme-Institut, der Civis-Medienstiftung, der Deutschen Welle und der
Bundesinitiative für Integration und Fernsehen.
943
Dazu dient u.a. die Aufnahme klarer und nachprüfbarer Vorstellungen zum Thema „Integration“ in die ARDLeitlinien. Das Thema Islam spielt eine große Rolle. Der WDR plant eine zweitätige Sendung zum Ende des
Ramadan und der SWR veröffentlicht seit dem 20. April 2007 ein „islamisches Wort“ im Internet. Zudem werden durch gezielte Personalförderung Autoren, Moderatoren und Schauspieler ausländischer Herkunft als positive Identifikationsfiguren an exponierter Stelle in den Programmen erscheinen. Das ZDF wird MagazinSendungen schwerpunktartig auf das Thema Migration und Integration fokussieren. Auch die Deutsche Welle,
die privaten Rundfunkunternehmen, der Verband Privater Rundfunk und Telemedien e.V., RTL, der Verband
Deutscher Zeitschriftenverleger, der Verband der Jugendpresse, die CIVIS-Medienstiftung, die Initiative D21
e.V., die Werner Media Group, die Jüdische Gemeinde zu Berlin, die Türkische Gemeinde, die Ihlas Media
Gruppe, die Sabah/ATV Gruppe und die Dogan-Verlagsgruppe haben sich gegenüber der Bundesregierung verpflichtet, verschiedene ähnliche Projekte und Netzwerke einzurichten.
211
auf der Bildung neuer Trägerstrukturen in den Freiwilligendiensten unter Mitwirkung
von Migrantenorganisationen. Von den bisherigen Teilnehmern haben ca. 65 % einen
Migrationshintergrund.
- Seit August 2008 wird parallel dazu gemeinsam mit dem Berliner Senat das Projekt
„Migrantenorganisationen als Träger von Freiwilligendiensten“ gefördert. Dabei werden Migrantenorganisationen hier zu selbständigen Freiwilligendiensten qualifiziert.
- In Planung dazu befindet sich eine multiethnische Studie, die in Anlehnung und parallel zum dritten Freiwilligensurvey handlungswirksame Erkenntnisse zur Förderung
des Engagements von Migranten liefern soll.
Ohne eine Beteiligung der Zivilgesellschaft läuft eine Integration ins Leere. Gerade eine solche braucht aber Anerkennung und gezielte Förderung.944 Deshalb sollen Beiräte und Fachgremien mit Zivilpersonen besetzt werden. Auch sollen Netzwerkbildungen durch Fachkräfte
gefördert werden.945
Nach Anerkennung des gemeinsamen nationalen Integrationsplanes und dessen Zielbestimmungen übernehmen die Länder die besondere Aufgabe, die bestehenden vielfältigen Einzelmaßnahmen zur Integrationsförderung besser aufeinander abzustimmen, in Gesamtkonzepte
einzuarbeiten und klare Verantwortlichkeiten festzulegen: „Einheit im Ziel, Vielfalt der Wege“. Deshalb soll unter den Ländern ein regelmäßiger Austausch über Praxiserfahrungen stattfinden, damit eine „gute Praxis“ sichergestellt werden kann. Außerdem haben fast alle Länder
landesweite eigene Integrationskonzepte verabschiedet. Die Länder geben Impulse und Leitlinien für die kommunale Politik946 und beeinflussen somit die Integrationsbedingungen der
Migranten in den Städten, Gemeinden und Landkreisen. Die Integrationskonzepte betonen die
Verantwortung der Kommunen für eine erfolgreiche Integration vor Ort. Die Bedeutung von
Stadtteilen und Wohnquartieren, also Orten, an denen Integrationsmaßnahmen konkret geleistet werden sollen, wird besonders hervorgehoben. Die Bundesländer stimmen darin überein,
dass Integration vor Ort als Querschnittsaufgabe umgesetzt werden soll, da sie alle Bereiche
des Lebens und der Politik berührt. Ziel ist es, die ämter- und ebenenübergreifende Zusammenarbeit zu intensivieren. Die Kommunikation zwischen der Verwaltung und den lokalen
Akteuren der Integrationsarbeit, insbesondere den Schulen und Kindergärten sowie freien
Trägern, Vereinen, Migrantenorganisationen und Religionsgemeinschaften soll verbessert
werden. Dem unmittelbaren Wohnumfeld wird eine besondere Funktion im Integrationsprozess beigemessen. Im Aktionsplan der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen heißt es
z.B., dass sich im örtlichen Kontext entscheidet, ob „schulische Integration und die Integration in den Arbeitsmarkt gelingen und wie sich das Zusammenleben gestaltet.“947 Die Hand944
Zur Problematik bei der Kommunalverwaltung, Luft/Schimany, Integration von Zuwandern, Bielefeld 2010,
S. 159ff.
945
Vgl. dazu auch Dettling/Gerometta, Herausforderungen und Perspektiven einer offenen Gesellschaft, Wiesbaden 2007, S. 75ff.
946
Vgl,. auch Dahme/Wohlfahrt, Handbuch kommunale Sozialpolitik, Wiesbaden 2011, S. 193ff.
947
Aktionsplan Integration Nordrhein-Westfalen 2006, S. 27; auch andere Bundesländer haben ländereigene
Aktionspläne aufgestellt, die gegenüber dem nationalen ergänzend wirken und regionale Besonderheiten besser
berücksichtigen können; vgl. zur bremischen Integrationspolitik, Luft/Schimany, Integration von Zuwanderern,
Bielefeld 2010, S. 51ff.
212
lungsempfehlungen der Länder beziehen sich auf die Verbesserung der Wohn- und Lebensbedingungen in Wohngebieten mit einem hohen Migrationsanteil, wie z.B. auch das Bremer
Programm „Wohnen in Nachbarschaften“ (WiN). Dabei liegt der Fokus auf der Wohnfeldgestaltung, insbesondere hinsichtlich Freiräumen für Kinder, Familien und der Älteren. In den
Integrationskonzepten von Nordrhein-Westfalen und Hessen wird in diesem Zusammenhang
auf die Bedeutung der Einbeziehung der „Stammbevölkerung“ in den Stadtquartieren hingewiesen. Außerdem wird auf die bestehenden Programme zur Förderung der Quartiersentwicklung, wie z.B. „Soziale Stadt“ oder landesspezifische Förderprogramme hingewiesen. Die
Bündelung und Koordinierung aller stadtentwicklungspolitisch relevanten Förderprogramme
in den betreffenden Kommunen wird von den Ländern empfohlen, um Integrationserfolge
sicherzustellen.
- So unterstützen sie die Integration am Arbeitsmarkt durch landesspezifische Arbeitsmarktprogramme.
- Die Länder initiieren und unterstützen Netzwerke und Kooperationen zwischen Verwaltungen, Schulen, Jugendeinrichtungen, örtlichen Gewerbetreibenden, Arbeitsagenturen, Arbeitsgemeinschaften und Migrationsorganisationen. Im Rahmen der Sprachförderung wird in allen Integrationskonzepten die verstärkte Einbeziehung der Eltern,
insbesondere der Mütter gefordert. Um die Zielgruppe für Sprach- und Konversationskurse, wie z.B. „Mama lernt Deutsch“ oder andere Elternbildungsprogramme zu gewinnen, werden parallel angebotene Betreuungsleistungen für die Kinder vorgeschlagen.
- Die Informationsangebote und Beratungsangebote für Selbständige und Erwerbsgründer werden stärker auf Zugewanderte ausgerichtet.
- Die Länder beziehen den Sachverstand engagierter Bürger auf dem Gebiet der Integration durch die Berufung in geeignete Gremien ein.
- Auch soll Vernetzung der Strukturen der Integrationsförderung mit den Sportvereinen stärker vorangetrieben werden.
Auf der Grundlage sozialräumlich orientierter, statistischer Informationssysteme soll zusätzlich regelmäßig ein Berichtswesen dergestalt aufgebaut werden, das Aussagen zu der Entwicklung in bestimmten Gebieten im Vergleich zu anderen Gebieten bzw. der Gesamtkommune zulässt. So können unter Berücksichtigung der jeweiligen Rahmenbedingungen vor Ort
Ressourcen gezielt verteilt und Anzahl und Umfang der Projekte auf den Bedarf abgestimmt
werden. Die Stadtstaaten Bremen und Berlin legen z.B. großen Wert auf eine (Weiter-) Entwicklung von Monitoringsystemen zur Messung des Verlaufs der Integration und zur Überprüfung der Wirksamkeit von Maßnahmen. Für relevante Bereiche werden hiefür Indikatoren
bestimmt, die es regelmäßig zu überprüfen gilt.948
Die Kommunen sind der zentrale Ansprechpartner in der praxisorientierten Arbeit, denn sie
948
Luft/Schimany, Integration von Zuwanderern, Bielefeld 2010, S. 51ff.
213
sind es, die vor Ort mit den zahlreichen Problemen und Verbesserungsvorschlägen des unmittelbaren Wohnumfeldes konfrontiert werden und die die theoretischen Bundesvorgaben möglichst schonend im Sinne aller Beteiligten umsetzen. Deshalb bildet diese Arbeit ein eigenes
Dialogforum. Man kann hier auch von kommunalen Potentialen sprechen, deren Ausschöpfung beachtet werden sollte.949 So sind sie in besonderem Maße geeignet, kommunale Gesamtstrategien zu entwickeln und fortzuführen, die den jeweiligen örtlichen Bedürfnissen angepasst sind. Im Rahmen von Integrationsförderung können sie beispielsweise folgende nützliche Aufgaben erfüllen:950
- die Bildung von interkulturellen Zentren, die auch gerade als Angebotsalternative zu
den von islamischen Organisationen betriebenen Zentren dienen, um auf diesem Weg
eine stärkere Vernetzung der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Akteure zu erreichen.
- die auf freiwilliger Basis beruhende Bildung in jeder Kommune eines sog. Ausländerbeirates, der als Gremium von Menschen mit Migrationshintergrund eine wichtige
politische Funktion erfüllt, nämlich die schon mehrfach angesprochene Funktion der
politischen Teilhabe und Mitwirkung; Menschen mit Migrationshintergrund sollen
sich stärker an den Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen des sozialen und politischen Lebens beteiligen. Damit soll bürgerschaftliches Engagement von Migranten
unterstützt und auch gerade die weibliche Migrationsbevölkerung einbezogen werden.
- die Bildung einer Migrationsanlaufstelle, die als Beratungsstelle fungiert, dabei aber
unabhängig sein sollte, damit nicht der Eindruck entsteht, es würde ein westliches Lebensbild aufoktroyiert.
- die Bildung von Arbeitsgruppen, die jährlich Konzepte zur interkulturellen Verbesserung vorlegen und den status quo überprüfen und einschätzen soll; durch diese QuasiEmpirie kann eine gewisse Kontrolle der Zweckmäßigkeit verschiedener staatlicher
Maßnahmen stattfinden.
- die Bildung von sog. Spielstuben als ein Angebot integrativer Kinder- und Jugendarbeit; zu beachten ist hier aber, dass jeweils nur ein gewisser Prozentsatz von Migrationskindern gruppenweise eingebracht wird, um überhaupt eine Integration möglich zu
machen, ohne dass sich andere überfordert fühlen.
- die Bildung von verschiedenen Stadtteilkonferenzen oder auch schulübergreifenden
Konferenzen, in denen sich die jeweiligen Akteure zum Dialog und ggf. zur Planung
politischer Aktionen treffen; Sinnvoll wäre dies vor allem in Sozialräumen mit Integrationsdefiziten. Man könnte gerade dort niedrigschwellige soziale und kulturelle Angebote entwickeln, die die Lebensqualität im und die Identifikation mit dem unmittelbaren Umfeld stärken.
- Schließlich sollten die Integrationsbemühungen dokumentiert, evaluiert und gegebenenfalls optimiert werden.
949
950
Vgl. dazu auch Preska, Integration trotz Segregation, Hamburg 2014, S. 20ff.
Vgl. Hiesserich, ZAR 2008, 102.
214
Im Ergebnis soll auf diesem Wege eine Vernetzungsfunktion zwischen verschiedenen Initiativen entstehen, die Impulse für wichtige Arbeitsbereiche wie Schule, Jugendhilfe und Arbeitsmarkt geben können. Besonderer Handlungsbedarf besteht außerdem in benachteiligten
Stadtteilen, in denen auch häufig viele Zugewanderte leben. Zentrales Handlungsinstrument
ist das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“.951 Es soll dort eine Bündelung von Maßnahmen stattfinden, durch die eine Verstärkung von Beschäftigungs- und Qualifikationsförderung
bewirkt werden soll.
Die deutsche Wirtschaft betrachtet Vielfalt zunehmend als Gewinn und Chance. Der 2006
von vier großen deutschen Unternehmen und der Beauftragten der Bundesregierung ins Leben
gerufenen „Charta der Vielfalt“ haben sich mehr als 600 Unternehmen und öffentliche Einrichtungen mit über 4,5 Mio. Beschäftigten angeschlossen. Die Charta ist damit eines der
größten Unternehmensnetzwerke in Deutschland. Die Unterzeichner verpflichten sich, in ihren Unternehmen ein Klima des gegenseitigen Respekts zu schaffen, das individuelle Chancen eröffnet und das innovative und kreative Potential der Beschäftigten fördert. Die Beauftragte hat die Charta mit der Kampagne „Vielfalt als Chance“ unterstützt und gezielt für die
Anerkennung und Wertschätzung des ökonomischen und gesellschaftlichen Potentials zugewanderter Menschen geworben. Um eine möglichst ganzheitliche Einbeziehung der gesamten
Gesellschaft auf mehreren Ebenen zu erreichen, können auch die kommunale Wirtschaft und
deren Organisationen ein Zusammenleben fördern.
- Industrie- und Handelskammern bieten eine spezielle Ausbildungsberatung für ausländische Unternehmen und führen Ausbildungsinformationsveranstaltungen für ausländische Jugendliche durch; außerdem werben sie für die Einstellung von Erwerbspersonen mit Migrationshintergrund und geben Hilfestellungen.
- Die Handwerkskammern schulen ihre Ausbildungsberater zur gezielten Beratung
von Unternehmern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund.
- Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) unterstützt die integrationspolitischen Themen und drängt auf eine umfassende Weiterbildung der Lehrkräfte und
sozialpädagogischen Fachkräfte.
- Arbeitsgruppen unterstützen junge Migranten im Rahmen ihrer Jugendarbeit.
- Sie bauen außerdem ihre Unterstützung- und Beratungsangebote für von Gewalt und
Zwangsverheiratung betroffene bzw. bedrohte Migrantinnen aus.
- Sie treiben die interkulturelle Öffnung in ihren ambulanten und stationären Diensten
und Einrichtungen vor
951
Das Städtebauförderungsprogramm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – Soziale Stadt“ des
Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) und der Länder wurde im Jahr 1999 mit
dem Ziel gestartet, die Abwärtsspirale in benachteiligten Stadtteilen aufzuhalten und die Lebensbedingungen vor
Ort umfassend zu verbessern. Die Soziale Stadt startete mit 161 Stadtteilen in 124 Gemeinden; im Jahr 2008
waren es bereits 523 Gebiete in 326 Gemeinden. Die gesetzliche Grundlage für dieses Programm basiert auf Art.
104b GG, § 171e BauGB. Die Finanzierung erfolgt gemeinsam durch Bund, Länder und Kommunen. Vgl. zu
diversen Evaluationen: www.sozialestadt.de.
215
2. Die Erwartungen an den nationalen Integrationsplan und die objektive Messbarkeit des
Erfolges952
Aus dem umfangreichen Programm wird deutlich, dass die Bundesrepublik ihre Aufgabe der
„Integration“ sehr ernst nimmt und auch alle staatlichen Ebenen in die Pflicht nimmt. Die
Erwartungen sind sehr hoch angesiedelt und es bleibt abzuwarten, wie die langfristigen Bilanzen aussehen werden.
Seit das Thema Integration überhaupt entdeckt worden ist, ist ein Trend zur Vorverlagerung
und Verschärfung der Anforderungen festzustellen.
Kaum jemand bezweifelt, dass es sinnvoll ist, die Kenntnis der Sprache des Landes953 zu fördern, in dem man lebt. Sie ist Voraussetzung für die Beteiligung am gesellschaftlichen und
erst recht am politischen Leben. Strittig ist hier lediglich, mit welchen Mitteln die offensichtlich vorhandenen Defizite am besten beseitigt werden können. Die erste Generation der Integrationskurse war jedenfalls zu stark standardisiert und hat deshalb unbefriedigende Ergebnisse
gebracht. Problematisch ist die zweite positive Integrationsforderung, wenn sie im Sinne der
Forderung nach einer „Leitkultur“ auf eine weitgehende kulturelle Integration zielen würde.
Dieser Zweck wurde in der politischen Debatte insbesondere mit den Einbürgerungstests verbunden. Dagegen spricht jedoch, dass es in einer liberalen und pluralistischen Gesellschaft
keine staatlichen Vorgaben für moralische und soziale Normen geben kann, die über die für
alle verbindliche Rechtsordnung hinausgehen. Insbesondere muss die religiöse Sphäre in einem säkularen Staat Privatsache bleiben. Allgemeine staatsbürgerliche Kenntnisse sind dagegen durchaus sinnvoll. Es geht dann aber um Wissensvermittlung, während die paternalistische Bemühung, durch staatlich angeordnete Kurse eine emotionale Bindung an das neue
Heimatland zu schaffen, einem freiheitlichen Verständnis der Verfassungsordnung widerspricht und auch kaum erfolgreich sein wird.954
Mit zunehmender Bedeutung von Integrationspolitik stellt sich zudem mehr denn je die Frage,
wie die Wirkung von Integrationsmaßnahmen und die integrationspolitischen Ziele erfasst
werden können. Bisher fehlte es hierfür oftmals an Statistiken und wissenschaftlich fundierten
Analysen. Mit der Konzeption „Integration fördern - Erfolge messen – Zukunft gestalten“
legte die Beauftragte der Bundesregierung im Juni 2008 dem Kabinett ein Konzept für ein
bundesweites Integrationsmonitoring vor. Das Integrationsmonitoring beschreibt die Entwicklung der Integration der Bevölkerung mit Migrationshintergrund im Zeitverlauf und bietet
somit wesentliche Ansatzpunkte für die Verbesserung integrationspolitischer Instrumente und
Maßnahmen. Der im Juni 2009 vorgelegte erste Integrations- und Indikatorenbericht zeigte
erste Erfolge der Integrationspolitik in der 16. Legislaturperiode auf und machte zugleich weiteren Handlungsbedarf deutlich. Künftig wollte die Bundesregierung regelmäßig anhand von
Indikatoren über den Stand und Perspektiven der Integration berichten. Der Integrationsbericht 2012 zeigt, dass trotz andauernder Benachteiligung der Migranten bei Ausbildung und
952
Vgl. Krings-Heckemeier, Integration vor Ort: der nationale Integrationsplan- eine Zwischenbilanz, Berlin
2008.
953
Details siehe oben unter D II.
954
Ein Fortschrittsbericht zum Integrationsplan findet sich z.B. bei Krüger-Potratz/Schiffauer, Migrationsreport
2010, Frankfurt am Main 2011, S. 238 ff.
216
am Arbeitsmarkt weniger Schulabbrecher und weniger Arbeitslose zu verzeichnen sind, so
dass sich anhand der Entwicklung der Maßnahmen der letzten Jahre zeigt, dass Fortschritte
erzielt werden konnten.
Im Geist der Achtung, des Respekts und der Dialogbereitschaft begann im Bundeskanzleramt
mit viel Symbolik zudem seit 2006 der Integrationsgipfel und damit ein Prozess, an dem sich
Migranten an der Mitgestaltung einer, wie es hieß „Aufgabe von nationaler Bedeutung“ aktiv
beteiligen konnten. Die Partizipation von überwiegend in Migrantenselbstorganisationen engagierten Menschen ist und bleibt ein innovativer und zugleich qualitativ bestimmender Aspekt dieses Prozesses. Der aktivierende, mobilisierende Effekt, den sowohl die Integrationsgipfel als auch die Arbeiten in den Arbeitsgruppen nicht nur bei Migranten und ihren Gemeinschaften, sondern auch in weiten Teilen der Gesellschaft ausgelöst haben, hat eine über
den erarbeiteten Plan selbst weit hinausgehende Dynamik entwickelt, die als eine bedeutsame
Ressource für das Gelingen von Integration zu pflegen und voranzutreiben ist. Der Erfolg des
Planes wird also in hohem Maße davon abhängen, ob es gelingt, seinen Prozess-Charakter
aufrechtzuerhalten und weiterzuführen und die Dynamik der Partizipation und des gesellschaftlichen Dialogs als integrationspolitische Ressource nachhaltig zu nutzen.
3. Das Amt der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung955
Von 2002 bis 2005 war das Amt des bzw. der Integrationsbeauftragten dem Familienministerium zugeordnet, davor seit der Schaffung des Amtes 1978 als „Beauftragter zur Förderung
der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen“ bzw. als
„Beauftragter der Bundesregierung für Ausländerfragen“ dem Bundesministerium für Arbeit
und Sozialordnung. Das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration wurde 2005 von der Bundeskanzlerin Angela Merkel im Kanzleramt angesiedelt und als Staatsminister für Integration in der Bedeutung aufgewertet, wodurch deutlich
wird, dass die gesellschaftspolitische Querschnittsaufgabe insgesamt an Bedeutung gewonnen
hat. Der jeweilige Amtsinhaber hat den Rang des Parlamentarischen Staatssekretärs. Die
Bundesregierung hat somit zu Beginn der 16. Legislaturperiode die Voraussetzungen dafür
geschaffen, Integrationspolitik zum gesellschaftspolitischen Schlüsselthema zu machen und
zu verankern. Angela Merkel begründete dies damit, dass „Integration eine Schlüsselaufgabe
unserer Zeit ist, die auch durch den demographischen Wandel immer mehr an Bedeutung gewinnt.“ Integrationspolitik betreffe alle Politik- und Gesellschaftsbereiche. Dies gelte sowohl
im Hinblick auf die unterschiedlichen Politikbereiche als auch bezogen auf die föderalen
Ebenen sowie auf das Zusammenwirken von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren.
Die Aufgabe besteht im Wesentlichen darin, den Menschen klarzumachen, dass die Geschäftsgrundlage, auf der Integration stattfindet, die Grundwerte der Europäischen Union und
die darauf basierende Würde des Einzelnen, die Gleichheit von Frau und Mann, die Religionsfreiheit und die Meinungsfreiheit sind. Dort sind keine Abstriche zu machen. 956 Die Beauftragte hat die Erstellung des Nationalen Integrationsplans gesteuert und koordiniert. Mit
955
956
www.bundesregierung.de
Dokumentation ZAR 2006, 76.
217
ihm hat die Bundesregierung Integrationspolitik auf eine neue Grundlage gestellt. Neben klar
definierten Zielen erhält er ein breites Spektrum an Maßnahmen und Selbstverpflichtungen.
Sie reichen von der Verbesserung der Bildungs- und Arbeitsmarktchancen über die Stärkung
der Gleichberechtigung bis hin zur Kultur- und Wissenschaftsförderung.
Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung arbeitet zudem an einem Konzept, mit dem
die Bundesregierung die Integration von Zuwanderern künftig verbindlicher als bisher bundeseinheitlich regeln will: Neuzuwanderer sollen einen Integrationsvertrag abschließen. In
diesem werde festgelegt, was die Zuwanderer an Unterstützung und Hilfe erwarten können,
aber auch dargelegt, was „wir“ von den Zuwanderern verlangen. Die Ziele werden so zusammengefasst: „Jeder, der auf Dauer hier leben und arbeiten will, muss „Ja“ sagen zu unserem
Land. Dazu gehört das Beherrschen der deutschen Sprache, aber auch die Bereitschaft zur
Teilhabe an der Gesellschaft.“ Werte, zu denen sich Ausländer bekennen müssten, seien unter
anderem die Meinungsfreiheit und die Gleichberechtigung der Frau. Inwieweit die Einführung eines solchen Vertrages bundeseinheitlich (in Ländern ist dies bereits teilweise möglich,
vgl. A IV 2) möglich erscheint oder ob dies zunächst nur symbolischen Charakter haben soll,
ist noch nicht weiter vertieft worden.
4. Konkrete weitere Integrationsmaßnahmen959unter der Beachtung kulturneutraler Bezüge und besondere Kooperationsformen als Hilfsinstrumente
Neben dem Spracherwerb, der eine hohe Stellung im sozialen Integrationsgefüge darstellt,
werden jetzt noch eine Reihe weiterer Maßnahmen angesprochen, die zusätzliche Hilfe schaffen und neben dem Erwerb der Sprachfertigkeiten erworben werden müssten960, so dass man
im Ergebnis auf multilateralen Ebenen vollumfänglich erfolgreich arbeiten kann.
Zu Beginn des Einwanderungszyklus sind strukturelle Divergenzen zwischen den Lebenslagen der einheimischen Lebensbevölkerung und Einwandern aus weniger modernisierten Gesellschaften trivial und unvermeidlich. Zum Problem werden sie, wenn sie über eine längere
Periode anhalten und sich ein Zustand relativer Benachteiligung verfestigt. Wichtig wäre es,
durch staatliche Intervention das ökonomische Handeln von Einwanderern anzuschieben und
damit Initiale zur Selbsthilfe, beispielsweise in Form von verbesserten Startchancen in den
Ausbildungsgängen, durch Niederlassungsprämien oder durch die temporäre Begünstigung
ethnischer Nischenökonomien zu zünden.961
Die Integrationsfunktion ethnischer Unternehmer soll jetzt näherer Betrachtung unterzogen
werden. Diese schaffen zum einen für sich selbst durch Unternehmensgründung einen Arbeitsplatz und sichern dadurch ihren Lebensunterhalt, zum anderen schaffen sie Arbeitsplätze
959
Aus föderaler Finanzierungssicht vgl. Bade, ZAR 2007, 307; Kritisch zum Begriff: Süßmuth, Migration und
Integration, München 2006, S. 8; Groß, ZAR 2007, 315; Keskin, Deutschland als neue Heimat, Wiesbaden 2005,
S. 69ff.; Positiv bei Luft, Abschied von Multikulti, Gräfelfing 2006, S. 318ff.
960
So auch Giordan, in: Elkar, Europas unruhige Regionen, Stuttgart 1981, S. 89; Kritisch zur „verschlafenen
Integration“: Bade/Hiesserich, Nachholende Integrationspolitik und Gestaltungsperspektiven der Integrationspraxis, Beiträge der Akademie für Migration und Integration, 2007, Heft 11; Bade, Ausländer-Aussiedler-Asyl.
Eine Bestandsaufnahme, München 1994.
961
Leggewie, Multi Kulti, Spielregeln für die Vielvölkerrepublik, Berlin 1993, S. 152.
218
für schon länger hier lebende oder neu zugewanderte Migranten. Außerdem bilden sie eine
Brückenfunktion zwischen Zugewanderten und Neuzuwandern sowie zwischen Migranten
und deutscher Bevölkerung, die dadurch darauf aufmerksam gemacht werden könnten, dass
sich nicht jeder Ausländer lediglich als „Sozialschmarotzer“ in der Bundesrepublik aufhält.
Das Potential der ethnischen Ökonomie ist daher gezielt zu stärken, u.a. durch eine kommunale Wirtschaftsförderung, die ethnische Existenzgründer und Ausbildungsverbände ausländischer Unternehmen unterstützt. Dadurch wiederum kann die Schaffung von Arbeits- und
Ausbildungsplätzen für Zuwanderer vor Ort verbessert werden. Staatliche Maßnahmen, Anschubfinanzierung und staatliche Schulaufsicht befreien eine zivile Gesellschaft dennoch
nicht davon, ethno-soziale Diskriminierungen zu bearbeiten. Die Delegation der Verantwortung an den Staat würde nur die Gleichgültigkeit bei den Bürgern im Allgemeinen verstärken.
Zwischen gesellschaftlicher Ignoranz und staatlichem Paternalismus müsste sich eine Toleranz gewissermaßen als eine habitualisierte Selbstverständlichkeit entwickeln.
Die Beeinträchtigung des Sicherheitsempfindens bei Bewohnern im jeweiligen Wohnviertel
wirkt regelmäßig integrationshemmend. Diffuse Ängste werden in der Regel auf „Fremde“
projiziert, auf Personen, die sich durch Aussehen, Sprache und Verhalten von Einheimischen
unterscheiden. Dem ist durch bauliche und personelle Maßnahmen Rechnung zu tragen, wie
durch die Verbesserung der Beleuchtung, die Beseitigung von Sichthindernissen, die bauliche
Abgrenzung von privatem, halböffentlichem und öffentlichem Raum, die Bereitstellung von
Freiflächen und Spiel- bzw. Sportflächen für Kinder und Jugendliche und das Einstellen von
Hausbetreuern. Auch kann ggf. darüber nachgedacht werden, in einigen Wohngebieten verstärkte polizeiliche Präsenz zu zeigen. Es gibt Zuwandererviertel, in denen es vielerlei Lebensweisen gibt und diese werden vielfach auch als kulturelle Bereicherung wahrgenommen.
Auf der anderen Seite stehen Sorgen und Ängste. Es wird befürchtet, dass hier Brennpunkte
der Armut, der Verwahrlosung und der Kriminalität entstehen, die sich allmählich der staatlichen Kontrolle entziehen und deren Bewohner sich bewusst von der Mehrheitsgesellschaft
abkapseln. Diese Ängste müssen ernst genommen werden. Gerade hier muss eine aktive Integrationspolitik ansetzen. Unter den Möglichkeiten, das Sicherheitsempfinden der Bürger zu
erhöhen, wird oft ein erhöhter Einsatz von Polizeistreifen zu Fuß oder mit dem Fahrrad gewünscht. Auch spezielle Wohngebietsbeamte, mit denen man vertraut ist, können hier ein
Ansatz sein. Die Kriminalprävention auf lokaler Ebene sollte aber nicht ausschließlich als
polizeiliche Aufgabe betrachtet werden, sondern die Mitwirkungsbereitschaft und das „Hinsehen“ der Bürger aktivieren. Maßnahmen müssen zum Ziel haben, bei Konflikten die Selbstregelungsfähigkeit von Familien, Nachbarschaftsgemeinschaften sowie kommunalen und privaten Einrichtungen zu mobilisieren und ein Verantwortungsgefühl für das unmittelbare
räumliche Lebensumfeld zu schaffen. Durch Integrationsförderung im jeweiligen Wohnumfeld können Defizite in der Wohnsituation der Migranten nicht gänzlich abgebaut werden.
Anstrengungen zur Verbesserung eben jenes Wohnumfeldes, Mieter- und Bürgerbeteiligung
sowie Aufklärungs- und Informationsangebote können jedoch bestehende Defizite abmildern,
den sozialen Zusammenhalt vor Ort stärken und eine maßgeblichen Beitrag zur zukünftigen
Entwicklung benachteiligter Stadtteile leisten.
Das soziale Zusammenleben und damit auch das Integrationsklima im Wohnviertel hängen
auch von der Gestaltung des Wohnumfeldes und des öffentlichen Raums ab. Öffentliche
219
Räume und Plätze sind Orte der Begegnung und des Austausches und erleichtern Zuwanderern die Orientierung in der Aufnahmegesellschaft. Daher sind solche Orte so zu gestalten,
dass sie zur Begegnung einladen und den oft eingeschränkten Wohnraum ergänzen. Deshalb
könnte man Gemeinschaftsräume schaffen mit gleichberechtigtem Zugang für alle Interessenten. Sie sollten möglichst in Eigenverantwortung der Nutzer gepflegt und betrieben werden.
Die Gestaltung der Freiräume ist an den Bedürfnissen der Bewohner zu orientieren, was wegen der unterschiedlichen Interessen sicherlich auch schwierig sein kann. In diesem Zusammenhang sind außerdem Projekte und Maßnahmen, die in Zusammenarbeit mit Schulen und
Trägern der Jugendarbeit in benachteiligten Stadtteilen zusätzlich Bildungs- und Freizeitangebote für Kinder aufbauen, von Bedeutung.
Mit Beginn des Niederlassungsprozesses Anfang der 70er Jahre, in dem aus „Gastarbeitern“
„Wohnbevölkerung“ wurde, haben sich in zahlreichen Städten „ethnische Kolonien“ gebildet.
Die Mechanismen, die dazu geführt haben, sind vielfältig. Im Ergebnis hat sich diese Segregation über die Jahrzehnte verfestigt. Wer es sich leisten konnte, verließ diese Stadtteile, das
gilt auch für zugewanderte soziale Aufsteiger. Dieser selektive Wanderungsprozess wird verstärkt durch die Kettenmigration, die im Wesentlichen dazu beiträgt, dass sich die ethnischen
Kolonien immer wieder neu auffüllen, nämlich durch den Nachzug von Ehepartnern. Rund
60 % der Ehen türkischer Staatsbürger in Deutschland werden nach Einschätzung von Fachleuten mit einem Partner aus der Türkei geschlossen.962 Waren zunächst lediglich soziale und
demographische Segregation registriert worden, kam seit den 80er Jahren auch noch eine ethnische Komponente hinzu. Sie korreliert inzwischen mit den anderen Faktoren derart stark,
dass ethnische Konzentration in Stadtvierteln heute gleichbedeutend ist mit Armut und Kinderreichtum. Im Laufe der Zeit ist der Zusammenhang dieser drei Dimensionen stärker geworden, d.h. die meisten Ausländer leben heute in Stadtteilen, in denen auch die meisten armen Inländer leben. Dort leben heute, zumindest in Städten, auch die meisten Familien und
Kinder.963 Die negativen Zuschreibungen, mit denen Wohnsiedlungen zu kämpfen haben,
wirken auf die Bewohner zurück und erschweren jegliche Integrationsprozesse. Das Image
könnte durch bauliche Maßnahmen an den Gebäuden, durch den Ausbau der sozialen Infrastruktur und durch die Einrichtung von Mietergärten verbessert werden.
Die Bildung und Förderung von Wohneigentum kommt der Aufstiegsorientierung vieler Zuwanderer entgegen. Darüber hinaus ermöglicht sie ihnen, sich mit dem Wohnumfeld zu identifizieren. Gleichzeitig entwickeln diese Zuwanderer ein größeres Verantwortungsbewusstsein
für den Zustand der Wohnung, des Gebäudes und der Wohnumgebung.
Die organisatorischen und inhaltlichen Vorgaben können jedoch nur den Rahmen eines von
den Ländern zu füllendes Programms sein. Hierfür sind vor allem quantitative Aspekte maßgebend. Die Verschiedenheit der Bevölkerungszahlen macht aber deutlich, dass die Länder
unterschiedlich intensiv auf das Problem der ausländischen Kinder und Jugendlichen reagieren müssen.964 Die Länder haben bereits dergestalt reagiert, als dass sie verschiedene Integrationskonzepte entwickelt haben. Sie arbeiten dabei eng mit dem Bundesamt für Migration
962
Straßburger, Zeitschrift für Migration und Soziale Arbeit 2001, 34; Luft, Wege aus der Integrationskrise,
Gräfelfing 2006.
963
Institut für Landes- und Stadtentwicklung und Bauwesen des Landes Nordrhein-Westfalen, Sozialraumanalyse, Dortmund 2006.
964
Engelhard, RdJB 1982, 50.
220
zusammen.
Man könnte zudem erwägen, eine Reihe von staatlichen Maßnahmen zur Pflege der ethnischen Kulturen möglich zu machen und weiter zu fördern, womit sich bereits einer der Dialogforen des Aktionsplanes Integration befasst. Sinnvoll kann es dabei sein, jene gesellschaftlichen Kräfte stärker in die Verantwortung zu nehmen, die sich mit ethnischen Konzepten
identifizieren und diese weitervermitteln, z.B. bei der Erziehung in staatlichen Schulen. Sehr
erfolgreich sind diese Instrumente nur in der Vergangenheit bislang nicht eingesetzt worden.
Beispielhaft erweist sich dies an den Bildungs- und Erziehungszielen der westdeutschen Landesverfassungen, die zwischen 1947 und 1951 erlassen wurden und eindeutig auf Moralität
abstellen. Sie verdeutlichen „den Geist einer versunkenen Epoche“965 und machen den Wertewandel deutlich, der sich seither vollzogen hat. Wollte heute jemand solche Formeln, fände
er keinen Konsens. Nehmen wir die bayerische Verfassung: Bei „Ehrfurcht vor Gott“ (Art.
131 Abs. 2 BayVerf) hieße es: religiöse Indoktrination; bei „Liebe zur bayerischen Heimat
und zum deutschen Volk“ (Art. 131 Abs. 3 BayVerf): Nationalismus und Chauvinismus; bei
„Tüchtigkeit“ (Art. 126 Abs. 1 BayVerf): Erziehung zum Konkurrenz- und Leistungsbürger
usw.
Diese Diskrepanz zwischen formeller Geltung und inhaltlicher Gültigkeit zeigt jedoch wiederum das Dilemma, denn diese Wertvorstellungen berühren wiederum den persönlichen Bereich und können daher nicht staatlich verordnet werden.
Der Staat wird ohnehin nicht alles regeln können und in einem liberalen Staat soll er dies auch
nicht. Es bewähren sich daher zunehmend Kooperationen zwischen Staat, Wirtschaft und privaten Akteuren. Insbesondere bei Stiftungen oder Projekten wird dies deutlich, wobei es differenzierte Modelle der frühkindlichen Förderung bis hin zur Begabtenförderung gibt.967
Eine weitergehende Möglichkeit zur Aufgabenbewältigung wäre die Inanspruchnahme von
sog. Public Private Partnerships (PPP)968. Darunter ist vor allem in den westeuropäischen Industrieländern der Ausdruck einer starken Tendenz der (Re-) Privatisierung zu verstehen, die
durch das Ende der Hochkonjunktur und der u.a dadurch hervorgerufenen Strukturkrise im
gemeinwirtschaftlichen Sektor verstärkt wurde. Dies wird heute vor allem mit dem Fehlen der
öffentlichen Mittel erklärt. PPP sind, grob zusammengefasst, Kooperationsformen zwischen
öffentlicher Hand und Privatwirtschaft zur Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben. Abzugrenzen sind sie von Eigenerledigung, also der Erledigung mit eigenen Sachmitteln und Personal,
und materieller Privatisierung, wobei die Erledigung vollständig an ein privates Unternehmen
abgegeben wird. Neu ist bei den PPP die Risiko- und Gewinnverteilung. Der Vorteil für die
öffentliche Hand besteht darin, dass sie sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren kann
und keine Fachleute bereitstellen muss, dennoch aber die hoheitliche Erfüllungsverantwortung unangetastet bleibt.
Man kann in diesem Zusammenhang zu der Feststellung gelangen, dass sich der Staat immer
965
Schmitt-Glaeser, BayVBl. 1995, 577.
Vgl. OECD-Konferenz mit der Vodafone-Stiftung, www.integration-symposium.de.
968
Weitere Informationen: Budäus, Kooperationsformen zwischen Staat und Markt - Theoretische Grundlagen
und praktische Ausprägungen von PPP, Baden-Baden 2005; Europäischer Wirtschaftsdienst (EUWID), Report
Public Private Partnerships 2007, Gernsbach 2007; Pauly, Das neue Miteinander - PPP für Deutschland, Hamburg 2006.
967
221
mehr vom produzierenden Staat weg hin zu einem Gewährleistungsstaat entwickelt, der bestimmte Aufgaben nicht mehr selbst wahrnimmt oder wahrnehmen kann, sondern nur noch
sicherstellt, dass sie erfüllt werden, was auch durchaus begrüßenswert erscheint, wenn in
grundlegenden Bereichen staatliche Kontrolle aufrecht erhalten bleibt. Die Integrationskurse
werden z.B. auch bereits von privaten Anbietern durchgeführt, bleiben aber unter öffentlicher
Aufsicht. Dabei sind große, bundesweit organisierte Akteure und kleinere, vom Engagement
der Bürger vor Ort getragene Gruppen und Initiativen ebenfalls von Bedeutung. Ein wesentlicher Beitrag erfolgt durch die soziale Beratung und Begleitung von Migranten. Derzeit steht
diese inmitten einer umfassenden organisatorischen und inhaltlichen Neuausrichtung: Die
Sozialberatung für erwachsene Ausländer und erwachsene Spätaussiedler soll schrittweise zu
einer Migrationserstberatung im Geschäftsbereich des Bundesamtes für Migration zusammengefasst werden. Ein gesondertes Betreuungs- und Beratungsangebot für Jugendliche und
junge Erwachsene wird in der Zuständigkeit des Familienministeriums bestehen bleiben.
5. Integrationsvereinbarungen als Instrument individueller Zielplanung1003
Deutlich geworden ist, dass gleichberechtigte Partizipation und Chancengleichheit von Menschen mit Migrationshintergrund in allen gesellschaftlichen Bereichen als ein anerkanntes
Ziel der Integrationspolitik anzusehen ist. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration,
Flüchtlinge und Integration hat deshalb 2011 ein Modellprojekt initiiert, das individuelle Integrationsvereinbarungen1004 an 18 Modellstandorten testen soll. Dabei soll eine gemeinsame
Zielvereinbarung für einen bestimmten Zeithorizont in einem bestimmten Zielbereich festgelegt werden. Die Vereinbarung kann sich verändernden Rahmenbedingungen anpassen und
bringt eine Wechselwirkung und Gleichberechtigung der Parteien zum Ausdruck. Der Zuwanderer erhält frühen Zugang zu passenden Integrationsangeboten und die Integrationsvereinbarung soll Ausdruck sein für eine Anerkennungs- und Willkommenskultur.1005
In den Vereinbarungen wird festgehalten, mit welchen Voraussetzungen Zuwanderer nach
Deutschland kommen und welche Hilfe sie ggf. beanspruchen, wie z.B. beim Spracherwerb,
bei der Kinderbetreuung, o.ä. 1006
Der Begriff der Integrationsvereinbarung ist kein gänzlich neues Phänomen, sondern lässt
sich bereits in § 83 SGB IV finden, der sich dem Wortlaut nach jedoch nur auf Schwerbehinderte (und deren Arbeitsintegration) bezieht. Der dahinterstehende Grundgedanke ist jedoch
weitestgehend deckungsgleich.
Die Integrationsvereinbarung geht vom Grundsatz der Privatautonomie, also von Vertragsfreiheit aus. Danach besteht für die Kommune und auch für den Einwanderer das Recht, sich
im Rahmen der Rechtsordnung eigenverantwortlich zu binden. Die Integrationsvereinbarung
1003
Vgl. ausführlich dazu Hank, ZAR 2012, 57.
Auch Österreich hat die Integrationsvereinbarung bereits seit 2003 verbindlich ausgestaltet, vgl. dazu Integrationsvereinbarungs-Verordnung, BGBl. II Nr. 449/2005.
1005
Die Integrationsvereinbarung ist gleichsam auf Länderebene ein Prototyp eines bundesweiten Integrationsvertrages.
1006
Ausführliche Ergebnisse von Modellprojekten sowie der Handlungsleitfaden für Kommungen und Migrationsberatungsstellen unter www.integrationsbeauftragte.de
1004
222
kann flexibel dergestalt sein, dass in zeitlichen Abständen Besprechungen stattfinden, um
gemeinsam über die Durchführung der Integrationsvereinbarung zu diskutieren, um organisatorische Fragen zu klären und bestimmte aktuelle Maßnahmen zu bestimmen.
Die Integrationsvereinbarung ist dabei keine unverbindliche, abstrakte Absichtserklärung,
vielmehr sollen bindende Regelungen getroffen werden. Nach der Satzungstheorie ist die Integrationsvereinbarung eine autonome Satzung, die einen schuldrechtlichen und normativen
Charakter besitzt. Schuldrechtlich sind die Bestimmungen, die z.B. die Kommune verpflichten, bestimmte Sprachkurse bereitzustellen. Da aber die Integrationsvereinbarung auch bis zu
einem gewissen Grad konkret regelt, wie die Ausgestaltung der Integrationsvereinbarung aussehen muss, hat sie auch einen normativen Charakter.1007 Wenn die beteiligten Parteien eine
verbindliche Integrationsvereinbarung treffen, setzt dies weiterhin ein Vertrauensverhältnis
und gegenseitige Rücksichtnahme voraus. Wird dieses Vertrauen allerdings durch eine generelle Weigerung, eine Integrationsvereinbarung abzuschließen, enttäuscht, kann dies bereits
nachteilig berücksichtigt werden.
Wie jeder Vertrag kann auch die Integrationsvereinbarung gekündigt werden, wobei über die
Kündigungsfrist frei bestimmt werden kann.1008
Die Integrationsvereinbarung soll auf diese Art und Weise zu einem zentralen Planungs- und
Steuerungselement werden, auch wenn (noch) keine Kontrahierungspflicht besteht. Dies
könnte sich jedoch nach Auswertung der Modellprojekte ggf. ändern, vor allem im Hinblick
auf einen nationalen Integrationsvertrag.
VII.
Die integrative Wirkung der allgemeinen staatlichen Schulorganisation unter der
Herrschaft des Grundgesetzes
In den letzten Jahren ist nach der Abkehr von der sog. „Ausländerpädagogik“ als einer Art der
Sonderpädagogik für Kinder ausländischer Herkunft viel über interkulturelle Erziehung diskutiert worden. Leitend war dabei stets die Grundidee, dass sowohl die einheimischen Schüler
als auch die ausländischen Schüler auf das Zusammenleben in einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft vorbereitet werden müssten. Über den schulischen Alltag hingegen wissen wir noch wenig. Es kann jedoch aufgrund sowohl der Schulleistungen und entsprechenden Schulabschlüssen, als auch aufgrund der anhaltenden Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen in der Schule, erahnt werden, dass es eine erhebliche Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis gibt.
Wie müsste denn nun die Schule in der multikulturellen Einwanderungsgesellschaft aussehen? Das jeweilige Landesschulgesetz regelt Schulpflicht, Organisation und wesentliche Inhalte des Schulbetriebs. Die Schulverwaltung konkretisiert als hierarchische Verwaltung die
Vorgaben in Verwaltungsvorschriften und übt Aufsicht über Schule und Lehrer aus. Die Vor1007
Großmann,/Schimanski,/Spiolek, Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch IX, Neuwied 2002, Rn
137.
1008
Möglich wäre analog zu § 83 SGB IX bei fehlender Vereinbarung einer Kündigungsfrist eine ersatzweise
Regelung i..S.v. § 77 Abs. 5 BetrVG von drei Monaten anzunehmen, Details bei Großmann/Schimanski/Spiolek,
Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzgebuch IX, Neuwied 2012, Rn 150.
223
gaben für die Ziele des Unterrichts, die Ausrichtung des Erziehungsauftrags sind also zunächst in der Hand des Staates. Wie kommt es zu dieser Struktur des Schulwesens? In historischer Perspektive wird die staatliche Pflichtschule durchgesetzt, weil das gegenseitige Interesse an guter Ausbildung wächst. Damit soll eine ständische Wirtschaftsordnung1009 überwunden werden und jeder soll da arbeiten können, wo seine individuellen Fähigkeiten am
besten zu nutzen sind. In moderner Formulierung geht es demnach um die Gewährleistung
von Chancengleichheit. Endgültig löst sich das Schulwesen aus der funktionalen Betrachtung
erst in grundrechtlicher Perspektive, was das Bundesverfassungsgericht konkretisierte: Die
freie Entfaltung der Persönlichkeit ist Maßstab der Schule.1010 Dies ist dabei keine leere Zielvorgabe, sondern Maßgabe des Erziehungsprozesses. Die Achtung des Einzelnen wird damit
wieder einmal von einem bloßen Abwehrmodus zu einer materiellen Bestimmung des Erziehungsprogramms. Unter dieser materiellen Vorgabe ist die staatliche Organisation geeignet,
pädagogischen Totalitarismus abzuwehren. Jenes zu gewährleisten, erfordert die Beherrschbarkeit der Institution. Die repräsentative Demokratie erhebt den Anspruch, diese Herrschaft
auf das Staatsvolk zurückführen zu können. Und das Volk bleibt eben kein abstraktes Kollektiv, jeder Einzelne soll seinen Anteil an dieser Herrschaft nehmen. Eine Beziehung zwischen
dem Einzelnen und der Gemeinschaft wird schließlich durch Erziehung und durch Integration
in der Schule hergestellt. Erziehung wiederum meint handlungsorientiert den Versuch, das
Gefüge psychischer Dispositionen anderer Menschen im Sinn der für erstrebenswert gehaltener Ziele zu verändern, in Bezug auf Kenntnisse wie auf Werthaltungen.1011
Aus dieser Definition wird deutlich, dass es sich dabei um nichts anderes als einen Eingriff
des Staates in die Freiheitssphäre des Einzelnen handelt1012, die verfassungsrechtlich gegenüber dem Freiheitsrecht der Kinder und dem Erziehungsrecht der Eltern gerechtfertigt werden
muss. Das Staatswesen liegt in der Hand des Volkes, daher ist prinzipiell zu rechtfertigen,
dass ein Volk erzogen und gebildet werden soll, vgl. Art. 7 Abs.1 GG. Das gilt selbst dann,
wenn der Einzelne durch diese Erziehung in seinen Anschauungen und Haltungen und seiner
Identität geprägt wird. Der demokratische Staat muss die Klugheit der Bürger nicht voraussetzen, sondern er kann deren Existenz sichernd organisieren.
Wenn aber Identitätsbildung durch den Staat als problematisch betrachtet wird, liegt es nahe,
sich in der Betrachtung auf die Schule zu konzentrieren und für diesen Sachbereich anspruchsvolle Konzeptionen zu erarbeiten, statt den erwachsenen Staatsbürger vor einer theoretisch möglichen Erziehungsdiktatur schützen zu wollen. Die Herstellung einer „relativen Homogenität“ als Voraussetzung der demokratischen Herrschaftsform hat nach dem geltenden
Verfassungsrecht also Vorgaben um ihrer selbst willen. Die Wechselbeziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft wird dabei ganz konkret durch den Lehrer vermittelt. Einer solche Begründung staatlicher Erziehung, die etwa die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und die Schulgesetzgebung prägt, ist vor allem der grundsätzliche Vorhalt zu machen, dass sie mit dem Begriff des „Volkes“ eine Bezugsgröße vorschreibt, die mit einer mo1009
Wissmann, in: Sahlfeld, Integration und Recht, München 2003, S. 295.
Entwickelt von Stein, Das Recht des Kindes auf Selbstentfaltung in der Schule, Neuwied 1967; aufgenommen von BVerfGE 34, 165.
1011
Evers, Die Befugnis des Staates zur Festlegung von Erziehungszielen in der pluralistischen Gesellschaft,
Berlin 1979, S. 120ff.
1012
Es geht hierbei um eine Freiheitsbeschränkung, weil das Individuum in jedem Fall nicht losgelöst von seiner
Umgebung betrachtet wird, sondern zu ihr in Beziehung gesetzt wird.
1010
224
dernen Theorie der Wirklichkeit nicht übereinstimmt.1013 Das Volk als Ganzes ist keine klar
umrissene Funktion, sondern eine undurchsichtige Hülle mit unterschiedlichsten Bedürfnissen. Das Bundesverfassungsgericht hat unter Zugrundelegung dieser Erkenntnisse das sog.
Koordinationsmodell1014 im Erziehungsstreit entworfen und zieht dies bei Erziehungskollisionen heran:
- Der Staat besitzt aufgrund von Art. 7 Abs. 1 GG ein eigenes Erziehungsrecht.
- Das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 GG bezieht sich auch auf die schulische Erziehung.
- Familiäre und schulische Erziehung lassen sich nicht voneinander trennen; im Bereich der schulischen Erziehung ist deshalb eine Koordination von elterlichem und
schulischem Erziehungsrecht erforderlich.
- Bei der Gestaltung der schulischen Bildung kommen dem elterlichen und dem staatlichen Erziehungsrecht unterschiedliche Bedeutungen zu, und zwar je nach der mehr
oder weniger großen Nähe zum familiär/persönlichen oder zum öffentlich/unterrichtlichen Bereich. Immer aber hat der Staat den sog. „Gesamterziehungsplan“ der Eltern zu beachten.
Wendet man diese Grundsätze auf die Probleme in multikulturellen Gesellschaften an, so hat
der Staat das Recht und die Pflicht, die jeweils nächste Generation mit Kenntnissen und Fertigkeiten auszustatten, die zum Leben in der Gesamtgesellschaft gehören. Hierzu zählen vor
allem die Vermittlung der Verkehrssprache und die Fähigkeit, sich in gesellschaftlichen und
staatlichen Einrichtungen zurechtzufinden. Auf der anderen Seite ist es dem Staat allerdings,
wie bereits mehrfach angesprochen, untersagt, die Mehrheitskultur den kulturellen Minderheiten durch die Ausgestaltung der schulischen Bildung und Erziehung zu oktroyieren.
Hinsichtlich der Schulsituation ausländischer Kinder kann man feststellen, dass regelmäßig
Schulpflicht bei einem regulären Aufenthaltstitel besteht, da an Wohnsitz und gewöhnlichen
Aufenthalt angeknüpft werden kann.1015 Die Beschulung von Kontingentflüchtlingen und
Asylbewerbern fällt in den Bundesländern unterschiedlich aus. Wenn sie besteht, ist sie mit
der Erwartung eines längeren Aufenthaltes verknüpft. Ein übereinstimmender Grundsatz bei
aller föderalen Verschiedenheit in der Ausgestaltung ist, dass keine echte Segregation stattfindet. Es gibt zwar, insbesondere im Bereich der Grundschule, Förder-, Übergangs- und
Vorbereitungsklassen, sie zielen jedoch lediglich auf die Verminderung sprachlicher Schwierigkeiten und sie sind auf maximal zwei Jahre begrenzt.1016 Daneben stehen individuelle Fördermaßnahmen und die Anerkennung der Muttersprache als Fremdsprache, wenn Zeugnisse
und Abschlüsse erteilt werden. Zu beklagen ist dennoch, dass nach allen statistischen Betrachtungen die Bildungsabschlüsse der Kinder ausländischer Herkunft deutlich unter dem Niveau
liegen, das ihnen entsprechend ihrem Anteil in der Bevölkerung zukäme.
1013
Wissmann, in: Sahlfeld, Integration und Recht, München 2003, S. 299.
Insoweit konkretisiert in BVerfGE 47, 46 „Sexualkunde“.
1015
Langenfeld, Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten, Tübingen 2001, S. 44.
1016
Wissmann, in: Sahlfeld, Integration und Recht, München 2003, S. 300.
1014
225
Inhalt und Grenzen des Erziehungsanspruchs in der Schule können darüber hinaus im Allgemeinen an drei Referenzgegenständen betrachtet werden: an Sprache, Geschichte und der
Frage, ob die Pflicht zum Schulbesuch durch religiöse Rechte modifiziert wird.
Abgesehen von kleinen Differenzen, wird sich eine Einigkeit wohl zunächst einmal dahingehend ausrichten, dass für Kinder einer anderen Familiensprache ein koordinierter zweisprachiger Schreib- und Leselehrgang eingeführt werden müsste. Gerade im Hinblick darauf, dass
eben diese Schlüsselqualifikationen vielen fehlen.
Es kann zwar schwer sein, Kindern gegen den Willen der Eltern die deutsche Sprache beizubringen, aber Kinder, die diese nicht lernen, haben im deutschen Schulsystem keine Chance.
Und solche haben wiederum keine guten Lebensperspektiven. Und die Jugendlichen, die keine vernünftigen Lebensperspektiven haben, sind ein Problem. Und dies unabhängig von einem Migrationshintergrund. Es bestehen dabei durch das neue Zuwanderungsrecht konkrete
Hilfsangebote, schon im Kindergartenalter anzusetzen, dort Elemente der Herrschaftskulturen
in das pädagogische Programm einzubauen und so schon im Rahmen der Kindergartenerziehung auf das multikulturelle Zusammenleben vorzubereiten. Die deutsche Sprache ist nun
einmal die verbindliche Grundlage des Schulwesens. Der eigentliche Grund dafür besteht in
der Verknüpfung mit der demokratisch-egalitären Organisation des Gemeinwesens, das in
deutscher Sprache organisiert ist. Eine solche Beschränkung auf eine verabredete Mehrheitssprache ist bereits zulässig, um eine effiziente Verwaltung sicherzustellen.1017 Der bewusste
Umgang mit Sprache, ihre Deformierungen und ihrem Manipulationspotential ist eine Errungenschaft der aufgeklärten, geschichtsbewussten Gesellschaft.1018 Einzuwenden ist allerdings,
dass die andere Muttersprache bereits Teil der Identität ist, d.h. sie kann nicht nur großzügig
geduldet, sondern sie muss durch die Schule gepflegt werden, wenn sie ihre Integrationsverpflichtung erfüllen will. Die Grundschule müsste dies dann fortsetzen, indem sie erweiterte
Möglichkeiten interkulturellen Lernens anbieten, um auf diese Weise, die Fähigkeit zur Einfühlung in den anderen und Kooperations- bzw. Konfliktfähigkeit zu vermitteln.
Dass die Wahl einer verbindlichen Sprache kein Zufall ist, hängt mit der Geschichte zusammen. Und hier werden nun Unterschiede sichtbar: Referenzgebiet der Einführung in die Geschichte ist die Geschichte des Aufenthaltslandes, konkret also die deutsche Geschichte auch
für die Zuwanderer. Geschichtsunterricht ist nicht historische Forschung, sondern erklärt die
gewachsenen Strukturen eines Landes. Nicht wertfrei, sondern als Errungenschaft. „Die Schulen haben Kenntnisse von Geschichte, Kultur, Tradition und Brauchtum (…) und die Liebe
zur Heimat zu wecken, zur Förderung des europäischen Bewusstseins beizutragen, um zur
Völkerverständigung zu erziehen, die Bereitschaft zum Einsatz für den freiheitlich demokratischen und sozialen Rechtsstaat und zu seiner Verteidigung nach innen und außen zu fördern.“1019 „Die Schule soll (…) die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler auf der
Grundlage des Christentums, des europäischen Humanismus und der Idee der liberalen, demokratischen und sozialen Freiheitsbewegungen weiterentwickeln.“1020 Kritische
Infragestellung der eigenen Geschichte ist ein immanenter Teil dieser Bezugnahme. Man
1017
Vgl. § 23 VwVfG, §§ 184 - 191 GVG.
Wissmann, in: Sahlfeld, Integration und Recht, München 2003, S. 303.
1019
Auszug aus Art. 2 Abs. 1 Bay EUG vom 31. Mai 2000.
1020
Auszug aus § 2 Abs. 1 NdsSchulG vom 3. März 1998.
1018
226
könnte auch hier daran denken, dass die Schule ihre monokulturelle, oft noch nationale, Orientierung aufgeben sollte. Allerdings wird man hier sagen müssen, dass es ausreichen dürfte,
viele Themen, vor allem im Geschichts-, Geographie- und Religionsunterricht multiperspektivisch kurz aufzureißen, um den Blickwinkel verschiedener Kulturen erkennen zu lassen.
Diese Beispiele machen deutlich, dass ausschließlich auf Grundlage christlichen Gedankengutes, unter Berücksichtigung liberaler und europäischer Strömungen, Unterrichtsinhalte bestimmt werden. Allerdings darf man dabei nicht außer Acht lassen, dass religiöse Weltanschauung ein in unserem Kulturkreis hoch geschütztes Gut ist, deren Besonderheit man sich
stets vor Augen führen sollte, so dass allein aus diesen landesgesetzlichen Normen noch kein
endgültiger Schluss gezogen werden kann. Trotz alledem ist die Geschichte anderer Religionen und Länder darüber hinaus ebenfalls didaktisch notwendig, aber nicht gleichwertig. Denn
der Rückbezug findet zunächst nur auf das konkrete Land, auf die geltende Verfassungs- und
Rechtsordnung statt. Allerdings wird man berücksichtigen müssen, dass der eigentliche Bezug
die Staatsbürger umfasst und je mehr sie ethnisch heterogen sind, desto mehr wird auch die
Geschichte ihrer Herkunft notwendiger Bezugspunkt. Mit anderen Worten, Zuwanderer sind
der deutschen Geschichte in der Schule als Teil ihrer Identitätsbildung ausgesetzt.
Religiöse Freiheit demgegenüber, in Bekenntnis und Ausübung zunächst vorbehaltlos geschützt, ist dem gleichrangigen staatlichen Erziehungsauftrag nicht grundsätzlich übergeordnet, sonst wäre die staatliche Schule als Pflichtveranstaltung in Bedrängnis, wenn ihr in Bezug auf die Koedukation, die Fünftagewoche oder ihren säkularen Charakter die Unvereinbarkeit mit Glaubenshaltungen nachgewiesen werden könnte. Staatskirchenrechtlich ist das
überzeugend, da der Maßstab der ernsthaften Überzeugung ansonsten vom rein subjektiven
Vortrag abhängig gemacht wird. Eine gleiche Beurteilung der Belange verschiedener Kulturkreise läge hier näher. Die weltanschauliche Neutralität der staatlichen Organisation ist in all
diesem nicht relativ, sondern gerade die Vorbedingung gemeinsamer Schule. Art. 7 GG betont den Vorrang der gemeinsamen Schule vor der privaten Schule eigener Prägung. Komplementär dazu muss eine akzeptable Form der Neutralität gefunden werden, die – wie im
Falle der Kruzifixentscheidung1021- den Mehrheitswillen, oder – wie im Falle der Kopftuchentscheidung – die individuelle Grundrechtsausübung der Lehrkräfte beschneidet.
Die drei Beispiele – Sprache, Geschichte, Religionsausübung – zeigen eine gemeinsame Linie: Das Schulwesen setzt auf die Schaffung gemeinsamer Erlebnis- und Verständniswelten
für die gesamte Bevölkerungsmehrheit und bedeutet so gelebte Integration. Die Anforderungen an den Einzelnen gehen über ein bloßes Angebot, Chancen für den eigenen Lebensweg zu
nutzen, hinaus. Weil zugleich die je eigene Identität das Ziel der Erziehung in der Schule ist,
sind zum einen die besonderen Schutzrechte von Minderheiten ernst zu nehmen und notfalls
durchzusetzen, zum anderen Pluralität und Chancengleichheit auch in der Organisation der
Schule einzuplanen und positiv zu verstärken. Daher sollte die Schule ihren Anstaltscharakter
ablegen und gerade in ethnisch gemischten Wohngebieten kann sie dann so eine kulturelle
Vermittlungsfunktion übernehmen. Gerade solche Vermittlungsfunktion umzusetzen, begegnet nicht selten organisatorischen Schwierigkeiten. Es existieren beispielsweise zwei Unterrichtsmodelle, die versuchen, solchen Schwierigkeiten entgegenzutreten. Da ist zum einen das
1021
BVerfGE 93, 1.
227
Berliner Modell der Vollintegration, nach dem Ausländerkinder ausschließlich allein an deutschen Schulen und ausschließlich in deutscher Sprache unterrichtet werden; dies fördert die
Chancengleichheit und hat zur Folge, dass Deutsch zur bevorzugten Denksprache der Kinder
wird, was wiederum von zentraler Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes
und für sein Gefühl der Zugehörigkeit zum Kulturkreis ist. Auf diese Weise wird allerdings in
nicht unbeträchtlichem Maße ein gewisser Zwang in Richtung Vollintegration ausgeübt. Dem
steht ein Bayerisches Modell mit einem pluralistischen Konzept der schulischen Integration
gegenüber, das zweisprachig ausgerichtet ist, und zwar in den unteren Klassen mehr muttersprachlich und erst in den oberen Klassen überwiegend deutsch.
Nach dem Berliner Modell1022 werden ausländische Schüler grundsätzlich gemeinsam mit
deutschen Schülern in deutschen Regelklassen unterrichtet.
Das Berliner Modell wurde von Paul Heimann1023 (1901-1967) in Abgrenzung gegen die bildungstheoretische Didaktik Wolfgang Klafkis1024 entwickelt. Heimann entwarf ein praktikables Entscheidungsmodell, das es dem Lehrenden ermöglicht, auf einer rein empirischen, mithin wertfreien Basis seinen theoretischen Unterricht zu analysieren und so getroffene didaktische Entscheidungen transparent zu machen.
Sprachschwierigkeiten bei diesem Modell werden durch begleitenden Förderunterricht oder,
wenn eine hinreichende Förderung in der Regelklasse nicht möglich ist, durch den Besuch
einer Vorbereitungsklasse ausgeglichen. Die Quote der fremdsprachigen Schüler (mit besonderen Sprachschwierigkeiten) in einer Klasse soll 25 % nicht übersteigen.
Nach dem Bayerischen Modell werden für ausländische Schüler gleicher nichtdeutscher Muttersprache, die dem Unterricht in deutscher Sprache nicht folgen können oder deren Erziehungsberechtigte sich für einen verstärkten Unterricht in der Muttersprache entscheiden,
zweisprachige Klassen an den Grund- und Hauptschulen gebildet, sofern eine genügende Anzahl von Schülern zur Verfügung steht. Die Unterrichtssprache ist in den unteren Klassen (1.
und 2. Grundschulklasse) weitgehend muttersprachig1025, dann immer stärker Deutsch und in
den oberen Klassen überwiegend Deutsch. Übergänge in deutsche Regelklassen sind möglich,
sofern der betreffende Schüler über ausreichende Deutschkenntnisse verfügt. Besteht keine
Möglichkeit zum Besuch einer zweisprachigen Klasse, werden für Schüler, die dem Unterricht in einer deutschen Regelklasse nicht zu folgen vermögen, Übergangsklassen oder, wenn
auch dies nicht möglich ist, Intensivkurse eingerichtet.
Obwohl zunächst während der letzten 15 Jahre eine kontinuierliche Verbesserung der Bil-
1022
Loschelder, KuR 1999, 137.
Heimann/Otto/Schulz, Unterricht: Analyse und Planung, Hannover 1979.
1024
Wolfgang Klafki wurde am 1. September 1927 in Ostpreußen geboren und ist einer der bekanntesten deutschen Erziehungswissenschaftler der Gegenwart. Gemeinsam mit Wolfgang Kramp (1927-1983) hat er die bildungstheoretische Didaktik maßgeblich geprägt, die auf den Ideen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik
basiert. Klafki leitete ab 1972 das Marburger Grundschulprojekt, in dem innovative Grundschulkonzepte und
komplexe Unterrichtsprojekte für den Sachunterricht entwickelt wurden. Bundesländer wie Bremen und
Nordrhein-Westfalen haben ihn in Kommissionen zur Entwicklung von Bildungsplänen für die Zukunft berufen,
vgl. z.B. Koch-Priewe/Stübig/Arnold, Das Potenzial der Allgemeinen Didaktik. Stellungnahmen aus der Perspektive der Bildungstheorie von Wolfgang Klafki, Weinheim 2007.
1025
Die Wichtigkeit der Muttersprache betont: Klein, Menschenwürde und Sprache, in: Grözinger, Sprache und
Identität im Judentum, Postdam 1998.
1023
228
dungsbeteiligung ausländischer Schüler zu verzeichnen war1026, so ist die Situation auch heute
noch nicht als zufriedenstellend zu bezeichnen und die Entwicklung demnach noch nicht abgeschlossen.1027
Auf mehr als eine Million Menschen schätzen Fachleute jene Gruppe der Zuwanderer und
deren Nachkommen, die ihre Schul- und Ausbildungszeit in Deutschland verbracht haben,
aber über keine berufliche Qualifizierung verfügen.1028 Deutlich ist also hier weiterhin der
eindeutige Verbesserungsbedarf, während die Ursachen für den mangelnden Schulerfolg dafür weniger eindeutig sind, sondern viel komplexer. Vielfach liegen sie sicherlich in sozioökonomischen Faktoren begründet. Sie sind aber allzu häufig auch bedingt durch die ungenügende Kenntnis der deutschen Sprache. Interessant ist übrigens das empirische Ergebnis, dass
die Schulbildung in einem linearen Zusammenhang mit der Religiosität steht: je höher das
formale Bildungsniveau, desto geringer wird der Anteil der sich als religiös Definierten.
E. Die Anwendung auf konkrete Problemfälle1074
Im Gegensatz zu früheren Zeiten entstehen Spannungen in der heutigen Zeit in erster Linie
durch neue religionsartige Gebilde, die ihre religiösen Impulse von außereuropäischen Religionen beziehen, ebenso wie durch eine größere Heterogenität der Grundrechtsinhaber und damit der grundrechtlich geschützten Lebensäußerungen. Das Zusammenleben unterschiedlicher
Kulturen und Religionen führt zu spezifischen Rechtsproblemen, die sich nicht nur in den
großen rechtlichen und politischen Auseinandersetzungen zeigen, sondern gerade auch in einer Fülle alltäglicher Situationen. Es besteht, wie oben bereits gezeigt, allerdings nur dann
Anlass zu reagieren, wenn die konkreten Rechtsgüter anderer oder die freiheitliche demokratische Grundordnung der Gemeinschaft selbst betroffen sind. Diese Konflikte stellen sich
nicht abstrakt, sondern überwiegend im Rahmen konkreter Problemfälle dar, die in Literatur
und Rechtsprechung bislang nicht in einem einheitlichen Zusammenhang angesprochen wurden.
I. Die Ehrenmordproblematik
Eines der Themen, das öffentlich in einen äußerst starken Fokus geraten ist, ist die sog. Eh-
1026
Vgl. auch: Demir/Sonmez, „Ausländische“ Kinder: ihre Erziehungs- und Integrationshindernisse, Berlin
1999.
1027
Luft, ZAR 2007, 261.
1028
Boos-Nünning, Kompetenzen stärken, Qualifikationen verbessern, Potenziale nutzen, Bonn 2006; Bade/Bommes, Migration – Integration - Bildung, Osnabrück 2004; Auernheimer, Schieflagen im Bildungssystem.
Die Benachteiligung der Migrantenkinder, Opladen 2003; Häußermann, Von der geteilten zur gespaltenen
Stadt? Sozialräumlicher Wandel seit 1990, Opladen 2000.
1074
Die im nachfolgenden benannten konkreten Probleme stellen keine abschließende Aufzählung dar. Dies ist
bereits aufgrund der Vielzahl von durchaus interessanten Themen nicht möglich. Man mag beispielsweise noch
an das sog. Schächtverbot (BverfGE 104,337) oder die baurechtliche Zulässigkeit von Moscheen denken. Wie
allerdings bereits bei den Konflikte mit der katholischen Kirche erfolgt eine inhaltliche Begrenzung.
229
renmordproblematik. Dieses Thema1075 kulminiert bereits auf den ersten Blick in hohem Maße die Nichtbeachtung individueller Freiheit, insbesondere von Frauen, die davon am ehesten,
aber nicht ausschließlich, betroffen sind.
1. Der Ehrbegriff1076 und die dahinter stehende Einstellung
Zu verstehen ist unter dem Begriff des „Ehrenmordes“ ganz allgemein die vorsätzliche Tötung eines Menschen, durch die ein Ehrgefühl aus Sicht des Täters wiederhergestellt werden
soll.1077 Dieser Ehrbegriff unterscheidet sich grundlegend vom Ehrbegriff in der westlichen
Kultur. Im Wertesystem vieler traditionell streng patriarchaler Gesellschaften hängt die „gesellschaftliche Ehre“ der männlicher Mitglieder einer Familie u.a. auch davon ab, wie normgerecht sich ihre weiblichen Angehörigen verhalten. So richten sich Ehrenmorde in erster
Linie gegen Frauen.1078 Es werden ihnen bestimmte Regeln und Normen auferlegt, bei deren
Verletzung die sittliche Ehre betroffen ist. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn eine Frau
eine außereheliche sexuelle Beziehung eingeht oder gar nur im Verdacht steht, eine solche zu
führen. Von dieser Verletzung bzw. dem Verletzungsverdacht versteht sich die gesamte Familie betroffen, so dass die männlichen Familienangehörigen, die sich als Ehrschutzverantwortliche begreifen, einschreiten.1079 Ebenso verhält es sich, wenn eine Frau Opfer einer Vergewaltigung wird oder sich zu außerehelichem sexuellen Kontakt verleiten lässt. Um die Problematik noch besser zu durchdringen, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass aus Sicht
der Täter eine Tötung der ehrverletzenden Person erfolgen muss. Geschieht dies nicht, werden
das Opfer und ihre Angehörigen von ihrem sozialen Umfeld gemieden, drangsaliert oder gar
angegriffen und zwar so lange, bis der psychische und physische Leidensdruck der betroffenen Familie so groß wird, dass sie die betreffende Frau umbringen. Der Hintergrund dieses
Ablaufes, dieses „Ehrendrucks“ besteht darin, dass die Sexualmoral aufrechterhalten werden
soll, dass Sexualität1080 tatsächlich nur und ausschließlich in der (meist arrangierten) Ehe
stattfindet.
Je nach Strenge der Ehrbegriffauslegung kann eine Frau die Familienehre sehr schnell verletzen: Wenn sie ihre garantierten Menschenrechte in Anspruch nimmt und einen auserwählten
Ehemann ablehnt, ihren Ehemann verlassen will, oder gar der Wille dazu. Es reicht, je nach
Region, auch aus, wenn die Frau an der Trennung keine „Schuld“ trägt, wie bei Vergewaltigung oder es verliebt sich ein Mann in sie, der nicht als passend erachtet wird oder sie wirft
einen zufälligen Blick auf einen Mann. Das gleiche gilt für Homosexualität. Es geht im Er1075
Vgl. dazu: Gashi/Rizvi, Mein Schmerz trägt deinen Namen: Ein Ehrenmord in Deutschland, Hamburg 2005;
Baumeister, Ehrenmorde: Blutrache und ähnliche Delinquenz in der Praxis bundesdeutscher Strafjustiz, Münster
2007.
1076
Vgl. dazu Erbil, Toleranz für Ehrenmörder? Soziokulturelle Motive im Strafrecht unter besonderer Berücksichtigung des türkischen Ehrenbegriffs, Berlin 2008.
1077
Bei der Wahl zum Unwort des Jahres belegt dieser Begriff 2007 den zweiten Platz nach „Entlassungsproduktivität“.
1078
Männer werden eher Opfer aus dem Zufall heraus. Wenn sie zu Opfern werden, dann allenfalls aus „Blutrachegesichtspunkten“ heraus.
1079
Dennoch handelt es sich nicht um ein „Männerproblem“, eher um eine „Familienangelegenheit“, denn an der
Vorbereitung sind auch Frauen beteiligt.
1080
Auch „Händchenhalten“ und das Schreiben von Liebesbriefen werden darunter bereits verstanden.
230
gebnis auch weniger darum, die Frau zu bestrafen, sondern eher den als „Schandfleck“ erachteten Vorfall aus der Familie zu entfernen.1081
2. Das Fallbeispiel „Sürücü“
Etwa 40 Frauen sind im Zeitraum von 1996-2006 in Deutschland sog. Ehrenmorden zum Opfer gefallen. Das geht aus einer veröffentlichten Erhebung des Bundeskriminalamts hervor.1082
Jährlich kommen etwa zwölf Morde hinzu. Allein 50 Verdächtige waren türkische Staatsbürger. In 30, und damit in den meisten Fällen, wurde eine beabsichtigte oder tatsächliche Trennung vom Partner als Ehrverletzung angesehen. Nach Schätzung der UNO werden weltweit
jährlich mindestens 5000 Frauen und Mädchen wegen „sittlicher Ehre“ ermordet.1083 Die Anhäufung von sechs Fällen von Ehrenmord innerhalb eines halben Jahres in Berlin wird zum
Indiz genommen, dass hier hierarchische Stammessitten mehr denn je unter Migranten aus der
Türkei Verbreitung und Zustimmung finden. Besonderes Aufsehen erregte 2005 in Deutschland der Mord an Hatun Sürücü. Die junge Türkin wurde in Berlin geboren und mit 16 Jahren
von ihren Eltern gezwungen, einen Cousin in der Türkei zu heiraten. Sie bekam ein Kind von
ihm, kehrte aber nach Berlin zurück, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Familie
sah durch die Scheidung und durch den westlichen Lebensstil der jungen Frau ihre Ehre verletzt. Deshalb wurde sie von ihrem jüngsten Bruder in Berlin auf offener Straße erschossen.
Die älteren Brüder waren der aktiven Tatvorbereitung verdächtig, wurden aber zunächst mangels Beweisen freigesprochen. 2007 hat der Bundesgerichtshof für Strafsachen in Leipzig das
Urteil aufgehoben und den Fall zur Nachverhandlung erneut nach Berlin verwiesen. Gegen
beide sollte erneut vor einer Schwurgerichtskammer des Berliner Landgerichts verhandelt
werden. Beide Brüder leben jedoch jetzt in der Türkei, die eine Auslieferung ablehnt und so
musste die Staatsanwaltschaft das Verfahren 2008 einstellen.
Im Hinblick auf internationale Entwicklungen kann noch angemerkt werden, dass auf Druck
von Frauenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch angefangen
haben, die Menschenrechtsperspektive dieser Problematik näher zu betrachten und verschiedene Projekte ins Leben gerufen haben, die darauf aufmerksam machen sollen.1084
3. Die Rechtfertigungsgedanken aus Sicht der Täter1085
Die soziale Rechtfertigung erfahren die Ehrenmorde durch einen traditionellen Ehrenkodex,
1081
Vgl. auch Toprak, Das schwache Geschlecht - die türkischen Männer. Zwangsheirat, häusliche Gewalt,
Doppelmoral der Ehre, Freiburg 2005; Schiffauer, Die Gewalt der Ehre, Frankfurt 1983.
1082
Obermittler/Kasselt, Polizei und Forschung Band 42, Köln 2011, S. 77.
1083
www.unfpa.org/swp/2000/english/ch03html.
1084
Terres des Femmes: Zweijährige Kampagne seit 2004 „Nein zu Verbrechen im Namen der Ehre“; Schweden
hat mit Unterstützung der EU das europaweite Projekt „Shehrazad-Cobating violence in the name of honour“
gestartet, das die Vorbeugung von Gewalt gegen Mädchen und Frauen in patriarchalen Familien anstrebt;
Nordrhein-Westfalen hat durch das Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration die Kampagne „Ihre Freiheit - seine Ehre“ im Jahre 2006 begonnen.
1085
Kizilhan, Ehrenmorde, der unmögliche Versuch einer Erklärung, Berlin 2006.
231
durch den bestimmte Verhaltensregeln festgelegt werden. Die Ehre einer Person, einer Familie, einer Gruppe oder eines Landes werden dabei als hohes und schützenswertes Rechtsgut
angesehen, so dass es verteidigt werden muss. Das bedeutet, dass die Taten im eigenen
Selbstverständnis als gerechtfertigt angesehen werden. Auch wenn den Tätern durchaus bewusst ist, dass sie für eine solche Ehrenmordtat schwer bestraft werden, hält sie dies im Sinne
der Ausstrahlung von Generalprävention offensichtlich nur bedingt davon ab, eine solche Tat
tatsächlich zu begehen. Auch verstärkt die offene Ablehnung der deutschen Rechtsordnung
die Segregationstendenzen muslimischer Bürger, die dies als persönlichen Affront und als
Ablehnung empfinden. Eigentlich schon überkommene Ehrbegriffe könnten in dem Bemühen, eine von den Deutschen abgesetzte eigene kulturelle Identität zu schaffen, eine neue Aktualisierung erfahren. In einer Art Trotzreaktion würde damit die „natürliche“ Entwicklung
konterkariert, dass nämlich die traditionellen Ehrkonzepte des Herkunftslandes unter den veränderten Bedingungen der deutschen Gesellschaft langsam verblassen. Diese Tendenz einer
Re-Ethnisierung ist am ehesten in wirtschaftlich am wenigsten erfolgreichen und sozial benachteiligten Milieus, der sog. ethnischen Unterschicht, vorzufinden1086
Die einzige Möglichkeit, weitere Menschenrechtsverletzungen unter einem vermeintlichen
Ehrempfinden bereits frühzeitig wirksam zu verhindern, besteht in einer frühkindlichen
grundrechtsoffenen Erziehung durch deutsche Institutionen wie Kindergärten und Schulen.
Zwar kann eine elterliche Gegenerziehung konterkarieren, jedoch erwirkt eine kritische Betrachtung bezüglich Ehrenmorden u.U., dass ein reflektiertes Umgehen damit wahrscheinlicher wird. Auf der anderen Seite müssen Gerichte konsequent jeden Ehrenmord zu einer
schweren Verurteilung bringen, denn sowohl Spezial- als auch Generalpräventionsaspekte
dürfen nicht völlig außer Acht gelassen werden.
4. Der Ehrenmord als ein spezifisches Problem des Islam?
Was Ehrenmorde in der Gesamtschau anbelangt, so sind sie kein neues Phänomen unter Migranten aus der Türkei, sondern durchziehen leider als wiederkehrende Einzelfälle die mittlerweile 40-jährige türkisch-deutsche Migrationsgeschichte. In der medialen Darstellung wird
bei der Ehrenmorddebatte diese Problematik tendenziell mit dem Islam verbunden.
Eine Begründung mit der Theologie des Islam kann allerdings nicht erfolgen, da es sich um
eine vorislamistische Praxis handelt.1087 Wie das Christentum auch kennt der Islam zahlreiche, voneinander höchst unterschiedliche Strömungen.1088
Hierbei entspricht die Verbindung „Ehrenmord“ islamisch nicht den Fakten, denn einige der
bekannt gewordenen Fälle aus Berlin beziehen sich auf yezidische Familien mit kurdischem
Hintergrund. Ehrenmorde sind auch kein auf Kulturen in Anatolien begrenztes Phänomen; es
findet sich auch in katholischen Mittelmeeranrainerstaaten, in Südamerika oder auf dem Bal-
1086
Obermittler/Kasselt, Ehrenmorde in Deutschland 1996-2005, Köln 2011, S. 39.
Institut für Islamfragen: Der Ehrenmord (www.islaminstitut.de).
1088
Weitere Details zu den verschiedenen Strömungen, Pohlreich, „Ehrenmorde“ im Wandel des Strafrechts,
Berlin 2009, S. 41.
1087
232
kan1089, sogar in der Bibel finden sich ähnliche Ehranschauungen.1090 Allerdings sind besonders stark traditionell verwurzelte Menschen, eben in islamisch geprägten Ländern, betroffen.
Die auffällige Anhäufung von Ehrenmorden im islamischen Kulturkreis, auch innerhalb von
Einwandererpopulationen, lässt darauf schließen, dass islamisch-fundamentalistische bzw.
islamisch-antiwestliche Grundeinstellungen bei den Tätern die Anwendung der vorislamischen Praxis begünstigt. Auch wenn demnach nicht nur islamische Kulturen vom Phänomen
des Ehrenmordes betroffen sind, wird diese Form der Gewaltanwendung eindimensional auf
„die Kultur“ der Betroffenen zurückgeführt.1091 Fallanalysen aber zeigen, dass z.B. eine Symbiose von psychischen und sozioökonomischen Problemlagen innerhalb einer solchen
Migrantenfamilie vorliegen muss, wenn ein innerfamiliärer Konflikt in Gewalt ausartet. So
erscheint es als plausibel, dass in Kreisen des „aufgeklärten Islam“ beklagt wird, dass gegen
die Ehrenmordproblematik auch innerhalb der betroffenen Gemeinschaft nicht ausreichend
Front gemacht wird. Auch wird nicht in jedem Staat auf der Welt ein Ehrenmord auf gleiche
Weise bestraft. Es gibt sogar Staaten, in denen Ehrenmorde ungesühnt bleiben, wie in streng
archaisch organisierten Gesellschaften. Richter zeigen eine Toleranz für kulturell-traditionellmotivierte Verbrechen oder es werden Minderjährige zur Tat angestiftet. In Jordanien oder
Pakistan gibt es milde oder ausbleibende Strafen als Garant der Aufrechterhaltung der Sexualmoral unter Hinweis darauf, dass gerade keine Gleichstellung von Morden und Ehrenmorden erfolgt. Noch im Jahre 2003 lehnte das jordanische Parlament eine vorgeschlagene Strafschärfung für Ehrenmorde ab, weil dies die „religiöse Tradition verletze“. In Pakistan soll die
abschreckende Wirkung von Ehrenmorden hinsichtlich sexuell unmoralischen Verhaltens
betont werden. Ehrenmorde lassen sich demnach zwar in Einklang mit der islamischen Religion bringen, allerdings fordert diese sie nicht explizit.
Zudem hat in den letzten Jahren auch ein Wandel stattgefunden, der das Verhältnis zwischen
Mann und Frau verändert hat. Dies hängt z.T. von einem Prozess der Entwicklung von einer
landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft hin zu einer modernen, industriellen Gesellschaft
ab, der durch Wirtschaftswachstum und ein wachsendes Bedürfnis an Teilhabe an Wohlstand
zusammenhängt. Der damit zusammenhängende Zuzug zu den Großstädten führten bei den
Binnenmigranten dazu, dass sie dort auf bereits an westliche Wertegemeinschaften trafen.
Somit wurde das Verständnis des Ehrbegriffs den Erfordernissen einer den Individualismus
betonenden modernen Leistungsgesellschaft angepasst. Im Gegensatz zu patriarchalischen
Wertvorstellungen, in denen die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv eine zentrale Bedeutung
einnimmt, betont die moderne Leistungsgesellschaft die Gleichberechtigung aller Leistungsträger und deren Individualität.1092
1089
Karakasoglu, ZAR 2006, 22.
„ Ists aber die Wahrheit, dass das Mädchen nicht mehr Jungfrau war, so soll man sie heraus vor die Tür des
Vaters führen, und die Leute der Stadt sollen sie zu Tode steinigen (…), ausführlich dazu: Pohlreich, „Ehrenmorde“ im Wandel des Strafrechts, Berlin 2009, S. 46.
1091
Vgl. auch Lachmann, Tödliche Toleranz: die Muslime und unsere offene Gesellschaft, München 2005.
1092
Pohlreich, „Ehrenmorde“ im Wandel des Strafrechts, Berlin 2009, S. 38, am Beispiel der Türkei.
1090
233
5. Die Konsequenz staatlichen Handelns unter Berücksichtigung kollidierender Grundrechte
Zusammengenommen ergibt sich damit zunächst aus diesem Aspekt ein alarmierendes Bild
einer in sich geschlossenen, nach eigenen rechtlichen Regeln agierenden, archaischen Parallelgesellschaft, die Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft ablehnt und bestrebt ist, besonders ihre
weiblichen Mitglieder notfalls mit Gewalt daran zu hindern, Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft aufzunehmen. Vielleicht muss allerdings auch ein differenzierteres Bild betrachtet werden.1093 Zahlen werden bislang nur kursiv überprüft und eine Interpretation wird bei diesem
Thema kaum gewagt. Es muss nämlich berücksichtigt werden, dass es sich um ein von der
sozialen Schicht beeinflusstes Phänomen handelt und die am meisten betroffene niedrige soziale Schicht bei türkischen Migranten überproportional vertreten ist. Die gebildete Oberschicht dieser Menschen, die sich auch in Deutschland aufhält, verhält sich also anders. Man
kann somit die vorsichtige These aufstellen, dass durch eine höhere Bildungsversorgung man
bereits präventiv gegen Ehrenmorde vorgehen kann und es durchaus gefährlich erscheint,
davon auszugehen, dass bei „allen Türken“ oder Muslimen ein solcher Ehrenmord auf Zustimmung stößt. Gefährlich vor allem deswegen, weil durch Pauschalannahmen unter Umständen eine Stimmung angeheizt werden kann, die Eskalationen provoziert.
Problematisch erscheint häufig zudem die juristische Aufarbeitung von Gewalt an Frauen
anderer Kulturkreise durch westliche Gerichte. Diese stehen vor dem Dilemma, bei ihrer Urteilsfindung den kulturellen Eigenarten von im Land wohnenden Minderheiten Rechnung zu
tragen, und den in Deutschland geltenden Gesetzen zum Recht zu verhelfen. Öffentlich diskutiert wurde im März 2007 beispielsweise die Entscheidung einer Amtsrichterin in Frankfurt
am Main, die einer muslimischen Frau eine vorzeitige Ehescheidung mit dem Hinweis verweigert hatte, dass dem Ehemann die beanstandete Züchtigung durch den Koran erlaubt sei.
Der oberste Maßstab für die Urteilsfindung kann aber nur die Orientierung an den grundlegenden Freiheitsrechten unserer Rechtsordnung sein, sog. Grundsatz des ordre public, die der
Staat zu achten, zu schützen und zu gewährleisten hat. Ein soziokultureller Rechtspluralismus
ist der deutschen Strafrechtsordnung fremd. Zur Feststellung, welche Rechtsansichten zugrunde gelegt werden, werden nach dem Territorialitätsprinzip ohne Berücksichtigung nationaler Zugehörigkeit gelöst. Bereits im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz können
sowohl privilegierende als auch qualifizierende Unterscheidungen einer kulturell bedingten
Tat nicht akzeptiert werden.1094
Der Staat muss den betroffenen Frauen Schutz durch das eigene Milieuumfeld bieten. Ein
ähnliches Beispiel für Berücksichtigung von kulturellen Besonderheiten bei gerichtlichen
Verfahren zeigt der sog. „Bunker-Mord-Fall“ aus Bremen im Jahre 1999. Eine junge libanesische Frau hatte entgegen dem Willen ihrer Eltern mit einem körperlich behinderten jungen
Libanesen eine Liebesbeziehung. Eines Nachts taten sich Familienmitglieder der Libanesin
zusammen und erstickten jene im Weserschlamm vor dem „Fargebunker Valentin“ und ihr
Freund, der im Rollstuhl saß, wurde solange mit einem Auto überfahren, bis er schließlich
1093
So auch Pohlreich, „Ehrenmorde“ im Wandel des Strafrechts, Berlin 2009, S. 41ff.
Die Berücksichtigung soziokulturelle Motive wird vielmehr im Rahmen der persönlichen Schuld Rechnung
getragen, vgl. dazu Erbil, Toleranz für Ehrenmörder? Soziokulturelle Motive im Strafrecht unter besonderer
Berücksichtigung des türkischen Ehrbegriffs, Berlin 2008.
1094
234
seinen Verletzungen vor Ort erlag. Das Landgericht Bremen hat daraufhin im Prozess eine
Strafbarkeit wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen verneint, denn in dem Kulturkreis
der Täter würde diese Tat nicht auf sittlich niedrigster Stufe stehen, sondern würde vielmehr
einen Ausdruck des Ehrverhaltens darstellen. Der Täter handele in solchen Fällen gerade nicht
aus besonders verachtenswerter Gesinnung, sondern er halte sein Tun für gesellschaftlich gerechtfertigt, wenn nicht gar für zwingend geboten. Der Bundesgerichtshof in Strafsachen hat
dieses Urteil aufgehoben und mit dem Hinweis zurückverwiesen, dass zur Feststellung des
niedrigen Beweggrundes die deutschen Verfassungsvorgaben beachtet werden müssten und
nicht die importierten kulturellen jeweiligen Überzeugungen. Diese Art von Mord bezieht
sich zudem auf eine traditionelle Vorstellung von Ehre, die nichts mit einer Achtungswürdigkeit im Sinne der Aufklärung zu tun hat.1095 Darüber hinaus richtet sich das deutsche Strafgesetzbuch grundsätzlich an jeden Menschen und es werden deshalb auch gleiche Maßstäbe
angesetzt. Es gibt kein „Zwei-Klassen-Strafrecht“. Das deutsche Recht dürfe sich nicht auf
diese Weise rückständigen oder sonst rechtlich missbilligten Moral- und Wertevorstellungen
öffnen. Diese Fehlentscheidungen kulminieren das Problem, dass die Religionsfreiheit zwar
vorbehaltlos, aber natürlich nicht schrankenlos gilt. Dass dort, wo Menschenrechte verletzt
werden, kein Recht auf kulturelle Differenz geltend gemacht werden kann.Trotz alledem,
wird bei diesen Vorfällen deutlich, dass der Staat schon im Vorfeld präventiv tätig werden
muss, um solche Ehrenmorde zu verhindern. Notwendig wäre hier ein Integrationsbemühen
dahingehend, dass ein Verständnis erreicht wird, dass Menschenleben und deren persönliche
Freiheiten unantastbar sind. Auch eine weitgehende Schutzpflicht des Staates wird hier besonders deutlich, da es um das höchste Rechtsgut geht und eine Verletzung stets irreversibel
ist.
II. Zwangsverheiratungen1096
Die Problematik der Zwangsverheiratung ist ebenso in der jüngsten Zeit zu einem der Themen mutiert, die eine enorme Aufmerksamkeit auf sich lenken konnten. Ein Grund dafür
muss selbstverständlich darin gesehen werden, dass bei den sog. Zwangsverheiratungen massiv in die persönlichen Rechte von betroffenen Frauen eingegriffen wird. Im Folgenden wird
diese Problematik näher untersucht, insbesondere unter grundrechtlichem Aspekt und unter
Anwendung der oben abstrakt gewonnenen Ergebnisse.
Der Begriff der Zwangsheirat umfasst nach einer Definition von Amnesty International eine
Ehe, die ohne eindeutige Zustimmung von beiden Partnern geschlossen wird oder deren Zustimmung durch Nötigung, sozialen oder psychischen Druck oder emotionale Erpressung zu1095
Vgl. auch Schirrmacher/Spuler-Stegemann, Frauen und die Scharia. Die Menschenrechte im Islam, Kreuzlingen 2004.
1096
Eine übersichtliche Darstellung ähnlicher familiärer Probleme bei Pasero, Familienkonflikte in der Migration, Wiesbaden 1990, S. 155ff.; Straßburger, Heiratsverhalten und Partnerwahl im Einwanderungskontext: Eheschließungen der 2. Migrantengeneration türkischer Herkunft, Würzburg 2003; Kritisch zum Thema: BeckGernstein, Wir und die Anderen: Kopftuch, Zwangsheirat und andere Missverständnisse, Frankfurt am Main
2007; Toprak, Das schwache Geschlecht - die türkischen Männer: Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Doppelmoral
der Ehre, Freiburg 2007; Kelek, Die fremde Braut: ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in
Deutschland, Köln 2005.
235
stande gekommen ist und mindestens einer der Eheschließenden mit seiner Weigerung kein
Gehör findet oder es nicht wagt, sich der Eheschließung zu widersetzen, weil Eltern, Familie,
Verlobte und Schwiegereltern mit den unterschiedlichsten Mitteln Druck ausüben. Als solche
gelten neben emotionalen Motiven oder psychischem Druck auch physische oder sexuelle
Gewalt, Einsperren, Entführen sowie Sanktionsandrohungen bis hin zu Ehrenmorden.1097
Nach Angaben dieser Menschenrechtsorganisation wurden in den östlichen und südöstlichen
Provinzen der Türkei 45,7 % der Frauen nicht gefragt, bevor sie ihren Ehepartnern versprochen wurden, und über die Hälfte aller Frauen, 50,8 %, wurden ohne ihre Zustimmung verheiratet.1098 Die Thematik an sich wird häufig nur mit Muslimen türkischer Herkunft in Verbindung gebracht. Als größte Migrantengruppe in unserem Land stellen sie zwar rein faktisch
den größten Teil der Betroffenen dar1099, jedoch beschränkt sich das Phänomen der
Zwangsverheiratungen keineswegs auf den islamischen Kulturkreis 1100, sondern ist neben
zahlreichen afrikanischen Staaten1101 auch im buddhistisch-hinduistischen1102 Raum und
christlich-europäischen Regionen wie Griechenland oder Süditalien1103 zu finden.1104
1. Die Dimension der Zwangsverheiratungen, Formen der Zwangsverheiratungen und
die Schwierigkeit der Erlangung empirischer Unterlagen
Heirat, - ja oder nein -, diese Frage stellt nach muslimischem Verständnis von vorneherein
überhaupt nicht. Die Ehe ist in diesem Kulturkreis die einzig angemessene Form des Lebens
und insoweit die natürliche Bestimmung eines wohlgefälligen Lebens im Sinne Gottes. Die
westliche Lebensform des Single-Daseins, die auch hier weit verbreitet ist, erregt bei Muslimen lediglich eine Form von Mitleid. Wer mit 25 oder 30 Jahren noch nicht verheiratet ist, ist
mit einem Fluch belegt und ihm muss geholfen werden, so dass Verwandte, Nachbarn und
Freunde sich an der Suche nach einem geeigneten Partner beteiligen werden.1105 Zur Vermeidung von Missverständnissen ist zwischen Zwangsehen und sog. „arrangierten Ehen“ zu unterscheiden. Eine arrangierte Ehe im Gegensatz zu einer „Zwangsehe“ ist eine Ehe, die auf
Wunsch, mit Einverständnis oder Duldung beider Ehegatten durch Verwandte oder Bekannte
initiiert wird. Hier beruht die Eheschließung auf dem freien Willen beider Ehegatten. 1106 Dies
im Einzelfall festzustellen, ist schwierig und es muss danach abgegrenzt werden, ob erstens
1097
Schubert/Moebius, ZRP 2006, 33; vgl. auch: Bentzin, Die soziale und religiöse Bedeutung der Eheschließung
für türkische Frauen der zweiten Generation in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1998.
1098
Kelek, ZAR 2006, 232.
1099
Schubert/Moebius, ZRP 2006, 33.
1100
Insbesondere Ägypten, Afghanistan, Irak, Iran, Jordanien, Libanon, Pakistan, Syrien und Türkei, GöbelZimmermann, ZAR 2007, 54.
1101
So in Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen und Kamerun.
1102
Indien, Bangladesch, Sri Lanka, Vietnam.
1103
Bericht der Fachkommission Zwangsheirat der Landesregierung Baden-Württemberg unter www.jum.badenwuerttemberg.de/servlet/PB/menu/1155603/index.html?ROOT=1153239.
1104
In diesem Zusammenhang ist auch die sog. „Verwandten-Ehe“ als weit verbreitetes Phänomen christlicher
Minderheiten in islamischen Staaten zu nennen. So heiraten syrisch-orthodoxe Christen oder Yeziden im Südosten der Türkei aus Gründen des Schutzes bzw. der Erhaltung ihrer Gemeinschaft in der Regel untereinander, vgl.
www.yeziden.de/142.0.html.
1105
Kelek, ZAR 2006, 232.
1106
Straßburger, Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 2003, 15.
236
die objektive Möglichkeit einer Weigerung besteht und ob zweitens das Fehlen einer solchen
Möglichkeit subjektiv als Zwang erlebt wird. Dies wird letztlich davon abhängen, wie sehr
die Betroffenen mit traditionellen Vorstellungen über das Zustandekommen von Ehen verflochten sind bzw. ob nach dem Erfahrungshorizont des Opfers überhaupt eine Vorstellung
über das Vorhandensein alternativer Eheschließungs- bzw. Lebensmodelle besteht. Je schwächer die Ausprägung dieser Vorstellung, desto eher dürfte die Zwangsverheiratung als „normal“ empfunden werden.1107 Gerade in islamisch geprägten Kulturen ist es dennoch üblich,
die Töchter, notfalls auch gegen deren Willen, mit von den Eltern ausgesuchten Ehemännern
zu verheiraten.1108 Dies ist ein Ausdruck eines traditionell-patriarchalischen Familienverständnisses, das den Söhnen und Töchtern kein Recht auf Selbstbestimmung zugesteht. Die
Ehe ist im Islam auch kein Sakrament, sondern ein zivilrechtlicher Vertrag zwischen zwei
Familien. Er wird durch die Unterschrift beider Seiten besiegelt, wobei die Frau noch nicht
einmal persönlich zugegen sein muss, sondern der Vater, der älteste Bruder oder ein anderer
männlicher Befugter.
Das Interesse, die Töchter möglichst früh zu verheiraten, hat seine traditionellen Wurzeln im
Islam. Nach Aussage des Propheten ist die Frau verführerisch und teuflisch. Sie stellt eine
Gefährdung, eine Versuchung für die Männer dar. Der Mann muss also vor der Frau geschützt
werden und sie muss deshalb aus der Öffentlichkeit verschwinden. Freundschaften zwischen
Mädchen und Jungen werden nicht gestattet.1109 In der Praxis unterscheidet man vier Erscheinungsformen:1110
Als Importehegatten bezeichnet man die Eheschließung hier lebender Migranten mit jungen,
teils minderjährigen Frauen aus dem Herkunftsstaat, die dann im Wege des Ehegattennachzuges nach Deutschland einreisen. Es ist stets das Ergebnis von Vereinbarungen zwischen den
Familien des Mädchens und des Mannes. Meistens kennen sich die Familien schon lange,
weil sie entweder zum selben Verwandtenkreis gehören oder aber aus demselben Dorf stammen. Nicht selten verbinden die Eltern mit der Heirat die Hoffnung auf ein besseres Leben für
alle. Von der ins Ausland verheirateten Tochter bzw. dem Sohn erwartet man nun materielle
Unterstützung. Damit erhofft sich die Familie den Weg aus der Armut und den gesellschaftlichen Aufstieg. Auch für das verheiratete Familienmitglied malt man sich durchaus bessere
Zukunftsaussichten aus. Eltern, die für ihren Sohn eine möglichst „unverdorbene“ Frau aus
ihrem Herkunftsland bevorzugen, sehen darin eine Möglichkeit, ihre Söhne vor angeblich
1107
Göbel-Zimmermann/Born, ZAR 2007, 54.
Die Autorin Necla Kelek („Die fremde Braut“) schätzt, dass es sich bei den 21.000 im Jahr 2001 im Rahmen
der Familienzusammenführung nach Deutschland eingereister Türken und Türkinnen um Ehepartner hier ansässiger Migranten handelt und dass mindestens die Hälfte dieser Ehen arrangiert und erzwungen wurde.
Kelek wurde 1957 in Istanbul geboren und zog mit zehn Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland, wo sie
Volkswirtschaft und Soziologie studierte. Sie lebt heute in Berlin und unterstützt die Hamburger Justizbehörde
bei der Behandlung muslimischer Gefangener. Sie unterstützte weiterhin eine Gesetzesinitiative in BadenWürttemberg, Zwangsverheiratungen unter Strafe zu stellen. „Die fremde Braut“ behandelt das Thema Zwangsehe unter Migranten und plädiert für die Rechte türkischer Mädchen und Frauen.
1109
„Freundschaft aber zwischen Mann und Frau ist im Islam verboten“; schreibt der muslimische Missionar
Mohammed Rassoul in seinen Anweisungen für Muslime in Deutschland, „die einzige Bindung zwischen ihnen
darf nur durch die Ehe hergestellt werden…es ist eine Allah missfällige Handlung, die Unzucht gleichkommt.“,
Kelek, ZAR 2006, 232.
1110
Vgl. Göbel-Zimmermann/Born, ZAR 2007, 54; vgl. allgemein: Wolbert, Migrationsbewältigung: Orientierungen und Strategien; biographisch-interpretative Fallstudien über die „Heiratsmigration“ dreier Türkinnen,
Köln 1984.
1108
237
„gefährlichen“ Einflüssen der westlichen Gesellschaft zu schützen. Durch die erzwungene
Heirat mit einer Frau aus der ursprünglichen Heimat soll der Sohn auf den „richtigen Weg“
zurückgeführt werden, nämlich auf jenen der Tradition, „Kultur“ oder Religion der Eltern und
Großeltern.
Da die Frauen weder die deutsche Kultur und Sprache kennen, noch jemanden haben, der sie
unterstützt oder dem sie sich anvertrauen können, sind sie besonders schutzlos. Wenn sie
dann vor Ablauf von zwei Jahren die Ehe auflösen, erhalten sie kein eigenständiges Aufenthaltsrecht (§ 31 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) und werden abgeschoben in ein Land, welches oftmals elementare Bedrohungen für alleinstehende bzw. geschiedene Frauen birgt. Allerdings
gibt es in § 31 Abs. 2 AufenthG einen Rettungsanker, der eine Abschiebung verhindern kann,
nämlich, wenn eine „besonderen Härte“ vorliegt. Eine solche ist anzunehmen, wenn der Betroffene im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland erheblicher Diskriminierung ausgesetzt
wäre oder wegen Beeinträchtigung schutzwürdiger Belange ein Festhalten an der ehelichen
Gemeinschaft unzumutbar erscheint. Letzteres ist anerkannt bei physischer oder psychischer
Misshandlung.1111 Von dieser Form der Zwangsverheiratung sind auch junge Männer betroffen. In der öffentlichen Diskussion um Zwangsheirat ist aber noch kaum von „Importbräutigamen“ die Rede.
Bei der sog. Heiratsverschleppung werden in Deutschland lebende junge Frauen anlässlich
eines vorübergehend deklarierten Aufenthaltes, sog. Ferienverheiratung, im Herkunftsland der
Eltern, oftmals ohne ihr Wissen, verheiratet und durch Wegnahme des Passes gezwungen, im
Ausland zu bleiben. Manche traditionsbewussten Eltern reisen mit ihren Kindern im Heiratsalter in ihr Herkunftsland, um sie dort zu verloben und zu verheiraten. Die Eltern wollen für
ihr Kind einen guten Partner/eine gute Partnerin finden oder ein früheres Heiratsversprechen
verpflichtet die Familie, die Heirat ihrer Tochter oder ihres Sohnes erzwingen, um vor der
Verwandtschaft oder der Dorfgemeinschaft das Gesicht nicht zu verlieren. Dabei ist nicht zu
vergessen, dass die Eltern von Verwandten und Bekannten auch teilweise unter starken Druck
gesetzt werden, gewisse Traditionen auch im Einwanderungsland fortzusetzen.
Da die Frist für die Wiedereinreise sechs Monate beträgt (§ 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG), ist
danach der Aufenthaltstitel verloren und die Hürde für eine Wiederkehr ist hoch. Nach § 51
Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erlischt der Aufenthaltstitel abseits des Ablaufs seiner Geltungsdauer
außerdem, wenn ein Ausländer „aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde
ausreist“. Zwar berechtigt die Eheschließung allein noch nicht die Annahme einer dauerhaften
Ausreise, es genügt jedoch, wenn anhand objektiver Kriterien, wie z.B. die Aufgabe des Arbeitsplatzes oder die polizeiliche Abmeldung, diese Annahme nahe liegt. Der subjektive
Rückkehrwille ist unerheblich. Damit ist die Indizwirkung entscheidend. Ist die Frist also erst
einmal verstrichen, gelten sehr strenge Regeln. Sie können erst wieder nach Deutschland einreisen, wenn ihr Lebensunterhalt gesichert ist. Die Eltern fallen jedoch als finanzielle Unterstützer aus, denn sie haben die Zwangsheirat meist eingefädelt und wollen in der Regel eine
Rückkehr des Mädchens verhindern. Trotz massiver Kritik von Terres des femmes und dem
deutschen Frauenrat lehnt die Regierung zentrale Änderungsvorschläge von Menschenrechtsorganisationen zum Zuwanderungsänderungsgesetz ab. Unter dem Deckmantel „Schutz vor
1111
Ziffer 31.2.5.1 VAH, Details bei Göbel-Zimmermann/Born, ZAR 2007, 54.
238
Zwangsheirat“ plant die Bundesregierung jedoch neue Hürden für die Zuwanderung durchzusetzen. Wirksame Maßnahmen, um den Betroffenen zu helfen oder sie zu schützen, sind in
dem Gesetzesentwurf nicht enthalten. So wurden keinerlei aufenthaltsrechtliche Verbesserungen, wie eine Erweiterung des Rückkehrrechtes für die Betroffenen von Heiratsverschleppung, umgesetzt.
Bei einer weiteren Erscheinungsform von Zwangsverheiratung wird ein Betroffener mit einem gesicherten Aufenthaltsstatus mit einem im Heimatland lebenden Partner verheiratet, um
auf diese Art und Weise durch den Ehegattennachzug die legale Einwanderung nach Deutschland zu ermöglichen.
Die Mädchen werden in ihrem Herkunftsland oder dem Herkunftsland ihrer Eltern, wo sie
üblicherweise die Ferien verbringen, verlobt und dann verheiratet, ohne vorher darüber informiert zu sein. Das eigentliche Ziel der Ferien wurde durch die Familie nicht bekannt gemacht.
In diesem Fall ist die Frau ein Mittel zur legalen Einwanderung des Mannes im Rahmen des
Ehegattennachzuges. Jährlich werden mehrere Tausend junger Frauen in der Türkei angeworben, um in Deutschland Migranten türkischer Herkunft zu heiraten. Häufig sind diese Frauen
zwischen 16 und 18 Jahren alt. Sehr vielen Frauen wird eine Integration in Deutschland bewusst verwehrt. Ihre Männer orientieren sich in ihrer Lebensführung an traditionellen, tief
religiösen und patriarchalen Lebensentwürfen, in denen den Frauen kein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben zugesprochen wird. Ihnen werden die außerhäusliche Arbeit sowie der Erwerb der deutschen Sprache weitestgehend verwehrt, ihre Aufgabe reduziert sich in der Kindererziehung und Haushaltsführung.
Das Arrangement einer „deutschen Ehe“ ist die Verheiratung in Deutschland lebender Personen mit Migrationshintergrund, wobei es hier wichtig ist, dass immer wieder zwischen arrangierten Ehen und erzwungenen Ehen unterschieden wird. Oft ist die Abgrenzung schwierig,
weil es letztlich der subjektiven Einschätzung der Beteiligten unterliegt, was als Zwang empfunden wird. Eine Heirat ist eine sehr wichtige Lebensentscheidung, die bei Braut und Bräutigam zu Nervosität und Stress führen kann. Von außen herangetragene Erwartungen und sozialer Druck können die Stresssituation so verstärken, dass oft nicht von außen objektiv festgestellt werden kann, ob Zwang oder Nötigung vorliegen. Eindeutig ist eine Zwangsheirat nur
bei Androhung oder Anwendung von Gewalt, bei einer Eheschließung trotz ausdrücklichem
Protest von Seiten der Braut oder des Bräutigams. Wenn Frauen oder auch Männer sich aber
weigern, die für sie bestimmte Heirat einzugehen, sind sie oft Repressionen durch Mitglieder
der eigenen Familie ausgesetzt, die von Beschimpfungen und Drohungen über Prügel bis hin
zu den bereits angesprochenen Ehrenmorden reichen können.
Nicht selten stoßen diese Vorgehensweisen auf den Widerstand der Töchter, die oftmals, weil
sie hier von Geburt an Leben oder zumindest einen großen Teil ihres Lebens hier verbracht
haben, von westlichen Kulturen und Lebensart geprägt sind und sich nicht verpflichtet fühlen,
dieser Aufforderung nachzukommen.
Über die Zahl der Zwangsehen in Deutschland gibt es keine verlässlichen Erhebungen, obwohl das Problem seit Jahren erkannt wird.1112
1112
Die Visumstatistik des Auswärtigen Amtes besagt, dass 2004 insgesamt 66.000 Personen im Rahmen des
Familiennachzuges nach Deutschland eingereist sind. Davon waren 20.000 Ehegatten, die zu ausländischen
239
Die Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen hat in einer Umfrage bei
mehr als 50 Einrichtungen aus dem Jugendhilfe- und Migrationsbereich für das Jahr 2002 230
zwangsverheiratete Mädchen und Frauen ermittelt. Die meisten waren unter 22, viele erst 16
Jahre alt. Dennoch gibt es immer noch unzählig viele Frauen, die sich gar nicht erst trauen,
überhaupt so eine Information preiszugeben, was wiederum von vielfältiger Ursache sein
kann. Die Dunkelziffer kann demnach um ein vielfaches größer sein. Sicherlich wird man
zugeben müssen, dass viele auch gerade aufgrund von Unwissenheit überhaupt keine Vorstellung davon haben, dass es für sie unter der Herrschaft des Grundgesetzes auch die Möglichkeit gibt, sich gegen so eine Ehe zur Wehr zu setzen. Häusliche Gewalt ist keine Seltenheit.
Die Akzeptanz der Herkunftsfamilie der Frau, welche die eigene Tochter zumeist nicht vor
Übergriffen und Erniedrigungen schützt und die Dominanz des Ehemannes toleriert, sowie
die Unkenntnis der Frau über Rechtsprechung und die fehlenden Kontakte zu anderen Personen, die über Alternativen informieren könnten, lässt die Situation oft aussichtslos erscheinen.
Es wird aber auch zugegebenermaßen Frauen geben, die es nicht wagen, sich Hilfe und Rat zu
suchen, da sie die Vergeltung von ihren männlichen Verwandten oder ihrem Ehemann fürchten. Es ist immer noch ein großes Problem, wie man an diese Frauen herantreten kann, ohne
sie dadurch in eine schwierige Situation zu bringen, die unter Umständen auch gefährlich sein
kann. Ebenso der Ausschluss aus der traditionell orientierten Gemeinschaft kommt in einigen
Fällen einem Todesurteil gleich.
Man wird auch hier wieder sagen können, dass der Weg am einfachsten und in ausreichend
schonender Form bereits präventiv geebnet werden sollte. Die Versorgung bereits im Kindesalter mit ausreichend Bildung und Aufklärung kann später die jungen Frauen in eine Situation
versetzen, aus der heraus sie zumindest die Kenntnis gewinnen können, dass sie nicht auf sich
allein gestellt sind und ihnen der deutsche Staat helfend zur Seite stehen kann. Außerdem erscheint es durchaus als sinnvoll, sog. „Brückenbauer“ als Kommunikationshilfen einzusetzen.
Darunter sind Menschen zu verstehen, die ebenfalls einen Migrationshintergrund haben, aber
dennoch über ausreichend Bildung verfügen, dass sie zwischen den, abstrakt gesprochen,
zwei Welten „Islam“ und „Westen“ vermitteln können. Wenn solche Leute beratende Tätigkeiten übernehmen, kann auch dies entscheidend dazu beitragen, dass empirische Auswertungen möglich werden, aufgrund derer wiederum Hilfsprogramme entworfen werden können,
die genauer auf die jeweilige Lebenssituation abgestimmt sind.
Viele der Frauen wissen sogar um den rechtstaatlichen Schutz, verzichten dann aber darauf,
weil der Familienverstoß für sie noch schwerer wiegen würde. Man darf auch nicht übersehen, dass die unverheirateten oder geschiedenen Frauen nicht allein wohnen dürfen. Sie müssen entweder von ihrem Ehemann, Vater oder einem anderen männlichen Verwandten gleichsam betreut und überwacht werden. Da viele junge Mädchen irgendwann das Elternhaus verlassen wollen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als zu heiraten. Wenn sie das Elternhaus ledig verlassen, dürfen sie nicht zurückkehren. Oft werden ihnen vor der Ehe vom potentiellen
Ehemann auch Freiheiten versprochen, die sie im Elternhaus nicht haben, wie z.B. Discobesuche, so dass die Mädchen auch die Heirat anstreben, weil sie dann die Hoffnung haben, wie
Partnern zogen, 31.500 zogen zu Bürgern mit deutschem Pass. Nimmt man diese Zahl und rechnet sie auf etwa
30 Jahre hoch, kommt man auf die potentiell betroffene Gruppe zwischen einer halben bis einer Million Menschen, Kelek, ZAR 2006, 232.
240
ihre deutschen Freundinnen leben zu können. Ob diese Versprechen stets gehalten werden,
kann dahingestellt bleiben.
Ist der Staat denn nun verfassungsrechtlich berechtigt, in diese familiären Konflikte einzugreifen, um die Prinzipienordnung des Grundgesetzes und dessen Freiheitsverständnis durchzusetzen? Dass einzelne Verfassungsnormen, jeweils isoliert voneinander, zueinander in einem
Spannungs- oder gar Widerspruchsverhältnis stehen können, ist bekannt. Jedoch ist die Verfassung als Einheit zu verstehen, ihre Normen sind so zu interpretieren, dass Widersprüche zu
anderen vermieden werden. Es muss im jeweiligen Einzelfall eine Überprüfung und Abwägung erfolgen.
2. Elterliche Glaubensfreiheit und Problematik der Auslegung des Art. 4 Abs. 1 und Abs.
2 GG contra allgemeines Persönlichkeitsrecht
Art. 2 Abs. 1 GG (und Art. 8 Abs. 1 EMRK auf europäischer Ebene1116) gewährleistet zunächst einmal das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das Bundesverfassungsgericht versteht dieses Grundrecht seit dem Elfes-Urteil als ein Grundrecht allgemeiner Handlungsfreiheit, andererseits auch als Persönlichkeitsrecht.1117 Als allgemeine Handlungsfreiheit
schützt es jegliches menschliches Verhalten. Geschützt ist auch die Freiheit, etwas nicht zu
tun. Dem entspricht gerade auch die Freiheit, gerade kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben. Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 4 WRV verbietet ausdrücklich, jemanden zur Teilnahme an religiösen Übungen zu zwingen. Dem Recht der Töchter
steht oftmals der Wunsch der Eltern, insbesondere der Väter gegenüber, die unter Berufung
auf ihren Glauben ihre Töchter verheiraten wollen.1118
Die elterliche Glaubensüberzeugung wird hier gemäß Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG (entsprechend Art. 9 Abs. 1 EMRK) geschützt, die neben der Freiheit des Glaubens und des Gewissens, die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sowie die ungestörte
Religionsausübung1119 garantiert. Es wird die Freiheit gewährleistet, einen Glauben oder eine
Weltanschauung zu haben, diese zu bekennen, d.h. sie zu äußern, zu verbreiten und auszuüben. Die Frage, inwieweit das Handeln nach eigenen religiösen Überzeugungen vom
Schutzbereich der Religionsfreiheit umfasst wird, ist darauf aufbauend klärungsbedürftig.
Unstreitig ist, dass die Vornahme kultischer Handlungen wie etwa das Abhalten von Gottesdiensten, Gebeten und die Veranstaltung von religiösen Feiern und anderer Akte unmittelbar
religiöse Betätigungen sind und damit durch Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG gewährleistet
sind.1120 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geht der Schutzumfang
1116
Vgl. „Neuere Entwicklungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung zum Schutz des Privatlebens“, EckertzHöfer, ZAR 2008, 41.
1117
Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Heidelberg 2012, S. 84ff.
1118
Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 10.08.2007 einen effektiven Schutz des
Privatlebens weiter betont, jedoch inhaltlich in einem anderen, aufenthaltsrechtlichen Zusammenhang, ZAR
2007, 243 mit Anmerkung Thym; Siehe dazu auch Truchseß, InfAuslR 2007, 332. Zur Rechtsprechung des
EGMR zum Schutz des Privatlebens, Thym, EuGRZ 2006, 541.
1119
Vgl. auch Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt am Main 1996.
1120
Pabel, EuGRZ 2002, 220.
241
jedoch noch weit darüber hinaus. Jede in irgendeiner Form religiös motivierte Handlung soll
unter die grundrechtliche Gewährleistung fallen. Geschützt ist demnach das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und gemäß seiner
inneren Glaubensüberzeugung zu handeln. Bei der Frage, welche Handlungen religiös motiviert sind, ist allein auf das Selbstverständnis des Grundrechtträgers abzustellen.1121
Diese Rechtsprechung zum permanenten Ausbau der Religionsfreiheit erfolgte ursprünglich
allerdings vor dem Hintergrund einer relativ homogen geprägten Gesellschaft, in der der
Schutz von Außenseitern eine Einzelerscheinung geblieben war.1122 Nun gilt das vormals
entwickelte Schutzbereichsverständnis auch in Bezug auf fremde und neue Religionen.1123 Es
gehört zur anthropologischen Basis des Grundgesetzes, dass es den Menschen nicht auf ein
bestimmtes vorformuliertes Menschenbild festlegt, sondern die Selbstfindung des Menschen
im Wesentlichen dessen eigener Entscheidung und Verantwortung überlässt. Die Religionsfreiheit hat demnach wesentlich zur Entwicklung der multikulturellen Gesellschaft beigetragen.
3. Die Grenzen der Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG und die Schutzmöglichkeiten auf einfachgesetzlicher Ebene
Es bestehen natürlich auch für das Grundrecht aus Art. 4 GG Grenzen, die allerdings nur von
der Verfassung selbst bestimmt werden und sich gegen eine extensive Interpretation des
Schutzbereichs wenden.1124 Allein eine restriktive Auslegung würde aber lediglich ein Heranziehen von Art. 2 Abs. 1 GG nach sich ziehen. Ein im Rahmen der Garantie der Glaubensfreiheit zu berücksichtigender Konflikt ist nach Maßgabe der grundgesetzlichen Prinzipienordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundgesetzlichen Wertesystems zu
lösen. Der Pluralismus wird also allein durch die Normen der Verfassung und deren rechtliche
und politische Ordnung begrenzt. Hier müsste so ein Recht auf Persönlichkeitsentfaltung1125
näherer Betrachtung unterzogen werden. Das wiederum könnte bereits ein erster Hinweis
sein, wie im weiteren Verlauf mit Zwangsverheiratungen umzugehen sein könnte.1126
Seitens der herrschenden Meinung registriert man unterdessen, dass über das weite Schutzbereichsverständnis zur Religionsfreiheit etwas versprochen wird, was im Ergebnis an definiti1121
Vgl bereits Ausführungen oben unter B IV.
So auch Schoch, in: FS Hollerbach, Berlin 2001, S. 149.
1123
Schoch, in: FS Brohm, München 2002, S.155.
1124
Vgl. dazu: Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltsloser Freiheitsgrundrechte, Frankfurt am Main 1999; Bayer, Das Grundrecht der Religions- und Gewissensfreiheit, Baden-Baden
1997; Eine umfassende Analyse der Rechtsprechung bis zum Jahre 1994 findet sich bei Kästner, AöR 1998, 408.
Die Entwicklung der Rechtsprechung zur Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften referiert Abel, NJW
1999, 331; Zur extensiven Auslegung des Art. 4 GG: Kästner, JZ 1998, 974. Die Literatur nennt dies plastisch
„Hypertrophie“ des Grundrechts auf Religionsfreiheit (So in Anlehnung an Bettermann, Schriften zum öffentlichen Recht, Berlin 1994). Kästner übernimmt diesen Titel, versieht die Formulierung allerdings mit einem Fragezeichen.
1125
BVerfGE 24, 119 (144); so auch v. Mangoldt/Klein/Stark, Bonner GG-Kommentar, München 2005, Band I,
Art. 6 Abs. 2 Rn 149.
1126
Vgl. allgemein dazu: Helbling, Das völkerrechtliche Verbot der Geschlechterdiskriminierung in einem pluralistischen Kontext:das Beispiel des Schutzes der Menschenrechte muslimischer Frauen in westlichen Ländern,
Zürich 2001.
1122
242
vem Grundrechtsschutz gar nicht eingelöst werden kann. Sollte wirklich jede in irgendeiner
Weise religiös motivierte Handlung von der Religionsfreiheit geschützt sein und jeder Einzelne sein gesamtes Verhalten an seiner Glaubensüberzeugung ausrichten dürfen, entstünde in
einer multikulturell und multikonfessionell zusammengesetzten Gesellschaft eine Art theokratisch-inspirierte Anarchie.1127 Ob die Interpretation des Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG seitens
der herrschenden Meinung grundrechtsdogmatisch jemals vollkommend überzeugend gewesen ist, mag bezweifelt werden, spätestens mit der Veränderung des religionssoziologischen
Umfeldes ist jedoch deutlich geworden, dass insbesondere eine rechtlich-rationale Steuerung
des zu ordnenden Lebensbereiches kaum mehr möglich ist.
Mit gewissen Hilfskonstruktionen versucht insbesondere das Bundesverwaltungsgericht dem
konturenlos gewordenen Schutzbereich der Religionsfreiheit Orientierungspunkte zu verleihen. So soll der (wirkliche) Missbrauch der Religionsfreiheit aus dem Schutzbereich hinausfallen.1128 Ferner wird dem Grundrechtsträger im Interesse der Nachprüfbarkeit des in Rede
stehenden Verhaltens eine Darlegungslast auferlegt, mit deren Hilfe festgestellt werden soll,
ob das Verhalten irgendeiner religiösen Überzeugung entspricht oder anders motiviert ist.1129
Derartige Eingrenzungsversuche ändern allerdings nichts an der mit einem konturenlosen
weiten Schutzbereich verbundenen prinzipiellen Problematik: mit zunehmender Weite des
Schutzbereichs mehrt sich die Qualifizierung staatlicher Maßnahmen als Grundrechtseingriff,
so dass eine Problemverschiebung auf Schrankenebene stattfindet. Dabei gerät die Rechtfertigung staatlicher Eingriffe zusätzlich in eine rational nur begrenzt steuerbare Abwägungsdogmatik, wenn man die Religionsfreiheit als vorbehaltloses Grundrecht begreift.
Trotz alledem muss eine Abwägung zwischen Glaubensfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht im Einzelfall erfolgen. Dabei müssen auch andere betroffene Rechte herangezogen
werden. Bei der Zwangsverheiratungsproblematik, die Minderjährige betrifft, besteht für die
Eltern neben einer Berufung auf die Glaubensfreiheit zudem ein Elternrecht, d.h. das Recht
der Eltern zu bestimmen, wie ihr Kind sein Leben zu führen hat, vgl. Art. 6 Abs. 2 GG. Die
Eltern wirken allerdings nicht alleine auf die Erziehung ihrer Kinder ein. Es gibt auch andere,
ergänzende Erziehungsträger1130 wie Schule (Art. 7 Abs. 1 GG) Kindergarten, Freundes- und
Bekanntenkreis, Verwandte, Nachbarn, Sportgruppen, etc. Das Sorgerecht der Eltern beginnt
zunächst mit der Geburt des Kindes und endet regelmäßig mit dessen Volljährigkeit.1131 Dennoch sind die Eltern in ihrer Erziehung nicht völlig frei, denn sie haben die elterliche Sorge
zum Wohle des Kindes auszuüben1132, d.h. alle elterlichen Handlungen haben sich an den
(recht verstandenen) Interessen ihrer Kinder zu orientieren. So enthält § 1631 Abs. 2 BGB ein
Verbot entwürdigender Maßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen.1133 Weiterhin gibt es beispielsweise eine Einschränkung des zeitlichen Umfangs des El1127
Schoch, in: FS Hollerbach, Berlin 2001, S. 149.
BVerwGE 90, 112.
1129
BVerwGE 94, 82.
1130
Schleicher, Familie und Recht, Köln 1999, S. 91.
1131
Weinrich, Kompaktkommentar Familienrecht, München 2005, S. 1475.
1132
Vgl. § 1627 S. 1 BGB.
1133
Dies kann vor allem dann angenommen werden, wenn das Ehr- und Selbstwertgefühl des Kindes in einem
vom Anlass der Erziehungsmaßnahme nicht zu rechtfertigendem Maße verletzt wird, Schleicher, Familie und
Recht, Köln 1999, S. 98; Seelische Verletzungen werden vor allem mit sprachlichen Äußerungen der Nichtachtung oder Verachtung verbunden sein. Sie sind auch zu Erziehungszwecken unzulässig, Palandt, BGB Kommentar, München 2013, § 1631.
1128
243
ternrechts sowie die abgestufte religiöse Bestimmungsbefugnis (ab 12 Jahren darf das Kind
nicht zu einem Bekenntniswechsel gezwungen werden, ab 14 Jahren bestimmt es gemäß § 5
S. 1 des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung vom 15. Juli 1921 (RelKG) sein religiöses Bekenntnis selbst.1134 ).
Schließlich proklamiert § 1 Abs. 1 SGB VIII: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf die Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“
Dass der aufwachsende Mensch der Pflege und Erziehung bedarf, ist eine „natürliche Notwendigkeit“, ein anthropologischer Grundsachverhalt, der angesichts seiner lebensweltlichen
Evidenz keiner weiteren Begründung bedarf.1135 Das Grundgesetz weist diese Aufgabe mit
ihren vielfältigen Einwirkungsmöglichkeiten den Eltern in Form eines Freiheitsrechts zu, verleiht mithin einem Bürger die autonome Bestimmungsgewalt über eine andere Person. Solange Kinder noch nicht grundrechtsmündig sind, nehmen Eltern so auch das Grundrecht auf
Religionsfreiheit treuhänderisch wahr.1136 Dass diese Zuweisung im Grundgesetz ihre Rechtfertigung nicht in naturrechtlichen Theorien des Elternrechts finden kann, ist trotz des Wortlauts des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG heute unbestritten; im verfassungsrechtlichen Sinne beschränkt sich die Natürlichkeit dieses Rechts darauf, dass seine Gewährleistung im Grundgesetz an einen vorgefundenen sozialen Sachverhalt, dass Kinder ganz überwiegend in Familien
aufwachsen und dort erzogen werden, anknüpft. Allerdings ergibt sich allein daraus keine
Rechtfertigung des elterlichen Erziehungsrechts: dass Eltern über ihre Kinder tatsächlich in
weitem Umfange bestimmen, begründet nicht gleichzeitig die normative Aussage, dass ihnen
ein entsprechendes Recht zusteht. Aus diesem Grunde kommt die Befugnis den Eltern nicht
ausschließlich zu, sondern lediglich „zuvörderst“; Art. 7 Abs. 1 GG räumt dem Staat eine
konkurrierende Erziehungsbefugnis in der Schule ein.
Zur Frage, wie konkret ein Handeln des Staates, zumindest bei Minderjährigen, aussehen
könnte, ist zunächst das Wächteramt des Staates zu beachten (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG), welches
den Staat erforderlichenfalls1137 berechtigt und verpflichtet, zum Schutz des Kindeswohls in
die den Eltern zustehende Kompetenz einzugreifen.1138 Es kommen vor einem etwaigen Eingriff in die Personensorge gemäß § 1666 BGB mehrere Möglichkeiten in Betracht, die unter
Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips genau zu betrachten wären.
Soweit staatliche Maßnahmen die elterliche Erziehung also tatsächlich verbessern und das
Kindeswohl damit fördern, kann ihnen nicht das Elternrecht als solches entgegengehalten
werden, denn dieses findet seine Grundlage und seine Grenze gerade in diesem Kindeswohl.
Selbstentfaltung und Verwirklichung stehen unter dem Vorbehalt, dass sie die berechtigten
1134
Palandt, BGB-Kommentar, München 2013, § 1626.
Details bei Huster, Die ethische Neutralität des Staates, Tübingen 2002, S. 251.
1136
Bader, VBlBW 1998, 361; vgl. auch Geiger, Erziehungsrecht; Münder, Kindererziehung. Kindererziehung
1135
in religiöser Sicht, Hofmann, FamRZ 1965, 61; Link, NJW 1995, 3353.
1137
Keinesfalls darf der Staat unter Berufung auf sein „Wächteramt“ die Erziehungskonzeption des Sorgeberechtigten durch seine eigene ersetzen, vgl. Giesen, NJW 1972, 225; Von einer Gleichordnung zwischen elterlichem
Erziehungsrecht und staatlichem Erziehungsmandat kann man also allenfalls für den Bereich der Schule sprechen, so auch Ossenbühl, Das elterliche Erziehungsrecht im Sinne des Grundgesetzes, Berlin 1981, S. 108.
1138
Vgl. dazu ausführlich: Jestaedt, DVBl. 1997, 693.
244
Ansprüche anderer beachten
Bedeutsam könnte in diesem Zusammenhang außerdem der Begriff des Grundrechtsverzichts
sein, dessen Inhalt und Bedeutung noch nicht abschließend geklärt ist. Es wird darunter wohl
am ehesten die verbindliche Aufgabe grundrechtlich gewährleisteter Rechtspositionen zu verstehen sein.1139
Teilweise wird der Verzicht auf eine Grundrechtsposition auch als Form der Grundrechtsausübung verstanden. Von praktischer Bedeutung ist also in diesem Zusammenhang die Frage,
ob bzw. wann von der Freiwilligkeit einer Einwilligung gesprochen werden kann. Vom
Standpunkt abwehrrechtlicher Gewährleistung aus, kann Unfreiwilligkeit der Einwilligung
nur angenommen werden, wenn der Staat Verursacher der Zwangslage der Betroffenen ist.1140
Unfreiwilligkeit ist mithin nicht beim Vorliegen einer beliebigen Zwangslage des Betroffenen
gegeben. Diese Auffassung erscheint allerdings insofern zweifelhaft, als dass Gefahren sowohl von staatlicher als auch von privater Seite her wirken. Auch Druckausübung von privater Seite schränkt das persönliche Freiheitsrecht des Betroffenen ein. Grundrechte schützen
nicht nur vor dem Staat, sondern sie berechtigen den Bürger auch, vom Staat Schutz gegen
die Mitbürger zu verlangen. Das Problem der Einwirkung von gegenläufigen Grundrechten in
der Eltern-Kind-Beziehung wird also hauptsächlich auf der Ebene der Drittwirkung angesiedelt. Die widerstreitenden Interessen werden aktuell vornehmlich durch die Vorschriften des
Familienrechts ausgeglichen.1141 Je persönlicher eine Angelegenheit ist, desto stärker verflüchtigt sich bei pflichtgemäßer Ausübung der elterlichen Sorge die Fremdbestimmung.1142
Bezüglich der Minderjährigen ergibt sich damit (auf theoretischer Ebene) zusätzlich zu einer
Abwägung zwischen den Freiheitsrechten ein ausreichender Schutz in Form von einfachrechtlichen Gesetzen. Weiterhin muss man jedoch überlegen, ob nicht auch noch Volljährige einen
gewissen Schutz erfahren müssen, auch wenn sie, was das Alter betrifft, nicht mehr in dem
hohen Maße wie Minderjährige schutzbedürftig erscheinen. Im Zusammenhang mit der Umsetzung der Familiennachzugsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG) beabsichtigt das Bundesinnenministerium von der in Art. 4 Abs. 5 und Art. 7 Abs. 2 der Familiennachzugsrichtlinie den
Mitgliedstaaten eingeräumten Möglichkeit Gebrauch zu machen, den Ehegattennachzug davon abhängig zu machen, dass beide Ehepartner das 21. Lebensjahr vollendet haben. Hierdurch sollen in präventiver Weise Zwangsehen verhindert werden. Man erhofft sich in diesem
Fall, dass bei einem erhöhten Alter, die betroffenen Menschen bereits eine größere Möglichkeit haben, ihre eigenen Interessen deutlicher zu vertreten, ohne gänzlich, im Vergleich zu
den Minderjährigen, unter dem umfangreichen Einfluss der Eltern zu stehen. Dass es sicherlich im Bereich der Wahrscheinlichkeit liegt, dass auch zu einem fortgeschrittenen Alter
durchaus noch familiäre Abhängigkeiten bestehen, ändert allerdings nichts an der Feststellung, dass zumindest theoretisch, unabhängig von tatsächlichen sozialen Bindungen, ein Volljähriger oder ein 21jähriger sicherer auftreten kann und seine Meinung kundtun kann.
1139
Geiger, NVwZ 1989, 35.
Geiger, NVwZ 1989, 35.
1141
Halfmann, Das Eltern-Kind-Verhältnis im Sinne des GG und seine Auswirkungen auf das Züchtigungsrecht,
Jena 1991, S. 101; Erichsen, Elternrecht - Kindeswohl - Staatsgewalt, Berlin 1985; Coester, Das Kindeswohl als
Rechtsbegriff, Frankfurt am Main 1983; Subjektive Feststellung des Kindeswohls bei Lüderitz, AcP 178 (1978),
267; Brezinka, Glaube, Moral und Erziehung, München 1999.
1142
Gernhuber/Coester-Waltjen, Lehrbuch des Familienrechts, München 2010, S. 886ff.
1140
245
Bei einer Gesamtbetrachtung der Zwangsverheiratungsproblematik ist erkennbar, dass, ob die
Betroffenen nun minder- oder volljährig sind, diese gleichermaßen beeinträchtigt werden.
Sollte es im jeweiligen Umfeld Menschen geben, die die Betroffenen zu einer solch nicht gewollten Ehe zwingen, so greifen diese Menschen erkennbar in den Freiheitsbereich auch der
volljährigen Betroffenen ein. Der Staat wäre dann auch berechtigt, zum Schutze der Tochter
einzugreifen und müsste dies sogar, unabhängig vom Alter. Dass es in der Praxis schwierig
werden kann, ein Konzept vorzustellen, dass effektiv gegen Zwangsverheiratungen vorgeht,
heißt nicht, dass der Staat dies bis auf weiteres außer Acht lassen kann, da gewichtige Rechte
der Betroffenen berührt werden und den Staat daher eine Schutzpflicht trifft. Um das noch
einmal deutlich zu machen: Wenn sich jemand freiwillig (!) dazu entscheidet, sich von den
Eltern den zukünftigen Lebenspartner aussuchen zu lassen, dann geht das den Staat nichts an,
egal wie sehr es auch unserem Gefühl von Gerechtigkeitsempfinden widersprechen könnte.
Nur dies entspricht dem Selbstverständnis der modernen, liberalen Gesellschaft. Probleme
ergeben sich erst dann, wenn das individuelle Konzept der Freiheit im Einzelfall dazu führt,
dass die Freiheit von Mitmenschen beeinträchtigt wird. Bei dieser Konstellation ist es dann
nicht mehr Sache eines jeden selbst, sondern eine Grundrechtskollision und damit eine Frage,
die der Staat zu entscheiden verpflichtet ist. In der Sache geht es bei der grundrechtlichen
Schrankenziehung im Kern darum, eine rechtliche Begrenzung für dasjenige menschliche
Verhalten vorzusehen, das die Rechtssphäre der Mitmenschen tangiert.
So wäre es bei der Zwangsverheiratungsproblematik z.B. denkbar, dass der Standesbeamte
seine Mitwirkung verweigert, wenn ein konkreter Verdacht bestände1143 oder eine solche im
Ausland geschlossene Ehe keine Gültigkeit in der Bundesrepublik beanspruchen könnte.
Auch könnte man solche Ehe auf Antrag eines Ehepartners aufheben lassen. Aufenthaltsgenehmigungen, die auf Basis von Zwangsehen erteilt worden wären, wären nichtig und alle
beteiligten Personen könnten zur Rechenschaft gezogen werden. Im Hinblick darauf, dass
allen Beteiligten, außer dem Opfer, Konsequenzen drohen, würde die Macht der Männer bzw.
Schwiegermütter gebrochen. Aktuell besteht eine Regelung, die die Frau zurückschickt, wenn
sie ihren Mann in den ersten sechs Monaten verlässt. Dies hat in praktischer Hinsicht dazu
geführt, dass die Frauen die Zwangsehe nicht anzeigten, weil die Rückreise ins Heimatland
größere persönliche Katastrophen nach sich ziehen würden, im besten Fall sozusagen noch
soziale Ächtung. Demgegenüber ist eine Aufhebung der Ehe nur innerhalb von zwölf Monaten möglich, § 1317 Abs. 1 BGB, obwohl viele Frauen erst später zu Beratungsstellen kommen. Man könnte deshalb durchaus in Erwägung ziehen, diese Frist aufzuheben. Auch könnten spezielle Betreuungspersonen sich eines solchen Falles annehmen, um durch Beratung
über rechtliche und tatsächliche Möglichkeiten aufklären zu können, wie die bereits angesprochenen „Brückenbauer“. Die Landesregierung von Baden-Württemberg hat sich mit dem
Thema sogar noch eingehender auseinandergesetzt und hat 2004 sogar eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht, den § 234b StGB, der lauten sollte:1144
- Wer eine Person rechtswidrig oder mit Gewalt oder durch Drohung mit einem emp1143
Wobei dann wiederum die Problematik einer nur möglichen Grundrechtsverletzung berücksichtigt werden
müsste.
1144
Kelek, ZAR 2006, 232.
246
findlichen Übel zur Eingehung einer Ehe nötigt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (…).
- Ebenso wird bestraft, wer eine andere Person seines Vorteils wegen durch die Ausnutzung einer Zwangslage oder der Hilflosigkeit, die mit ihrem Aufenthalt in einem
fremden Land verbunden ist, zur Eingehung der Ehe bringt.
- Ebenso wird bestraft, wer eine andere Person durch List, Gewalt oder Drohung mit
einem empfindlichen Übel in ein Gebiet außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs
dieses Gesetzes verbringt oder veranlasst, sich dorthin zu begeben, oder davon abhält,
von dort zurückzukehren, um sie zur Eingehung der Ehe zu bringen.
- Der Versuch ist strafbar.
Dieser Entwurf hat sich bislang noch nicht durchsetzen können. Stattdessen wurde der Nötigungstatbestand erweitert, vgl. § 240 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StGB. Man wolle zunächst abwarten,
ob sich diese Änderung anhand vermehrter Strafanzeigen als effektiv erweist. Unabhängig
davon, dass durchaus begrüßt werden kann, dass die Zwangsverheiratungsproblematik auch
zur Politik durchgedrungen ist, bleibt jedoch fraglich, ob eine solche Norm überhaupt als effektiv zu erachten ist, denn eine Gesellschaft lebt nicht nur von Verboten und dadurch von
Generalprävention, sondern von Normen und Werten, über die ein gesellschaftlicher Konsens
erzielt worden ist und verinnerlicht wurde. So kann ein Gesetz Signalcharakter haben und
insofern einen ersten Schutz bieten, es mangelt jedoch an der moralischen Überzeugung. Hinzu kommt eine gewisse Beweisproblematik, nämlich, dass Kinder ihre Eltern anzeigen müssten, was erneut schwere innere Konflikte nach sich zieht, die aber aus islamischer Sicht
grundsätzlich gar nicht erst aufkommen dürften. Ziel sollte es daher vielmehr sein, den Betroffenen erkennbare niedrigschwellige Hilfsangebote und Anlaufstellen zur Verfügung zu
stellen. Vor allem im Rahmen von Schulbesuchen könnten speziell geschulte Ansprechpartner
mit Informationskampagnen und effektiver Kooperation mit Jugendämtern und Beratungsstellen aktiv werden. Weiterhin könnte eine Beratung im Rahmen der Integrationskurse unter
Hinweis auf mögliche Anlaufstellen und anonyme Zufluchtstätten ein Mittel darstellen, Hilfe
anzubieten. Auch kann die Einrichtung von Telefon-Hotlines von großer Bedeutung sein.
Bei dem Problem der Zwangsverheiratung geht es primär und erkennbar also wiederum um
eine kulturelle Auseinandersetzung der zwei Welten „Islam“ und „Westen“, die die Freiheitsrechte in ihrem Kern betrifft, auch wenn die Problematik der Zwangsverheiratung verschiedene Kulturkreise betrifft. Noch einmal muss betont werden, dass Freiheit nicht ist, wenn jeder
machen kann, was er will, sondern es bedeutet vielmehr, dass die Gesellschaft jeden in die
Lage versetzt, seine Freiheitsrechte auch entsprechend wahrzunehmen. Das Argument, die
Migranten kämen aus einer anderen kulturellen Tradition, zu der eben eine solch arrangierte
Ehe gehöre, die man respektieren müsse, kann nicht akzeptiert werden. Diese Tradition verstößt gegen das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen und betrifft das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das nicht mit dem Argument weitreichender Religionsfreiheit ausgehebelt werden kann. Es ist allerdings die Konstellation denkbar, dass das nach außen hin vermeintliche
Opfer eines religiösen Rituals, sich diesem zunächst freiwillig unter Verzicht einer Grundrechtsposition unterzieht, wobei es als sicher gilt, dass z.B. die Eltern erheblichen Druck aus247
üben. Sollte der Staat dennoch intervenieren? Wegen der grundrechtlich gesicherten Privatautonomie besteht grundsätzlich ein Vorrang der eigenverantwortlichen Interessenwahrnehmung, der nicht durch staatliche Bevormundung konterkariert werden darf. Wo alle am
Rechtsverhältnis Beteiligten die Freiheit der Entscheidung haben, bedarf es daher keines
staatlichen Schutzes, weil auch die freiwillige Verfügung über grundrechtliche Güter Teil der
individuellen Freiheitsbetätigung ist. Ein Schutz gegen sich selbst ist in einem liberalen Staat
nicht haltbar, denn dass sich ein Mensch für eine bestimmte Form des Lebens oder Lebensstils entscheidet, ist gerade Ausfluss seiner Autonomie und seiner Freiheit. Der Grundgedanke
von Freiheit basiert auf der Vorstellung, dass zunächst jeder selbst entscheiden darf, wie er
leben möchte. Der Staat ist nur noch zuständig für Konflikte zwischen den Freiheiten der
Bürger. Der Staat darf demnach allerdings kein Konzept des Lebens vorgeben, sondern es
darf jeder selbst entscheiden, welcher Lebensstil ihn glücklich macht. Anders sieht es allerdings aus, wenn hingegen keine Freiwilligkeit zugrunde liegt. Die typische Abwehrfunktion
der Grundrechte würde dann versagen. Das gefährdete Individuum würde durch ein Unterlassen, ein Nichthandeln des Staates gerade nichts gewinnen. Vielmehr kommt es ihm auf ein
Tätigwerden der jeweils zuständigen Organe an; dabei kann je nach Sachlage der Gesetzgeber, die Exekutive oder die rechtsprechende Gewalt gefordert sein.
Im konkreten Fall hier bedeutet das, dass eine Zwangsverheiratung aus religiösen Gründen
zunächst einmal als elementare Verletzung der verfassungsrechtlich garantierten Freiheitsrechte der betroffenen Tochter erscheint. Eine solche Verheiratung hat für ihr Leben weitreichende Konsequenzen, sie muss ihr gesamtes Leben mit diesem Mann verbringen, den sich
nicht aus freien Stücken zu wählen in der Lage war und büßt damit ein Stück ihrer Freiheit
ein. Es geht hier somit um die Verteidigung der Menschenrechte. Und es geht darum, junge
Menschen selbst in die Lage zu versetzen, eigene Entscheidungen treffen zu können. Die
Abwägung der konkurrierenden Freiheitsrechte ergibt deshalb vorliegend, dass die elterliche
Glaubensfreiheit vor dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zurücktreten muss, so dass die
Betroffenen staatlicherseits durch die Bevormundung ihrer Familien geschützt werden müssen.
Je selbständiger eine junge Frau ist, desto eher schafft sie es, sich gegen patriarchalische
Strukturen zu wehren. Je besser die Integration ist, umso selbstbewusster wird sie damit umgehen können. Durch die Vermittlung der deutschen Sprache, wird sie Kenntnisse des Rechts
erwerben können und auch Kenntnisse von Schutz und Hilfe verschiedener Einrichtungen.
In dem neuen Integrationsplan1145 besteht nunmehr Einigkeit darüber, dass
Zwangsverheiratungen Lebensperspektiven zerstören und die Menschenrechte der Betroffenen schwerwiegend verletzen. Deshalb werden künftig Zwangsverheiratungen bekämpft und
den Betroffenen wird geholfen:
- es soll ein Modellprojekt in Form einer Onlineberatung für Betroffene eingerichtet
werden mit professionell Helfenden.
- gleichzeitig soll die empirische Erkenntnislage zu Umfang und Ausmaß der Zwangs1145
Vgl. obige Ausführungen unter D III.
248
verheiratung zeitnah verbessert werden.
- Es müssen ausreichende Zufluchtstätten angeboten werden.
- „Brückenbauer“ sollen bei der Kontaktaufnahme und -pflege helfen.
Die Praxis der Zwangsehe verstößt nicht nur gegen das grundgesetzliche Rechtsverständnis,
sondern auch gegen Artikel 16 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte1146 der
Vereinten Nationen. Aktuell versuchen vermehrt Nichtregierungsorganisationen, die Vereinten Nationen zu einem (effektiven) Vorgehen gegen Zwangsheirat zu überzeugen. Das Problem, wirklich wirksam dagegen vorzugehen, besteht in erster Linie in den SubGemeinschaften selbst. Die Frauen werden eingesperrt oder misshandelt, sofern sich der Verdacht erhärtet, sie könnten sich gegen das Institut „Ehe“ auflehnen.
Deutlich geworden ist, dass auf der rechtlichen Ebene mittlerweile Instrumentarien vorhanden
sind, die ein Vorgehen gegen Zwangsheirat zulassen und es theoretisch auch genug Möglichkeiten gibt, mit deren Hilfe man sich aktiv gegen einen solchen Zwang wehren könnte. Das
Problem muss eher darin gesehen werden, dass die Betroffenen entweder zu unwissend erscheinen, dass es überhaupt Hilfsmöglichkeiten gibt oder derart eingeschüchtert werden, dass
sie aus Angst vor Bestrafungen sich eher mit der Situation abfinden, als eine, im schlimmsten
Fall, körperliche Züchtigung zu erfahren. Häufig ist körperliche Gewalt nicht einmal nötig,
denn in dem System der Symbiose aus Erziehung und Zwang sind für eine Reihe von Betroffenen oftmals Situationen entstanden, die gleichsam für die „Herrschenden“ körperliche Gewalt als obsolet erscheinen lassen, denn die psychischen Repressalien sind durchaus ausreichend und sozusagen general- und spezialpräventiv. Deswegen muss noch einmal betont werden, dass es absolut unerlässlich ist, auf einer niedrigschwelligen Ebene noch mehr empirische Arbeit und Arbeit „vor Ort“ zu leisten. International wäre es z.B. auch durchaus sinnvoll
ein Treffen der Vereinten Nationen nur zu diesem Thema abzuhalten, um jedes Mitglied noch
mehr auf diese Problematik zu sensibilisieren und um deutlich ein Zeichen zu setzen, dass
sowohl die deutsche als auch die europäische Rechtsordnung, als auch die westliche Welt im
Allgemeinen, eine Ehe nicht akzeptieren kann, die nicht völlig frei von den Ehepartnern zustande kommt.
1146
Vgl. allgemein dazu. Alefsen, Menschenrechte im Umbruch: 50 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Neuwied 1998; Kälin, Universeller Menschenrechtsschutz, Basel 2008.
249
III. Die Kopftuchproblematik im Lehramt1147
Als eine auch zu diesem Themenkreis gehörende Frage, wenn auch weniger einschneidend als
die beiden vorangegangenen, erscheint der Kopftuchstreit.
Dieser Streit bezieht sich auf die Frage, ob das Tragen eines Kopftuches als mögliches Symbol einer bestimmten Auslegung des Islam in speziellen Bereichen der Öffentlichkeit, insbesondere bei Bediensteten des Staates und in staatlichen Bildungseinrichtungen, rechtlich gestattet ist oder untersagt werden muss. Es handelt sich hierbei um einen grundlegenden Konflikt, wie zwischen der Religionsfreiheit der Bürger und der Neutralitätspflicht des Staates
abgewogen werden kann. Sollte es ein generelles Kopftuchverbot für Lehrkräfte in deutschen
Schulen geben oder gar im gesamten Privatleben, sobald man in Öffentlichkeitsberührung
tritt, wie z.B. beim Einkauf?
Aus
der
Zielsetzung
bestimmter
Sonderstatusverhältnisse1148
ergeben
sich
unvermeidlicherweise Beschränkungen der Religionsausübung. Dies bedeutet jedoch nicht,
dass die Grundrechte von vorneherein eingeschränkt sind, sondern dass auch in diesem besonderen Bereich etwaige Grundrechtseingriffe einer Rechtfertigung im Rahmen der jeweiligen Schrankenregelung bedürfen.
1. Die verschiedenen Argumentationsebenen der Kopftuchdebatte
Die unterstützenden Argumente umfassen eine Bandbreite verschiedenster Ausführungen, die
hier in drei Argumentationsgruppen zusammengefasst werden.
1147
Vgl. allgemein zur Kopftuchproblematik BVerfGE 108, 282; Sacksofsky, NJW 2003, 3297; Halfmann,
NVwZ 2000, 862; Neureither, ZRP, 2003, 465; Morlok/Krüper, NJW 2003, 1020; Böckenförde, NJW 2001, 723;
Heinig/Morlok, JZ 2003, 777; Bertrams, DVBl. 2003, 1225; Ipsen, NVwZ 2003, 1210; Rux, DVBl 2001, 1542;
Ekardt, in: Berghahn/Rostock, Pluralismus, Multikulturalität und der Kopftuchstreit, Bielefeld 2009, S. 297;
Janz/Rademacher, JuS 2001, 440; Mahlmann, ZRP 2004, 123; Steuten, ZRP1999, 209; Goerlich, NJW 1999,
2929; Zuck, ZRP 2003, 420; Baer/Wrase, JuS 2003, 1162; Rohe, Der Islam - Alltagskonflikte und Lösungen.
Rechtliche Perspektiven, Freiburg 2001; Amir-Moazami, Politisierte Religion: der Kopftuchstreit in Deutschland
und Frankreich, Bielefeld 2007; Öztürk, Das Kopftuch: Rechtliche Hindernisse in der Berufswahl- und Ausübung und ihre Rechtfertigung anhand eines Vergleiches des deutschen, türkischen und europäischen Rechts,
Chemnitz-Zwickau 2006; Mann, Das Kopftuch der muslimischen Lehramtsanwärterin als Eignungsmangel im
Beamtenrecht, Frankfurt am Main 2004; Akkent/Franger, Das Kopftuch: ein Stückchen Stoff in Geschichte und
Gegenwart, Frankfurt am Main 1987; Oestreich, Der Kopftuch-Streit: Das Abendland und ein Quadratmeter
Islam, Frankfurt am Main 2004; Karakasooglu, Die „Kopftuch-Frage“ an deutschen Schulen und Hochschulen,
Münster 2002; Biel, Kopftuch, Islamismus und die freiheitliche Demokratie in Europa, Marburg 2004; Gartner,
Der Islam im religionsneutralen Staat: die Problematik des muslimischen Kopftuchs in der Schule, des koedukativen Sport- und Schwimmunterrichts, des Gebetsrufs des Muezzins, des Schächtens nach islamischen Ritus, des
islamischen Religionsunterrichts und des muslimischen Bestattungswesens, Frankfurt am Main 2006; Kögl,
Religionsgeprägte Kleidung des Lehrers: eine Betrachtung der Neutralitätspflicht des Staates und der Religionsfreiheit im Sonderrechtsverhältnis, Frankfurt am Main 2006; Delmas, Das Kopftuchverbot in Frankreich. Ein
Streit um die Definition von Laizität, Republik und Frauenemanzipation, Frankfurt am Main 2006; Höglinger,
Verschleierte Lebenswelten. Zur Bedeutung des Kopftuches für muslimische Frauen, Wien 2002; Raddatz, Allahs Schleier. Die Frau im Kampf der Kulturen, München 2004; Reulecke, Spagat mit Kopftuch, der sich insgesamt mit dem Problem der Wertorientierung türkischer Jugendlicher beschäftigt, Hamburg 1997; Zur Parallelproblematik bei einer Richterin: Laskowski/Dietrich, Jura 2002, 271.
1148
Vgl. dazu Heckel, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Tübingen 2001, S. 395.
250
Zunächst wäre die juristische Argumentationsstruktur zu nennen, deren Aussage sich weitestgehend in der Feststellung erschöpft, dass der Fall nach der Bedeutung der Religionsfreiheit
gemäß Art. 4 GG entschieden werden sollte. Wenn das Kopftuch zum islamischen Glauben
oder zur Religionsausübung gehöre, sei dies durch das Grundrecht gedeckt. Das Grundgesetz
sehe nämlich vor, dass die Menschen die Grundrechte auch leben können, wenn es dem Leitbild der Aufnahmegesellschaft widerspreche, denn das vorherrschende Verständnis von
grundrechtlicher Religionsfreiheit verspreche zunächst einen sehr weiten Schutz. Die Problematik dieser Annahme unter den Bedingungen einer religiös bzw. kulturell unterschiedlich
zusammengesetzten Gesellschaft ist offenkundig: Angesichts der vorbehaltslosen Fassung
kann sie geradezu als anarchistisch bezeichnet werden, denn eine abweichende individuelle
religiöse Auffassung würde sich gegenüber jeglicher Regulierung durch den staatlichen Gesetzgeber durchsetzen können. Besser wäre es, wenn der definitive Grundrechtsschutz sich
erst aus einer Abwägung mit möglicherweise entgegenstehenden Verfassungsrechtsgütern
ergäbe:
Freiheitsbeschränkende Gesetze müssten danach ihre Grundlage in verfassungsrechtlichen,
die Grundrechtsbeschränkung legitimierenden Rechtsgütern finden. Es ginge hier nicht um
einen Anspruch auf positive Gestaltung der allgemeinen Lebensbedingungen, sondern allein
um die Freistellung von staatlichen Vorschriften zugunsten Einzelner, um eine ihrem Glauben
gemäße Lebensführung zu ermöglichen. Zwar wird die Religionsfreiheit nicht schrankenlos
gewährt, aber im Rahmen einer praktischen Konkordanz müsste explizit dargelegt werden,
welches andere, in diesem Fall höherrangige Rechtsgut, durch das Tragen eines Kopftuches
beeinträchtigt wird, was zunächst schwierig zu sein scheint.
Darüber hinaus existiert eine pädagogische Argumentation, die in jene Richtung weist, dass
durch das Tragen eines Kopftuches einer Lehrerin die religiöse Entfaltung junger Menschen
im Hinblick auf die Vielfalt erwachsener Vorbilder ergänzt werde. Die Schüler würden somit
eine Art Auswahl eigener Ausrichtung erfahren und wären gerade nicht nur auf die eigene
Anschauung beschränkt. Vielmehr würden sie eine kulturelle Offenheit erfahren, die sie hinsichtlich des liberalen Toleranzgedankens nur positiv beeinflussen würde.
Letztlich existiert noch die gesellschaftspolitische Argumentation eines weitreichenden Toleranzgedankens. Ein Gemeinwesen mit einem demokratischen und liberalen Selbstverständnis
müsse dieses Ansinnen konsequenterweise akzeptieren. Gerade um die Einladung zur Integration seitens der deutschen Mehrheitsgesellschaft glaubwürdig zu machen, müsse ein liberaler
Staat nicht nur proklamieren und sie von Minderheitsgruppen einfordern, sondern sie in konkreten Fällen toleranten Handelns auch tatsächlich beweisen.
Auf der anderen Seite haben sich auch deutlich ablehnende Haltungen herausgebildet. Die
gebräuchlichste Argumentationsfigur gegen das Tragen von Kopftüchern befürwortet, das
Kopftuch nicht als ein Kleidungsstück zu sehen, sondern es als Symbol zu deuten. Die Symbolhaftigkeit kann dabei auf verschiedenste Art interpretiert werden.1149
1149
So auch Weber, ZAR 2004, 53; Diese religiös begründete Degradierung der Frau findet ihre konsequente
Fortsetzung im staatlichen Recht jener islamischen Länder, die den Kopftuchzwang durchsetzen. Beispielhaft sei
hier auf die Rechtslage im Iran verwiesen: Dort hat nur der Mann das Recht zur Vielehe. Er kann mit bis zu vier
Ehefrauen dauerhaft und mit unbegrenzt vielen Frauen in Zeitehe verheiratet sein. Der Ehemann besitzt das
Aufenthaltsbestimmungsrecht auch für seine Frau (Art. 1104 des iranischen Zivilgesetzbuches, ZGB) Eine ver-
251
Man beachte dabei zunächst folgende Koranstellen:1150
Sure 24, 31: „Und sag den gläubigen Frauen, sie sollen (statt jemanden anzustarren, lieber)
ihre Augen niederschlagen, und sie sollen darauf achten, dass ihre Scham bedeckt ist(…)“.
Sure 33, 59: „Prophet! Sag deinen Gattinnen und Töchtern und den Frauen der Gläubigen,
sie sollen (wenn sie austreten) sich etwas von ihrem Gewand (über den Kopf) herunterziehen.
So ist es am ehesten gewährleistet, dass sie (als ehrbare) Frauen erkannt und daraufhin nicht
belästigt werden.“
Aus diesen Zitaten lässt sich ausdrücklich kein verbindliches Glaubensgebot des Islam herleiten1151, d.h. es kann in verschiedene Richtungen gedeutet werden. Genau dies wird kontrovers
diskutiert.1152
Das Kopftuch kann zunächst als religiöses Zeichen1153 gedeutet werden und hieße dann, dass
sich die Trägerin streng an die Vorschriften des Korans hält. Der Koran erwähnt zwar den
Schleier, aber sieht hier kein zwingendes Gebot zur Bekleidungsvorschrift vor. Das Kopftuch
diente ursprünglich als Abwehrmaßnahme, um Frauen vor sexueller Gewalt und Männer vor
Ehrverlust zu schützen. Statt die Täter zu bestrafen, wurden die Opfer verschleiert. Weil
Männer durch die teuflische Aura der Frau in ständige Versuchung geführt werden, müssen
die Frauen durch den Schleier „unsichtbar“ gemacht und aus der Öffentlichkeit verbannt werden. Das Kopftuch ist Zeichen für die Reduktion der Frau auf ihr Geschlecht.1154 Diese
Schutzfunktion erscheint in unserer Rechtsordnung jedoch überflüssig, denn es bestehen entsprechende Gesetze, die auch generalpräventive Wirkung haben.
Das Kopftuch kann zugleich als Symbol für eine bestimmte gesellschaftliche Stellung der
muslimischen Frau verstanden werden. In dieser gesellschaftspolitischen Deutungsmöglichkeit liegt eine Besonderheit des Kopftuches, die es von vergleichbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbolen absetzt. In seiner gesellschaftspolitischen Deutungsmöglichkeit verstößt das Kopftuch gegen den verfassungsrechtlichen Grundwert der Gleichbehandlung und
heiratete Frau kann daher nicht ohne Zustimmung des Mannes einen Wohnsitz nehmen oder reisen. Der Ehemann hat außerdem das Recht, der Ehefrau die Ausübung eines Berufes zu untersagen, sollte dies den Interessen
der Familie und seiner Würde widersprechen. Zudem hat er das Scheidungsrecht ohne Begründungspflicht. Im
Falle einer Scheidung, erhält die Frau lediglich für Jungen bis zum Alter von zwei Jahren und für Mädchen bis
sieben Jahre die Sorge für das körperliche und geistige Wohl des Kindes. Danach fällt dieses Recht automatisch
an den Vater. Auch im Erbrecht setzt sich diese Benachteiligung fort (vgl. Art. 907 ZGB). Besonders deutlich
tritt dies außerdem im Strafrecht hervor: während die Jungen erst mit Vollendung des 15. Lebensjahres strafmündig werden, werden Mädchen dies schon mit neun Jahren. Als Vergeltung für Leben und Körperverletzungen werden ebenfalls geschlechterspezifisch unterschiedliche Wertigkeiten angesetzt. So beträgt das Blutgeld für
Frauen die Hälfte des Blutgeldes für das Leben eines Mannes. Ebenfalls werden Zeugenaussagen unterschiedlich
bemessen; Details bei Bertrams, DVBl. 2003, 1225.
1150
Pofalla, NJW 2004, 1218.
1151
Ghadban, Das Kopftuch in Koran und Sunna, Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2002, S. 10f.; Knieps, Geschichte der Verschleierung der Frauen im Islam, Würzburg 1993; Klinkhammer, Moderne Formen islamischer
Lebensführung, Marburg 2000, S. 276.
1152
Vgl. zur Wirkung religiöser Symbole, Haupt, Verfassungsfragen zum muslimischen Kopftuch von Erzieherinnen in öffentlichen Kindergärten, Frankfurt am Main 2010; Wißmann, ZeVKR 2007, 51; Detterbeck in FS
Bethge, Berlin 2009, S. 161ff; Kinzinger-Büchel, Der Kopftuchstreit in der deutschen Rechtsprechung und Gesetzgebung, Frankfurt am Main 2009, S. 23 ff.
1153
Vgl. dazu auch VGH München, NVwZ 2000, 952, „Passfoto mit Kopftuch“, das das Kopftuch nicht als
Ausdruck einer bestimmten religiösen Haltung anerkennt.
1154
Kelek, Die fremde Braut, Köln 2005.
252
gegen die Gleichstellung von Frau und Mann, Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG.1155
Die Migrantenjugendlichen selbst, die das Tuch freiwillig tragen, sehen dies als eine religiöse
Vorschrift an, die als Teil ihres türkisch-muslimischen „Common Sense“ gesehen werden
muss. Bei der Frage, woher sie das wüssten, werden die Eltern und der Hodscha aufgeführt,
bei dem sie ihre Sicherheit für ihr strenges Leben bekommen. Auch die religiös aktiven Brüder in den Moscheenvereinen spielen eine wichtige Rolle, die Familie ideologisch zu orientieren. Diese traditionelle Orientierung wird von den Vereinen und Koranschulen getragen und
die Jugendlichen werden dadurch einseitig geprägt. Wenn also festzustellen ist, dass die jungen Menschen in diesem türkisch-muslimischen „Common Sense“ gefangen sind, kann man
unmöglich davon ausgehen, dass die jungen Mädchen und Frauen „freiwillig“ das Kopftuch
tragen. Die Entscheidung ist von ihrer sozialen Umgebung gefällt worden: die Prägung der
Eltern, der Verwandten, der Koranschulen, der Geschwister. Wenn man zusätzlich konstatiert,
dass sich die jungen Frauen in einem für die Persönlichkeitsentwicklung wichtigem Ablöseprozess von den Eltern, der Pubertät befinden, sind die Folgen, die das Kopftuch als Symbol
für ihre Rolle als Frau, fatal. In der muslimischen Tradition ist es ein gegebener Wert, dass
nur eine Frau mit Kopftuch „rein“ ist. Es geht um die Ehre, ein zentraler Begriff des türkischmuslimischen Selbstverständnisses. Und zur Ehre des Mannes gehört die Pflicht, Beleidigungen zu rächen und sein Gesicht zu wahren. Die Frau ist die Ehre des Mannes. Ein antiquiertes
Weltbild, das zwangsläufig Probleme bei der Integration unausweichlich macht.1156 Ähnlich
gestaltet sich die Lage, wenn man zur Feststellung gelangt, dass junge Frauen und Mädchen
das Kopftuch tragen, weil ihnen dies in der Familie, der Gemeinde, der Koranschule vorgelebt
wird und sie so am ehesten den Erwartungen der Umma1157 genügen können. Es stellt sich
dann nämlich die Frage für die säkulare demokratische Gesellschaft, ob sie dieser Entwicklung Vorschub leisten will und vor allem, ob sie sie hinnehmen will. Gerade die Schule ist ein
Raum, wo unsere Gesellschaft den jungen Menschen den Raum und die Gelegenheit geben
muss, ein Leben in Selbstbestimmung, Chancengleichheit und Gleichberechtigung kennen zu
lernen und positiv zu besetzen.
Des Weiteren, kann das Kopftuch auch als politisches Symbol1158 gedeutet werden. Die Repräsentantinnen gehören dann einer Gemeinschaft des Islam an, welche die Unterdrückung
der Frauen fördert und geradezu bezweckt. Dieser Fundamentalismus1159 wird als Gefahr für
das demokratische Gemeinwesen gesehen. Ein dem Kopftuch innewohnender ostentativer
Charakter kann zudem Druck ausüben. Es kann schlichtweg als Propaganda gesehen werden,
welches die Würde und die Freiheit anderer verletzt.1160
Schließlich gibt es noch die Interpretationsvariante des türkisch-muslimischen „Common
Sense“ als Abgrenzung.1161 Das Kopftuch wird hierbei als eindeutiges Indiz mangelnder sozi-
1155
So auch Battis/Bultmann, JZ 2004, 581.
Kelek, ZAR 2006, 65.
1157
Darunter versteht man die religiöse Gemeinschaft der Muslime.
1158
So auch Schavan, ZAR 2004, 5; Generell zur Frage, ob ein Eingriff durch Symbole überhaupt möglich ist:
Heckmann, JZ 1996, 880.
1159
Vgl. obige Ausführungen unter A II 6.
1160
So auch Haratsch, Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, Stuttgart 2001, S. 104.
1161
Interessant dazu mit empirischen Untersuchungsergebnissen: Kelek, ZAR 2006, 65.
1156
253
aler Eingliederungs- bzw. Anpassungsbereitschaft gesehen.1162 Eine Kopftuch tragende Frau
präsentiere sich bewusst als Fremdkörper in der deutschen Gesellschaft. Erschwerend kommt
noch hinzu, dass das Kopftuch den Schülern besonders plakativ vor den Augen steht.1163 Die
Ausstrahlungswirkung wird dabei noch besonders intensiv durch die Autorität und die Vorbildfunktion der Lehrerin verstärkt.1164 Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht dazu
ausgeführt, dass man grundsätzlich kein Recht darauf habe, von fremden Glaubensbekundungen (…) und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. Eine Ausnahme ergebe sich nur,
wenn der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeit einem bestimmten Glauben ausgesetzt wäre.1165
Das staatliche Neutralitätsgebot nimmt bei den widerstreitenden Argumenten im Grunde genommen eine Mittelposition ein. Es kann sowohl als ein Argument herangezogen werden, um
einen Zugang der Lehrkraft mit Kopftuch zu ermöglichen, es kann aber auch ebenso als Argument dienen, sich deutlich von der Lehrkraft mit Kopftuch zu distanzieren. Zunächst gibt es
einige Stimmen, die die Frage des Kopftuchtragens bei Lehrkräften ausschließlich aufgrund
einer Anwendung und Auslegung des Art. 33 Abs. 2 GG beantworten. Der Art. 33 Abs. 2 GG
garantiere schließlich den freien Ämterzugang, der allein unter den dort aufgeführten Anforderungen wie Eignung, Befähigung, etc. zu bewerten ist.1166 Wenn diese Voraussetzungen
vorliegen, bestehe kein Grund, einer Lehrerin mit Kopftuch den Zugang zum Unterricht zu
verweigern. In der allgemeinen Diskussion gibt es weiterhin auch ein Lager, das das Neutralitätsprinzip auf eine modifizierte Weise zur Anwendung bringt: So soll das entgegenstehende
Neutralitätsprinzip1167 nur in den Fällen an Bedeutung gewinnen, in denen ein konkretes
Fehlverhalten des Lehrkörpers festgestellt werden könne. Eine rein präventive Haltung, die
die Ausübung des Lehramtes mit Kopftuch verbietet, wird ebenfalls selbst als Ausdruck von
Intoleranz und damit als unzulässig angesehen. Auf den ersten Blick erscheint das Neutralitätsprinzip daher eindeutig dahingehend, dass sich ein Beamter von jeglicher Konfession entfernt sehen soll. Allerdings erweist es sich bei näherer Betrachtung in der Verfassungswirklichkeit als weniger strikt. Es wird in diesem Zusammenhang auf die Vorrechte der großen
christlichen Kirchen verwiesen, die ihrerseits insofern eine Bevorzugung erfahren, da Lehrkräfte im Unterricht Kreuze tragen dürfen. Von einer völligen Nichtidentifikation des Staates
mit bestimmten Glaubensrichtungen kann angesichts der engen Verhaftung des Gemeinwesens in der christlich-abendländischen Tradition also letztlich keine Rede sein. Dies zeigt sich
im Grundgesetz selbst schon in dessen Präambel, die mit einer invocatio dei beginnt.1168 Auch
der bestehende Schutz der Sonntagsruhe, der gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV gewährleistet wird („als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“) knüpft eindeutig
1162
So auch Alan/Steuten, ZRP 1999, 210, die dies als Ethnisierungsprozess deuten, aber zur Feststellung gelangen, dass eine Verabsolutierung der Motivlagen falsch wäre.
1163
Triebel, BayVBl. 2001, 624.
1164
So auch Neureither, ZRP 2003, 465, der sich insgesamt für eine Widerspruchslösung im Einzelfall ausspricht. Solange sich weder Eltern noch Schüler beschweren, kann eine Lehrerin „maßvolle“ Religionsmerkmale
tragen.
1165
BVerfG, NJW 2003, 3111 (3113); so auch Häußler, ZAR 2004, 6.
1166
Ausführlich dazu: Goerlich, NJW 1999, 2929.
1167
Vgl. auch: Rademacher, Das Kreuz mit dem Kopftuch: wie viel religiöse Symbolik verträgt der neutrale
Staat?, Baden-Baden 2005.
1168
Zur Nennung Gottes in der Präambel des Grundgesetzes, Ennuschat, NJW 1998, 953.
254
an die christliche Überlieferung an.1169
Allerdings wird man sagen müssen, dass je größer die Wahrscheinlichkeit eines Konfliktes,
desto wichtiger wäre es, die Distanz und Neutralität der Lehrperson zu sichern, um den pädagogischen Erfolg (dauerhaft) zu gewährleisten. Der öffentliche Dienst ist angewiesen auf allseitige Akzeptanz, ganz unabhängig von den hoheitlichen Instrumenten, die er zur Erledigung
der Aufgaben einsetzen kann. Diese Akzeptanz erfordert Distanz und Neutralität, ohne dass
darum die eigene Identität preisgegeben würde. Daher geht es nicht um eine Leugnung eigener Anschauungen oder Überzeugungen. Genauso wenig sollen Glaubensfragen und Gewissensdinge unterdrückt werden. Es geht vielmehr um eine hinreichende Trennung der wahrgenommenen Funktionen von den individuellen Überzeugungen und Haltungen. Das bewirkt
beim Bürger erst die Erwartung einer ordnungsgemäßen Amtsführung, die wiederum Glaubwürdigkeit verschafft. Deshalb folgt aus diesem Erziehungsauftrag eine zunehmende Zurückhaltung in dem Maße, in dem die kulturelle Vielfalt zunimmt und deshalb stets latente Gefährdungen der Ziele dieses Auftrages virulent werden. Solche Gefährdungen nehmen in einer
multikulturellen Sozialstruktur eher zu, besonders wenn andere soziale Belastungen im Bildungssektor jenseits des Arbeitslebens und in den Nachbarschaften sich verstetigen und dies
ohne Aussicht, sie wirksam und nachhaltig zu beseitigen.
Laut Bundesverfassungsgericht ist für die Beurteilung der Eignung der Lehrkraft der objektive Empfängerhorizont maßgeblich.1170 Ferner ist zu beachten, dass Symbolwirkungen von
weiteren Faktoren wie Vorbildung und Vorverständnis abhängen. Zu klären ist, ob der „böse“
Schein des muslimischen Kopftuches mit seiner gesellschaftspolitischen Aussage für beamtenrechtliche Konsequenzen ausreichen kann oder ob es insoweit auf die tatsächliche Auffassung der betreffenden Kopftuchträgerin ankommt. Das Kopftuch steht zunächst einmal ohne
Frage für eine religiös begründete kulturpolitische Aussage, die mit dem Wertesystem des
Grundgesetzes schwer vereinbar ist.1171 Es ist zumindest auch denkbar, dass sich die hier lebenden Bürger daran stören, dass sich ausländische Frauen nicht den deutschen Gepflogenheiten anpassen. Diese Frage beantwortet die Verfassung jedoch eindeutig zugunsten der Glaubensfreiheit. Die offene Ausrichtung des Grundgesetzes erlaubt es, dass man bestimmte
Überzeugungen haben darf und auch danach sein Leben ausrichten kann, selbst wenn dies
andere als anstößig oder gar provokant empfinden. Demnach kann das Tragen von Kopftüchern im Privatleben1172 keiner Beschränkung unterliegen. In dieser Form stellt es nämlich
wiederum eine Ausprägungsform der Freiheit des einzelnen dar, die in einem liberalen Staat
jeder für sich selbst bestimmen kann. Mit Blick auf die Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und
Abs. 2 GG ist weiterhin festzuhalten, dass staatliche Einrichtungen kein grundrechtsfreier und
damit auch kein religionsfreier Raum sind. Die religiöse Betätigung des Einzelnen innerhalb
1169
Vgl. Altes Testament, 1. Buch Mose, Kap. 2, Vers 3: „Und Gott segnete den siebten Tag und heiligte ihn
darum, dass er an demselben geruht hatte von allen seinen Werken, die Gott schuf und machte.“ Durch diese
Regelung wird ein wesentliches Stück christlicher Überlieferung geschützt und der Verfügungsmasse des einfachen Gesetzgebers entzogen, Janz/Rademacher, NVwZ 1999, 706.
1170
BVerfG NJW 1991, 1477; JZ 2003, 1164; vgl. aber auch: Höglinger, Verschleierte Lebenswelten: zur Bedeutung des Kopftuches für muslimische Frauen, Wien 2003; Klinkhammer/Lukatis/Sommer/Wolf, Zur Bedeutung des Kopftuches im Selbstverständnis von Musliminnen, Marburg 2000; Morlok, Selbstverständnis als
Rechtskriterium, Tübingen 1993.
1171
In diesem Sinne die abweichende Meinung der Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff, NJW 2003, 3111.
1172
Vgl. zum Kopftuch in privaten Verhältnissen, Thüsing, NJW 2003, 405.
255
staatlicher Einrichtungen bleibt immer noch private und als solche grundrechtsgeschützte Betätigung; sie ist als solche zu dulden und ihr ist erforderlichenfalls Raum zu geben, ohne dass
damit etwas anderes als ein grundrechtlicher Abwehranspruch geltend gemacht würde. Die
Multikonfessionalität der Menschen, die heute in solchen staatlichen Einrichtungen zusammentreffen, verdeutlicht allerdings auch eine wichtige Grenze des Grundrechtsschutzes; er
endet, wo religiöse Aktivität nicht mehr private, sondern staatliche Veranstaltung ist.
2. Der Fall „Ludin“ 1173
Eine solch strengere Bewertung könnte allerdings der Fall der Lehrerin Fereshta Ludin1174
erfahren. Im Sommer 1998 entschieden Schulbehörden in Baden-Württemberg, dass die
Lehramtskandidatin Ludin, die 1972 in Kabul/Afghanistan geboren wurde, seit 1987 ununterbrochen in Deutschland lebt und sogar 1995 die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat,
nicht in das Beamtenverhältnis1175 berufen werden könne, da sie im Unterricht ein Kopftuch
tragen wolle. Diese sei mit dem Neutralitätsprinzip unvereinbar. In diesem Sinne unterrichte
der beamtete Lehrer gerade nicht in Wahrnehmung der eigenen Freiheit, sondern allein im
Auftrag und mithin in staatlicher Verantwortung.1176
a. Das Neutralitätsgebot des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht seinerseits führt dazu aus: Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugung zusammenleben, kann die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selber in Glaubensfragen Neutralität bewahrt.1177 Die staatliche Neutralität beruht auf der Einsicht, dass der Staat
keine Kompetenz und Legitimation in religiösen Dingen besitzt und sich daher aus dem religiösen Bereich herauszuhalten hat. Ohne staatliche Bekenntnisneutralität gibt es keine Bekenntnisfreiheit. Die Bekenntnisneutralität ist die zum Staat gewendete Seite der Bekenntnisfreiheit. Ihr kommt im staatlichen Integrationsprozess eine dreifache Bedeutung zu; sie garantiert den inneren, religiösen und weltanschaulichen Frieden, sie sichert die religiösweltanschauliche Entfaltung des Bürgers und seiner Bekenntnisgemeinschaften, und sie ist
1173
BVerfGE 108, 232.
Vgl. dazu: Robbers, RdJB 2003, 11; Scholler, in: FS Kriele, München 1997, S. 321; Summer, in FS Fürst,
Berlin 2002, S. 327.
1175
Der Staat darf negativ in einem Teilbereich, wo er Dienstpflichten ausgestalten kann, generell die Eignung
von solchen Beamten ausschließen, die zu deren Einhaltung nicht bereit oder in der Lage sind. Die unmittelbar
aus Art. 33 Abs. 5 GG herzuleitende komplexe Pflicht zur Verfassungstreue erfordert von Verfassung wegen
eine individuelle Beurteilung der gesamten Persönlichkeit des Bewerbers und erlaubt daher nicht, wegen einzelner Umstände oder Verhaltensweisen die Verfassungstreue generell auszuschließen. Beim Kopftuch geht es
hingegen nur um eine äußere Verhaltenspflicht, die der Gesetzgeber durch ein klares Verbot regeln darf.
1176
Pofalla, NJW 2004, 1218.
1177
BVerfGE 93, 1 (16); vgl. auch eingehend zur positiven und negativen Religionsfreiheit: Müller-Vorbehr, JZ
1995, 996; vgl. auch allgemein zum Neutralitätsprinzip: Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip
vornehmlich im Kulturverfassungs- und Staatskirchenrecht, Tübingen 1972; Kritisch dazu: Thiele, DöV 1981,
773; Holzke, NVwZ 2002, 903 mit Erwiderung Czermak, NVwZ 2003, 949; Bundesverfassungsgericht vermittelnd: NJW 2003, 3111.
1174
256
schließlich Voraussetzung dafür, dass sich der Bürger mit seinem Staat identifizieren
kann.1178 Das schließt Regelungen, die das religiöse Leben und die Religionsgemeinschaften
betreffen, nicht völlig aus. Sie dürfen aber nicht inhaltlich bewertend an religiöse Tatbestände, sondern nur an äußere Merkmale anknüpfen und müssen den Grundsatz der Gleichbehandlung achten. Das Neutralitätsprinzip ist allerdings kein geschriebenes Verfassungsrecht
und aus diesem Grund gibt es keine durchgängige, einheitliche Bedeutung. Sein Inhalt muss
vielmehr für den jeweiligen Kontext, in dem er zur Anwendung gebracht werden soll, gesondert bestimmt werden.1179 In Betracht kommt, je nach den Umständen des für einen konkreten
Fall maßgeblichen rechtlichen Rahmens, entweder ohnehin gefundene Auslegungsergebnisse
zu bekräftigen oder Lücken im Verfassungsrecht zu schließen.1180
Nicht überzeugen kann jedoch die These, dem Staat sei es von vorneherein verwehrt, den Gehalt des Kopftuchs zu bewerten, da ihm aufgrund seiner religiös-weltanschaulichen Neutralität eine solche (negative) Wertung nicht zustehe.1181 Eine derartige Enthaltsamkeit würde dem
Staat die Möglichkeit nehmen, die persönliche Eignung der sich um ein Amt bewerbenden
Personen umfassend zu ermitteln. Gerade hierzu ist der Staat aber verpflichtet, und zwar nach
Art. 33 Abs. 2 GG mit Rücksicht auf die konkurrierenden Mitbewerber, vor allem jedoch
auch im Interesse der eigenen Funktionsfähigkeit und der Erhaltung der grundgesetzlichen
Ordnung.1182
Auf der anderen Seite, wer Beamter wird, stellt sich in freier Willensentschließung auf die
Seite des Staates. Der Beamte kann sich deshalb nicht in gleicher Weise auf die freiheitssichernde Wirkung der Grundrechte berufen wie jemand, der nicht in die Staatsorganisation
eingegliedert ist.1183 Üblicherweise ist das Neutralitätsprinzip dazu herangezogen worden, die
Effektivität der Religionsfreiheit zu verstärken. Hier stößt man demgegenüber auf ein genau
entgegen gesetztes Phänomen. Neutralität versteht sich hier als Prinzip, die Religionsfreiheit
zu beschneiden.1184 Im Hinblick auf Kontextualisierung kann das Neutralitätsprinzip in gewissem Umfang also auch beschränkende Funktion haben. Es stellt sich hierbei die Frage,
inwieweit die Neutralität nämlich noch sinnvoll ist, wenn unter dem Schutzmantel der Religionsfreiheit Menschenrechtsverletzungen begangen werden, z.B. Demütigungen und Körperverletzungen der Ehefrau, die dem jeweiligen Glaubensbekenntnis entsprechen. Müsste nicht
in einem solchen Fall eine Abkehr von staatlicher Neutralität hin zu einer Schutzverpflichtung
bejaht werden, gerade weil es um die höchsten Rechtsgüter geht, die zu beachten für alle gilt,
1178
Renck, DÖV 1994, 27.
Kritisch vgl. Michael, JZ 2003, 256: Die Auffassung des Gerichts überhöht die „Neutralität“ zu einem dynamischen Prinzip, das den Pluralismus eindämmen soll. Dafür bleibt das Gericht eine Begründung schuldig.
Gegen ein Prinzip dynamischer Neutralität sprechen zwei Bedenken: Erstens ist die Neutralität im Grundgesetz
nicht explizit verankert, sondern ein verfassungsrechtlicher Argumentationstopos, der bestenfalls heuristisch
umschreibt, was aus der Verfassung selbst zu begründen ist. Zweitens führt seine Verselbständigung in letzter
Konsequenz zum Laizismus, den das Grundgesetz gerade nicht vorschreibt. Ob der Laizismus verfassungspolitisch wünschenswert ist, ist aber wiederum eine Frage, die weder an dieser Stelle, noch von den Gerichten beantwortet werden soll und kann. Allein die (verfassungsgebenden) Gesetzgeber des Bundes und der Länder
könnten den von der Rechtsprechung anvisierten Weg legitimerweise beschreiten.
1180
Häußler, ZAR 1999, 32.
1181
So aber Triebel, BayVBl. 2002, 624.
1182
So auch: Bertrams, DVBl. 2003, 1225.
1183
Di Fabio/Mellinghoff, JZ 2003, 1170; vgl. allgemein zu dieser Thematik: Zwirner, Politische Treuepflicht
des Beamten, Göttingen 1987.
1184
Deswegen wurde oben bereits die „Mittelposition“ des Neutralitätsprinzips dargestellt.
1179
257
die im Geltungsbereich des Grundgesetzes ihren Lebensmittelpunkt haben? Diese Frage gewinnt auch im Hinblick auf eine erfolgreiche Integration an Bedeutung, da Integration in gewissen Bereichen eine Anpassung an vorhandene Wertideale, zumindest in der Öffentlichkeit
verlangt. Das Tragen eines Kopftuchs hat, wie oben bereits festgestellt, allerdings keine ausschließlich religiöse Bedeutung. Es handelt sich in vielen Ländern des islamischen Kulturkreises um eine allgemeine, die gesamte Bevölkerung betreffende und im Einklang mit der
Auffassung eines Großteils der jeweiligen Gesellschaft stehende Verhaltensregel. 1185 Die Bekleidungsvorschriften haben ihren Ursprung zwar möglicherweise im islamischen Glauben,
stellen jedoch keine religiösen Regelungen dar, sondern ein auf der sittlichen Betrachtungsweise beruhendes ordnungsrechtliches Regelwerk, das jeden unabhängig von der Religionszugehörigkeit verpflichtet. Das Tragen eines Kopftuches gehört auch nicht zu den religiösen
Pflichten, den so genannten „fünf Pfeilern“ des Islam. Hierzu gehören die Formel des Glaubenszeugnisses (Es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist der Gesandte Gottes), das
fünfmal täglich zu verrichtende rituelle Gebet, das Fasten im Monat Ramadan, die Almosensteuer und die Pilgerfahrt nach Mekka. Allenfalls der „Heilige Krieg“ wird noch den Pflichten
zugerechnet.1186 Demgemäß kann das Tragen eines Kopftuches nicht als Ausdruck einer bestimmten religiösen Haltung anerkannt werden. Insoweit sich das Tragen eines Kopftuchs auf
den privaten, d.h. außerdienstlichen Bereich beschränkt, besteht wie bereits festgestellt kein
grundrechtliches Konfliktpotential.1187 Deshalb kann es der Lehrperson nicht verwehrt sein,
ihr persönliches und soziales religiöses Leben zu führen. Daher muss es in diesen Lebensbereichen gestattet sein, Bekleidungsregeln des eigenen Glaubens zu folgen. Anders zu beurteilen ist die Rechtslage allerdings, wenn und soweit Glaubensmanifestationen innerhalb eines
staatlichen Bereiches erfolgen. Hier entsteht ein offenes Spannungsverhältnis zwischen Glaubensausübungsfreiheit und religiöser Neutralität. Zudem ist das regelmäßige Tragen einer mit
religiöser Symbolkraft behafteten Kleidung zugleich als eine Werbung zu verstehen. Dies
entfaltet gegenüber den Schülern eine Suggestivwirkung1188, an der sich an einer staatlichen
Pflichtschule auch nicht entzogen werden kann. Das Verhalten der Lehrperson stellt in diesem
Zusammenhang einen Verstoß gegen das Neutralitätsgebot dar, was mit den Amtspflichten als
Repräsentant des Staates unvereinbar ist. Die Grundintention ist letztlich also, dass der liberale Staat weltanschaulich neutral und darum distanziert gegenüber religiösen Symbolen sein
soll. Dies gilt in Schulen umso mehr, als dass Kinder und Jugendliche noch leichter zu beeinflussen sind und ihnen das Ausweichen nur schwerlich möglich ist. Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Kopftuch-Entscheidung eher einen Entwurf einer „offenen Neutralität“ hervorgebracht, insofern, als dass verschiedene Freiheitsmanifestationen, deren gegenseitige Beeinträchtigung nicht als ernsthaft zu charakterisieren ist, ein Nebeneinander dulden
müssen. Die sich auf divergierenden Vorstellungen aufbauende Spannung der Lebensideale
muss ausgehalten werden.
1185
VGH München, NVwZ 2000, 952.
Wild, Staatslexikon, „Islam“, Freiburg 1987.
1187
So auch Halfmann, NVwZ 2000, 862.
1188
Janz/Rademacher, NVwZ 1999, 706.
1186
258
b. Die Reaktion der Länder auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum
„Kopftuchurteil“1189
Demgegenüber begegnen die neuen Landesschulgesetze und ein neueres Bundesverwaltungsgerichts-Urteil mit expressiver Ausgestaltung einer Hinrichtung zum französisch orientierten
Laizismus. Einige Länder haben nämlich von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Problematik gesetzlich unter Zugrundelegung einer ausgeprägten Neutralitätspflicht auszugestalten.1190 Lediglich Niedersachsen hat sich davon distanziert. Der ursprüngliche § 51 Abs. 3
NdsSchulG (seit 29.04.2004 verabschiedet) hatte den Lehrern verboten, allgemein religiöse,
politische oder weltanschauliche „Bekundungen“, die die Neutralität des Staates in Frage stellen, vorzunehmen, wobei die Bekundung „christlicher und abendländischer Bildungs- und
Kulturwerte“ davon ausgenommen war.1191 Nunmehr ist der § 51 Abs. 3 nochmals geändert
worden und fordert nunmehr, dass „das äußere Erscheinungsbild darf, auch wenn es von einer
Lehrkraft aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen gewählt wird, keine Zweifel an der
Eignung der Lehrkraft begründen, den Bildungsauftrag der Schule überzeugend erfüllen zu
können“.
Die Länder haben sich offensichtlich zunächst darauf verständigt, dass das Erziehungsziel
einer Schule, außerhalb des Religionsunterrichts, nicht christlich konfessionell fixiert sein
darf. Die Bejahung des Christentums in den profanen Fächern bezieht sich in erster Linie auf
die Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors, wie er sich in der abendländischen Welt herausgebildet hat, nicht auf die Glaubenswahrheit und ist damit auch gegenüber
dem Nichtchristen durch das Fortwirken geschichtlicher Gegebenheiten legitimiert. 1192 Nie1189
Folgende Länder haben ein Verbot beschlossen: Baden-Württemberg. GBl. S. 178, 01.04.2004; Bayern
GVBl. S. 443, 23.11.2004; Berlin, GVBl. S. 92, 27.01.2005; Hessen, GVBl. I S. 306, 18.10.2004; Niedersachsen, GVBl. S. 140; Saarland, ABl. S. 1510, Bremen GBl. 245, 28.06.2005, NRW, Rheinland-Pfalz, und Schleswig-Holstein planen, keine Verboten planen Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen, Sachsen-Anhalt,
Thüringen und Sachsen; vgl. dazu Engelken, Schulgesetzregelungen der Länder zum Kopftuch, Weinstadt 2004.
1190
BVerfGE 108, 282; vgl. dazu: Engelken, Schulgesetzregelungen der Länder zum Kopftuch, Weinstadt 2004;
Sicko, Das Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungserichts und seine Umsetzung durch die Landesgesetzgeber,
Frankfurt am Main 2008; Blumenthal, Das Kopftuch in der Landesgesetzgebung, Baden-Baden 2009; Hofmann,
NVwZ 2009, 74.
1191
Auch andere Bundesländer haben in ihren landesrechtlichen Regelungen Bezug auf das Christentum im
Schulrecht genommen: Baden-Württemberg: Art. 12 Landesverfassung „ (…) im Geiste der christlichen Nächstenliebe“ (…); Art. 15 Abs. 1 „ (…) die Schulform der christlichen Gemeinschaftsschule (…) “; Art. 16 Abs. 1
„ (…) auf Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte (…) “; § 1 Abs. 2 SchulG
„ (…) im Geiste christlicher Nächstenliebe (…) “; Bayern: Art. 135 Landesverfassung „ (…) nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse (…) “; Art. 7 Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen Abs. 2: „ (…) nach den gemeinsamen Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse (…) “; Abs. 3
„ (…)
auf der Grundlage christlicher und abendländischer Werte (…) “; Berlin: § 1 SchulG: „ (…) Dabei sollen die
Antike, das Christentum (…) ihren Platz finden.“; Bremen: § 32 Landesverfassung „ (…) auf allgemein christlicher Grundlage“; § 7 SchulG „ (…) auf allgemein christlicher Grundlage (…) “; Hessen: § 2 SchulG Abs. 1 „
(…) der auf humanistischer und christlicher Tradition beruht.“ Abs. 2 „ (…) die christlichen und humanistischen
Traditionen zu erfahren (…) “; Nordrhein-Westfalen: Art. 12 Abs. 6 Landesverfassung „ (…) auf Grundlage
christlicher Bildungs- und Kulturwerte (..) “; § 19 Schulordnungsgesetz „ (…) auf der Grundlage christlicher
Bildungs- und Kulturwerte (…) “;Rheinland- Pfalz: Art. 29 Landesverfassung „ (…) sind christliche Gemeinschaftsschulen“; Saarland: Art. 27 Landesverfassung „ (…) auf der Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte (…) “; Schleswig-Holstein: § 4 Abs. 2 SchulG „ (…) den sie begründenden christlichen und humanistischen Wertvorstellungen (…) “; Thüringen: § 2 Abs. 1 SchulG „ (…) im Geiste des Humanismus und der christlichen Nächstenliebe (…) “.
1192
Rux, ZAR 2004, 14.
259
dersachsen hingegen, das diese Auffassung teilte, hat sich nunmehr lediglich auf eine persönliche Eignung der Lehrkraft bezogen, um dem Streit der Konfessionen gänzlich zu entgehen.
Der Entwurf eines neueren § 38 Abs. 2 BaWüSchulG1193 formuliert diese Intention der christlichen Verbundenheit indes noch eine Spur deutlicher, indem er insbesondere ein äußeres
Verhalten für unzulässig erklärt, welches bei den Schülern oder Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass die Lehrkraft gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung der Menschen nach Art. 3 GG, die Freiheitsrechte oder die freiheitliche demokratische Grundordnung
auftritt. Ebenso erscheinen solche Entwürfe in Bayern und Hessen. In diesem Zusammenhang
wird dann aus dem Verhältnis von Bürger und Staat, ein erweitertes Verhältnis von Bürgern
(Schüler, Eltern), Staat (Schulbehörde) und Bediensteten.1194 Es geht also nicht ausschließlich
um das Problem des schonenden Ausgleichs zwischen Art. 4 Abs. 1 GG und Art. 33 Abs. 2,
Abs. 3 und Abs. 5 GG, sondern erfasst auch die Grundrechte aus Art. 6 Abs. 2 GG sowie Art.
7 Abs. 1 GG.1195 Genau diese Tatsache macht den Unterschied zu den Kruzifixurteilen1196
aus. Nicht einseitige Einflussnahme auf die religiöse Überzeugung der Schüler steht hier zur
Debatte, sondern eine mehrseitige Grundrechtskonkurrenz innerhalb eines Sonderstatusverhältnisses.
Die Norm des § 38 Abs. 2 BaWüSchulG erscheint schon deswegen aus verfassungsrechtlicher
Sicht als problematisch, weil sie das Bestimmtheitsgebot verletzt. Grundsätzlich reichen zwar
schon bloße Grundrechtsgefährdungen aus, allerdings muss bereits eine akute Gefährdungslage vorliegen, so dass ein weiteres Abwarten einer Nichthandlung gleichkäme. So etwas kann
insbesondere bei den höchsten Rechtsgütern wie Leben und Gesundheit angenommen werden, deren akute Gefährdung dazu führen könnte, dass der Betroffene erhebliche körperliche
Einbußen erleidet oder gar den Tod. Auf eine solch einschneidende Einbuße kann bei der Religionsfreiheit nicht geschlossen werden.1197 Zudem erscheint es fraglich, ob allein die kognitive Erkenntnis, als der bloße äußere Eindruck und die daraus resultierende Ablehnung ausreicht, um ein umfassendes Kopftuchverbot rechtfertigen zu können. Das Bundesverwaltungsgericht hat die baden-württembergische Regelung dennoch für akzeptabel erklärt.
Allerdings müsste eine Kleiderordnung dann konsequenterweise für jegliche Weltanschauungen gelten. Denn anderenfalls handelt der Staat dann nicht mehr weltanschaulich neutral, auch
wenn faktisch religiöse Mehrheitsansichten in der Bevölkerung existieren. Das Bundesverwaltungsgericht hält § 38 BaWüSchulG für unproblematisch, da nicht ein „Bekenntnis“ als
solches, sondern nur dessen „Darstellung“ verboten wird.1198 Während die Amtsperson letztlich zur Neutralität verpflichtet wird, soll die Privatperson ihre Religion offen bekennen können. Eine Versöhnung oder eine sog. praktische Konkordanz1199 dieser widerstreitenden
Rechtspositionen lässt sich wohl nur dadurch erreichen, dass man sich nicht länger der Erkenntnis verschließt, dass sich diese Sphären in der Schule überlappen. Nicht nur in Person
1193
Dazu ausführlich Rux, ZAR 2004, 188.
Ipsen, NVwZ 2003, 1210.
1195
Morlok/Krüper, NJW 2003, 1020.
1196
Vgl. bereits obige Ausführungen unter A III 2.
1197
Zu den Kriterien der Angemessenheit des Eingriffs allgemein: vgl. BVerfGE 65, 1; 80, 297; 81, 278; 93, 1;
100, 313; Schmidt, Grundrechte sowie Grundzüge der Verfassungsbeschwerde, Bremen 2006; Borowski, Die
Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, Berlin 2006.
1198
BVerwG, DVBl. 2004, 1424 (1427 f.).
1199
Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1999.
1194
260
unterrichtet die Lehrerin, sondern auch als Person.
3. Internationale Lösungsansätze im Kopftuchstreit
International werden derzeit übrigens verschiedene Lösungen dargeboten.1200 Die Franzosen
markieren strikten Laizismus1201, während der angelsächsische Raum sich ausgeprägt neutral
präsentiert.1202
Das Verhältnis von Staat und Kirche ist in den Verfassungen der Länder Europas ebenfalls
unterschiedlich gestaltet.1203 Teilweise gibt es noch Systeme, die eine Staatskirche haben oder
jene, die eine radikale Trennung verlangen, was größtenteils mit verschiedenen historischen
und religiösen Entwicklungen zusammenhängt. Im Hinblick auf eine gemeinschaftsrechtliche
Regelung eines europäischen Religionsverfassungsrechts1204 kann auf die Europäische Verfassung bzw. die EMRK, die Grundrechtecharta und die Rechtsprechung des EGMR verwiesen werden.1205
Die Europäische Gemeinschaft hat jedoch keine Kompetenz zur umfassenden Regelung des
Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten. Nach dem
Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wäre dies nur möglich, wenn es eine diesbezügliche Kompetenz in den Verträgen gäbe, Art. 5 EUV, 5 Abs. 1 EGV. Eine zusätzliche
Verstärkung erhält dieser Grundsatz durch das Subsidiaritätsprinzip, Art. 5 Abs. 2 EUV, und
die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten, Art. 6 Abs. 3 EUV, so dass es ein
Europäisches Religionsverfassungsrecht nach derzeitiger Rechtslage nicht geben kann.
Die verschiedenen dargebotenen Konfliktlösungsansätze im Kopftuchstreit haben unterschiedliche rechtliche und politische Überzeugungskraft. Das laizistische Modell der strengen
Trennung von Staat und Religion hat den Vorteil, die Gleichbehandlung der Religionen zu
verwirklichen. Es hat den weiteren Vorteil, die Trennung von Staat und Kirche ernst zu nehmen. Dieses Modell hat aber auch einen entscheidenden Nachteil: Es gewährt den Menschen
in einem essentiell entscheidenden Bereich weniger Freiheit als andere Modelle, weil von
vorneherein religiöse Bekundungen im Schuldienst ausgeschlossen werden. Zudem übersieht
dieses Modell, dass die theoretische Trennung von Staat und Kirche dennoch nicht deren Berührungspunkte beendet. Es mag Zeiten geben, in denen Laizismus die einzige Möglichkeit
ist, den Frieden in einer Gesellschaft zu erhalten, etwa bei bürgerkriegsähnlichen religiösen
1200
Vgl. Kubelka/Schian, Causa Kopftuch, ein europäischer Vergleich, Berlin 2004; zur Frage des EU-Beitritts:
Tibi, Mit dem Kopftuch nach Europa? Die Türkei auf dem Weg in die Europäische Union, Darmstadt 2005.
1201
Diese Begrifflichkeit beschreibt religionsverfassungsrechtliche Modelle, denen das Prinzip strenger Trennung von Religion und Staat zugrunde liegt. In Frankreich ist der Laizismus auch in der Verfassung verankert;
Ebenso in: Indien, Japan, Mexiko, Türkei, Kuba, Portugal, Uruguay, wobei sie sich teilweise markant unterscheiden.
1202
Mahlmann, ZRP 2004, 123.
1203
Vgl. dazu Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechtss, Baden-Baden 2005.
1204
Vgl. beispielsweise dazu Vachek, Das Religionsrecht der Europäischen Union im Spannungsfeld zwischen
mitgliedstaatlichen Kompetenzreservaten und Art. 9 EMRK, Passau 2000.
1205
Vgl. dazu Potz/Schinkele, Religionsrecht im Überblick, Wien 2007, S. 17ff; Loretan-Saladin, Religionen im
Kontext der Menschenrechte, Zürich 2009, S. 190ff.; Häberle, Islam, Säkularismus, Religionsrecht, Berlin 2012,
S. 140ff.
261
Spannungen. Dies ist aber nicht mit der aktuellen Situation in Deutschland vergleichbar.
Lehrkräfte an öffentlichen Schulen stehen traditionell in einer besonders starken Pflichtenstellung, die es erlaubt, Sonderregelungen zu erlassen, die schärfer sind als entsprechende Regelungen für den öffentlichen Dienst allgemein. Das hat das Bundesverfassungsgericht bereits in
seinem Radikalenbeschluss im Jahre 1975 zum Ausdruck gebracht.1206 Zur weiteren Anschauung sei auf die Entscheidungen verwiesen, in denen es den Lehrern rechtmäßig untersagt worden war, während des Unterrichts Plaketten mit der Aufschrift „Atomkraft, nein danke“1207 oder „Stoppt Strauß“1208 anzustecken.
Das Problem des zweiten Modells scheint in der direkten Ungleichbehandlung verschiedener
Religionen zu liegen, weil für christliche Symbole andere Grenzen als für das Kopftuch gelten. Im Übrigen hieße dies, der Muslima aufzuerlegen, auf welcher Motivation das Tragen des
Kopftuches vermeintlich in Wahrheit beruhe und welche Bedeutung es vermeintlich in Wahrheit habe.1209 Problematisch ist weiterhin, dass die Berücksichtigung religiöser Bezüge und
die Verwirklichung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staats im Schulwesen, sowohl an das Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft anknüpft, als auch an das staatliche
Selbstverständnis Deutschlands. Man muss bei sämtlichen Lösungsvorschlägen eines stets im
Hinterkopf behalten: Die Schule ist in besonderem Maße ein Ort gesellschaftlicher und staatlicher Integration, denn als Institution an der Schnittstelle von Staat und Gesellschaft ist die
Schule eine Art Mikrokosmos, in dem gerade auch Integrationsmuster im ständigen Dialog
staatlicher Organe (Aufsicht des Staats über das Schulwesen) und gesellschaftlicher Entscheidungsträger (Eltern als Erziehungsberechtigte) eingeübt, auf den Prüfstand gebracht und weiterentwickelt werden und in dem daher Gelingen und Versagen von Integrationskonzepten
exemplarisch erkennbar werden. Sämtliche Lösungsansätze im Kopftuchstreit zielen letztlich
darauf ab, dass ein Miteinander von unterschiedlichen Konfessionen so reibungslos wie möglich gestaltet werden soll.
Geboten ist daher eine unvoreingenommene Kooperation des Staates mit den Kirchen und
Religionsgemeinschaften, sog. Kooperationsmodell.
4. Das Kreuz contra Kopftuch in näherer Betrachtung
Wer die Neutralität des Staates für ein Verfassungsgebot erklärt, wird im Ergebnis dazu neigen, nach dem Kruzifix das muslimische Kopftuch einer Lehrerin „erst recht“ aus den öffentlichen Schulen verbannen zu wollen. Allerdings ergeben sich grundlegende Unterschiede in
der Bewertung dieser beiden Problematiken:1210
Während das Kruzifix in öffentlichen Gebäuden wie ein offizielles, staatliches Bekenntnis
wirken könnte, handelt es sich bei dem Kopftuch um eine persönliche, die Grundrechtssphäre
1206
BVerfGE 39, 334; dazu Esser, JZ 1975, 555.
BVerwG NJW 1990, 2265.
1208
BayVerfGH NJW 1982, 1089.
1209
Debus, NVwZ 2001, 1355.
1210
Vgl. ausführlich, Michael, JZ 2003, 256; anderer Meinung: Kästner, JZ 2003, 1178; zur Toleranzgrenze, vgl.
Thormann, DÖV 2011, 945.
1207
262
betreffende Entscheidung einer Beamtin. Auf der anderen Seite repräsentieren Beamte den
Staat, aber man könnte dahingehend argumentativ darlegen, dass dem Art. 33 Abs. 3 GG nur
noch formaler Charakter zugemessen wird, wenn Beamte gezwungen werden, während ihres
Dienstes alles das einzustellen, was auf eine Religionszugehörigkeit oder ein religiöses Bekenntnis schließen lässt. Als unstreitig wird in diesem Zusammenhang natürlich vorausgesetzt, dass im Dienst jegliche missionierende Tendenzen zu unterlassen sind. Die Frage, die
sich dann jedoch stellt: Wo bleibt der verfassungsrechtlich anerkannte Betätigungsraum?1211
Fordert eine nicht laizistische Verfassung die religiöse Unkenntlichkeit der Lehrer? Oder sollte dem Staat das persönliche Verhalten eines Beamten erst dann zugerechnet werden, wenn es
die Schwelle zur direkten Einflussnahme erreicht?
Das Kruzifix symbolisiert eine zentrale Glaubensaussage. Es steht für die christliche Botschaft. Demgegenüber steht das Kopftuch nicht für eine zentrale Glaubensaussage des Islam,
es ist kein wirklich vergleichbar starkes religiöses Symbol. Es darf einer Muslima nicht von
vorneherein unterstellt werden, dass ihr Kopftuch primär den Aussagewert hat, dass sie sich
öffentlich zu ihrem Glauben bekennt.1212 Die Muslima will mit ihrem Kopftuch nicht zwangsläufig etwas mitteilen, sondern vielmehr auch umgekehrt einen bestimmten Anblick vermeiden. Das Kopftuch wäre in diesem Fall die Folge des Selbstverständnisses einer Frau, die sich
aus religiösen Gründen weniger freizügig kleidet, als dies in unserer Gesellschaft Mode ist.
Erst dadurch, dass dies eine verbreitete Bekleidungskonvention im Islam darstellt, kann der
objektive Betrachter Rückschlüsse auf ihren Glauben ziehen. Der Eindruck erschließt sich
demnach aber nur aus persönlicher Wertung eines Dritten.
Schließlich muss man sagen, ob eine Lehrerin ein Kopftuch tragen darf, sollte vom konkreten
Verhalten der Lehrerin, nicht aber vom konkreten Widerstand der Schüler oder Eltern abhängen. Eine Einzelfallbetrachtung erscheint aufgrund der Komplexität der Beweggründe des
Tragens eines Kopftuches am wirkungsvollsten, um jegliche Rechte einem gerechten Ausgleich zuzuführen. So bleibt vor allem auch die Möglichkeit aufrechterhalten, individuelle
Entscheidungen zu treffen. Nicht jede Kopftuch tragende Lehrerin will nämlich Schutzbefohlene gleichermaßen „rekrutieren“.1213
5. Das Verbot des Kopftuches bzw. Schleiers bei Schülerinnen1214 und das Problem der
Bestimmung des staatlichen Erziehungsauftrages
Nicht weniger selten ist die Problematik des Tragens eines Kopftuches oder Schleiers von
Schülerinnen islamischen Glaubens. Sie erscheinen verhüllt zum Unterricht, was häufig zu
Konflikten in der jeweiligen Klasse führt.
Inwieweit der Staat im schulischen Bereich zur Rücksichtnahme auf Glaubensvorstellungen
muslimischer Schüler, Schülerinnen und Eltern verpflichtet ist, hängt vor allem davon ab, ob
1211
BVerfGE 93, 1; VGH Mannheim, DVBl. 2001, 1534.
Siehe bereits oben unter III 1.
1213
Diesen Gedanken greift vor allem der § 51 Abs. 3 NdsSchulG auf, vgl. bereits obige Ausführungen.
1214
Vgl. dazu Mahrenholz RdJB 1998, 287; Khoury/Heine/Oebbecke, Handbuch Recht und Kultur des Islams in
der deutschen Gesellschaft, Gütersloh 2000.
1212
263
bezüglich der konkreten religiösen Ansicht1215 der Schutzbereich von Grundrechten eröffnet
ist. Dies ist von vorneherein nur dann der Fall, wenn von den Grundrechtsträgern/innen die
Existenz einer entsprechenden Glaubensregel nachgewiesen werden kann. Im Hinblick auf
den Islam beurteilt sich dabei die Frage, ob eine Glaubensvorschrift besteht, ausschließlich
nach dem religiösen Selbstverständnis1216 der einzelnen Grundrechtsträger/trägerinnen. Die
eigentliche Problematik ergibt sich allerdings dadurch, dass der Islam keine zentrale Lehrund Rechtsinstanz1217 kennt, die tatsächlich in religiösen und theologischen Fragen Verbindlichkeit entfalten kann.1218 Eine konkrete Vorgabe besteht daher nicht, es werden unterschiedliche Ansichten zur Existenz von Glaubensvorschriften vertreten. Dies gilt vor allem auch
aufgrund der verschiedenen islamischen Strömungen. Für eine erfolgreiche Berufung auf
Grundrechte genügt dennoch keinesfalls, dass lediglich das Bestehen eines Gebotes behauptet
wird, es muss vielmehr der Nachweis erbracht werden, dass die betreffende religiöse Verhaltensvorschrift individualbezogen Geltung beansprucht und dass sie im eigenen alltäglichen
Leben Beachtung findet.1219 Sie unterliegt dabei einer Plausibilitätskontrolle, die vorliegend
jedoch unstrittig gegeben ist.
Sollte die Schulleitung nun, um eine weitgehende Integration voranzutreiben, das Tragen einer solchen Verhüllung verbieten? Also Zwang ausüben, damit die Betroffenen sich sozusagen „zwangsemanzipieren“? Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass je früher ein
schulischer Integrationszwang bei diesen Schülerinnen wirksam wird, desto größer sind auch
die Probleme, die über die interkulturellen Konflikte, die auf diese Weise in die Familien hineingetragen werden. Gerade die früh emanzipierten Mädchen sind es, die in massive Probleme hineingeraten, ohne mit ihnen in dieser Altersstufe in angemessener Weise fertig werden
zu können. Die Zahl derer, die dem Elternhaus einmal oder mehrmals oder immer wieder zu
entlaufen versucht, steigt. Andere werden zu Hause eingesperrt. Wieder andere werden in die
Türkei gebracht und dort mit 14 oder 15 Jahren verheiratet, um sie dem Islam zu erhalten und
vor dem als sündhaft schlimm angesehenen Schicksal der Verwestlichung zu bewahren. Kann
das die Form der Emanzipation sein, zu der Schule verhelfen soll? Darf das der Preis eines für
richtig gehaltenen Freiheits- bzw. Integrationskonzeptes sein? Sind derartige Einzelschicksale, zumal, wenn sie sich häufen, zu einem vermeintlich höherrangigen Integrationsinteresse
noch hinzunehmen? Gibt es Einwirkungsmöglichkeiten, die als Alternative zur allmählichen
Selbstintegration eine echte Integration beschleunigen helfen können? Könnten sie überhaupt
zumutbar sein? Oder muss nicht in vermehrtem Maße über einen sanfteren Umgang mit schu1215
Vgl. dazu didaktische Fallaufbaugestaltung bei Coumont, ZAR 2009, 9; vgl. außerdem Coumont, Muslimische Schüler und Schülerinnen in der öffentlichen Schule, Frankfurt am Main 2008.
1216
Die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten von religiöser Ausprägung ist, beurteilt sich in erster Linie nach dem
Selbstverständnis, vgl. Tillmanns, Jura 2004, 619; Heinig/Morlok, JZ 2003, 777.
1217
Vgl. Janz/Rademacher, NVwZ 1999, 706; Baer/Wrase, JuS 2003, 1162.
1218
Vgl. dazu bereits die obigen Ausführungen unter A II.
1219
Vgl. BVerfGE 108, 282; BVerwGE 94, 82; VG Hamburg, NVwZ-RR 2006, 121; VG Düsseldorf, NWVBl.
2006, 68; Anger, Islam in der Schule, Rechtliche Wirkungen der Religionsfreiheit und der Gewissensfreiheit
sowie des Staatskirchenrechts im öffentlichen Schulwesen, Berlin 2003; Fraglich kann das Alter der betroffenen
Schüler sein, vgl. VG Hamburg NVwZ-RR 2006, 121; OVG NRW, NVwZ 1992, 77; Grundsätzlich wird in der
islamischen Welt die Einhaltung der religiösen Vorschriften erst ab der Pubertät verlangt, vgl. VG Hamburg,
NVwZ-RR 2006, 121; Khoury/Hagemann/Heine, Islam-Lexikon, Geschichte, Ideen, Gestalten, Freiburg 1999;
Breuer, Familienleben im Islam: Traditionen - Konflikte - Vorurteile, Freiburg 1998. Wenn hiervon Abweichendes behauptet wird, muss eine nachvollziehbare Offenlegung erfolgen, warum nach dem eigenen Selbstverständnis das entsprechende Ge- bzw. Verbot bereits zu einem früheren Zeitpunkt gelten soll.
264
lischen Integrationskonzepten nachgedacht werden? Genügen die Hilfen, die wir den Mädchen und Jungen im Umgang mit ihrer Identitätskrise bereitstellen?
Bei Befragungen1220 gaben Jugendliche an, dass ihnen erst der Glaube Sicherheit in Deutschland gegeben hätte, in der Türkei wären sie nicht so gläubig. Die befragten Kopftuchträgerinnen gaben weiterhin an, dass sie gerne ihr Kopftuch trugen, da es nach Gottes Gesetz ihre
Pflicht wäre. Interessant ist nun die Beantwortung der Frage, woher sie dieses Wissen erlangen, nämlich von den Eltern und den Hodschas, bei dem sie ihre Sicherheit für ihr strenges
Leben bekommen. Eine solch traditionell-orientierte Haltung wird außerdem von Vereinen
und Koranschulen unterstützt und so erfahren die Jugendlichen in der deutschen Gesellschaft
eine einseitige Prägung mit wenigen Integrationshilfen. Gerade im Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung ist dies besonders deswegen problematisch, da diese Mädchen glauben,
nur eine Frau mit Kopftuch ist „rein“. Es geht um den zentralen Begriff der Ehre. Die Frau ist
die Ehre des Mannes. Dies ist ein überholtes Weltbild, das zu Integrationsproblemen führt.
Schule sollte deswegen der Raum sein, wo jungen Menschen die Chance geboten wird, ein
Leben in Selbstbestimmung, Chancengleichheit und Gleichberechtigung kennen zu lernen1221,
ohne jedoch Zwang auszuüben.
Rein tatsächlich lässt sich weiterhin feststellen, dass das Tragen von Kopftüchern bei Musliminnen in Deutschland nicht die Regel ist. Nach einer aktuellen Studie tragen 28 % das Kopftuch und es zeichnet sich eine abnehmende Tendenz innerhalb der jüngeren Generationen ab,
da der Anteil der Kopftuchträgerinnen bei den über 66-jährigen höher ist als bei den jüngeren
Altersgruppen.1222
Wenden wir uns den Verfassungsvorgaben zu: Als außer Streit stehend kann nunmehr festgestellt werden, dass das Tragen des traditionellen muslimischen Schleiers oder Tuchs ein Akt
der Religionsausübung im Sinne des Art. 4 Abs. 2 GG ist.1223 Das Grundgesetz garantiert dieses Grundrecht für die Anhänger des Islam im gleichen Umfang wie für die Angehörigen der
abendländischen-christlichen Religionsgemeinschaften.1224 Art. 4 Abs. 2 GG umfasst nicht
nur kultische Handlungen, sondern es genügt, dass die religiösen Regeln für den Grundrechtsträger einen verbindlichen Teil seiner Lebensführung darstellen.1225 Es kann sich allerdings
auch derjenige auf Art. 4 Abs. 2 GG berufen, der sich freiwillig religiösen Bekleidungsvorschriften unterwirft. Geklärt ist letztlich auch die Frage, ob sich Minderjährige auf dieses
Grundrecht berufen können. Dies wird bejaht.1226 Trotz alledem wirft allerdings eine in Gänze
an den Lehren des Islam ausgerichtete Lebensart Probleme für das deutsche (Schul-) Recht
auf.1227
1220
Vgl. Kelek, ZAR 2006, 65.
Siehe dazu außerdem: Praxisratgeber Jugendhilfe, unter: www. Forum-verlag.com/2jugendhilfe.
1222
Haug/Müssig/Stichs, Muslimisches Leben in Deutschland, Nürnberg 2009, S. 186.
1223
Vgl. u.a OVG Lüneburg, NVwZ 1992, 79.
1224
Kunig-Mager, Jura 1992, 365.
1225
BVerfGE 32, 98.
1226
Herzog, in: Maunz-Dürig, Grundgesetzkommentar, München 2013, Art. 4 GG.
1227
An deutschen öffentlichen Schulen gilt die allgemeine Schulpflicht, die im staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag in Art. 7 Abs. 1 GG verankert ist. Unabhängig von der jeweiligen Staatsangehörigkeit unterliegen
auch muslimische Schüler und Schülerinnen, die in Deutschland ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt
haben, dieser Pflicht, vgl. z.B. Avenarius/Heckel, Schulrechtskunde, Neuwied 2000; Poscher/Neupert, RdJB
2005, 244; Hillgruber JZ 1999, 538; Pieroth, RdJB 1999, 448.
1221
265
Wer als Hoheitsträger innerhalb eines Schutzbereichs des Art. 4 Abs. 2 GG Verbote ausspricht, bedarf einer Ermächtigungsgrundlage. Es kommen hier landesrechtliche Schulvorschriften in Betracht, sofern die Schülerin durch ihr Verhalten gegen eine schulische Anordnung verstößt. Dafür muss die entsprechende schulische Anordnung selbst rechtmäßig sein.
Unter Zugrundelegung des Wortlauts des Grundgesetzes könnten unter dem Gesichtspunkt
Zweifel entstehen, da das Grundgesetz die Freiheit der religiösen Betätigung ohne jede Einschränkung garantiert. Jedoch bestehen stets verfassungsimmanente Schranken.1228
Als verfassungsimmanente Schranke kommen zunächst einmal die Grundrechte anderer
Schüler in Betracht. Diese haben nämlich das Recht, aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 3
S. 1 WRV, ihr Bekenntnis nicht offenbaren zu müssen. Zum Grundrechtskonflikt kann es aber
nur kommen, wenn die muslimischen Schülerinnen durch das Tragen des Schleiers in Art.
140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 3 S. 1 WRV eingreifen. Durch den bloßen Anblick eines Kleidungsstücks der Klassenkameradin wird indes, trotz fehlender Ausweichmöglichkeit, kein
Schüler gezwungen, seinen Glauben oder seine Weltanschauung zu offenbaren. Die negative
Religionsfreiheit schützt nicht vor „religiösem Umwelteinfluss“1229 bzw. ist kein Konfrontationsschutz. In der Entscheidung zum Kreuz im Gerichtssaal, dessen Problematik vergleichbar
scheint, findet sich folgender Satz:1230 „Das bloße Vorhandensein eines Kreuzes verlangt (…)
weder eine eigene Identifizierung mit den darin symbolhaft verkörperten Ideen oder Institutionen noch ein irgendwie geartetes aktives Verhalten.“ Gleiches kann also nur gelten, wenn im
Unterricht eine Mitschülerin einen Schleier trägt.1231 Wer diese These vertritt muss sich allerdings vor Augen führen, dass man sich durch einen Blick in die deutschen Klassenräume eines besseren belehren lassen muss, sich die faktische Situation also anders darstellt. In aller
Regel lassen sich Schüler von Kleidung der anderen beeinflussen. Sei es vom einfachen FanShirt oder Trikot bis hin zu speziellen Arten sich zu kleiden (die sog. „Emos“ tragen nur
dunkle Kleidung und haben sogar nicht selten Ratten als besonderes Ausrufungszeichen ihrer
Persönlichkeit). Im Unterschied dazu erscheinen „Skinheads“, deren abrasierten Köpfe warnend auf die meisten (ein)wirken (sollen)). Man erkennt dies beispielsweise auch an der
Debatte über die Einführung von Schuluniformen. Außerdem kann man solche Wirkungsverstärkungen von jeglichen Kleidungsstücken aufgrund seiner Verbindung zu der Persönlichkeit
und des ständigen Kontakts mit dem Gesicht der Schüler(innen) höher veranschlagen als das
bewusst nicht wahrgenommene Kruzifix.1232 Diese Beispiele heben hervor, dass Kleidung in
jedem Fall faktisch eine gewisse Symbolwirkung schafft und so auch verschiedene Zugehörigkeiten demonstriert. Gleichwohl verzichtet man in Deutschland bislang auf Schuluniformen, obwohl man um die Problematik weiß. Die Mitschüler müssen und können daher mit
dieser „Provokation“ durch ein muslimisches Kleidungsstück leben. Damit scheidet ein entgegenstehendes Grundrecht von Mitschülern als verfassungsimmanente Schranke aus.
1228
Siehe bereits oben unter B IV und E II.
von Campenhausen, in: Isensee-Kirchhof, HdbStR VI, Heidelberg 2000, § 136.
1230
Spies, NVwZ 1993, 637.
1231
Wohl nicht mehr von der Freiheit der Religionsausübung gedeckt wäre ein Ausnützen der „Zwangsinstitution Schule“, um die Mitschüler zum islamischen Glauben zu bekehren. Nach übereinstimmender Auffassung des
Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts ist eine Glaubenswerbung missbräuchlich, die
unter Ausnutzung besonderer Verhältnisse (z.B. einer Strafanstalt, eines Arbeitsplatzes) durchgeführt wird. Diese Feststellung lässt nun wiederum eine erneute Frage aufkommen, wer die Entscheidung treffen soll, wann ein
solcher Fall vorliegt.
1232
So auch Weber, ZAR 2004, 53.
1229
266
Eine andere Möglichkeit einer Eingriffslegitimierung ist der Rückgriff auf den Erziehungsauftrag des Staates durch das Schulwesen gemäß Art. 7 Abs. 1 GG. Vorliegend sind Art. 4 Abs. 2
GG und Art. 7 Abs. 1 GG im Konfliktfall gegeneinander abzuwägen. Man könnte zunächst
einmal daran denken, dass die Funktionsfähigkeit der Schule als umfassende Bildungseinrichtung betroffen sein könnte. Nahrung für diese These, dass gerade das Schleiertragen die Erziehungsziele der Schule konterkariert, liefert die Schulgebetsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Dort heißt es nämlich: „Die Schule fördert (…) die Anschauung des Christentums und damit ein religiöses Element in der Schule, das über die religiösen Bezüge hinausgeht, die sich aus der Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors ergeben.“1233
Ähnliche Formulierungen enthalten auch die Schulgesetze der Länder.1234
Das traditionelle Frauenbild des Islam, dem sich die Schülerin durch das Anlegen des Schleiers oder Tuches erkennbar unterordnet, ist mit dem Bild der Frau als gleichberechtigte, mündige Staatsbürgerin im Sinne des Art. 3 Abs. 2 GG nicht in Deckung zu bringen. Wie oben
bereits ausführlich dargestellt, existieren aber dennoch verschiedene Interpretationen, was
denn nun das Tragen eines Tuches oder Schleiers konkret ausdrücken soll, so dass auch weniger frauenfeindliche Deutungen möglich sind. Der konkrete Nachweis, dass das Tragen gerade nur dazu dienen soll, die weibliche Unterordnung zu demonstrieren, gelingt somit nicht.
Kann dennoch von einer muslimischen Schülerin verlangt werden, in der Schule den Schleier
bzw. das Tuch abzulegen, nur weil es ein abendländisches Erziehungsziel der Schule ist? Gegen die Zulässigkeit des Schleiertragens spricht allerdings nicht die Tatsache, dass die Verwaltungsgerichte es den Lehrern versagen, sich im Unterricht entsprechend ihrer Religion zu
kleiden, da der Lehrer als Erzieher die Schule verkörpert, die trotz des bereits genannten von
christlich-abendländischen Werten geprägten Erziehungsziels religiös neutral ist. Die verschleierten Schülerinnen hingegen verkörpern nur sich selbst. Im Unterschied zum Lehrer
besteht kein Grund hinsichtlich einer Sonderstellung, den Schülerinnen zu verbieten, ein bestimmtes Kleidungsstück aus religiösen Gründen zu untersagen.
Als Einwand seitens der Schule zugunsten eines Verbotes des Schleiers bzw. Tuches bleibt
allerdings noch übrig, nämlich dass nur ein Schleier- bzw. Tuchverbot im Unterricht verhindert, dass die Schülerinnen innerhalb der Klasse in eine Außenseiterrolle gedrängt werden.
Den Konflikt könnte man dahingehend zuspitzen, ob man, um der Forderung des Art. 3 Abs.
1 GG gerecht zu werden, Chancengleichheit in dem Sinne gewähren müsse, dass für jeden
Begabten der ihm gemäße Bildungsgang erreichbar sei, oder ob man Nachteile bestimmter
Gruppen durch kompensatorische Maßnahmen ausgleichen müsse.1235 OVG Münster und
OVG Lüneburg vertreten die Meinung, dass die Schülerinnen diese nachteiligen Auswirkungen der Religionsbetätigungsfreiheit hinnehmen müssten.1236 Wer sich freiwillig einer religiösen Regel unterwirft, muss deren Konsequenzen hinnehmen.
Was aber, wenn die pädagogischen Mittel versagen und der Bildungsauftrag gegenüber den
Mitschülern oder sogar Leib oder Leben der Schülerinnen durch Angriffe ihrer Mitschüler
gefährdet sind? Ein Recht zum Märtyrertum kann indes nicht so weit gehen, dass die betrof1233
BVerfGE 52, 223.
Vgl. z.B. auch: § 1 Abs. 3 NRWSchulOG: „Die Schule hat die Aufgabe, die Jugend auf der Grundlage des
abendländischen Kulturgutes und des deutschen Bildungserbes (…) sittlich, geistig und körperlich zu bilden…“.
1235
Vgl. ausführlich zur allgemeinen Förderungsproblematik Püttner, in: FS Dürig, München 1990, S. 279.
1236
OVG Münster, NVwZ 1992, 77; OVG Lüneburg, NVwZ 1992, 79.
1234
267
fenen Schülerinnen nicht zu ihrem eigenen Schutz in eine parallele Klasse versetzt werden
dürfen. Die Lehrer müssten in einer solchen Situation verpflichtet sein, in eigener Verantwortung jenes Erziehungsziel wählen, das Situation, Alter und Persönlichkeit des Schülers unter
Berücksichtigung der erzieherischen Grundsätze gerecht wird. Im äußersten Fall darf man
dann aber konsequenterweise der Schule das Mittel nicht verwehren, den muslimischen Schülerinnen zur Sicherung ihrer Rechtsgüter das Schleier- bzw. Tuchtragen zu verbieten. Wegen
des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kann diese Anordnung allerdings nur dann ergehen,
wenn nur so die Schule ihrem Bildungsauftrag gegenüber den Schülerinnen und ihren Mitschülern (Art. 7 Abs. 1 GG) bzw. ihrer Pflicht zum Schutz von Leben und Gesundheit der
Schülerinnen (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) nachkommen kann. Dann müsste die betroffene Schule
aber nachweisen, dass sie gegen die schulischen Störenfriede selbst nicht auf erfolgreiche Art
und Weise vorgehen kann.1237 So ist z.B. vorrangig zu prüfen, ob eine Versetzung in eine andere Klasse möglich ist.1238 Eine Schulbefreiung wird nur bei einem wichtigen Grund zugelassen: Nämlich nur, wenn ein Verstoß gegen islamische Glaubensvorschriften bei dem jeweiligen Schulkind eine psychische Drucksituation mit Krankheitswert ausgelöst1239 oder wenn
durch die Verpflichtung zur Teilnahme am Unterricht Grundrechte verletzt werden.1240 Hierzu
bedarf es einer plausiblen Darlegung, an die hohe Anforderungen gestellt werden.1241 Insgesamt lässt sich sagen, dass die Erziehung im Rahmen sozialen Verhaltens und der Persönlichkeitsentwicklung1242 auch oft einen Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Integration1243 insgesamt leisten kann und daher Befreiungen nur restriktiv ermöglicht werden sollen. Unstreitig
ist abschließend auch, dass eine gänzliche Gesichtsverhüllung demgegenüber ein objektives
Hindernis1244 für einen Unterricht darstellt, denn es muss zumindest eine Identifikation der
Schülerin möglich sein, schon um die Überprüfbarkeit der Anwesenheitspflicht sicherzustellen.
Schließlich verbliebe noch die Möglichkeit, dass durch ein Verbot des Schleiertragens auch
das Recht der Eltern betroffen sein könnte, nämlich die religiöse Erziehung ihrer Kinder
selbst zu bestimmen. Dieses Elternrecht basiert nicht auf Art. 4 Abs. 1 GG allein, sondern
ergibt sich vorliegend aus Art. 4 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Diese
Kombination ist deswegen notwendig, weil das religiöse Erziehungsrecht bipolar ist.1245 Es
betrifft die Eltern und das Kind. Folglich grenzen diese Vorschriften gemeinsam den Schutzbereich des religiösen Erziehungsrechts der Eltern umfassend ab. Den Eltern wird Entscheidungsfreiheit bei der Wahl des Bildungsweges für ihre Kinder und Mitbestimmung einge-
1237
Vgl. zur nachhaltigen Störung des Schulfriedens, ZAR 2009, 8; Schmahl, RdJB 2004, 23.
Langenfeld, Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten. Eine Untersuchung am Beispiel
des allgemeinen Schulwesens in der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 2001.
1239
Vgl. dazu OVG NRW, NJW 2003, 1754; kritisch dazu: Rixen, NJW 2003, 1712.
1240
Vgl. OVG NRW, NWVBl. 1992, 136.
1241
Vgl. insbesondere VG Hamburg, NVwZ RR 2006, 121; VG Düsseldorf, NWVBl. 2006, 68.
1242
Vgl. Thiel, Der Erziehungsauftrag des Staates in der Schule. Grundlagen und Grenzen staatlicher Erziehungstätigkeit im öffentlichen Schulwesen, Berlin 2000.
1243
Zur Integrationsaufgabe der öffentlichen Schule allgemein: BVerfGE 47, 46; BVerfG, NVwZ 2003, 1113;
BVerfG, FamRZ 2006, 1094; BVerwG, NJW 1982, 250; OVG Koblenz, NVwZ-RR 2005, 116; Pieroth, DVBl.
1994, 949; Rux, RdJB 2002, 423; Schmitt-Kammler, Elternrecht und schulisches Erziehungsrecht nach dem
Grundgesetz, Berlin 1983,
1244
Heine, Halbmond über deutschen Dächern, muslimisches Leben in unserem Land, München 1997.
1245
Spies, NVwZ 1993, 637.
1238
268
räumt, wenngleich es nicht die Schulpflicht überwinden kann.1246 Beschränkt wird dies wiederum durch Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG: über die Erziehung des Kindes wacht die staatliche Gemeinschaft. Das Bundesverfassungsgericht zieht dem Wächteramt des Staates jedoch enge
Grenzen. So ist es dem Staat verwehrt, gegen den Willen der Eltern für eine den Fähigkeiten
des Kindes bestmögliche Förderung zu sorgen.1247 Das Kindeswohl zu definieren ist Vorrecht
der Eltern.1248 Für den Bereich der religiösen Betätigung soll demnach verhindert werden,
dass das von der Verfassung ohne jede Einschränkung gewährte Grundrecht aus Art. 4 Abs. 2
GG über die Hintertür des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG eingeschränkt wird. Dies ist im Sinne des
anfangs vorangestellten Lösungsansatzes als unproblematisch anzusehen, wenn die muslimischen Töchter denselben religiösen Standpunkt einnehmen wie ihre Eltern, sich also freiwillig
dazu entschließen, sich zu verhüllen, und zwar auch dann, wenn dies einer erfolgreichen Integration entgegensteht. Es steht jedem zu, selbst zu entscheiden, wie und ob er sein Leben
führt, die freiwillige Exklusion etwaiger Minoritäten wird demnach nicht verwehrt. Innerhalb
der grundrechtlichen Reservate muss der Bürger selbst bestimmen dürfen, ohne dass die
Mehrheit fremdbestimmend über die richtige Wertrealisierung befindet. Die beiden OVGEntscheidungen haben hier bereits zutreffend formuliert, dass diese Schülerinnen die nachteiligen Auswirkungen selbst tragen müssten, es sei denn, sie wären einer konkreten Gefährdungslage ausgesetzt. Wie sieht die Lage aber dann aus, wenn Schülerinnen gezwungen werden, sich zu verhüllen? Dann wird durch ein Verbot des Tragens nicht in die Rechte der Schülerinnen eingegriffen, da sie ein solches Vorgehen seitens der Behörde begehren. Dennoch
würde dies dennoch einen Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht darstellen. Für einen lösungstheoretischen Ansatz sei an dieser Stelle aber auf die späteren Ausführungen zum koedukativen Sportunterricht verwiesen, die beide Konstellationen wegen Sachzusammenhangs
zusammenfassend erläutern.
Einige Stimmen berufen sich auf die Grundsätze der abendländischen Kultur, die eine verfassungsimmanente Grenze auszufüllen vermögen. Wenn die Freiheitsrechte des Grundgesetzes
aber dem Schutz der Autonomie der Berechtigten verpflichtet sind, muss die Interpretation
der grundrechtlichen Schutzbereiche, innerhalb derer die Freiheit der Bürger garantiert wird,
grundsätzlich formal, gegenüber den von den Berechtigten wählbaren Inhalten der Freiheitsbetätigung neutral erfolgen.
Danach verbieten sich Versuche, unter Berufung auf religiöse oder ethnisch-kulturelle Traditionen oder Grundlagen des Gemeinwesens inhaltliche Grenzen zu ziehen. Eine Einschränkung auf die Überzeugungen und Betätigungsformen christlich-abendländischer Religion ist
deshalb nicht zulässig.1249 Zwar können religiös-weltanschauliche Motive für potentiell jegliches Verhalten bestimmend werden, und sie werden es zumal dann, wenn fremde Religionen
eine Trennung von weltlicher und geistlicher Sphäre nicht kennen und das Leben der Gläubigen umfassend zu regeln beanspruchen. Entsprechend vielfältig sind aber die Kollisionen des
von solchen fremden religiösen Auffassungen geleiteten Verhaltens mit den Anforderungen
der Rechtsordnung.
1246
Püttner, in: FS Dürig, München 1990, S. 279.
BVerfGE 60, 79.
1248
Zacher, in: Isensee-Kirchhof, HdbStR VI, Heidelberg 2000, § 134.
1249
So auch Hellermann, in: Grabenwarter, Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, Stuttgart 1994, S. 133.
1247
269
Darüber, wie die Schule ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag1251 angesichts einer multikulturell zusammengesetzten Schülerschaft angemessen erfüllen kann, wird eine umfangreiche
pädagogische Diskussion geführt. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive besteht insoweit ein
weitreichender Gestaltungsspielraum des Staates. Die staatliche Schulhoheit schließt das
Recht des Staates ein, eigene schulische Erziehungs- und Bildungsziele festzulegen und zu
verfolgen, um das Kind zu einem selbstverantwortlichen Mitglied der Gesellschaft heranzubilden. Der Staat ist dabei nicht von jeglicher rechtlicher Bindung, insbesondere Rücksichtnahme auf die religiös-weltanschauliche Orientierung der Kinder und ihrer Eltern frei; insbesondere darf die öffentliche Schule nicht die Verbindlichkeit bestimmter Glaubensinhalte beanspruchen oder in weltanschaulich-religiöser Hinsicht missionarisch, indoktrinierend wirken.
Eine religiös-weltanschauliche Parteinahme ist dem Staat danach nicht erlaubt, weshalb das
landesverfassungsrechtliche Bildungsziel der „Ehrfurcht vor Gott“ zumindest einer erheblichen Relativierung seines normativen Gehaltes auf der praktischen Ebene bedarf. Kulturell
abweichende Positionen von Eltern und Kindern erfahren hierdurch eine substantielle Begrenzung ihrer Entfaltungsmöglichkeiten im Schulbereich. Eltern dürfen ihre Kinder der
staatlichen Erziehungs- und Bildungstätigkeit in öffentlichen Schulen nicht entziehen, auch
wenn sie selbst entgegenstehende religiös-weltanschauliche Positionen haben bzw. vermitteln
wollen. Die Grundrechte verbürgen auch Angehörigen neuer Religionsgemeinschaften aus
fremden Kulturkreisen den gleichen grundrechtlichen Schutz der Religionsausübung, des Bekenntnisses und ihrer sonstigen Betätigung, bis hin zur Respektierung glaubensbedingter Gewissenspositionen Einzelner dort, wo diese sich von hiesigen ethnisch-kulturellen Vorstellungen weit entfernen. Gemessen an dem Anspruch, auch Religionen und Religionsgemeinschaften fremder Kulturkreise nach ihrem Selbstverständnis gleichberechtigte Entfaltungsmöglichkeiten zu garantieren, muss dieser Grundrechtsschutz gleichwohl unvollständig bleiben. Die
Grundrechte als begrenzte rechtliche Gewährleistungen individueller Freiheit können von
vorneherein kein Recht auf glaubensgerechte Lebensverhältnisse verbürgen. Darüber hinaus
ist auch die nähere tatbestandliche Fassung insbesondere der hinzutretenden staatskirchenrechtlichen Garantien, aber auch der Grundrechte, nicht vollkommen frei von christlichabendländischer Prägung; so wird der privilegierte Schutz der Kultusfreiheit doch einem
christlichen Religionsverständnis eher gerecht werden als dem einer islamischen Gruppierung, die ihr ganzes Leben in ständigem Gedenken Gottes zu verbringen trachtet. Genügt ein
solcher individualgrundrechtlicher Schutz der Religionsfreiheit unter den Bedingungen einer
multikulturell zusammengesetzten Bevölkerung noch den Anforderungen an einen freiheitlichen Verfassungsstaat? Vermag eine hierauf gegründete, liberale Rechtsordnung auch den
Angehörigen kulturellen Minderheiten in dem Bedürfnis, ihre spezifische Lebensform zu bewahren, angemessenen Schutz zu gewährleisten? In der Multikulturalismus-Debatte der politischen Theorie wird das bezweifelt. Anknüpfend an die Kommunitarismus-Debatte ist Ausgangspunkt dafür die Erkenntnis, dass das in seiner Freiheit zu schützende Individuum erst in
seinen jeweiligen Lebenszusammenhängen seine Identität findet. Die Kritik zielt dann auf die
der liberalen Rechtsordnung mit ihrem Modell gleicher individueller Rechte innewohnende,
eigene Blindheit gegenüber den natürlichen Unterschieden wie Geschlecht, Glauben, Abstammung, o.ä. Die verfassungstheoretisch zentrale Frage ist, ob sich diese neutrale Blindheit
1251
Der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag kann zur Beschränkung der Gewissensfreiheit und des elterlichen Erziehungsrechts herangezogen werden, vgl. dazu Anger, KritV 2005, 52.
270
nicht, weil der normativ vorausgesetzte, abstrakte Begriff der Rechtsperson die konkreten
Identitäten etwa von Angehörigen kultureller Minoritäten verfehlt, in eine Blindheit gegenüber dem moralischen Erfordernis einer Anerkennung dieser besonderen Identitäten verkehrt.
Der Vorwurf lautet erneut, hinter der Berufung auf universelle Rechte verberge sich eine partikularistische Bevorzugung der Mehrheitskultur.1252 Wie oben bereits dargestellt, ist dem
jedoch nicht so, denn jeder hat das Recht, auch anders zu leben und es gibt Ausweichmöglichkeiten. Entgegengestellt wird diesem differenzblinden Liberalismus für gleiche Rechte ein
modernes Verständnis von Liberalismus, das, um das Ziel einer gleichen rechtlichen Anerkennung der verschiedenen individuellen und kollektiven Identitäten zu erreichen, eine Politik
der Differenz, eine rechtliche Absicherung auch kollektiver Identitäten und kultureller Lebensformen durch Vor- und Sonderrecht zulässt und fordert. In der komplexen Situation von
Gesellschaften, in denen sich kulturelle Minoritäten ausländischer Herkunft in territorial nicht
abgrenzbarer Weise niedergelassen haben, führt eine solche Politik der Differenz in weitaus
größere Probleme. Vor allem aber wird damit die Rechtfertigung aus dem Schutz der konkreten individuellen Identitäten fragwürdig, denn der um seinetwillen geforderte Schutz kultureller Lebensformen und kollektiver Identitäten kann sich am Ende gegen die konkrete Identität
der vermeintlich Begünstigten selbst wenden. Der Versuch, die Erhaltung bestimmter kultureller Lebensformen (grund-) rechtlich vorzugeben, würde sich von seinem eigenen Anliegen
eines angemessenen Schutzes individueller Freiheit entfernen.1253 Zwar entgeht auch eine auf
das liberale Prinzip gleicher Rechte gegründete Rechtsordnung nicht der partikularistischen
ethnisch-kulturellen Einfärbung, der jede positive Rechtsordnung einer konkreten staatlichen
Gemeinschaft unterworfen ist und die in dessen demokratischem Prozess ihre Legitimation
findet, dennoch ist für die diesen Prozess begrenzenden Grundrechte aber auch angesichts
einer multikulturell zusammengesetzten Gesellschaft am juristischen Modell gleicher individueller Freiheitsrechte festzuhalten. Seine Bewahrung verspricht noch immer die bessere Gewähr für die angemessene Freiheitssicherung1254, auch für Angehörige gesellschaftlicher
Minderheiten, als die Freisetzung einer staatlichen Politik der Differenz.
1252
Hellermann, in: Grabenwarter, Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt in der Gesellschaft, Stuttgart
1994, S. 143.
1253
So auch Hellermann, in: Grabenwarter, Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, Stuttgart 1994, S. 143.
1254
Vgl. dazu beispielhaft: Heckel, DVBl. 1996, 453; Renck, JuS 1989, 451; Isensee, ZRP 1996, 13.
271
IV. Der islamische Religionsunterricht1284
1. Die gegenwärtige Situation, die historische Entwicklung der Einrichtung islamischen
Religionsunterrichts und die verfassungsrechtliche Fragestellung
Geht es um die Integration von Migranten in Deutschland, so fällt dem Thema Islam in der
Debatte in den vergangenen Jahren eine stetig wachsende Bedeutung in Politik und Öffentlichkeit zu. Insgesamt leben mehr als 3,5 Mio. Muslime in Deutschland, von denen 2,7 Mio.
türkischstämmig sind, wodurch der Islam in Deutschland türkisch geprägt ist.1286 Viele der
hier lebenden Einwanderer sind bereits hier geboren und identifizieren sich weitgehend mit
den hier vorherrschenden westlichen Werten und sind in weitaus höherem Maße durch die
hiesigen Lebensweisen geprägt als ihre noch weitgehend mit dem Wertesystem des Heimatlandes verhafteten Eltern.1287 Gerade aus dieser Tatsache heraus ergeben sich nicht selten
Konflikte, wie die religiöse Lebensgestaltung der Söhne und Töchter auszusehen hat. Deswegen verlangen viele Muslime die Einrichtung eines islamischen Religionsunterrichts, damit
sie sichern können, dass ihre Kinder nicht ausschließlich nach westlichen Prinzipien erzogen
werden. Mittlerweile gibt es eine Reihe von Pilotprojekten dazu. Ist der Staat denn aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten verpflichtet, einen islamischen Religionsunterricht
einzurichten? Dies soll im Folgenden untersucht werden.
In der deutschen Islamkonferenz besteht aktuell Übereinstimmung darüber, dass grundsätzlich
islamischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen eingeführt werden soll, bislang gibt
1284
Allgemein zu Religionsunterricht: vgl. Maurer, DVBl. 1974, 663; Spriewald, Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Einführung von islamischem Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an deutschen Schulen,
Berlin 2003; Ogorek, Geltung und Fortbestand der Verfassungsgarantie staatlichen Religionsunterrichts in den
neuen Bundesländern, Ein Beitrag zur Lehre vom sog. Verfassungswandel, Frankfurt am Main 2004; Hildebrandt, Das Grundrecht auf Religionsunterricht, Tübingen 2000; Kiesel/Seif/Sievering, Islamunterricht an deutschen Schulen, Frankfurt am Main 1986; Lähnemann, Nichtchristliche Religionen im Unterricht: Beiträge zu
einer theologischen Didaktik der Weltreligionen; Schwerpunkt Islam, Gütersloh 1977; Khoury/Irskens/Wanzura,
Muslimische Kinder in der deutschen Schule, Altenberge 1980; Anger, Islam in der Schule, Berlin 2003; Rixius,
Rechtliche Regelungen zur religiösen Unterweisung für Schüler islamischen Glaubens, Soest 1987; Siegele, Die
Einführung eines islamischen Religionsunterrichts an deutschen Schulen: Probleme, Unterrichtsansätze, Perspektiven, Frankfurt am Main 1990; vgl. insbesondere zur Sexualerziehung: Marburger, Schulische Sexualerziehung bei türkischen Migrantenkindern: eine Sondierung des sozio-kulturellen Bedingungsfeldes, Frankfurt
am Main 1987; Reichmuth, Staatlicher Islamunterricht in Deutschland: die Modelle in NRW und Niedersachsen
im Vergleich, Berlin 2006; Dietrich, Islamischer Religionsunterricht: rechtliche Perspektiven, Frankfurt am
Main 2006; Bauer, Islamischer Religionsunterricht: Hintergründe, Probleme, Perspektiven, Berlin 2004; Bock,
Islamischer Religionsunterricht? Rechtsfragen, Länderberichte, Hintergründe, Tübingen 2007; Modellversuch
beispielsweise in Berlin: seit Beginn des Schuljahres 2001/2002 in Verantwortung der Islamischen Föderation in
Berlin wird an 15 Schulen in den Klassen eins bis sechs zwei Stunden wöchentlich islamischer Religionsunterricht erteilt. Wegen der Kopftuchfrage unterrichten ausschließlich männliche Personen. Allerdings stellt die
Islamwissenschaftlerin Irka Mohn fest, dass dem Unterricht des IFB die Außerperspektive fehle und keine Distanz zur eigenen Religion oder Kritikfähigkeit beigebracht wird, Der Tagesspiegel 9. April 2008. Außerdem gibt
es Modellversuche in Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Allerdings nehmen nur ca. 10-12 % der muslimischen Schüler an diesem freiwilligen Unterricht teil, Siedler, Vortrag vom
21.11.2002 in Leipzig. Detaillierte Auswertungen: Gottwald/Siedler, Islamische Unterweisung in deutscher
Sprache. Berichte, Stellungnahmen und Perspektiven zum Schulversuch in Nordrhein-Westfalen, NeukirchenVluyn 2001. Weitere Entwicklungen bleiben abzuwarten.
1286
Sen, ZAR 2006, 14. Die Zahl ist auch 2013 noch aktuell, vgl. http://www.deutsche-islamkonferenz.de/DIK/DE/Magazin/Lebenswelten/ZahlMLD/zahl-mld-node.html
1287
Igstadt, ZAR 1998, 99.
272
es diesen jedoch nur in Form von Modellversuchen.
Auf der Suche nach dem Band, das Staat und Gesellschaft im Innersten zusammenhält, konnte man in einem christlich-abendländisch geprägten Gemeinwesen mit zwei großen christlichen Kirchen bis vor einiger Zeit auch auf die Religion verweisen. Die Dominanz der beiden
christlichen Großkirchen, die gewährleistete, dass die maßgebenden Religionsgemeinschaften, ungeachtet ihrer verfassungsrechtlich abgesicherten Eigenständigkeit und Unabhängigkeit
gegenüber dem Staat, bestimmte, in einer religiösen Tradition verwurzelte Gemeinschaftswerte in den gesellschaftlich-politischen Raum vermittelten, wirkte in Staat und Gesellschaft in
hohem Maße stabilisierend.1288 Noch gehört der überwiegende Teil der Schüler in Deutschland einer der großen christlichen Kirchen an. Diese Schüler erhalten katholischen oder evangelischen Religionsunterricht. Muslimische Schüler bilden mittlerweile einen Anteil von fast
einem Zehntel der Schüler von Regelschulen.1289 Das Staatskirchenrecht ist demnach keine
Rechtsmaterie mehr, die nahezu ausschließlich die beiden großen Kirchen betrifft.1290 Es entwickelt sich, wenngleich auch zögernd und mit Schwierigkeiten, zum Religionsrecht. Das
Staatskirchenrecht weist demnach pluralistisches Entwicklungspotential auf. Diese Veränderung des religionssoziologischen Umfeldes hat Rückwirkungen auf verfassungsrechtliche
Grundannahmen und auf das Verfassungsrecht selbst. Auf der institutionell-kollektiven Ebene
wird die Wertevermittlung infolge der Pluralisierung zunehmend schwieriger, die schwindende Dominanz der Großkirchen sowie das Aufkommen neuer Religionsgemeinschaften ergänzen das bislang kooperative Verhältnis zwischen Staat und Kirchen um Elemente der Konfrontation und im Staatskirchenrecht stellt sich mittlerweile sogar die Frage, ob der Körperschaftsstatus Religionsgemeinschaften nur bei „Staatsloyalität“ zuerkannt werden kann.1291
Im individuellen Bereich erlebt das Grundrecht der Religionsfreiheit den „Ernstfall“:1292 Indem sich zunehmend Angehörige religiöser Minderheiten in allen nur denkbaren Lebensbereichen auf die Religionsfreiheit berufen, gerät die allgemeine Rechtsordnung unter einen
bislang so nicht gekannten „verfassungsrechtlichen Druck.“ Die Anordnung des Art. 7 Abs. 2
und Abs. 3 GG aber, wonach der Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach1293 ist, hat bisher noch nicht zur
Einführung eines umfassenden islamischen Religionsunterrichtes geführt.1294 Die gegenwärti1288
Schoch, in: FS Hollerbach, Berlin 2001, S.149.
Korioth, NVwZ 1997, 1041; Nach nichtamtlichen Schätzungen besuchten 1999 insgesamt rund 700.000
muslimische SchülerInnen deutsche Schulen, Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der
CDU/CSU vom 8. November 2000, BT-Drucks. 14/4530, S. 40. Zahlen zu den möglichen Teilneherrn, vgl.
http://www.deutscheislamkonfrenz.de/DIK/DE/DIK/StandpunkteErgebnisse/UnterrichtSchule/ReligionBildung/
Schuelerpotenzial/schuelerpotenzial-node.html
1290
Auch zu Zeiten, als die Dominanz der christlichen Kirchen noch ungebrochen war ist unter dem Grundgesetz
kaum je behauptet worden, der Begriff von Religion erfasse von vorneherein nur die Konfessionen des christlichen Abendlandes, Hellermann, in: Grabenwarter, Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft,
Stuttgart 1994, S. 131; bereits früh hat es Streit um den Religionsunterricht im Allgemeinen gegeben, BVerfGE
74, 244.
1291
Dazu gleich noch genauer.
1292
Schoch, in: FS Hollerbach, Berlin 2001, S. 149.
1293
Die sich daraus ergebenden schultechnischen Konsequenzen (Stellung im Lehrplan, Stellung des Religionslehrers, Bedeutung als Benotungs- und Versetzungsfach) sind grundsätzlich nicht streitig.
1294
De facto bedeutet Art. 7 Abs. 3 GG ein Privileg für die großen christlichen Konfessionen, wofür nicht zuletzt
auch die kirchenvertragsrechtlichen Absicherungen sprechen, Renck, DÖV 1994, 27. Auch die Islamkunde wird
teilweise für verfassungsrechtlich bedenklich angesehen, die jedoch für eine Übergangszeit erlaubt werden könnte, bis die Voraussetzungen für einen regulären islamischen Religionsunterricht gemäß Art. 7 Abs. 3 GG erfüllt
1289
273
ge Situation basiert u.a. auch auf der allgemeinen Problematik der schulischen Vermittlung
religiöser Inhalte1295, die als empfindlicher Berührungspunkt zwischen Staat und Kirche bezeichnet werden kann. Das Unterrichtsfach „Religion“ greift nämlich durch die Bekenntnisorientierung weiter in den Bereich der persönlich-privaten Lebensgestaltung ein als dies bei
anderen, der reinen Wissensvermittlung verpflichteten, Fächern der Fall ist. Religionsunterricht vermittelt demnach Werte, die der Weltbild prägenden Orientierung der nachwachsenden Generationen dienen, Art 7 Abs. 3 GG stellt damit eine Ausnahme des das Grundgesetz
prägenden Neutralitätsprinzips dar.1296 Die Problematik des islamischen Religionsunterrichts
ergibt sich aus der Lage im Schnittfeld zwischen staatlicher Schulhoheit, elterlichem Erziehungsrecht und individueller Glaubens- bzw. Bekenntnisfreiheit, wobei dies wiederum vom
Neutralitätsgebot überlagert wird.
Die enge Verbindung bedeutet anhaltende politische Brisanz des Religionsunterrichts in den
öffentlichen Schulen. Die Rechts- und Akzeptanzfragen, die aufgeworfen werden, sind empfindliche und deutliche Indikatoren für aktuelle oder sich anbahnende Probleme des Staatskirchenrechts. Bisher war deshalb in den christlichen Kirchen und in den Kultusverwaltungen
die Neigung spürbar, beim Religionsunterricht möglichst alles beim alten zu belassen. Ein
weiterer Grund, weshalb bislang eine umfassende Regelung ausblieb, erschöpft sich weitestgehend in der Tatsache, dass sich schon der christliche Religionsunterricht in einer Krise befindet. Die gesellschaftlich weitgehend akzeptierten Formen christlicher Religionsausübung,
wie sie im religiösen Leben der fünfziger und sechziger Jahre bestimmend waren, beschworen
Konflikte von allenfalls überschaubarer gesellschaftspolitischer Brisanz herauf. Das zu ihrer
Lösung entwickelte rechtliche Instrumentarium ist nicht geeignet, die weitaus brisanteren
Fragen, welche die weltanschaulich-religiöse Pluralisierung der heutigen Gesellschaft aufwirft, rechtspolitisch verantwortbar und dogmatisch befriedigend zu lösen.1297 Gravierende
religionspädagogische und verfassungsrechtliche Probleme entstehen aber letztlich dann,
wenn im weltanschaulich neutralen, dennoch durch christlich-abendländische Tradition geprägten Staat, religiöse Überzeugungen seiner Anwohner und Bürger an Bedeutung gewinnen, die zwar außerhalb dieser Tradition stehen, aber trotzdem die hergebrachten Institute des
Staatskirchenrechts für sich beanspruchen. Die Kulturministerien einiger Länder erwägten,
wenngleich mit Vorsicht und Zurückhaltung, die Einführung eines islamischen Religionsunterrichtes. Im Sommer 1994 machte das nordrhein-westfälische Kultusministerium bekannt,
dass muslimische Schüler ab dem Schuljahr 1996/1997 in „Werte und Sinnfragen“ unterrichtet werden sollen. Die Begründung für dieses Vorhaben, mit dem bestehenden Unterrichtsformen1298 weitergeführt und vertieft werden sollen, erregte Aufmerksamkeit. Die öffentliwären, da die Islamkunde der Verfassung näher stehe als der gänzliche Verzicht auf religiöse Unterweisung,
Heimann, in: Haratsch, Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, Stuttgart 2001, S. 81.
1295
Die wachsende Auszehrung des Mitgliedstandes der christlichen Großkirchen und die wachsende Interessenlosigkeit der Bevölkerung gegenüber religiösen oder wenigstens kirchlichen Fragen haben die Volkskirchensituation verändert. Mag dieser Wandel im soziologischen Substrat unmittelbar noch keine Rechtsänderung bewirkt
haben, so beginnt er doch, auf die Rechtslage einzuwirken, Renck, DÖV 1994, 27.
1296
So auch Renck, DÖV 1994, S. 27.
1297
Muckel, in: FS Listl, Berlin 1999, S. 239.
1298
Seit 1984 gibt es in Nordrhein-Westfalen „Religiöse Unterweisung und Vermittlung religiöser Lehrinhalte
auf islamischer Grundlage für Schüler aus islamischen Ländern“ im Rahmen des in der staatlichen Schule veranstalteten muttersprachlichen Ergänzungsunterrichts. Entsprechendes gilt in Hamburg, Hessen, Niedersachsen,
Rheinland-Pfalz und teilweise in Bayern. Daneben gibt es in den Ländern zwei weitere Formen islamischen
Unterrichts: 1. eine religiöse Unterweisung auf islamischer Grundlage für muslimische Schüler im Rahmen des
274
chen Schulen hätten immer mehr Kinder ohne Konfession oder islamischen Glaubens zu unterrichten, die wie deutsche Schüler der allgemeinen Schulpflicht unterliegen1299, welche sich
wiederum aus der staatlichen Schulhoheit aus Art. 7 Abs. 1 GG rechtfertigt. Das hieraus fließende Bestimmungsrecht des Staates im Schulbereich wird vom Grundgesetz aber nicht uneingeschränkt gewährleistet. Grundrechte der Schüler und Eltern setzen Vorgaben für die
Ausübung der staatlichen Schulhoheit. Betroffen sind hier vor allem das elterliche Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG und das Persönlichkeitsrecht des Kindes aus Art. 1 Abs.
1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG im Sinne eines Rechtes auf freie und menschenwürdige Entfaltung.
Dies darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass wir es in diesem Fall auch gleichzeitig mit
einem Souveränitätsproblem zu tun haben. Die türkische Regierung erhebt auch durch ihre
Repräsentanten in Deutschland bisweilen einen deutlichen Anspruch auf Mitsprache in Angelegenheiten der türkischen Bevölkerungsgruppe in Deutschland. Auch hier stellt sich wiederum die Frage nach einem Ausgleich der betroffenen verfassungsrechtlichen Positionen. Wie
weit reicht nun aber die Befugnis des Staates zur Einrichtung und Gestaltung dieses Religionsunterrichts? Bedarf es Abstimmungen mit islamischen Religionsgemeinschaften? Haben
islamische Eltern und Schüler, aber auch islamische Glaubensgemeinschaften, einen grundrechtlichen Anspruch auf Religionsunterricht nach ihren Vorstellungen in öffentlichen Schulen? Setzt der Religionsunterricht als gemeinsame Angelegenheit von Staat und Religionsgemeinschaft voraus, dass die betreffende Religionsgemeinschaft den Status einer Körperschaft
des öffentlichen Rechts1300 hat? Dies wird zu diskutieren sein. Über einen islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen wird in Deutschland bereits seit Jahrzehnten immer
wieder diskutiert. Bereits im März 1984 hat die deutsche Kultusministerkonferenz dessen
Einführung als überfällig bezeichnet.1301 Es scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass die
Frage nach der religiösen Erziehung der großen Zahl schulpflichtiger Kinder islamischen
Glaubens in öffentlichen Schulen dringlich ist. Dennoch ist es bislang noch nicht umfassend
zur Einrichtung von islamischem Religionsunterricht als ordentlichem Lehrfach im Sinne von
Art. 7 Abs. 3 GG gekommen, sondern nur zu Ersatz- und Übergangslösungen.1302 Hierbei
von diplomatischen Vertretungen veranstalteten muttersprachlichen Ergänzungsunterrichts ist in BadenWürttemberg, Berlin (nicht an öffentlichen Schulen, aber mit finanzieller Unterstützung durch das Land), im
Saarland und in Schleswig-Holstein (außerhalb der staatlichen Schulverantwortung) möglich; 2. Religiöse Unterweisung auf islamischer Grundlage, insbesondere für türkische Schüler, ist im Rahmen des Regelunterrichts
nach deutschen Lehrplänen in den Jahrgangsstufen 1 bis 5 der bayerischen Volksschulen eingerichtet. Keine
religiöse Unterweisung auf islamischer Grundlage findet in den Schulen der neuen Länder und Bremens statt,
vgl. Korioth, NVwZ 1997,1041 m. w. N.
1299
Sofern sie dem Unterricht an einer deutschen Schule ohne erhebliche sprachliche Schwierigkeiten folgen
können, werden sie grundsätzlich in die ihrem Alter oder ihren Leistungen entsprechenden Klassen der jeweiligen Schulformen/-stufen aufgenommen. Zur Förderung ausländischer Schüler, die wegen erheblicher sprachlicher Schwierigkeiten hierzu nicht in der Lage sind, sind besondere Unterrichtseinheiten wie Vorbereitungsklassen (bis zu zwei Jahre), Klassen mit Muttersprache und deutscher Sprache als Unterrichtssprache, Intensivkurse,
Förderstunden o.ä einzurichten, Langenfeld, AöR 123, 375.
1300
Keine verfassungsrechtlichen Probleme entstehen dadurch, dass die Landesverfassungen teilweise ausdrücklich dem christlichen Staatsbild verpflichtet sind, wonach die schulische Erziehung auf die Ehrfurcht vor Gott
zielt. Eine normativ zwingende Verengung möglicher Inhalte des Religionsunterrichts auf solche christlichabendländischer Herkunft folgt daraus nicht, denn dies stünde im Widerspruch zu den Grundprinzipien des säkularen, pluralistischen und weltanschaulich neutralen Staates nach dem Grundgesetz.
1301
Beschluss der KMK vom 20.03.1984.
1302
Langenfeld, Die rechtlichen Voraussetzungen für islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen,
2005, Göttingen 2006, S. 17; Nordrhein-Westfalen bietet ab dem Schuljahr 2013 islamischen Schulunterricht an,
275
gehen die Länder unterschiedliche Wege. Das Grundgesetz befasst sich nicht ausdrücklich mit
dem Problem des interkulturellen Grundrechtskonfliktes in der staatlichen Schule.1303 Allerdings manifestieren sich interkulturelle Konflikte in der Inanspruchnahme grundrechtlicher
Gewährleistungen, die auch oder gerade deshalb innerhalb der staatlichen Schule Geltung
beanspruchen.
Bevor auf diese Problematik näher eingegangen wird, stellt sich zunächst die Frage, ob islamischer Religionsunterricht überhaupt aus verfassungsrechtlicher Sicht an deutschen Schulen
unterrichtet werden kann. Wie sollte überhaupt eine Bildungs- und Kulturpolitik unter pluralistischen Bedingungen aussehen? Wenn die Muslime eine allgemeine Islamunterrichtseinrichtung für sich beanspruchen, woran machen sie dann ihre Religion fest und teilen sie die
liberale Einstellung bzw. die freiheitliche Ordnung unseres Landes? Müssen sie das überhaupt? Wie passt ein solcher Unterricht in das rechtliche Gefüge des bundesdeutschen Bildungssystems? Welche Ziele und Inhalte kann ein islamischer Unterricht haben, der von der
deutschen Schule ausgerichtet wird? Diese Fragen sollten vordringlich zu klären sein, da sie
die Determinanten unserer Verfassung und den Fortbestand der liberalen Ordnung betreffen.
Obwohl die Zuwanderung der Muslime bereits in den sechziger Jahren einsetzte, wurde die
Frage nach Einrichtung eines islamischen Religionsunterrichts letztlich erst zu dem Zeitpunkt
aktuell, als klar wurde, dass der Aufenthalt eines Großteils der Zuwanderer in Deutschland
nicht lediglich vorübergehenden Charakter aufweist, sondern vielmehr auf Dauer angelegt
ist1304, es sozusagen also zu einem vollzogenen Wechsel vom Gastarbeiterdasein zur dauerhaften Niederlassung gekommen ist, und es aus diesem Grund sinnvoll erschien, sie in alle
Lebensbereiche zu integrieren. Wie kam diese Erkenntnis einer notwendigen, erfolgreichen
Integration? Aus sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen vor allem deswegen, weil eine verstärkte Bedeutung der kulturellen und eben auch der religiösen Bedürfnisse mit der Niederlassung einhergeht. Dennoch stoßen die Förderer eines solchen Unterrichts in Gesellschaft, Politik und Verwaltung dabei nicht nur auf politischen Widerstand, sondern vor allem auf strukturelle Hürden und Organisationsprobleme, die sich aus der Unterschiedlichkeit der christlich
geprägten Verfasstheit der deutschen Gesellschaft auf der einen und der islamischen Kultur
auf der anderen Seite ergeben.
Ebenfalls nicht außer Acht gelassen werden darf die Tatsache, dass die vermehrte Präsenz
außerdem ein erhebliches gesellschaftliches Konfliktpotential birgt, vor allem deshalb, weil
sie bei vielen Deutschen diffuse Ängste vor „Überfremdung“ oder dem „Verlust christlicher
Werte“ auslöst.1305 Dem gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Bundesrepublik
Deutschland werden durch die Immigration jedenfalls neue Akzente aufgesetzt. Der Islam
wiederum ist eine der großen Weltreligionen, erfüllt von striktem Offenbarungsglauben,
der vergleichbar mit regulärem Religionsunterricht sein soll. Es gibt aber bereits Probleme, entsprechende Lehrkräfte zu finden.
1303
Eine gewisse Bezugnahme findet sich einzig in den Bestimmungen einiger Landesverfassungen zum Schutz
der so genannten anerkannten Minderheiten (deutscher Staatsangehörigkeit): z.B. Art. 5 Abs. 2 S. 1 Verfassung
Schleswig-Holstein.
1304
Obwohl die meisten der Muslime Ausländer sind, kann man nicht davon ausgehen, dass die Präsenz des
Islam in Deutschland nur ein vorübergehendes Phänomen ist, denn die Mehrzahl der Zuwanderer wird voraussichtlich hier bleiben, Muckel, in: FS Listl, Berlin 1999, S. 239; so auch Bade, Einwanderungskontinent Europa,
Osnabrück 2001, S. 19ff; Tomei, Europäische Migrationspolitik zwischen Kooperationszwang und
Souveranitätsansprüchen, Bonn 1997, S. 65ff.
1305
Muckel, in: FS Listl, Berlin 1999, S. 239.
276
Weltgestaltungsverlangen und Gehorsamsanspruch. An Mitgliederzahl überragt er die kleineren Religionsgemeinschaften Deutschlands gewaltig. Zwar hat er als dritte der großen
abrahamitischen Offenbarungsreligionen manche Strukturverwandschaft mit dem Christentum und Judentum gemein, aber seinen aus den ländlichen Gebieten der Türkei, des Balkans
und Nordafrikas eingeströmten verschiedensten Anhängern sind die Erfahrungen konfessioneller Koexistenz, Parität und Toleranz weitgehend fremd geblieben, die sich in Mitteleuropa
in der frühen Neuzeit seit dem Ende der Religionskriege1306 zur religiösen und sozialen Kultur
verdichtet haben und die als selbstverständliche „faktische“ Verfassungsvoraussetzungen der
staatskirchenrechtlichen Normen gelten können.1307 Die eigentlichen verfassungsrechtlichen
Vorgaben sind dennoch nicht anders zu definieren als für die Einrichtung von Religionsunterricht in christlicher oder jüdischer Religion. Dennoch muss hier konstatiert werden, dass es
den Muslimen bisher schwer fällt, die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Einrichtung von Religionsunterricht zu erfüllen, dazu gleich genauer. Es stellt sich deswegen,
auch wegen der hohen Zahl der Schüler muslimischen Glaubens und der integrationspolitischen Bedeutung des Religionsunterrichts, die zentrale Frage, ob, in welchem Umfang und
auf welche Art und Weise der Islam in dieses grundgesetzliche Gefüge von Anforderungen
überhaupt eingepasst werden kann, sowohl institutionell als auch inhaltlich.
2. Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach und institutionelle Grundrechtsgarantie
Im Zusammenhang der nach Art. 4 GG geschützten Glaubensfreiheit steht, wie oben auch
bereits festgestellt, außer Frage, dass der Islam1308 ein „Glaube“ bzw. eine „Religion“ ist. Soweit islamische Schüler öffentliche Schulen1309 besuchen, greift damit die Anordnung des Art.
7 Abs. 3 S. 1 GG1310, die den Staat in die Pflicht nimmt: „Der Religionsunterricht ist in den
1306
Zum Beispiel die des Zeitalters der Gegenreformation (1555-1648); die Hugenottenkriege (1562-1629) und
der Dreißigjährige Krieg (1618-1648).
1307
Heckel, JZ 1999, 741.
1308
In der Literatur ist allerdings häufig ein Unbehagen zu spüren, den weiten Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1
und Abs. 2 GG ohne Vorbehalt dem islamischen Glauben und seiner Glaubensbetätigung zu öffnen, vgl. MüllerVorbehr, DÖV 1995, 301, der dem Islam einen Grundrechtsschutz „grundsätzlich“ zugesteht. Das Unbehagen
erklärt sich zum einen daraus, dass der Islam das Leben der Gläubigen vollständig prägt und erfasst, jedes Verhalten also zumindest religiös motiviert, wenn nicht sogar nach dem Selbstverständnis des Islam, Religionsübung ist. Zum anderen schwingt bei Art. 4 GG die christlich-abendländische Prägung der Glaubensfreiheit mit.
So hat das Bundesverfassungsgericht formuliert, das Grundgesetz habe „nicht irgendeine, wie auch immer geartete Betätigung des Glaubens schützen wollen, sondern nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern
auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat.“ BVerfG, NJW 1961, 211.
1309
Öffentliche Schulen sind die Schulen, die sich in der Trägerschaft der Kommunen und Länder befinden, aber
auch andere Schulen, die nach Landesrecht als öffentliche Schulen angesehen werden. Als Schule im Sinne
dieser Bestimmung werden die Schulen der Primar- und Sekundarstufe angesehen. Die Universitäten oder die
Fachhochschulen, aber auch die sog. Fachschulen sind keine Schulen i.S.d. Art. 7 Abs. 3 GG. Ausdrücklich
ausgenommen werden die bekenntnisfreien Schulen. Der Staat darf sich seiner Verpflichtung aus Art. 7 Abs. 2
GG allerdings nicht dadurch entziehen, dass er die bekenntnisfreie Schule zur Regelschule macht, Oebbecke,
DVBl. 1996, 336.
1310
Im Wesentlichen gleich lautende Vorschriften finden sich in Art 149 Abs. 1 und Abs. 2 WRV. Auch die
Paulskirchenverfassung vom 23. März 1849 setzte in § 153 den Religionsunterricht als Bestandteil des staatlichen Unterrichtsprogramms voraus. Elf der sechzehn Landesverfassungen bestimmen den Religionsunterricht
zum ordentlichen Lehrfach an den öffentlichen Schulen. Für das Verhältnis dieser, teilweise zumindest verfassungstextlich, über die bundesrechtlichen Vorschriften zu Art. 7 Abs. 1 und Abs. 2, gilt Art. 142 GG. Danach
277
öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach.“1311
Seine innere Rechtfertigung ergebe sich aus dem Umstand, dass der staatliche Lehr- und Erziehungsauftrag auch beinhalte, jedes einzelne Kind zu einem selbstverantwortlichen Mitglied
der Gesellschaft heranzubilden.1312 Er diene weiterhin der Erfahrung und Gewissheit des eigenen Glaubens einschließlich der Kenntnisnahme und Bewertung fremder Glaubensrichtungen. Zugleich solle er auch die Dialogfähigkeit mit diesen und mit den säkularen Strömungen
der Gesellschaft fördern. Der demokratische Staat habe aber zudem auch ein eigenes Interesse
an der religiösen Bildung seiner Bürger, weil sich aus der Förderung ihrer religiös motivierten
Sozial- und Individualethik zugleich eine Festigung seiner eigenen sittlichen Grundlagen ergebe, denn der Staat fokussiere gerade den sittlich verantwortlichen Bürger und brauche diesen auch. Aus diesem Grund muss es ihm möglich sein, die Erziehung zu sittlicher Verantwortlichkeit zu fördern. Diese Motivationslage verdeutliche, dass der Religionsunterricht an
öffentlichen Schulen kein verstaubtes Relikt aus den Hochzeiten der Kirche sei und auch kein
primär kirchliches Privileg zur Betätigung der Kirchen im staatlichen Raum. Vielmehr verfolgt der Staat insoweit ein eigenes Interesse und Bedürfnis. Zugleich erkenne er damit einen
legitimen Öffentlichkeitsauftrag der Religionsgemeinschaften an, speziell ihr religiössittliches Mandat und öffne damit partiell den staatlichen Raum für den Zweck der Verwirklichung der positiven Religionsfreiheit. Zweifellos werde unter dem Aspekt des Bedeutungswandels der Religionsunterricht an sich auch regelmäßig in Frage gestellt, etwa bei der Frage
nach der Zulässigkeit eines „ökumenischen Religionsunterrichts“ oder eines „multireligiösen
Religionsunterrichts1313“, worauf hier allerdings nicht näher eingegangen werden kann. Die
Frage, die sich aus dieser Darstellung ergibt, lautet dahingehend, ob diese Vorgaben überhaupt einen legitimen Zweck darstellen können? Aus rein tatsächlicher Sicht kann der Religionsunterricht nämlich auch den Muslimen dazu verhelfen, die Quellen ihrer religiösen Tradition kennen zu lernen, das Selbstverständnis ihres Glaubens zu entwickeln und in einer ihnen
fremden Umgebung zu behaupten, die Andersgläubigen ohne Selbstaufgabe zu verstehen, das
Zusammenleben mit ihnen in gegenseitiger Achtung zu erleichtern, Vertrauen in den Staat zu
fassen, wenn er ihnen als Förderer, nicht nur der allgemeinen Freiheit, sondern auch ihrer eigenen religiösen Vergewisserung und Tradition begegnet. Religionsunterricht dürfte gerade
für die Muslime besonders vonnöten sein, um die Spannungen zwischen ihrer religiösen Existenz und ihrer säkularen Umwelt auszuhalten und tunlichst auszugleichen, verstörte und fanbleiben abweichend von der allgemeinen bundesstaatlichen Kollisionsregel des Art. 31 GG mit den Grundrechten des Grundgesetzes übereinstimmende Landesgrundrechte in Kraft. Die Länder Berlin, Brandenburg, Hamburg und Schleswig-Holstein schweigen zum Religionsunterricht, während die bremische Verfassung in Art. 32
Abs. 1 einen „bekenntnismäßig nicht gebundenen Unterricht in Biblischer Geschichte auf allgemein christlicher
Grundlage“ statuiert. Zusätzlich zu den (landesverfassungs-) rechtlichen Vorgaben kommt auch den Schulgesetzen der Länder eine besondere Bedeutung zu, die die Vorgaben z.T. wiederholen, konkretisieren und organisatorische Bestimmungen hinzufügen. Schließlich erfährt der Religionsunterricht auch noch eine weitere Garantie
durch die zwischen Staat und den beiden christlichen Großkirchen abgeschlossenen Verträge, Details z.B. bei
Mückl, AöR 122, 513.
1311
Bergmann, ZAR 2004, 135. Ordentliches Lehrfach bedeutet, dass es den anderen Fächern gleichsteht und in
den Unterrichtsplan einbezogen wird. Wie bei anderen Fächern auch ist der Staat berechtigt, Mindestteilnehmerzahlen festzulegen. Nach einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 1973 bedeutet die
Garantie des Religionsunterrichts auch, dass die hier erbrachten Leistungen in derselben Weise versetzungserheblich sein können wie in den anderen Fächern. Allerdings sind die Länder frei darin, die Versetzungserheblichkeit unterschiedlich zu regeln, Oebbecke, DVBl. 1996, 336.
1312
BVerfGE 47, 46.
1313
Mückl, AöR 122, 513.
278
tastische Verstocktheit ebenso wie den Verlust der religiösen Identität zu vermeiden.1314
Gilt diese Formulierung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach in öffentlichen
Schulen denn aber nur für christlichen Religionsunterricht?1315 (Zwar gilt die Regelung für
Berlin und Bremen nicht (vgl. Art. 141 GG))1316, jedoch für die anderen Länder stellt dies
einen klaren Verfassungsauftrag dar. Der Wortlaut vermag da nicht weiterzuhelfen. Die Beratungen des späteren Art. 7 Abs. 3 GG im Parlamentarischen Rat hatten, ohne dies ausdrücklich zu thematisieren, den traditionellen Religionsunterricht in den Bekenntnissen der christlichen Großkirchen zum Gegenstand.1317 Dies wiederum würde auf den ersten Blick dafür
sprechen, dass der Staat nicht verpflichtet ist, diesen Bereich auf andere Religionen auszudehnen. Allerdings lässt sich dem entgegenhalten, dass der Begriff Religionsunterricht1318 mit
der Anknüpfung an Religion und damit an den weiten Schutzbereich des Art. 4 GG über das
Christentum hinaus reicht und somit den Unterricht in den Glaubenssätzen jeder Religionsgemeinschaft umfasst. Die bislang ganz herrschende Lehre geht aber bei der Interpretation des
Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG über die Feststellung der Inpflichtnahme des Staates noch darüber hinaus, als dass sie der Norm, und dies ist für die Frage des islamischen Religionsunterrichts von
großer Bedeutung, eine institutionelle Garantie beimisst. Für die institutionelle Gewähr
spricht sicherlich, dass Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG den Staat in die Pflicht nimmt, Religionsunterricht einzurichten. Der Unterricht ist staatliche, nicht kirchliche Angelegenheit, der Staat ist
1314
Heckel, JZ 1999, 741.
Im Gegensatz zum Grundgesetz kannte die Weimarer Verfassung eine spezielle Norm, die Rechte nationaler
Minderheiten auch im Schulwesen betraf (Art. 113 WRV): „Die fremdsprachigen Volksteile des Reiches dürfen
durch die Gesetzgebung und Verwaltung nicht in ihrer freien, volkstümlichen Entwicklung, besonders nicht im
Gebrauch ihrer Muttersprache beim Unterricht sowie bei der inneren Verwaltung und der Rechtspflege beeinträchtigt werden.“ Mit dieser Regelung wurde 1919 an die liberale Tradition der Paulskirchenverfassung von
1849 angeknüpft, deren § 188 mit Art. 113 WRV fast wörtlich übereinstimmt. Weitere Gründe für die Aufnahme
des Art. 113 in die Weimarer Verfassung und einer ähnlichen Bestimmung in die Preußische Verfassung von
1920 waren mittelbar auch außenpolitischer Art. Dem Ausland, vorrangig Polen, sollte ein gutes Beispiel für die
Behandlung der deutschen Minderheiten besonders in Oberschlesien gegeben werden. Dies war auch ein wesentliches Motiv der relativ liberalen preußischen Schulpolitik gegenüber den nationalen Minderheiten. Die Unterschiede zur heutigen Rechtslage liegen darin, dass zu einer nationalen Minderheit im Sinne der Weimarer Verfassung keine Ausländer, sondern nur Reichsangehörige „fremder Nation“ gehörten, Hage RdJB 1982, 26.
1316
Vgl. dazu bereits Ausführungen unter A IV 3. Dieser Artikel bestimmt, dass Art. 7 Abs. 2 S. 1 GG keine
Anwendung in einem Lande findet, in dem am 01.01.1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand. Er
wurde vom Parlamentarischen Rat vor allem mit Rücksicht auf das Land Bremen eingeführt, in dem seit dem
Jahr 1799 bekenntnismäßig nicht gebundener Unterricht in biblischer Geschichte auf allgemein christlicher
Grundlage erteilt wird. Mit Art. 141 GG wollte man den föderativen Anspruch auf Gestaltung des Schulwesens
in seiner geschichtlichen Entwicklung anerkennen. Für die Ausnahmeregelung konnte Bremen neben seiner
Verfassung auch seine Tradition anführen. In Berlin bestand ebenfalls am 01.01.1949 eine andere Rechtslage,
Winter, NVwZ 1991, 753. Noch ausführlicher: Schlink/Poscher, Der Verfassungskompromiss zum Religionsunterricht, Baden-Baden 2000, S. 86ff.; Mückl, AöR 122, 513.
1317
Korioth, NVwZ 1997, 1041 m. w. N.; Eiselt, DÖV 1981, 205.
1318
Gegenstand des Religionsunterrichts ist eine bestimmte Religion, ein Bekenntnis, d.h. es werden Glaubenswahrheiten einer Religionsgemeinschaft als solche gelehrt. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er dogmatischer
Unterricht ist, in dem eine bestimmte Heilslehre und sonstige Glaubenssätze mit absolutem Wahrheitsanspruch
vorgetragen werden. Charakteristisch ist, dass nicht nur gesagt wird, was geglaubt wird, sondern dass auch und
vor allem gesagt wird, was geglaubt werden soll. Nicht dagegen eine bloße Religionskunde, die überkonfessionell, vergleichend und historisierend eine relative Betrachtung religiöser Lehren vornimmt, also Information
betreibt und nicht die Qualifikation eines Religionsunterrichts im grundgesetzlichen Sinne. Religionsunterricht
setzt neben der reinen Wissensvermittlung auch eine intellektuelle Auseinandersetzung mit den Inhalten voraus,
Haratsch, Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, Stuttgart 2001, S. 106; Daneben gibt es noch eine
den Regelunterricht ergänzende Vermittlung der Muttersprache, die verbunden ist mit einer Unterweisung landeskundlicher Aspekte des Heimatlandes, Details dazu bei Langenfeld, AöR 123, 375.
1315
279
„Unternehmer“ des Religionsunterrichts.1319 Die staatliche Schulaufsicht gemäß Art. 7 Abs. 1
GG erstreckt sich auch auf den Religionsunterricht, so dass den Staat grundsätzlich eine Verantwortung für dessen Inhalte trifft. Warum sollte der deutsche Staat sich aber gerade um die
Erweiterung des Religionsunterrichts auf islamische Lehren erstrecken und warum haben
Muslime ein Interesse an staatlichem islamischem Religionsunterricht? Wie kurz zuvor bereits angedeutet, lassen sich die Motive des deutschen Staates auf einen zentralen Punkt zusammenfassen: Es geht im Grunde genommen um die Befriedigung eines Sicherheitsbedürfnisses, eine Gefahrenvorsorge, Prävention gegen eine den Zusammenhalt des Gemeinwesens
bedrohende Partikularisierung innerhalb der Gesellschaft und in der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens, das auf die Tüchtigkeit seiner Bürger aufbauen muss. Der Staat
muss deshalb, um z.B. der Terrorgefahr entgegentreten zu können, die Möglichkeit individueller Glückseligkeit garantieren, ohne inhaltliche Vorgaben zu machen. So darf nicht zugrunde gelegt werden, dass die deutsche Lebensweise (wie diese auch konkret auszusehen vermag) die richtige ist, aber der Staat muss jedem die Einsicht in jene gewähren, damit sich jeder seine eigene Meinung hierüber bilden kann, aber eben auch ohne das Gefühl, einem Kulturimperialismus ausgesetzt zu sein. Des Weiteren agiert der Staat so gerade auch im Interesse
des Individuums selbst als Chance und Voraussetzung für eine erfolgreiche Lebensgestaltung.
Gerade die Fremdheit der religiösen Kultur ist aber auch Grund für die Aufmerksamkeit des
Staates und eine Reihe von Wertvorstellungen, die für schwer oder gar unvereinbar mit einer
demokratisch verfassten Gesellschaft gehalten werden.
Aus dieser Motivationslage heraus bekundet der Staat zunächst sein Interesse daran, dass islamische Glaubenslehre nicht in den seinem Einflussbereich entzogenen privaten Koranschulen stattfindet, die zum Teil in Verdacht stehen, radikalen politisch-religiösen Gruppen ein
verborgenes Tätigkeitsfeld zu eröffnen.1320
3. Verfassungsrechtliche Bedenken eines islamischen Religionsunterrichts und die Bedeutung des Kooperationsverhältnisses zwischen Staat und Religionsgemeinschaft
Schwerer wiegt der Vorwurf, ein islamischer Religionsunterricht 1321 an deutschen Schulen sei
1319
Korioth, NVwZ 1997, 1041 m. w. N.
Die große Bedeutung dieser Korankurse erschließt sich vor allem dann, wenn man sich vor Augen führt,
welch hohe Anzahl an Teilnehmern dort zu finden sind: Der Korankurs stand und steht im Mittelpunkt der Aktivitäten aller islamischer Vereine. Ausnahmslos alle Organisationen bieten diese an. Die Zahl der muslimischen
Kinder unter 16 Jahren betrug im Jahre 1998 750.000, wovon etwa 700.000 die Kurse besuchen. Allein der
ICCB (türkisch-islamischer Dachverband, auch Kalifatstaat genannt, formierte sich 1985 als Abspaltung von der
IGMG und wurde 2001 von Bundesinnenministerium verboten) und das IKZ (1969 in Köln gegründet und zählt
neben der IGMG zu den größten islamischen Spitzenverbänden) führen etwa 1500 Korankurse für 50.000 Schüler durch. In der Türkei dürfen weder Vorschulkinder noch Grundschüler an den Korankursen teilnehmen; bei
den islamistischen Vereinen hingegen werden auch Vorschulkinder im Korankurs unterrichtet; SpulerStegemann, Muslime in Deutschland, Freiburg 2002, S. 94.
1321
Einen Überblick bieten Reichmuth/Bodenstein/Kiefer, Staatlicher Islamunterricht in Deutschland, die Modelle in NRW und Niedersachsen im Vergleich, Berlin 2006; Dietrich, Islamischer Religionsunterricht, Frankfurt
am Main 2006; Anger, Islam in der Schule, rechtliche Wirkungen der Religionsfreiheit und der Gewissensfreiheit sowie des Staatskirchenrechts im öffentlichen Schulwesen, Berlin 2003; Bock, RdJB 2001, 330; Emenet,
Verfassungsrechtliche Probleme einer islamischen Religionskunde an öffentlichen Schulen, Frankfurt am Main
2003; Gebauer RdJB 1998, 263; Loschelder, KuR 1999, 137; Rohe, ZRP 2000, 207; Spriewald, Rechtsfragen im
1320
280
deshalb nicht möglich, da verschiedene Vermittlungsinhalte des Korans gegen die Werteordnung des Grundgesetzes verstießen. Es stellt sich in diesem Zusammenhang also die Frage
nach etwaigen materiellen Voraussetzungen.
Über die Qualifizierung als Religionsgemeinschaft hinaus, muss die betreffende Gemeinschaft die Gewähr für die Einhaltung der grundlegenden Verfassungswerte i.S.d. Art. 79 Abs.
3 GG, der Grundrechte Dritter sowie der Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und
Staatskirchenrechts des Grundgesetzes bieten.1322 Das legitimatorische Fundament der genannten Grundprinzipien, vgl. auch die Präambel des Grundgesetzes, ist das Prinzip der Republik als Prinzip einer auf Freiheit gegründeten, jeden Anspruch einer Herrschaft aus höherem Recht abweisenden säkularen Ordnung1323, somit könnte als ungeschriebene Verfassungsvoraussetzung eine gewisse Rechtstreue1324 zu fordern sein. Von einer Religions- oder
Weltanschauungsgemeinschaft, die den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts
anstrebt, könnte weiterhin zu fordern sein, dass sie das staatliche Recht nicht nur grundsätzlich oder prinzipiell, sondern uneingeschränkt achtet und befolgt. Schwieriger fällt die Antwort auf die gerade für den Islam bedeutsame Frage, wo im Religionsunterricht die Grenzen
für religiöse Forderungen nach einer Veränderung der Gesellschaft und des Staates liegen.
Darf im Religionsunterricht eine strenge, staatlich vorgegebene gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen propagiert werden? Darf die Einheit von Staat und Religion gefordert werden? Darf die Einführung der Prügelstrafe, die nach unserem Verständnis
mit der Achtung vor der Menschenwürde unvereinbar ist, für bestimmte Delikte gefordert
werden?
In Anlehnung an die Zeugen-Jehovas-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts1325 zum
Erwerb des staatskirchenrechtlichen Körperschaftsstatus fordert das Bundesverwaltungsgericht unter dem Stichwort der „Verfassungstreue“, dass eine die Einführung von Religionsunterricht begehrende Religionsgemeinschaft Gewähr dafür bieten müsse, dass ihr künftiges
Verhalten die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die
dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter, sowie die Grundprinzipien des Religions- und Staatskirchenrechts des Grundgesetzes nicht gefährde.1326 Diese Verfassungstreue-Anforderung war in der Rechtsprechung bisher nicht anerkannt.1327
Dabei kann offen bleiben, ob die Befolgung der staatlichen Rechtsordnung eine selbstverständliche Voraussetzung für die Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften
darstellt. Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG folgt diesem Wortlaut zunächst allerdings nicht. Das Erfordernis der Rechtstreue oder Verfassungstreue1328 folgt wiederum aus dem Rechtsstaatsprinzip
des Grundgesetzes und aus der Dogmatik zu den verfassungsimmanenten Schranken von vorZusammenhang mit der Einführung von islamischen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an deutschen
Schulen, Berlin 2003; Tilmanns, RdJB 1999, 471.
1322
Dreier, GG-Kommentar, Tübingen 2013, Art. 7 Rn 93; so auch: Maunz, Der Religionsunterricht in verfassungsrechtlicher und vertragskirchenrechtlicher Sicht, München 1974, S. 47.
1323
BVerfGE 102, 370.
1324
So auch Tillmanns, DöV 1999, 441.
1325
BVerfGE 102, 370.
1326
BVerwG, NJW 2005, 2101.
1327
Siehe aber zu ähnlichen Forderungen in der Literatur Frisch, DÖV 2004, 462; Korioth, NVwZ 1997, 1041;
Muckel, JZ 2001, 58; Hillgruber, JZ 1999, 538.
1328
Fechner, NVwZ 1999, 735; Muckel, JZ 2001, 58.
281
behaltlos gewährten Grundrechten. Dementsprechend würden dem Anspruch aus Art. 7 Abs.
3 GG genauso wie dem Grundrecht aus Art. 4 GG nach dem Grundsatz der Einheit der Verfassung durch andere Bestimmungen des Grundgesetzes Schranken gezogen.
Die Lösung dieses Problems kann also nur dahingehend gesucht werden, dass die Reichweite
der Rechtfertigung durch das staatliche Aufsichtsrecht im Lichte von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2
GG zu bestimmen ist, damit das Grundrecht der Religionsfreiheit auch für den Religionsunterricht möglichst effektiv wirken kann. Einen solchen differenzierten Verhältnismäßigkeitsmaßstab, der auf die Wechselwirkungskonzeption des Lüth Urteils1329 zurückgeht und im vorliegenden Zusammenhang einerseits die Religionsfreiheit und andererseits die damit kollidierenden Rechte Dritter oder sonstige Verfassungsgüter in ein angemessenes Verhältnis bringen
will, zieht das Bundesverfassungsgericht in seiner neueren Rechtsprechung auch heran, um
den Umfang der Schranke des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften der
Religionsgemeinschaften nach Art. 137 Abs. 3 WRV zu bestimmen.1330 Die Konstellation des
Art. 137 Abs. 3 WRV kann mit der des Art. 7 Abs. 3 GG verglichen werden: Der Religionsunterricht stellt ebenso wie das Selbstbestimmungsrecht ein staatliches Entgegenkommen an
die Religionsgemeinschaften dar, um eine Verwirklichung der Religionsfreiheit zu optimieren. Die Grenze dieser Privilegierung ist hier das staatliche Aufsichtsrecht. In beiden Fällen
muss die genaue Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Religionsgemeinschaft
der Realisierung dieses Zweckes dienen. Beim Religionsunterricht kann das staatliche Aufsichtsrecht nur dort eine Rechtfertigung bieten, wo die Abwägung ergibt, dass Interessen des
Staates berührt sind, hinter denen die Religionsfreiheit zurücktreten muss. Darauf basierende
Eingriffe müssen mindestens den Schutz gleichrangiger Güter bezwecken, da anderenfalls die
Religionsfreiheit bereits wegen ihrer Stellung in der Normenhierarchie bei der Abwägung
dominiert. Es kommt also entscheidend darauf an, Kriterien für die Abwägung zu finden.
Abstrakt muss sich diese Abwägung daran orientieren, dass der Religionsgemeinschaft soviel
Raum für ihren Glauben und dessen Vermittlung in der Schule wie möglich bleibt und sich
das staatliche Interesse an der Beachtung sonstiger Verfassungsgüter nur dort durchsetzen
soll, wo der Staat des Grundgesetzes und seine wesentlichen Prinzipien in der Glaubenslehre
abgelehnt werden. Als Grenze kommen in diesem Zusammenhang beispielsweise religiös
begründete Vorstellungen in Betracht, bei deren Verwirklichung der Staat die Achtung und
den Schutz der Menschenwürde als tragendes Konstitutionsprinzip und obersten Grundwert
der freiheitlichen, demokratisch verfassten Grundordnung, sowie den Schutz menschlichen
Lebens und körperlicher Unversehrtheit gegenüber religiös motivierten Handlungen durchsetzen müsste, ihn also eine Schutzpflicht treffen würde. Bei dem Verhältnis des Staates zur Gesellschaft und der Rolle, die die Religionsgemeinschaft dort einnehmen soll, stellt sich die
Frage, wie sich die Religionsgemeinschaft die staatliche Ordnung vorstellt und ob diese Vorstellung mit den dem Grundgesetz zugrunde liegenden Prinzipien zu vereinbaren ist.1331 Jede
Religionsgemeinschaft kann sich die Gestaltung der Welt und einer Staatsordnung, ganz
gleich, wie sehr sie von den fundamentalen Prinzipien des Grundgesetzes abweicht, so vorstellen, wie es ihr beliebt. Wenn diese jeweiligen Glaubenssätze jedoch im Religionsunter1329
BVerfGE 7, 198.
Haratsch, Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, Stuttgart 2001, S. 89.
1331
So auch Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, Tübingen 1989, S.
56.
1330
282
richt weitergegeben werden sollen, wird durch das staatliche Aufsichtsrecht eine andere Ebene beschritten. Werden die religiösen Lehren unter Inanspruchnahme staatlicher Einrichtungen und Mittel weitergegeben, kann dies nur unter der Prämisse bestehen, dass die Religionsfreiheit unter Anerkennung der Voraussetzungen ihrer staatlichen Gewährleistung genutzt
wird und eine Nutzung dieser Freiheit gegen den sie gewährleistenden Staat unterbleibt. Das
Grundgesetz ermöglicht den Religionsunterricht, um Schüler an ihren jeweiligen Glauben auf
der Basis der verfassungsmäßigen Ordnung heranzuführen, nicht aber um ein der Schulpflicht
unterliegendes Forum zur Verfügung zu stellen, das diese verfassungsmäßige Ordnung zu
überwinden hilft.1332 In diesem Falle wird eine Abwägung ergeben, dass die fundamentalen
Prinzipien gegenüber der Glaubensfreiheit überwiegen. Die im Unterricht vermittelten Glaubenslehren einer Religionsgemeinschaft müssen also in ihrer weltlichen Dimension mit Prinzipien wie der Anerkennung der Religionsfreiheit und den Grundsätzen der religiösweltanschaulichen Neutralität des Staates zu vereinbaren sein. Enthält das Weltbild dagegen
Elemente wie die Dominanz des Glaubens über den Staat und Recht, wie bereits im Christen
tum und auch im Islam, oder die Privilegierung von Angehörigen der eigenen, wahren Religionsgemeinschaft in der staatlichen Ordnung, ist diese Vereinbarkeit nicht gegeben. Dasselbe
gilt, wenn der Grundsatz der Menschenwürde sowie die Prinzipien von Rechtsstaat und Demokratie mit der Konzeption der Glaubenslehre nicht zu vereinbaren sind.1333
Der Staat darf nicht hinnehmen, dass in dem vom Staat zu verantwortenden Religionsunterricht die staatliche Rechtsordnung unterwandert oder offen zum Rechtsbruch aufgerufen wird.
Entscheidend ist dabei nicht das formale Bekenntnis zur deutschen Rechtsordnung, wie es
sich in vielen Satzungen islamischer Vereinigungen findet, sondern dass sie tatsächlich eingehalten werden. Eine lediglich prinzipielle oder nur grundsätzliche Achtung und Befolgung des
staatlichen Rechts im Religionsunterricht genügt nicht. Aufrufe zum Rechtsbruch darf der
Staat gerade im sensiblen Bereich des Erziehungswesens nicht hinnehmen. Die Pflicht zur
Beachtung des staatlichen Rechts hindert hingegen nicht, dass religiöse Gebräuche und Praktiken, die gegen geltendes Recht verstoßen, thematisiert werden. Dabei wird es sich regelmäßig um Verhaltensweisen handeln, die vom Schutzbereich der Religionsfreiheit aus Art. 4
Abs. 1 bzw. Abs. 2 GG erfasst sind. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner ZeugenJehovas-Entscheidung angedeutet, dass es nicht durch jeden einzelnen Verstoß gegen Recht
und Gesetz die Gewähr rechtstreuen Verhaltens einer Religionsgemeinschaft in Frage gestellt
sieht. Erwartet werden müsse nur, dass die Religionsgemeinschaft im Grundsatz bereit sei,
Recht und Gesetz zu achten und sich in die verfassungsgemäße Ordnung zu fügen.1334 Sie
müssen die bei allen Wesensunterschieden von weltlichen und geistlichen Belangen die fundamentalen Verfassungsentscheidungen des ihnen mit der Einrichtung des Religionsunterrichts Rechte gewährenden Staates zumindest respektieren. Eine absolute Schranke stellt also
die sich in der Friedenspflicht des Bürgers konkretisierende Verfassungstreue zur Werteordnung des Grundgesetzes dar.1335
1332
Haratsch, Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, Stuttgart 2001, S. 92.
Im Ergebnis so auch Muckel, JZ 2001, 58.
1334
BVerfGE 102, 370.
1335
Mückl, AöR 122, 513.
1333
283
Als ordentliches Lehrfach1336 wird der Religionsunterricht zudem dem staatlichen Bildungsund Erziehungsauftrag zugerechnet. Deshalb muss er sich in das Gesamtkonzept der staatlichen Bildungs- und Erziehungsziele einfügen lassen. Ein Religionsunterricht, in dem religiöse
Intoleranz gepredigt oder zum Glaubenskampf aufgerufen wird, kann nicht geduldet werden,
weil er mit der staatlichen Erziehung zu Toleranz und Friedfertigkeit unvereinbar ist. Einen
derartigen Gegenunterricht zum staatlichen Unterricht darf der Staat in den öffentlichen Schulen nicht dulden.1337 Jeder Religionsunterricht muss sich demnach in das staatliche Bildungsund Erziehungskonzept einfügen lassen, also den von den einzelnen Bundesländern aufgestellten Erziehungszielen nicht widersprechen,1338 Im Rahmen einer solchen Freiheitsordnung
wäre es nämlich ein paradoxer Widerspruch, einen staatlich organisierten und finanzierten
Religionsunterricht zuzulassen, in dem mit missionarischem Eifer dafür geworben werden
dürfte, dass der Koran das Staatsgrundgesetz, der Islam die Staatsreligion und ein Muslim ein
Staatsoberhaupt zu sein habe.1339
Das Kriterium der Rechtstreue wird somit letztlich aus dem Prinzip der Einheit der Verfassung als „selbstverständliches Erfordernis“ vorausgesetzt, das keiner ausdrücklichen Erwähnung bedarf. Das Rechtstreueerfordernis soll sicherstellen, dass die öffentlich-rechtlich korporierten Religionsgemeinschaften hoheitliche Befugnisse im Einklang mit den Gesetzen ausüben. Zurückhaltung bei der Verleihung des Körperschaftsstatus an rechtsuntreue Gemeinschaften ist außerdem insbesondere wegen der erheblichen Privilegierungen der Körperschaften und der fehlenden Staatsaufsicht über korporierte Religionsgemeinschaften geboten. Zudem kann der Körperschaftsstatus nur unter engen Voraussetzungen wieder entzogen werden.1340 Es besteht also weitgehend Einigkeit dahingehend, dass dieses Verfassungstreueerfordernis von Religionsgemeinschaften eingefordert werden muss und erscheint auch im Hinblick auf die obigen Ausführungen zum Verfassungspatriotismus als sinnvoll begründbar.
Andererseits dürfen keine inhaltlichen Anforderungen staatlicherseits an den Religionsunterricht gestellt werden, die keine Anhaltspunkte im Schutz sonstiger Verfassungsgüter finden.
Aus diesem Grunde ist es fraglich, ob der Religionsunterricht sich nach staatlichen Bildungsund Erziehungszielen zu richten hat, sofern diese über den Schutz sonstiger Güter des Grundgesetzes hinausgehen. Zwar ist der Religionsunterricht an sich Bestandteil der staatlichen
Schulerziehung, doch auch wenn alle, sich aus dem Landesrecht ergebenden, Normen letztlich auf die Anordnung in Art. 7 Abs. 1 GG zurückgeführt werden könnten, die dem Staat
auch die Setzung von Lern- und Erziehungszielen erlauben, ändert das nichts daran, dass auch
Glaubensvermittlung im Religionsunterricht stattfinden soll. Abweichungen von den Erziehungszielen der übrigen Fächer sind also möglich. Beachtet werden müssen vielmehr die im
Grundgesetz selbst angelegten Grenzen für die schulische Glaubensvermittlung.
In der Partnerschaft mit den hoch-organisierten christlichen Großkirchen bereitet die Einrich1336
Vgl. allgemein zum Unterricht für ausländische Kinder: Jacobs, Ein- und Beschulungsmodelle für ausländische Kinder und Jugendliche, Frankfurt am Main 1982.
1337
So auch Muckel, JZ 2001, 58.
1338
Vgl. Hildebrandt, Das Grundrecht auf Religionsunterricht, Tübingen 2000, S. 236.
1339
Die Grenze der etwaigen Gestattung ist also dort zu ziehen, wo zu befürchten ist, dass die Lehrer der betroffenen Religionsgemeinschaft in diesem Unterricht in vollem Umfang oder doch hinsichtlich tragender Prinzipien
der Verfassung von staatlichen Bildungszielen abweichen, also ein Gegenunterricht stattfinden würde, so OVG
Berlin, NVwZ 1999, 786.
1340
Link, ZevKR 1998, 23.
284
tung des Religionsunterrichts grundsätzlich keine (besonderen) Schwierigkeiten. In Konsequenz der weltanschaulichen Neutralität des Staates spricht Art. 7 Abs. 3 GG aber nicht von
Kirchen und schon gar nicht von christlichen Kirchen. Trotz alledem kann heute als unbestritten gelten, dass der Staat neben dem elterlichen Erziehungsrecht eine eigene Erziehungsaufgabe in der Schule wahrnimmt. Dazu gehört auch die Vermittlung einer ethnischen Wertorientierung. Diese wertorientierte Erziehung kann der Staat aber gerade wegen seiner weltanschaulichen Neutralität nicht allein übernehmen, sondern in Kooperation1341 mit den Eltern
und den Religionsgemeinschaften.1342 Der Staat lässt die Wahrheitsfrage danach offen und
überlässt es den Bürgern wie auch den Religionsgemeinschaften zur eigenen Entscheidung1343
und schafft lediglich die weltlichen Rahmenbedingungen des Unterrichts. Dennoch findet
keine Herleitung dieser materiellen Anforderungen statt. Entweder sie fehlen gänzlich oder es
wird allgemein auf die Einheit des Grundgesetzes oder die Anlage des Religionsunterrichts im
Grundgesetz verwiesen. Für ein genaueres Verständnis der materiellen Anforderungen muss
zunächst die Frage geklärt werden, wie die Rechte der Ausgestaltung des Religionsunterrichts
zwischen Staat und Religionsgemeinschaften im Grundgesetz verteilt werden. In Art. 7 Abs. 3
GG wird die Zusammenarbeit allgemein als Gemeinschaftsaufgabe von Staat und Religionsgemeinschaft qualifiziert. Diese Verantwortungsgemeinschaft hat demnach zusammenzuwirken. Daraus folgt, dass der Staat weder privilegiert für den Inhalt verantwortlich ist, noch
schlechter gestellt werden soll. Dennoch, und darin liegt die Besonderheit gegenüber anderen
Fächern, kann der Staat den Unterrichtsinhalt nicht autonom festlegen. Über den inhaltlichen
Kern des Religionsunterrichts sagt das Bundesverfassungsgericht: „Sein Gegenstand ist (…)
der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Diese
als bestehende Wahrheiten zu vermitteln, ist seine Aufgabe.“1344
Eine strikte Trennung von Staat und Kirche lässt staatlicher Religionsunterricht dennoch eigentlich nicht zu. Dass es ihn in der deutschen Verfassungswirklichkeit trotzdem gibt, hat
neben den historischen zwei weitere Gründe: Da der Staat heute für einen ganz wesentlichen
Teil des Erziehungswesens verantwortlich ist, besteht für die christlichen Kirchen die Notwendigkeit, den Anspruch auf christliche Erziehung auch im staatlichen Bereich zu sichern,
wenn die christlich geformte Persönlichkeit als Erziehungsziel eine Chance behalten und
christliches Gedankengut als allgemein wirkende gesellschaftliche Kraft erhalten werden soll.
Diesem Interesse der Kirchen steht, und dies ist der zweite Grund, das Interesse des Staates
gegenüber, das Erziehungswesen so zu gestalten, dass Werte und Normen tradiert und weiterentwickelt werden, die einer demokratischen Gesellschaft entsprechen. Nun sind die geltenden Normen und Werte in unserer Gesellschaft historisch wesentlich vom Christentum her
geprägt, Rechts- und Demokratieverhältnis ebenso wie etwa die Begriffe Freiheit, Gerechtigkeit oder Solidarität. Im Hinblick auf die Werterziehung sind somit Staat und Kirche im selben historisch-gesellschaftlichen Feld kooperativ tätig. Der Religionsunterricht ist also mit
anderen Worten ein Schnittfeld zweier miteinander konkurrierender gesellschaftlicher Interes1341
Vgl. dazu Hennig, ZAR 2007, 133.
Insoweit herrscht in Rechtsprechung und Lehre weitgehende Einigkeit, a. A. lediglich Stock, NVwZ 2004,
1399. Vgl. allgemein Frisch, DÖV 2004, 462; Heckel, Der Rechtsstatus des Religionsunterrichts im pluralistischen Verfassungssystem, Tübingen 2002; Link, ZevKR 47, 449; Mückl AöR 122, 123.
1343
Heckel, Der Rechtsstatus des Religionsunterrichts im pluralistischen Verfassungssystem, Tübingen 2002, S.
29.
1344
BVerfGE 74, 244.
1342
285
sen, in dem es um gesellschaftliche und religiöse Erziehungsziele und Inhalte zugleich geht.
Es besteht Einigkeit, dass Religionsunterricht weder Katechese noch Sozialkunde ist, dass
vielmehr Glaubenstradition und Glaubensgrundsätze mit den Fragen, die sich aus der konkreten individuellen und gesellschaftlichen Lebenswelt der Schüler und Schülerinnen ergeben,
verbunden werden müssen. Der Religionsunterricht muss pädagogisch inhaltlich integraler
Bestandteil des schulischen Lernens insgesamt sein. Er muss dabei seinen Anteil an der Erziehung für eine demokratische Gesellschaft tragen.
Was bedeutet dies für den islamischen Religionsunterricht? Welche Ziele und Inhalte sollte er
beinhalten? Es kann zunächst als tatsächlich zugrunde gelegt werden, dass nicht von einer
gemeinsamen historischen Grundlage im Bereich der Werte und Normen gesprochen werden
kann. Also scheint das Schnittfeldmodell als Kooperationsgrundlage von Staat und Religionsgemeinschaft für den Islam nicht in Frage zu kommen. Allerdings kann dem Bericht über die
Entwicklung der islamischen Unterweisung in Nordrhein-Westfalen1345 entnommen werden,
dass beide Seiten, die Muslime in Deutschland und der deutsche Staat, offenbar ein großes
Interesse an der Einrichtung von islamischem Religionsunterricht haben.1346 Der Blick richtet
sich also auf die jeweiligen Interessenlagen. Die auf diese Weise den Religionsgemeinschaften zugewiesene Letztentscheidung für die Unterrichtsgestaltung könnte jedoch gleichfalls
nicht uneingeschränkt bestehen, weil der Religionsunterricht nämlich außerdem dem staatlichen Aufsichtsrecht untersteht. Es kommt also nicht in Betracht, dass die staatliche Aufsicht
auf den organisatorischen Bereich beschränkt wird und die Verantwortung der inhaltlichen
Aufsicht allein an die Religionsgemeinschaften übergeht. Eine so strikte Trennung und isolierte Betrachtung entspricht nicht dem Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates. Die Rolle des Staates kann sich demnach nicht auf eine reine Intendarfunktion beschränken.1347 Das
Bundesverfassungsgericht versteht die Schulaufsicht im Sinne des Art. 7 Abs. 1 GG als Befugnis des Staates zur Planung und Organisation des Schulwesens mit dem Ziel, ein Schulsystem zu gewährleisten, das allen jungen Bürgern gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen
gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet. Deshalb gehören
zur staatlichen Gestaltungsbereich nicht nur die organisatorische Gliederung der Schule und
die strukturellen Festlegungen des Ausbildungssystems, sondern auch das inhaltliche und
didaktische Programm der Lehrvorgänge sowie das Setzen der Lernziele und die Entscheidung darüber, ob und inwieweit diese Ziele von dem Schüler erreicht worden sind. 1348 Dieses
nach Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG grundsätzlich auch für den Religionsunterricht geltende Recht des
Staates steht nun in einem offenen Spannungsverhältnis zu der Gestaltungsdominanz der Religionsgemeinschaften. Wie kann dieses Spannungsverhältnis gelöst werden?
Man könnte zunächst daran denken, dass Art. 7 Abs. 3 GG als eine Ausnahmeregelung für
das Fach Religion ist, dass also das Nebeneinander beider Rechte hier nicht zur Anwendung
gelangt. Für den generellen Ausschluss einer solchen inhaltlichen Überprüfbarkeit, z.B. unter
Hinweis auf die gegenläufigen Rechte aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG, lässt sich aus dem
1345
Details bei Gebauer, RdJB 1989, 263.
Das NRW-Modell im Detail, vgl. Stock, NVwZ 2004, 1399.
1347
A.A. dagegen Rohe, ZRP 2000, 207.
1348
BVerfGE 34, 165; vgl. auch Schmidt-Kammler, Elternrecht und schulisches Erziehungsrecht nach dem
Grundgesetz, Berlin 1983; Böckenförde, Elternrecht - Recht des Kindes - Recht des Staates, Münster 1980; Huber, BayVBl. 1994, 545; Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, Freiburg/München 1981; von Campenhausen, ZevKR 20 (1989), 135.
1346
286
Grundgesetz jedoch nichts entnehmen.1349 Im Gegenteil, es bezieht den Religionsunterricht
gerade in das staatliche Schulwesen mit ein und unterstreicht dies durch die Regelung des Art.
7 Abs. 3 S. 2 GG. Dies erscheint als eine gegenüber der allgemeinen Religionsfreiheit geschaffene Einschränkung, die Beachtung erlangen muss, weil anderenfalls das auf den Religionsunterricht erstreckte staatliche Aufsichtsrecht leer laufen würde. Die Unterrichtsinhalte
werden also nicht ausnahmslos über die Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG
geschützt. Die entscheidende hieraus resultierende Frage ist daher, in welchem Maße die materielle Gestaltung der Unterrichtsinhalte durch die Religionsgemeinschaft beschränkt werden
kann.
Eine Religionsgemeinschaft wird selbstverständlich grundsätzlich von Art. 4 Abs. 1 und Abs.
2 GG darin geschützt, auch eine von ihrem Glauben vorgegebene Staats- und Gesellschaftsordnung zu vertreten, die von der Ordnung des Grundgesetzes abweicht; allerdings darf sie
diese Vorstellung nicht im Religionsunterricht weitergeben. Sie muss die Lehrinhalte entweder den staatlichen Begrenzungen anpassen oder auf die Erteilung des Religionsunterrichts
ganz verzichten. Im letzten Fall bleibt der Religionsgemeinschaft nur die außerstaatliche religiöse Unterweisung.1350
4. Koranschulen als Alternative zum islamischen Religionsunterricht?
Die Möglichkeit einer außerstaatlichen religiösen Unterweisung ist in den Koranschulen zu
sehen. Möglicherweise kann einer institutionellen Garantie eines islamischen Religionsunterrichts entgegen gehalten werden, dass ein konkreter Bedarf deswegen nicht besteht, weil sich
die islamische Gemeinschaft bereits auf Koranschulen1351 verständigt hat, die eben die Aufgabe übernommen haben, die der Staat im Rahmen seines islamischen Religionsunterrichts
gehabt hätte.
Koranschulen sind zunächst einmal „schulähnliche“ Einrichtungen der verschiedenen Organisationen wie beispielsweise Internate und Schulungsheime, in denen die Schüler in den Korankursen unterwiesen werden.1352 Die islamischen Vereinigungen geben selbst allerdings
keine genauen Informationen über die Form, die Anzahl und den Inhalt der angebotenen Korankurse nach außen. Veranstalter von Korankursen achten in der Regel auf strenge Geheimhaltung und verbieten den Kindern, über die Korankurse zu sprechen.1353 Deshalb kann bei
der inhaltlichen Beurteilung nur auf Berichte von ehemaligen Teilnehmern zurückgegriffen
werden. Die Kurse finden außerhalb der Schulzeit in Moscheen, in Vereinsräumen oder in
einem dafür vorgesehenen Unterrichtsraum für Kinder im Alter von vier bis 15 Jahren statt.
1349
So auch Hildebrandt, Das Grundrecht auf Religionsunterricht, Tübingen 2000, S. 71.
Hildebrandt, Das Grundrecht auf Religionsunterricht, Tübingen 2000, S. 238.
1351
Zu der Möglichkeit der Errichtung privater Bekenntnisschulen, vgl. Isensee, in: Muckel, Kirche und Religion
im Sozialen Rechtsstaat, in: FS Rüfner, Berlin 2003, S. 297ff.
1352
Die traditionellen Korankurse sind aus den früheren Bildungskursen für Erwachsene entstanden. In der frühen Zeit des Islam hatte sich die Tradition eingebürgert, dass angesehene Theologen nach den Gottesdiensten
ihren Zuhörern die Texte des Koran und der Überlieferungen erläuterten. Dabei wurden stets kleinere und größere Texte memoriert. Daraus entstanden gegen Ende des 10. Jahrhunderts die Koranschulen für Kinder, Tepecik,
ZAR 2003, 240.
1353
Thoma-Venske, Islam und Integration, Hamburg 1981, S. 23.
1350
287
Da es nach den Regeln des Islam streng verboten ist, Mädchen und Jungen zusammen zu unterrichten, wird der Unterricht nach Geschlechtern getrennt gehalten. Die Inhalte gestalten
sich so, dass der in Arabisch geschriebene Koran und die Einzelkapitel (Suren) auswendig
gelernt werden und den Schülern Verhaltensregeln für das alltäglich religiöse, aber auch das
weltliche Leben vermittelt werden. Nur in seltenen Fällen werden die Texte übersetzt oder
erfahren eine Erklärung. Weiterhin finden Korankurse oft unter Bedingungen statt, die Ort
und Inhalt jener Kurse verschleiern sollen. Lehrer der staatlichen Schulen berichten regelmäßig sowohl von einer starken zeitlichen Beanspruchung der Schüler durch solch zusätzliche
Korankurse, zum anderen von integrationsfeindlichen Auswirkungen.1354 Als problematisch
erscheine auch, dass die Hodschas (Lehrer) aus den eigenen Reihen der türkischen Arbeitsmigranten ausgewählt werden und diese weder über eine fachliche noch über eine pädagogische Ausbildung verfügen. Folglich liegt die Vermutung nahe, dass man von einem inhaltlich
und pädagogisch defizitären Unterricht ausgehen kann. Die Hodschas verfügen nicht über die
Fähigkeit, didaktische Lernkonzepte zu erarbeiten und einzusetzen oder auf die altersgemäßen
Belange und Bedürfnisse der Schüler einzugehen. Schließlich unterliegt der Unterricht einer
strengen Disziplin, so dass auch von Prügelstrafen berichtet wird.1355 Eine solch ausgerichtete
Ausbildung hat zur Folge, dass die Kinder mehr oder weniger nur ein subjektives Wissen erwerben, das der jeweilige Hodscha besitzt. Darüber hinaus erschweren die unangemessenen
Erziehungsmethoden die Lernfähigkeit sowie die psychische Persönlichkeitsentwicklung der
türkischen Kinder und Jugendlichen und machen damit eine individuelle und kulturelle Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt äußerst problematisch.
Eine islamische Werteordnung für einen so erheblichen Bevölkerungsanteil birgt, wenn sie
allein dem Zugriff privatrechtlich organisierter Gemeinden und Vereinen überlassen bleibt,
die Gefahr in sich, dass eine religiöse Subkultur entsteht, die nicht mit den demokratischen
Grundlagen der Gesamtgemeinschaft harmoniert.1356 So wird beispielsweise die dortige Unterweisung Berichten zufolge mit autoritären Methoden betrieben1357 und führt schon aus diesem Grund zu ernsten Kollisionen mit den Integrationsbestrebungen des deutschen Schulwesens. Lehrer deutscher Schulen berichteten bei einer von der hamburgischen Schulbehörde
durchgeführten Umfrage1358, die Koranschüler würden durch die Doppelbelastung überfor1354
Füssel, RdJB 1985, 74.
Ein Artikel in der türkischen Tageszeitung Hürriyet im Oktober 2001 belegt dies: Ein Neunjähriger einer
türkischen Familie berichtet darin, dass er während seines Aufenthaltes in einer Koranschule mehrmals geschlagen worden sei: „Jeden Morgen um fünf Uhr wurden wir zum Gebet geweckt. Einmal habe ich verschlafen, da
riss mich der Hodscha mit Gewalt von dem Doppelbett herunter auf den Boden. In den Korankursen hat der
Hodscha auch immer einen langen Stock neben sich liegen. Wenn wir nichts wussten, dann schlug er damit
immer auf unseren Rücken und auf unsere Beine. Ich möchte nicht mehr dahingehen.“ Tepecik, ZAR 2003, 240
m. w. N.
1356
So legte schon im Jahre 1976 das Rektorat einer Grundschule in Duisburg einen Beschwerdebericht über
Koranschulen vor, in dem es seine Bedenken gegenüber den in Duisburg betriebenen Korankursen und den
Auswirkungen dieser Kurse auf die türkischen Schüler zum Ausdruck brachte. Weitere Beschwerdebriefe zu den
Koranschulen folgten damals vom türkischen Lehrerverband NRW, Jugendämtern, Schulen und Parteien. Es
wurden Untersuchungskommissionen eingerichtet, die sich mit dem Problem der Korankurse auseinandersetzten.
Die Studie des DGB sowie die Dokumentation des HDF von 1980 erhoben gravierende Vorwürfe gegenüber den
Korankursen türkisch-islamistischer Vereine. Den Veranstaltern von Korankursen wurde lange Zeit der Vorwurf
gemacht, dass sie fanatische religiös-politische Erziehung betrieben. So wurden die Koranschulen in der kritischen Literatur auch als Orte der „politischen Kaderschulung“ oder als „ Brutstätte der ideologischen Propaganda“ beschrieben; Details bei Tepecik, ZAR 2003, 240 m. w. N.
1357
Stempel, RdJB 1982, 58.
1358
Stempel, RdJB 1982, 58.
1355
288
dert, seien im Unterricht unkonzentriert und vernachlässigten ihre Hausaufgaben. Es werde in
den Koranschulen zu deutlicher Abgrenzung zwischen deutscher und türkischer Lebensweise
aufgefordert und Intoleranz gegenüber der deutschen Bevölkerung gefördert. Unruhiges Verhalten, schlechte Lernleistungen und prowestliche Äußerungen würden mit Schlägen bestraft.
Mädchen würden auf die traditionelle Rolle der Frau in der Familie festgelegt. Als wahr unterstellt, würde dies bedeuten, dass Muslime vor allem politische Ziele verfolgen und jugendbezogene Aktivitäten nutzen, u.a. auch den Korankurs, für die Umsetzung ihrer ideologischen
Propaganda. Sie versuchen durch die Erziehung der nachkommenden Generationen den Fortbestand ihrer Ideologie und die Realisierung ihrer politischen Ziele zu gewährleisten, wobei
zu beachten ist, dass das vornehmlichste Ziel der Islamisten die Weltherrschaft des Islam ist,
wofür sie auch die muslimische Jugend mobilisieren und gleichzeitig die türkischen Jugendlichen von den westlichen Einflüssen fernhalten wollen.1359 Offen äußerte sich der ICCB1360 in
seiner Publikation: „Die islamistische Jugend ist aufgebrochen, um den Koran zur Verfassung
zu machen und das Schariat zum Gesetz zu erheben.“1361 In ihren zahlreichen Reden und
Schriften propagieren sie so die Errichtung eines Gottesstaates, also einer Gesellschaft nach
den Gesetzen des Korans und der Scharia. Die Islamisten vertreten häufig die Ansicht, die
einzig gute und gerechte Ordnung zu kennen und beanspruchen auch die „Erlösung der ganzen Menschheit“ und betonen, dass die Menschheit noch nie so eine dunkle Phase wie unter
der Demokratie erlebt habe.1362
Derartige Berichte haben in den letzten Jahren häufig die Frage nach den rechtlichen Möglichkeiten des Staates zur Kontrolle der Koranschulen und ggf. des Einschreitens gegen diese
und deren betriebene Segregationspolitik aufgeworfen.
Als rechtliche Handhabe, also als Umsetzungsinstrumentarium hierfür, würde sich insbesondere das in Art. 7 Abs. 1 GG festgeschriebene Recht der Schulaufsicht des Staates anbieten.
Der betroffene Schutzbereich wird wiederum durch Art. 4 Abs. 2 GG gesichert, der die Freiheit, objektive Kultushandlungen im privaten, häuslichen, aber auch im öffentlichen Bereich
einzeln oder in Gemeinschaft vorzunehmen, gewährleistet.
Problematisch könnte sein, ob die Zusammenkünfte in den Koranschulen, die ja nicht der
Vornahme von Kultushandlungen im eigentlichen Sinne, sondern in erster Linie dem Erlernen
der dazu erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten sowie einer allgemeinen Erziehung in
Sinne des Islam dienen, als Teil einer Religionsausübung gesehen werden können. Allerdings
umfasst der grundrechtliche Schutz auch ein kultisches Handeln und die Werbung für den
eigenen Glauben. Dass die Freiheit der Religionsausübung noch gesondert in Art. 4 Abs. 2
GG angesprochen sei, resultiere aus einer Abwehrhaltung gegenüber Störungen der Religionsausübung unter der nationalsozialistischen Gesellschaft. Aus dieser gesetzessystematischen Aufspaltung könne jedenfalls nicht darauf geschlossen werden, dass der Begriff der
Religionsausübung auf einen kleineren Bereich zu beschränken sei als den der Bekenntnis1359
„Ein Bildungssystem, das eine unmoralische Weltanschauung des Westens beinhaltet, zwingt uns bedauerlicherweise gegen unseren Willen unsere Kinder zur Schule zu schicken. Ungläubig erzogene Kinder haben wir
als Endprodukt“; Flugblatt der IGMG-Berlin von 1980.
1360
ICCB ist der Verband islamischer Vereine und Gemeinden, dazu später noch genauer.
1361
Flugblatt der ICCB von 1993.
1362
Vgl. ausführlich zu zahlreichen ähnlichen Aussagen islamischer Verbände: Tepecik, ZAR 2003, 240.
289
freiheit.
Wenn auch Koranschulen als Religionsausübung dem besonderen Schutz des Art. 4 GG unterstehen, ist dadurch nicht begrifflich ausgeschlossen, dass sie „Schulen“ im Rechtssinn sind
und damit auch dem Bereich des Schulwesens, in dem der Staat nach Art. 7 Abs. 1 GG Aufsichtsrechte ausübt, zuzurechnen sind. Dazu ist zunächst zu klären, was unter dem Begriff
„Schule“ im Rechtssinn zu verstehen ist. Für die staatlichen Schulen finden sich in den Landesschulgesetzen Definitionen.1363
Für den Bereich der Privatschulen1364, dem die Koranschulen, da sie keine öffentlichrechtlichen Anstalten sind, zugehören würden, findet sich allerdings keine Legaldefinition.
Der Schulbegriff der Schulgesetze kann allerdings auf den Privatschulbereich nicht unverändert übertragen werden. Aus dem Wesen der grundgesetzlich garantierten Privatschulfreiheit
(Art. 7 Abs. 4 S. 1 GG), deren Schutz gerade die Schaffung von Alternativen und Ergänzungen zum öffentlichen Schulwesen ermöglichen soll, ergibt sich, dass im Privatschulbereich
auch solche Einrichtungen als Schulen zu verstehen sind, die sich gerade nicht im Rahmen
der Schulgesetze vorgegebenen Schulformen bewegen. Hilfreich ist hier der in der Schulrechtliteratur herrschende Schulbegriff, der an die landesrechtlichen Legaldefinitionen, an die
Abgrenzung in § 6 der Vereinbarung der Unterrichtsverwaltungen der Länder in der Bundesrepublik Deutschland über das Privatschulwesen vom 10/11. August 1951 sowie die herkömmlichen Begriffsbestimmungen in der Literatur anknüpft. Nach ihm ist Schule eine „auf
gewisse Dauer berechnete, an fester Stätte unabhängig vom Wechsel der Lehrer und Schüler
in überlieferten Formen organisierte Einrichtung der Erziehung und des Unterrichts, die durch
planmäßige und methodische Unterweisung eines größeren Personenkreises in einer Mehrzahl
allgemeinbildender oder berufsbildender Fächer bestimmte Bildungs- und Erziehungsziele zu
verwirklichen bestrebt ist, und die nach Sprachsinn und allgemeiner Auffassung als Schule
angesehen wird.“1365
Ob Koranschulen diese Kriterien erfüllen, kann im Grunde genommen, aufgrund der limitierten vorliegenden Informationen nur begrenzt festgestellt werden, denn über ihre Anzahl, Organisation, Besucherfrequenz, Lehrinhalte, Lehrkräfte, Lehrerausbildung wissen die deutschen Schulverwaltungen eingestandenermaßen fast nichts, da nur extremistische Organisationen staatlich beobachtet werden können. Feststellen lässt sich aber zumindest, dass es sich
um Einrichtungen handelt, die auf gewisse Dauer berechnet und an fester Stelle unabhängig
vom Wechsel der Lehrer und Schüler tätig sind. Auch wird durch planmäßige und methodische Unterweisung, wenn auch möglicherweise mit im staatlichen Bildungswesen nicht akzeptierten Methoden, ein größerer Personenkreis, nämlich schätzungsweise im Durchschnitt
100 Schüler pro Koranschule1366, unterrichtet. Ziel der Unterweisung ist dabei, die Kinder zu
Verhaltensweisen gemäß den Regeln des Islam auszubilden. Probleme könnten sich jedoch
bei der Frage ergeben, ob tatsächlich eine Mehrzahl von Fächern unterrichtet wird. Zwar gibt
es auch in Koranschulen differenzierbare Unterrichtsgegenstände wie: Auswendiglernen von
Koranteilen auf Arabisch, die arabische Schrift, islamische Glaubenslehren und Verhaltensre1363
Vgl. z.B. § 1 und § 2 BremSchulG.
Vgl. zur Genehmigung privater Konfessionsschulen, Ladeur, RdJB 1993, 282.
1365
Heckel, Privatschulrecht, Köln 1955, S. 218; Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Band 4,
Teilband 1, Berlin 1972, S. 369ff.
1366
Stempel, RdJB 1982, 58.
1364
290
geln. Ob diese Bereiche jedoch die Qualität unterschiedlicher Unterrichtsfächer besitzen, ist
fraglich, da sie alle in engem Zusammenhang mit der islamischen Religion stehen und auch
arabische Schrift gelehrt wird. Zwar könnte man nun entgegnen, dass auch innerhalb herkömmlicher Unterrichtsfächer im staatlichen Schulwesen unterschiedliche Bereiche abgedeckt werden, wie z.B. im Fremdsprachenunterricht, wo auch Literatur- und Landeskunde
vermittelt wird. Andererseits stehen auch in den öffentlichen Regelschulen die einzelnen Unterrichtsfächer unter dem Vorzeichen der Bildungs- und Erziehungsziele. Besonders deutlich
wird diese Tatsache jedoch bei kirchlichen oder weltanschaulichen Privatschulen. So streben
etwa die evangelischen Privatschulen danach, das Evangelium, zur Grundlage von Schule und
Erziehung zu machen1367, auch hier stehen also alle Unterrichtssubjekte unter einem religiösen Aspekt. Dennoch ist auch hier für die Anwendbarkeit des Schulbegriffs nicht Voraussetzung, dass die unterrichteten Inhalte mit denen des öffentlichen Schulwesens vergleichbar
sind, da auch Schulen, wie die sog. Ergänzungsschulen, diesem Begriff unterzuordnen sind.
Dafür, dass die einzelnen inhaltlichen Bereiche, die in den Koranschulen gelehrt werden, den
Charakter von Unterrichtsfächern besitzen können, spricht nämlich wiederum die relativ hohe
Anzahl der wöchentlichen Ausbildungsstunden, die mehreren Fächern Raum gibt.
Man könnte weiterhin ergebnisorientiert argumentieren und auf den Sprachsinn und die allgemeine Auffassung abstellen, um auf diese Art und Weise Koranschulen zu Schulen im
Rechtssinn machen zu können, was den Vorteil hätte, dem Staat durch Art. 7 Abs. 1 GG eine
Ermächtigungsgrundlage zu Eingriffen liefern zu können. Allerdings kann es nicht als ausreichend erachtet werden, dass diese Institutionen im allgemeinen Sprachgebrauch als „Koranschulen“ tituliert werden. Zahlreiche Phänomene, die allgemein als Schulen bezeichnet werden, wie etwa in Kunst und Wissenschaft oder aber auf die Erlernung bestimmter Fertigkeiten
beschränkte Einrichtungen wie Fahr- ,Tanz- oder Reitschulen, sind keine Schulen i.S.v. Art. 7
GG, da die übrigen Schulbegriffskriterien fehlen. Ob nach allgemeiner Auffassung eine
„Schule“ vorliegt, könnte sich aber auch aus Abgrenzungen gegenüber anderen Einrichtungen
klären. Diese sind vorzunehmen gegenüber den freien Unterrichtseinrichtungen, die nur das
Ziel haben, bestimmte Fertigkeiten zu vermitteln, nicht jedoch, wie es in den Koranschulen
beabsichtigt wird, den Menschen als Ganzes, und zwar im Sinne des Islam, zu formen. Die
Ausgestaltung des Koranschulunterrichts kommt anscheinend der der öffentlichen Schulen in
gewisser Weise nahe. Zu nennen ist hier insbesondere der hohe von den Kindern zu leistende
Zeitaufwand von zwölf bis achtzehn Wochenstunden1368, der der Stundenzahl in öffentlichen
Schulen nahe kommt. Der auf die Eltern angeblich ausgeübte Druck, ihre Kinder in Koranschulen zu schicken, weist Parallelen zur staatlichen Schulpflicht auf. Ziel der Koranschulen
ist es, den Schülern Unterricht auf Gebieten zu erteilen, die das deutsche Schulwesen nicht
abdeckt. Ferner besteht die Funktion der Koranschulen offensichtlich darin, den von den herkömmlichen Schulen auf die türkischen Kinder ausgeübten Erziehungswirkungen, insbesondere Integrationsbestrebungen und Assimilationseffekten, entgegenzuwirken. Auch von ihrem
Anspruch als Gegenpol zum öffentlichen Schulwesen lässt sich eine gewisse Vergleichbarkeit
zu diesem herstellen.
Festzustellen ist demgegenüber allerdings, dass Koranschulen nicht zu einem Abschluss füh1367
1368
Heckel, Privatschulrecht, Köln 1955, S. 22.
Stempel, RdJB 1982, 58.
291
ren, der den an öffentlichen Schulen zu erreichenden entspricht. Die angebotenen Unterrichtsgegenstände sind zwar solchen, die im öffentlichen Schulwesen vorkommen, nicht völlig unähnlich, jedoch geht die religiöse Unterweisung an den Koranschulen über das an öffentlichen
Schulen gebotene Maß weit hinaus. Schließlich spricht auch das Selbstverständnis der Koranschulen gegen die Vergleichbarkeit mit öffentlichen Schulen. Ihr Ziel ist nicht, sich an die
Stelle der von den Kindern besuchten deutschen Schulen zu stellen. So wollen sie den Schülern nicht die Möglichkeit geben, ihre Schulpflicht statt in öffentlichen Schulen in Koranschulen zu erfüllen. Wesentliche Bereiche des allgemein bildenden Schulwesens, so z.B. der naturwissenschaftliche Teil, werden nicht abgedeckt. Auch findet der Unterricht nachmittags
statt, so dass den Schülern der Besuch des vormittaglichen Unterrichts an öffentlichen Schulen möglich bleibt. Demnach dürften Koranschulen, die den Schulbegriff erfüllen, als Ergänzungsschulen zu qualifizieren sein. Da einige Ähnlichkeiten zu dem bestehen, was mit Sicherheit unter dem Schulbegriff zu subsumieren ist, könnte, bei Vorliegen der übrigen Merkmale, als quasi Indizwirkung davon ausgegangen werden, dass die jeweilige Koranschule
nach allgemeiner Auffassung als Schule anzusehen ist. Ob diese Merkmale im Einzelfall jedoch wirklich gegeben sind, ist eine Tatsachen- und Einzelfallfrage. Nach den zur Verfügung
stehenden Erkenntnissen ist davon auszugehen, dass eine gewisse Anzahl von Koranschulen
Schulen auch im Rechtssinn sind und somit auch der staatlichen Aufsicht über das Schulwesen unterliegen. Wie weit diese Aufsichtsrechte dann im einzelnen reichen, richtet sich danach, ob es sich bei Koranschulen um private Ersatzschulen handelt, d.h. solche, die nach
dem mit ihrer Errichtung verfolgten Gesamtzweck als Ersatz für vorhandene oder von der
zuständigen Behörde grundsätzlich vorgesehene öffentliche Schulen dienen sollen, oder um
private Ergänzungsschulen, die zwar noch unter den Schulbegriff fallen, denen aber sonst die
Vergleichbarkeit mit öffentlichen Schulen fehlt. Nach alledem scheint die Besorgnis also
nicht unbegründet, dass eine fundamentalistische bzw. radikale Beeinflussung durch Koranschulen zunehme und die Integration der Muslime in die pluralistische Gesellschaft und in
den demokratischen Staat durch ihre Erziehung zur religiös verfestigten Abschließung und
Ablehnung der nichtislamischen Umgebung dadurch erschwert werden könnte.1369
Kann der Staat denn gegen Koranschulen vorgehen, wenn sich ein solcher Verdacht bestätigen würde? Dies ist eine Frage der landesrechtlichen Ermächtigungsgrundlagen, die in einem
solchen Fall anwendbar wären. Gegenüber Ergänzungsschulen geben die Schulgesetze grundsätzlich Eingriffsmöglichkeiten in drei Fällen. Der Betrieb der Schule kann untersagt werden,
wenn diese nicht den Anforderungen entspricht, die an sie zum Schutz der Schüler und der
Allgemeinheit zu stellen sind. Eine Untersagung kann auch erfolgen, wenn der Träger oder
der Leiter persönlich nicht geeignet sind, die Schule verantwortlich zu führen. Schließlich gibt
es noch eine Eingriffsermächtigung gegenüber den Ergänzungsschullehrern, die schulpflichtige Kinder unterrichten. Ihnen kann bei fehlender fachlicher Eignung die Tätigkeit untersagt
werden. Hinsichtlich des erstgenannten Eingriffstatbestandes decken sich die Schutzbereiche
der Normen mit jenem Schutzbereich der polizeilichen Generalklausel für nicht spezialgesetzlich geregelte Fälle. Der Terminus „Schutz der Allgemeinheit“ wird auch in der Generalklausel der Polizeigesetze verwendet.
Für die Auslegung spezialgesetzlicher Regelungen im Verhältnis zur polizeilichen General1369
Heckel, JZ 1999, 741.
292
klausel ist allerdings davon auszugehen, dass der Sinngehalt von Bestimmungen dem gleich
lautender Begriffe in den allgemeinen Gesetzen entspricht.1370 Auch fehlt es an einer ausdrücklichen inhaltlichen Absetzung von der Generalklausel, die auf Besonderheiten bei Eingriffen gegenüber Ergänzungsschulen schließen ließe.
Als beeinträchtigtes Rechtsgut der öffentlichen Sicherheit kommt hier zunächst die Gesundheit der Schüler in Frage, die durch die anscheinend in Koranschulen angewandte körperliche
Züchtigung beeinträchtigt werden kann. Körperliche Züchtigung kann auch gegen die objektive Rechtsordnung, etwa in Gestalt des § 223 StGB, verstoßen. Sie ist auch nicht als schulische Ordnungsmaßnahme gerechtfertigt, denn das Züchtigungsrecht der Lehrer gibt es nicht
mehr.1371 Erst recht ist ein bestehendes Gewohnheitsrecht als Grundlage für körperliche Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit nicht als ausreichend zu erachten.1372 Ihm steht die
Sperrwirkung des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG entgegen, die einen derartigen Eingriff nur aufgrund
eines Gesetzes zulässt. Selbst eine gesetzliche Einführung der Prügelstrafe müsste auf starke
verfassungsrechtliche Bedenken stoßen, da der durch Art. 19 Abs. 2 GG abgesicherte Menschenwürdegehalt eines jeden Grundrechts, hier in Bezug auf das der körperlichen Integrität,
angetastet würde. Über ein Züchtigungsrecht, das Lehrern an öffentlichen Schulen nicht zusteht, können auch Privatschulen nicht verfügen. Die Sanktionsgewalt der Koranschule entstammt im Wesentlichen nicht aus einer Delegation elterlicher Erziehungsrechte auf die Schule. Sie resultiert vielmehr aus dem Charakter der Koranschule als „Schule“. Das gesamte öffentliche und private Schulwesen ist durch Art. 7 Abs. 1 GG der Aufsicht des Staates unterstellt und dadurch als Gesamtgefüge mit gleichberechtigten Gliedern anerkannt. Daraus folgt,
dass eine Privatschule über die gleiche Ordnungsgewalt verfügt wie öffentliche Schulen und
daher keine weitergehenden Ordnungsmaßnahmen verhängen kann.1373 Schließlich ist jedoch
festzustellen, dass Mitglieder von Religionsgemeinschaften durch ihre Zugehörigkeit zu diesen Nachteile weltlicher Art in Kauf nehmen müssen. Sie unterwerfen sich in gewissem Maße
deren Ordnungen und Entscheidungen, denen sie nur durch Austritt entgehen können. Diese
Ordnung der Religionsgemeinschaften ist jedoch durch die Grundrechte begrenzt. Sie müssen
die körperliche Unversehrtheit und die Menschenwürde ihrer Mitglieder achten und dürfen
daher keine körperlichen Züchtigungen vornehmen.
Nach alledem beeinträchtigt die körperliche Züchtigung Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit und kann, wenn sie an einer Koranschule vollzogen wird, zu schulaufsichtsrechtlichem
Einschreiten führen.
Eine zusätzliche Gefährdung der Gesundheit der Koranschüler kann darin bestehen, dass sie
durch die zusätzlich zum normalen Schulbesuch entstehende starke zeitliche und geistige Inanspruchnahme psychisch und physisch überlastet werden. Anhaltspunkte ergeben sich daraus, dass türkische Schüler, die Koranschulen besuchen, offenbar in deutschen Schulen häufig unkonzentriert und übermüdet wirken und ihre Hausaufgaben nicht erledigen.
Aus pädagogischer und medizinischer Sicht ist zunächst zu fordern, dass die Ermüdung durch
Schule und Arbeit nicht so groß wird, dass eine volle Regeneration bis zum nächsten Morgen
1370
Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, Band 2, Köln 1986, S. 56.
Dies wurde spätestens 1973 abgeschafft, in der DDR bereits 1949.
1372
Maunz/Dürig, Grundgesetzkommentar, München 2013, Art. 2 Abs. 2 GG.
1373
Heckel, Privatschulrecht, Köln 1955, S. 307.
1371
293
nicht möglich ist. Eine Überbürdung durch Hausaufgaben muss daher vermieden werden. Bei
den Besuchern der Koranschulen kommt jedoch zu den täglichen Hausaufgaben noch ein bis
zu dreistündiger Unterricht am Nachmittag hinzu, so dass die Möglichkeit zur Regeneration
stark eingeschränkt ist. Folge davon können Zerschlagenheit und Abgekämpftheit, weiterhin
zunehmende Phasen der Reaktions- und Leistungsunfähigkeit sein. Wenn sich diese Entwicklung schließlich bis zur Erschöpfung steigert, erscheint dies als unhaltbarer Zustand.
Zwar handelt es sich bei der Gesundheit der Koranschüler um private Rechtsgüter, bei denen
ein ordnungsbehördlicher Eingriff i.d.R. durch den Vorrang gerichtlichen Schutzes ausgeschlossen ist. Allerdings gilt der Subsidiaritätsgrundsatz bei der Abwehr von Gefahren von
privaten Rechten und Rechtsgütern nicht, wenn besonders hochwertige Rechtsgüter wie Leben oder, wie hier, Gesundheit betroffen sind.1374 Wegen der mangelnden Freiwilligkeit des
Koranschulbesuchs kann hier wohl i.d.R. nicht von ausschließlicher Selbstgefährdung der
Schüler die Rede sein, zumal die gesundheitlichen Gefahren der Überlastung, die nicht so
evident wie bei der Züchtigung hervortreten, kaum ihrer Entscheidungsfreiheit unterliegen.
Ein Eingreifen der Schulaufsicht kann daher auch hier im Einzelfall angezeigt und geboten
sein.
Die objektive Rechtsordnung kann weiterhin auch dadurch tangiert sein, dass durch die Koranschulen Schüler dazu veranlasst werden, ihrer in den Schulgesetzen festgelegten Schulpflicht nicht ausreichend nachzukommen. Wegen möglicher Überlastung der Schüler ist zu
befürchten, dass diese nur noch unkonzentriert und übermüdet am Unterricht teilnehmen und
nicht in der Lage sind, ihre Hausaufgaben ordnungsgemäß und regelmäßig zu erfüllen. Die
Schulpflicht umfasst nämlich auch eine Verhaltenspflicht, die vom Schüler positives Verhalten wie aktive Mitarbeit im Unterricht, gewissenhafte Erledigung der Hausaufgaben, Einhaltung der Schulordnung und von den Eltern Ausstattung des Schülers mit Lernmitteln sowie
die Sorge dafür, dass der Schüler die Schule auch wirklich besucht.1375 Die Koranschulen
können durch zu starke Beanspruchung der Schüler diese veranlassen, gegen diese Pflichten
zu verstoßen und damit sogar Ordnungswidrigkeitentatbestände erfüllen. Auch insofern würde die objektive Rechtsordnung berührt.
Bestandteil der objektiven Rechtsordnung ist schließlich auch der in den Schulgesetzen verankerte Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule. Die Beeinflussung türkischer Kinder in
der Koranschule kann teilweise den hier verankerten Bildungs- und Erziehungszielen entgegenstehen. So sind die öffentlichen Schulen beauftragt, den Schüler (also auch den weiblichen) auf Arbeit und Beruf, öffentliches Leben, Familie und Freizeit vorzubereiten. Bestrebungen, die Frau auf eine untergeordnete, lediglich familiäre Funktion festzulegen, könnten
dem widersprechen. Im öffentlichen Schulwesen sollen auch alle Schüler darauf vorbereitet
werden, politische und soziale Verantwortung zu übernehmen und im Sinne der freiheitlichen
demokratischen Grundordnung an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken. Diesem Ziel
kann durch eine extremistische und nationalistische Beeinflussung in den Koranschulen entgegengewirkt werden, die sich auch gegen den Bildungs- und Erziehungsauftrag wenden
294
kann, den Schülern zu helfen, Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der
Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz zu gestalten. Problematisch ist jedoch, ob
durch die Beeinträchtigung der Verwirklichung der Bildungs- und Erziehungsziele ein für das
Vorliegen eines ordnungsbehördlichen Eingriffstatbestandes geeigneter Teil der objektiven
Rechtsordnung betroffen ist. Als Schutzgut im Bereich der öffentlichen Sicherheit könnte die
Einrichtung des Staates betroffen sein.
Wie bereits dargelegt, können die staatlichen Schulen durch die Aktivitäten der Koranschulen
bei der Erfüllung ihres Bildungsauftrages behindert und ihre Erziehungstätigkeit erschwert
werden. Andererseits schützen die sicherheits- und ordnungsrechtlichen Vorschriften nicht
bloße, von staatlichen Einrichtungen verfolgte, Zielvorstellungen und propagierte Inhalte. Sie
gewähren lediglich Schutz im räumlich-gegenständlichen Bereich. Der Staat genießt hier keine Sonderrechte, sondern lediglich den auch Privaten zustehenden Rechtsschutz. Er muss Beeinträchtigungen seiner Erziehungsziele genauso hinnehmen wie etwa Eltern, deren Kind von
der Großmutter verwöhnt wird. Hierin liegt eine bloße Belästigung, jedoch keine polizeilich
relevante Gefahr vor.
Der Bereich der öffentlichen Ordnung umfasst allerdings ein ungeschriebenes Verbot, die
religiöse Auffassung anderer herabzuwürdigen und den religiösen Frieden zu stören. Sollten
sich etwaige Herabwürdigungen der nicht-islamischen Bevölkerung öffentlich auswirken,
könnte unter diesem Aspekt auch hier die Schulaufsichtsbehörde zum Einschreiten berechtigt
sein.
Festzustehen scheint also, dass die Koranschulen abgeschottet für sich in einer Art Subkultur
stehen, weil sie von den Medien kaum beachtet werden und sich auch außerhalb des Kommunikationssystems der Gesellschaft bewegen, auf das ein funktionierendes demokratisches System bekanntlich als faktische Voraussetzung angewiesen ist.1376 Und da der Koran als unverändertes und unveränderbares Wort Gottes gilt, ist ein Hinterfragen oder Kritik des Korans
auf einer demokratischen Diskussionsebene kaum oder nicht möglich. Das bedeutet, dass das
Gelernte nie kritisch hinterfragt und somit ein eigenständiges Denken und reflexive Kritikfähigkeit der Schüler kaum zur Entwicklung gelangen kann. Aufgrund fehlender Aufklärungsund Auseinandersetzungsprozesse über die Lerninhalte in den Korankursen können die für
einen Entwicklungsprozess zur Mündigkeit elementarer Fähigkeiten wie selbständiges Denken, Argumentationsbereitschaft, Kritikfähigkeit sowie individuelle Entscheidungs- und
Handlungskompetenz kaum erlernt werden. Der Islam soll genau deshalb im Rahmen und
Raum der öffentlichen Schulen seinen Platz finden. Außerdem wird auch sozialer Unfrieden
befürchtet, wenn es nicht gelingt, einen Kompromiss zwischen den Wertvorstellungen der
fremden und der eigenen Kultur zu finden. So erscheinen die Koranschulen zumindest als
mögliche Freiheitsgefahr. Daher muss der Staat auf der einen Seite bei konkreten Verdachtsmomenten einschreiten und auf der anderen Seite in Betracht ziehen, einen islamischen Religionsunterricht umfassend anzubieten, um gewissen Segregationstendenzen bereits frühzeitig
entgegenzuwirken, um so wiederum langfristig ein friedvolles Nebeneinander zu garantieren.
Die nähere Ausgestaltung wird noch zu diskutieren sein.
1376
Heckel, JZ 1999, 741.
295
5. Ziele eines islamisches Religionsunterrichts und religiöse Sozialisation als Integrationsfaktor1377
Bei muslimischen Kindern bestehe immerhin die Gefahr, dass diese während der Schulzeit
keine systematische Werterziehung erführen.1378 Danach gebe es ein staatliches Interesse an
islamischem Religionsunterricht, denn muslimische religiöse Unterweisung müsse es den
jungen Gläubigen ermöglichen, die Wertnormen der deutschen Gesellschaft zu verstehen, zu
akzeptieren und Spannungen zwischen unterschiedlichen Wertvorstellungen auszuhalten.1379
Der Hintergrund dieser These basiert vor allem auch auf der Tatsache, dass Kinder und Jugendliche in ihrer Persönlichkeitsentwicklung noch nicht gefestigt und in hohem Maße von
den Wertungen des Elternhauses abhängig sind. Die politische Zielsetzung sollte demnach
dahin ausgerichtet werden, dass die wichtigsten Handlungsmöglichkeiten des Staates auf dem
Gebiet der Konvergenzpolitik liegen, um so eine Plattform zu schaffen, auf der sich die unterschiedlichen Wertvorstellungen treffen können. Der Dialog mit den islamisch-religiösen Autoritäten in der Bundesrepublik sollte gefördert werden sowie religionspädagogische Entwürfe
auf ein positives Verhältnis des Islam zu den neuzeitlichen Gesellschaftsstrukturen, wie auch
wissenschaftspolitisches Bemühen um eine Einbeziehung der Heranbildung und der Fortbildung islamischer Religionslehrer auf der Höhe des Anspruchsniveaus neuzeitlicher europäischer Theologie und Religionspolitik. Die offene Kommunikation mit der Umwelt sollte eingesetzt werden, um auf beiden Seiten einen Lernprozess in Gang zu setzen und damit ein vom
gegenseitigen Verständnis getragenes Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit gefördert werden kann. Dabei wäre es Aufgabe des islamischen Religionsunterrichts, die Muslime zu befähigen, mit ihrem Glauben auf allen Ebenen des Diskurses
bestehen zu können. Dem sozial segregativen Einfluss, der fundamentalistischen Ausrichtung
und die fehlende Transparenz, den die Korankurse ausüben, soll der schulische islamische
Unterricht entgegenwirken, was aus gesellschaftspolitischem Blickwinkel zu begrüßen wäre.
Daraus resultieren aber wiederum die Vorbehalte, mit denen islamische Glaubensgruppen
dem staatlichen Religionsunterricht begegnen. Gingen sie auf den staatlichen Unterricht ein,
so träfen sie auf die staatliche Gestaltungskompetenz. Der Grat, auf den sich der Staat hierbei
begibt, wenn er eine seinem Kulturkreis fremde Religion in die Schule hinzufügen will, erscheint schmal. Die Hilfestellung für diese Religion, und sei sie auch dieselbe wie die den
christlichen Bekenntnissen gewährte, kann einerseits Verunsicherung bei allen Beteiligten
hervorrufen, andererseits in fürsorgliche Bevormundung der islamischen Lehren in den Schulen umschlagen.
1377
Vgl. ausführlich bei Häußler, ZAR 2000, 159.
Korioth, NVwZ 1997, 1041.
1379
Muslime und muslimische Verbände stehen den Überlegungen der Kultusbehörden gespalten gegenüber.
Einerseits gibt es Stimmen, die schon seit langem islamischen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach in
der Regelschule fordern; die Ausklammerung des Islam aus der Schule wird, ähnlich der bislang islamischen
Glaubensgemeinschaften nicht gewährten Rechtsstellung der Körperschaft des öffentlichen Rechts, als Diskriminierung empfunden. Andererseits stieß die nordrhein-westfälische Initiative wiederum auf Kritik: Muslimische Verbände wurden vom Kultusministerium nicht beteiligt und befürchteten nun staatliche Reglementierung
über sie hinweg und beklagten die Gleichsetzung islamischer und konfessionsloser Schüler, vgl. Korioth, NVwZ
1997, 1041 m. w. N.
1378
296
Des Weiteren ist deutlich geworden, dass Bemühungen um Integration ausländischer Arbeitnehmer islamischen Glaubens und ihrer Familien ohne durchgreifenden Erfolg bleiben werden, wenn nicht auch die religiösen Bedürfnisse dieser Bevölkerungsgruppe befriedigt werden
können.1380 Für die Muslime kann ganz allgemein gesagt werden, dass sie gerade in nichtmuslimischer Umwelt sich ihrer islamischen Identität besonders bewusst werden und zugleich
fürchten, dass ihre Kinder und Enkel diese Identität verlieren könnten. Im staatlichen Islamunterricht sehen sie demgemäß eine Möglichkeit, die Autorität der gesetzlichen Schulpflicht
und die Organisations- und Finanzkraft des Staates zu nutzen, um möglichst viele muslimische Kinder und Jugendliche zu erreichen. Unter inhaltlichem Aspekt soll die islamische
Glaubenspraxis vermittelt werden. Es geht dabei nicht um die Indoktrinierung und Festigung
islamischer Wertvorstellungen und um die Erziehung zum islamischen Gemeinschaftsleben.
Die Muslime suchen durch bewusstes Leben ihres Glaubens, die soziale und psychische Unsicherheit ihrer Existenz in der Bundesrepublik zu kompensieren. Eben das Fehlen einer gewissen Plattform kann einer der Gründe sein, weshalb das islamische Gemeinschaftsleben
hier eine Tendenz zur Ghettobildung hat, denn in ihren „abgeschotteten Bereichen“ erfahren
sie (kulturelle) Sicherheit. Teil des elterlichen Erziehungsauftrags auf der anderen Seite ist es,
zu bestimmen, ob und wie die Kinder religiöse Sozialisation erfahren sollen. Die Förderung
von Religiosität im schulischen Raum hat sich daher im von Eltern und religionsmündigen
Schülern gesetzten Rahmen zu halten; innerhalb dessen steht es dem Staat aber frei, ohne
Identifikation mit einem Bekenntnis religionsbezogene Bildungs- und Erziehungsziele zu
verwirklichen. Religiöse Bildung und Erziehung liegen, wie bereits mehrfach betont, im öffentlichen Interesse, weil der Staat sich davon eine Festigung seiner sittlichen Grundlagen
verspricht.1381 Insoweit wurde zutreffend darauf hingewiesen, dass die Einrichtung islamischer Religionsunterricht substantiell zur gesellschaftlichen Integration der muslimischen
Bevölkerungs- und Volksteile beizutragen vermögen könnte.1382
6. Islamische Vereinigungen als Religionsgemeinschaften?1383
Nachdem zunächst also festgestellt wurde, dass es integrationspolitisch als durchaus sinnvoll
erscheint, einen islamischen Religionsunterricht länderübergreifend einzuführen, muss man
sich in einem zweiten Schritt den verfassungsrechtlichen Vorgaben zuwenden. Voraussetzung
für einen islamischen Religionsunterricht ist, dass die islamischen Vereinigung Religionsgemeinschaften i.S.d. Art. 7 Abs. 3 GG sein müssten. Der auf dieser Grundlage geführte juristische Kampf fokussiert bislang, neben Fragen nach Lehrinhalten und deren Kontrolle durch
den Staat, den Streitpunkt, ob islamische Vereinigungen (z.B. der Zentralrat der Muslime oder
der Islamrat) diese Voraussetzung erfüllen. Das OVG Berlin hat dies bejaht1384 und einen An-
1380
Cavdar, RdJB 1993, 265; Füssel/Nagel, EuGRZ 1985, 497.
Ähnlich: Heckel, JZ 1999, 741; Gebauer, RdJB 1989, 263; Puza, in: FS Listl, Berlin 1999, S. 407.
1382
Korioth, NVwZ 1997, 1041; Eiselt, DÖV 1981, 205; Füssel, RdJB 1985, 74; Cavdar, RdJB 1993, 265.
1383
Vgl. BVerwG, NJW 2005, 2101; Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, Berlin 1994.
1384
Das Bundesverwaltungsgericht hat die Frage nicht nach Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG, sondern nach dem Ausnahmefall des Art. 141 GG entschieden, BVerwGE 110, 326.
1381
297
spruch auf Erteilung von Islamunterricht an Berliner Schulen anerkannt.1385
Damit hat sich die allgemeine Problematik allerdings nicht vollständig bzw. bundesweit geklärt. Bei allen Debatten um die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts an den
öffentlichen Schulen spielen hauptsächlich zwei Argumente eine Rolle, die auch von rechtlicher Bedeutung sind1
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