Manuskript: Sackgasse Sehnsucht

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Literatur, 18. März 2007
Sackgasse Sehnsucht
Stanislawski oder Wie man Theater zum Leben erweckt
Von Wolf Eismann
Sie:
Cornelia Schramm
Er:
Peter Bieringer
Zitator:
Sascha Rotermund
Musik:
John Cage: A Room (for Prepared Piano)
O-Ton 01:
Pjotr Olev: Man spielt nicht Emotionen. Man spielt die Handlung. /
Hannelore Hoger: Eine Figur fängt an zu leben, wenn sie anfängt zu
leben. Und wann leben die Menschen? / Pjotr Olev: Man muss wissen,
was man tut. / Hannelore Hoger: Wenn sie in Beziehungen zu anderen
Menschen stehen, wenn sich irgendetwas zwischen einem Menschen
und einem anderen Menschen entwickelt, wenn etwas entsteht, eine
Situation, ein Dialog oder über einen Dialog unterschwellig eine
Situation. / Pjotr Olev: Die Emotionen sind immer die beiläufige
Farbe.
Musik aus.
Musik:
György Ligeti: Lux aeterna
Sie:
Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Russe Konstantin Sergejewitsch
Stanislawski als Schauspieler über ein Jahr lang in einem Stück von
Henrik Ibsen auf der Bühne gestanden. Die Rolle des Doktor Stockmann
in „Der Volksfeind“ fiel ihm von Anfang an sehr leicht, alles lief
wunderbar. Zunehmend aber verschlechterte sich seine Leistung. Nach
einem Jahr hatte er die Lust am Spiel verloren, weil er bemerkte, dass er
bei jeder Aufführung dieselben formalen Elemente wiederholte, die
Motivation seiner Handlungen jedoch längst vergessen hatte.
Zitator:
Das Angstgefühl, sich zu wiederholen, das Angstgefühl, in der
Vorwärtsbewegung innezuhalten, verursacht soviel Aufregung und Qual.
Doch dann stellt man sich die Frage: Worüber regst du dich auf? Regst
du dich darüber auf, dass du den Glauben an deine Kraft verlieren und
vor dir selbst hilflos dastehen könntest? - In jeder Aufregung liegt für
einen Schauspieler ja auch viel Angenehmes, Interessantes, das dem
grauen Alltag wirklichen Inhalt gibt.
Sie:
Stanislawski begann zu untersuchen, was in einem Schauspieler im
Moment der Inspiration vor sich geht. Er fand heraus, dass viele seiner
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 2
Handlungen als Doktor Stockmann von Dingen beeinflusst waren, derer
er sich gar nicht bewusst war. So hatte er für seine Rolle die Gestik
eines bekannten Theaterkritikers imitiert, und die Kurzsichtigkeit, die er
seinem Doktor Stockmann verlieh, übernahm er von einem gleichfalls
kurzsichtigen Freund. Stanislawski entdeckte, dass sein Spiel unbewusst
von persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen geprägt war. Er
entdeckte das affektive, das emotionale Gedächtnis. Das Gedächtnis der
eigenen Lebenserfahrung.
Musik:
The Who: See Me, Feel Me
O-Ton 02:
Amélie Niermeyer: Es sind ja sehr viele Schauspieler, die von vorn
herein so eine Spielweise mitbringen, und es wird ja immer wieder
auch in den Schauspielschulen daran gearbeitet. Wo man gar nicht in
den Proben sagen muss, nun komm mal mit deinem emotionalen
Gedächtnis. Dass sie dann schon suchen nach dem Zustand, den
Stanislawski damals beschrieben hat.
Er:
Amélie Niermeyer, 1965 in Bonn geboren, war bereits mit 25 Jahren
Hausregisseurin am Bayrischen Staatsschauspiel in München, inszenierte
unter anderem in Frankfurt, Weimar und Hamburg, aber auch in Los
Angeles. Mit 37 übernahm sie das Dreispartentheater in Freiburg, und
seit dem Sommer 2006 leitet sie nun das Düsseldorfer Schauspielhaus.
Die Presse feiert sie als „Deutschlands jüngste und schönste
Intendantin“. Sie stelle, so heißt es, die Schauspieler nicht auf die
Bretter, die die Welt bedeuten, sondern auf den Boden der Tatsachen.
O-Ton 03:
Amélie Niermeyer: Als Regisseur muss man ja gucken, was als
Ergebnis auf der Bühne zu sehen ist. Und wenn man spürt, dass die
Figuren nicht diese Seelentiefe haben, die man selber gern sehen
möchte in den Figuren, dann muss man ja Wege finden, wie man dem
Schauspieler hilft, da hinzukommen. Wenn Figuren zu sehr an der
Oberfläche kleben, dann herauszufinden, woran liegt das und wie
kann man der Figur mehr Gewicht geben.
Musik:
György Ligeti: Lux aeterna
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 3
Sie:
Stanislawski fragte:
Zitator:
Wie würde ich persönlich mich verhalten, wenn ich mich in der Situation
der darzustellenden Figur befände?
Sie:
In einer Rollenanalyse ging es dann darum, Umfeld, Biographie und
Innenleben der Figur zu befragen, um dem Spiel Sinn, Folgerichtigkeit
oder auch Widersprüchlichkeit zu verleihen. Also wurden Fabel,
Ereignisse, Zeitalter und Ort der Handlung durch Fragen nach dem
Wann, Wo oder Warum nach und nach erschlossen.
O-Ton 04:
„Drei Schwestern“, Düsseldorf: Lieber Iwan Romanowitsch, sagen Sie
mir doch, warum ich heute so glücklich bin. Als hätte ich Segel. Als
wäre über mir der blaue Himmel. Als würden große, weiße Vögel darin
herumflattern. Warum ist das so? Warum nur? / Du bist mein weißer
Vogel. / Als ich heute morgen aufstand und mich fertig machte, da
dachte ich auf einmal, ich würde klar sehen und wissen, wie man
leben soll. Lieber Iwan Romanowitsch, ich weiß alles…!
Er:
Amélie Niermeyers letzte Inszenierung in Freiburg sollte gleichzeitig eine
der ersten Premieren bei ihrem Start in Düsseldorf werden: In einer
Neueinstudierung mit Umbesetzungen feierten die „Drei Schwestern“
von Anton Tschechow Ende November 2006 im Düsseldorfer
Schauspielhaus Premiere.
O-Ton 05:
Amélie Niermeyer: Also, bei uns war es jetzt so, dass wir bei dem
Tschechow zwei Wochen lang am Anfang nur geredet haben. Wer mit
wem welchen Konflikt hat. Warum wer welche Vorgeschichte hat.
Jede Figur musste zu jeder anderen Figur sein Verhältnis beschreiben.
Damit man auch merkt, dass es nicht nur darum geht, dass die
Schwestern zu ihren Geschwistern ein Verhältnis haben, sondern zu
jedem einzelnen Offizier, der reinkommt, haben sie eine Geschichte.
Und diese Geschichten muss man ja erstmal erfinden. Also, wir haben
sehr, sehr lange am Tisch gesessen, haben sehr viel geredet. Um dann
den Zustand auszupegeln, wie stark das ist, wie emotional das ist.
O-Ton 06:
„Drei Schwestern“, Düsseldorf: Olga! Olga! Olga, Oberst Leutnant
Werschinin, der kommt aus Moskau! / Dann sind Sie also Olga
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Sergejewna, die Älteste. Sie Mischka… / Mascha. / Mascha. Und Sie,
Ilona… / Irina. / Irina, die Jüngste… / Sie sind aus Moskau?
Sie:
Hier ist niemand, der nicht ein verfehltes Leben zu beklagen hätte,
keiner, der nicht viel lieber anderswo wäre und etwas anderes täte. Olga
findet ihren Beruf als Lehrerin sinnlos. Mascha hat auf eine
Künstlerkarriere verzichtet und stattdessen den Oberlehrer Kulygin
geheiratet. Irina, die Jüngste, hat ihr Leben noch vor sich, und sie
träumt davon, endlich „nach Moskau, nach Moskau“ zu gehen. - Moskau
ist hier überhaupt der Inbegriff der Sehnsucht, ein Ort der Fantasie, an
dem alles besser sein soll. Aber dorthin kommt keine von Anton
Tschechows drei Schwestern. Für alle bleibt Moskau die Utopie vom
eigentlichen Leben, und das liegt in der Zukunft. Die Zeit bis dahin ist
tote, leere Zeit.
Musik:
John Cage: A Room (for Prepared Piano)
O-Ton 07:
Pjotr Olev: Es gibt sehr viele Schauspieler, schlechte Schauspieler, die
Emotionen und Begierden spielen. Aber sie erzählen die Geschichte
nicht. (spielt) Ach, jetzt leide ich wie ein krankes Pferd…! – Kennen
Sie doch. / Hannelore Hoger: Das ist ja meistens der Fall, dass die
Sprache was ganz anderes ausdrückt, als da drunter liegt. / Pjotr
Olev: Das ist Schmierenkomödianterie. Ein guter Schauspieler macht
das nicht. Die baden nicht in ihrem Gefühl. Wenn das Gefühl da ist,
dann ist es da. Hauptsache aber: Was will ich? Wohin gehe ich? /
Hannelore Hoger: Dann wird es interessant, nicht? Wenn man auf der
Pirsch ist. Auf der Spur.
Musik aus.
O-Ton 08:
Amélie Niermeyer: Also, mir ist einfach wichtig, dass die Schauspieler
– gerade eben bei diesem Tschechow – das, was sie sagen, dass sie
das wirklich sehr, sehr ernst meinen. Und das aber trotzdem mit einer
Leichtigkeit und Unverschämtheit dann auch überspielen. Das heißt,
diese Mischung zu finden. Dass die Figuren nicht in Schmerz und
Wehmut verfallen, sondern dass sie den sehr depressiven Zustand
eigentlich immer wieder vor sich selber, aber auch vor dem anderen
nicht zulassen. Und dadurch, finde ich, entsteht immer diese Reibung,
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dass man auch über die Figuren lachen muss. Weil sie alle so ums
Leben strampeln, so kämpfen ums Leben. Und wenn das an guten
Momenten in Proben gelingt, dann empfinde ich das als sehr
authentisches Theater.
Musik:
György Ligeti: Lux aeterna
Er:
Auch Stanislawski wollte ein Theater der Wahrhaftigkeit, der
Wirklichkeitstreue und Lebensechtheit.
O-Ton 09:
Amélie Niermeyer: Das Interessante ist ja, dass jeder Regisseur das
anders empfindet, weil jeder auch die Lebenswirklichkeit anders
sieht.
Sie:
Im Alter von 35 Jahren gründete Stanislawski 1898 - gemeinsam mit
seinem Kollegen Nemirowitsch-Dantschenko - das Moskauer
Künstlertheater, das bald eine der bedeutendsten europäischen
Spielstätten werden sollte.
Zitator:
Talent allein genügt nicht, besonders im Theater des 20. Jahrhunderts.
Autoren wie Ibsen, was ihre philosophische und gesellschaftliche
Bedeutung betrifft, werden den Spielplan des neuen Theaters ausfüllen,
solche Autoren aber können nur von kultivierten Menschen gespielt
werden. Den Provinzschreihälsen und Faxenmachern hat das letzte
Stündlein geschlagen...!
Er:
Über viele Jahrhunderte lebte das Theater allein von der Intuition,
Inspiration und Spontaneität der Schauspieler. Diese besonderen
Fähigkeiten galten jedoch lange als Gaben Gottes, für den menschlichen
Willen unerreichbar und somit letztlich unkontrollierbar.
Sie:
Stanislawski war der erste Regisseur, der seine Arbeit mit Schauspielern
auf eine wissenschaftliche Grundlage stellte und damit das Theater
reformierte.
Er:
Das Stück als Spiel war von da ab nicht mehr nur ein zufälliges Ergebnis
einzelner Akteure, die unabhängig voneinander ihr Bestes gaben.
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 6
Vielmehr entstand aus dem Spiel ein Stück, das der Regisseur als
geistig-künstlerischer Kopf in wochen- oder gar monatelanger Arbeit zu
einer Inszenierung verschmolz.
Musik:
Alessandro Marcello: Adagio (arr. von J.S.Bach)
Sie:
Um das Gedächtnis der eigenen Lebenserfahrung möglichst effektiv zu
nutzen, ersann Stanislawski für seine Schauspieler ein System von
Konzentrationsübungen. Besonderen Wert legte er dabei auf die
Vermittlung genauer Kenntnisse über das Umfeld einer Rollenfigur.
Einige seiner Mitarbeiter schickte er für die Inszenierung von
Shakespeares „Othello“ zu Lokalstudien nach Zypern, für die
Ausstattung der Dramen von Ibsen ließ er Interieur aus Norwegen
importieren. Eine Tasse Tee auf der Bühne war bei Stanislawski echter
Tee, eine gebratene Gans kam frisch aus dem Ofen. Wenn sich im
neutralen Grau des Moskauer Künstlertheaters der schlichte, gleichsam
graue Vorhang öffnete, tat sich für das Publikum eine Welt auf, die in
ihrer Atmosphäre so dicht und lebensecht war wie nur möglich.
Stanislawski ging es aber nicht um die bloße Abbildung, sondern um die
Poesie des alltäglichen Lebens. Anton Tschechows Komödie „Die Möwe“,
die 1896 bei ihrer Uraufführung im kaiserlichen Petersburg durchgefallen
war, führte er auf diese Weise zwei Jahre später zu einem triumphalen
Erfolg, Tschechow selbst verhalf er damit zum künstlerischen
Durchbruch.
O-Ton 10:
Amélie Niermeyer: Jede Tür steht bei Tschechow drin. Requisiten,
Räume und so weiter beschreibt er ja ganz detailliert. Wie er sich
einen bestimmten Raum vorstellt… - Vorne ein großer Raum, hinten
der kleinere Raum. Das hat ja Stanislawski dann auch ganz genau
nachgezeichnet.
Musik:
Alfred Schnittke: Streichquartett Nr. 1, Canon
Zitator:
Das Stück beginnt im Dunkeln, an einem Abend im August. Das trübe
Licht einer Laterne, das entfernte Singen eines herumbummelnden
Trunkenboldes, das ferne Geheul eines Hundes, das Quaken der
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Frösche, der Schrei eines Wachtelkönigs und die vereinzelten Schläge
einer Turmuhr helfen dem Zuschauer, das traurige, monotone Leben der
handelnden Person zu erfühlen. Wetterleuchten, aus der Ferne klingt
schwach. Gewitterdonner. Bevor der Vorhang aufgeht, eine Pause von
zehn Sekunden.
O-Ton 11:
Luk Perceval: Ich glaube nie Realismus auf der Bühne. Wenn ich im
Theater sitze, sehe ich Schauspieler. In dem Sinne mache ich auch nie
den Versuch, reale Bühnenbilder auf die Bühne zu stellen. Mit Türen…
Bei mir wird man nie eine Drehbühne sehen, die jede Szene bedient.
Überhaupt nicht.
Sie:
Luk Perceval, 1957 in Belgien geboren, begann in jungen Jahren als
Schauspieler in Antwerpen. Seit 2006 ist er Hausregisseur an der
Berliner Schaubühne, doch er arbeitet regelmäßig unter anderem auch
an den Münchner Kammerspielen, dem Schauspiel Hannover, in
Stuttgart, Zürich und Wien. Viele Jahre war er zuvor in Antwerpen
künstlerischer Leiter des Theaters „Het Toneelhuis“, einer Plattform für
experimentierfreudigen flämischen und niederländischen RegieNachwuchs. Wirklichkeit im Theater, so Perceval, sei immer nur eine
schwache Imitation. In Berlin beschäftigte er sich jetzt mit Arthur Miller und dem amerikanischen Realismus.
O-Ton 12:
Luk Perceval: Das interessiert mich überhaupt nicht, der
amerikanische Realismus. Was mich zum Beispiel am amerikanischen
Realismus sooft irritiert, ist, dass sie so gern kokettieren mit ihren
Emotionen. Der Mensch, der mich am meisten berührt, ist immer ein
Mensch, der seine Emotionen verdrängt. Weil das ist am
menschlichsten. Das ist das, was uns gelehrt wird. Unsere Emotionen
sollen wir beherrschen. Wir sollen das Leben unter Kontrolle behalten.
Das ist einer, glaube ich, der Irrtümer von Stanislawski. Der sehr viel
Wert darauf gelegt hat, dass ein Schauspieler durch ein tiefes Tal
gehen muss, um damit Mitgefühl zu erzeugen bei den Zuschauern. Ich
bin überzeugt von dem Gegenteil. In so einem Stück kommen die
Emotionen oft während der Probe, aber ich werde nie fragen, die zu
bedienen. Nie! Weil es dann oft sehr pathetisch und unglaubwürdig
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wird. Unglaubwürdig in dem Sinne, dass es nicht dem Leben
entspricht.
Sie:
Luk Percevals Inszenierung von Arthur Millers „Tod eines
Handlungsreisenden“ hatte Ende September 2006 an der Berliner
Schaubühne Premiere.
O-Ton 13:
„Tod eines Handlungsreisenden“, Berlin: In der Schule kannst du noch
so gut sein, aber wenn ihr erstmal draußen im Privatleben steht, dann
schlagt ihr ihn um Längen. Darum danke ich Gott, dass ihr ausseht
wie junge Götter. Charakter und Persönlichkeit, darauf kommt es an.
Ich muss nie Schlange stehen, wenn ich die Kunden sehen will. Willy
Loman ist da, heißt es. Schon werde ich vorgelassen.
O-Ton 14:
Luk Perceval: Es war der Grund, warum ich das machen wollte, weil
ich überzeugt war, dass es heutzutage viel mehr einer kollektiven
gesellschaftlichen Angst entspricht, als in den fünfziger Jahren, wo es
geschrieben wurde. Wo Arbeitslosigkeit eigentlich ein Einzelfall war.
Dass eigentlich es nicht mehr geht um Arbeitslosigkeit, sondern eher
um eine Angst, die universell ist, nämlich eine Angst, seine Würde,
seine Identität zu verlieren. Und in dem Sinne ist das Stück eigentlich
mehr als nur ein Stück über Arbeitslosigkeit. Es ist auch, finde ich, ein
griechisches Drama über eine Familie. Ein Vater mit zwei Söhnen. Die
zwei Söhne, die eigentlich nicht das erfüllen können, was der Vater
sich erträumt hat. Und deswegen eigentlich ein Spiegel sind für sein
eigenes Scheitern. Und die Familie, die sich eigentlich totläuft in
Vorwürfen und es nicht schafft irgendwie, der Liebe, die grundsätzlich
präsent ist in dieser Familie, einen Platz zu geben. - Arthur Miller klagt
den Kapitalismus an als Schuld für das Unglück dieser Leute.
Letztendlich finde ich, dass sie teilweise auch selber Schuld sind in
dem Sinn, dass sie nur eine Selbstwürde für sich selbst haben,
solange sie materiell was bedeuten. Solange sie mit dem BMW
rumfahren können und Ferien haben können – und alles tun können,
was diese kapitalistische Gesellschaft vorschreibt. Scheinbar sind
diese Menschen – und ich glaube, dass das auch uns alle betrifft –
nicht in der Lage, einen anderen Sinn und eine andere Würde für
diesen Leben zu finden.
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 9
O-Ton 15:
„Tod eines Handlungsreisenden“, Berlin: Wissen Sie, ich war ja schon
hier in der Firma, als Ihr Vater Sie noch auf dem Arm hier herum… /
Das weiß ich doch, Willy. / Aber es steht doch wohl außer Frage, dass
ich es verstehe, die Ware an den Mann zu bringen. / Keine Frage,
Willy. Absolut. / Ich habe mich kaputt gemacht für diese Firma…!
O-Ton 16:
Luk Perceval: Also, ich frag sie eigentlich dauernd, ihr eigenes Stück
zu spielen. Ihre eigene Rolle zu schreiben. Ihre eigenen Sätze, die sie
denken, zu sagen, anstatt buchstäblich den Text zu sagen, also nicht
krampfhaft dem Souffleur zuzuhören. Bei „Tod eines
Handlungsreisenden“ geht es deutlich um Leute, die nicht eloquent
sind, die eigentlich aus dem Bauch sprechen. Und statt das
krampfhaft vom Blatt zu lernen und zu spielen, versuche ich eher zu
sagen: Okay, das Stück ist geschrieben, wir haben das auswendig
gelernt, aber der nächste Schritt ist: Ich versuche, meinen Text zu
vergessen…
Musik:
John Cage: A Room (for Prepared Piano)
O-Ton 17:
Hannelore Hoger: Das emotionale Gedächtnis ist etwas, was jeder
Mensch hat. Alles, was wir empfangen haben als Eindruck, wird durch
die Sinne aufgenommen und kann durch diese wieder abgerufen
werden. / Pjotr Olev: Wie man dieses Gedächtnis aus der Tiefe der
Seele nach oben bringt, das ist eine Technik. Das muss man studieren.
/ Hannelore Hoger: Aber Sie können Ihre Sinne trainieren, und jeder
Mensch hat da so seine Erlebnisse. Es passiert vielleicht, dass Sie
plötzlich anfangen zu weinen, weil irgendetwas in Ihnen berührt wird,
und das benutzt diese Methode, um das abzurufen und in einer
anderen Situation einzusetzen. / Pjotr Olev: Da passiert
normalerweise immer mit Frauen, dass sie sich plötzlich auf der
Bühne an eine ähnliche Situation aus ihrem Leben erinnern. Dann
heulen sie, und dann sind sie privat, und dann hat das mit der Bühne
gar nichts zu tun. Privat...! (spielt) Mein Vater hat mit meiner Mutter,
was weiß ich... hat sie geschlagen, und dann fanden wir in seiner
Schublade ein Photo von einer anderen Frau... - Interessiert mich
nicht! Wen interessiert das schon? Privates Problemchen,
Familienalbum. - Geh raus, wein dich aus, und komm wieder rein,
dann spielen wir was anderes. Nicht über dich selbst und deinen
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Kram, wie dir einer auf den Fuß getreten hat im Bus. Sondern über die
Welt, die Liebe und den Krieg.
Musik aus.
Musik:
John Adams: Violinkonzert, Body through which the dream flows
Sie:
Arthur Miller’s „Tod eines Handlungsreisenden“ war 1949 am Broadway
von Regisseur Elia Kazan uraufgeführt worden. Gemeinsam mit Lee
Strasberg hatte Kazan zwei Jahre zuvor das inzwischen längst legendäre
„Actor’s Studio“ gegründet. Diese Schauspielschule, die Stars wie Marlon
Brando und James Dean hervorbrachte, arbeitete an einer
Weiterentwicklung der Methode von Stanislawski und erfand das so
genannte Method Acting.
Er:
Strasberg entwickelte Übungen zur Entspannung, Konzentration und
Veräußerung von Gefühlen, die zu einer allgemeinen Sensibilisierung des
Schauspielers beitragen sollten. Mit dieser Methode würden die Umrisse
einer Figur auf Abruf mit eigenem Leben gefüllt. Ausgangspunkt waren
vier Fragen: Wer bin ich? Wo befinde ich mich? Was mache ich dort?
Was ist vorher geschehen? Die Meinungen darüber, wie man Antworten
auf diese Fragen findet, gehen allerdings auseinander.
O-Ton 18:
Luk Perceval: Ich kenne den Terminus emotionales Gedächtnis von
Strasberg und von Stanislawski. Ich würde so sagen: Das sind
eigentlich Sachen, die nützlich sind auf Schauspielschulen. Wobei man
jungen Menschen lehren muss, dass es bei Schauspielerei nicht so
sehr wichtig ist, virtuos zu sein, sondern zurückzugehen in seine
Ehrlichkeit. Virtuosität ist meiner Meinung nach etwas Totes. Ein
Hund, der eine Zirkusnummer macht, ist auch virtuos. Das interessiert
mich nicht. Was mich interessiert, ist, dass das kein Schauspieler
mehr ist, sondern ein Mensch. Oft fragen mich die Schauspieler,
womit soll ich mich beschäftigen für diese Rolle. Und ich sage: Mit
nichts. Liege vor allem nicht nachts wach und überlege, wie soll ich
das morgen spielen. Weil dann bist du letztendlich so zugemüllt mit
Aufgaben, dass du nicht einfach auf die Bühne kommen kannst und
reagieren kannst auf das, was sich ergibt. Das ist viel wichtiger. Du
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 11
musst gut schlafen. Und alles vergessen. Ich sage: Verdränge deine
Emotionen, und da finde ich das ganze System von Stanislawski
falsch, weil es nämlich auf einen Irrtum gebaut ist. Auf Selbstmitleid.
Musik:
J.S.Bach: Präludium & Fuge es-Moll
Sie:
Tschechow, dem Stanislawski zu so großem Ruhm verhalf… Tschechow sei heute das Lieblingssofa der Deutschen, so schrieb „Die
Zeit“.
Zitator:
Melancholie kann ja etwas so Wunderbares, so Behagliches sein im
Theater. Wenn die Kirschbäume blühen, die Birken im Abendschein
leuchten; wenn der Wind den Gesang aus der Ferne übers Wasser trägt,
die Menschen sich vor der feuchten Kälte in die Gutshäuser flüchten und
am dampfenden Samowar beim Kartenspiel von ihren verlorenen
Hoffnungen zu sprechen beginnen… - Rasch verschwimmen dann die
Konturen zwischen damals und heute.
O-Ton 19:
Amélie Niermeyer: Ich glaube, Tschechow trifft einfach insgesamt
einen Nerv dieser Zeit. Ja, weil die Menschen heute doch sehr viel
über Reformen reden, weil sie merken, dass es so in Deutschland
nicht weitergeht. Aber dann in dem Moment, wo es um
Veränderungen geht, sind sie nicht bereit, sie zu tragen. Und diesen
Mechanismus zeigt Tschechow ja sehr deutlich bei seinen Figuren.
Und das oft auf sehr komische und gleichzeitig tragische Weise.
Gerade bei den „Drei Schwestern“, die immer davon träumen, dass sie
Entscheidungen treffen, damit endlich etwas besser wird in ihrem
Leben. Dann aber im konkreten Moment, wo sie zupacken müssten,
fehlt ihnen der Mut.
O-Ton 20:
Nicolas Stemann: Tschechow lädt erstmal zu einer Interpretation oder
einer Rezeption ein, die so tut, als wäre sie heutig und relevant. Man
vergisst dabei, dass es in einer ganz anderen Zeit entstanden ist. Und
dieser zeitliche Abstand macht es ziemlich leicht, sich in diese
Tschechow-Welt hineinzukitschen. Man hat dann so schöne,
romantische Gefühle für diese Tschechow-Welt und hat den Eindruck,
unsere heutige Sprach- und Richtungslosigkeit hat vielleicht auch was
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 12
Schönes. Und das ist eine große Gefahr bei der Tschechow-Rezeption.
Dann tut nämlich gar nichts mehr weh.
Sie:
Nicolas Stemann, geboren 1968 in Hamburg, ist Hausregisseur am
Wiener Burgtheater, inszenierte unter anderem in Bochum und Basel, in
Berlin und in seiner Heimatstadt Hamburg. Bereits während seines
Regie-Studiums entstanden mit seiner „Gruppe Stemann“ 1997 und
1998 seine ersten Inszenierungen, unter anderem eine Bearbeitung von
Tschechows „Möwe“ - als Terrorspiel.
O-Ton 21:
Nicolas Stemann: Es geht nicht darum, auf irgendeine Art Figuren zu
spielen, die mit sich selber identisch sind. Also, dieses alte
Schauspieler-Missverständnis, ich trete auf einer Bühne auf und
glaube mir selber, dass ich Hamlet bin und will andere Leute dazu
bringen, das auch zu glauben. Hier im Theater wird natürlich gelogen.
Wenn ein Schauspieler auf die Bühne kommt und sagt: Ich leide, weiß
ich ja, dass er eigentlich nicht leidet, sondern uns kommuniziert, dass
er leidet, sonst würde er vielleicht keinen Monolog halten, sondern
nur schreien oder so. Und auch dann wäre es natürlich gespielt. Das
ist alles ein riesengroßes Spiel.
Musik:
György Ligeti: Lux Aeterna
Zitator:
Der normale Mensch empfindet gewöhnlich einmal im Leben die ganze
Seligkeit der Liebe, einmal den Jubel der Freiheit, er hasst einmal
gründlich, er begräbt einmal mit tiefem Schmerz ein geliebtes Wesen
und stirbt am Ende einmal selbst. Das ist zu wenig für die uns
eingeborenen Fähigkeiten, zu lieben, zu hassen, zu jubeln, zu leiden.
Er:
In einer Rede an den Schauspieler versuchte der bedeutende deutsche
Regisseur Max Reinhardt 1929 zu erklären, wie wenig Gelegenheiten wir
Menschen in der Regel haben, unsere seelischen Organe zu trainieren.
Dabei ist unser Wohlbefinden - und damit letztlich auch unsere
Gesundheit - doch so sehr davon abhängig, dass wir Emotionen
ausleben. Einzige Ausnahme scheint da der Schauspieler: ein
berufsmäßiger Gefühlsmensch...?
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 13
Musik:
John Cage: A Room (for Prepared Piano)
O-Ton 22:
Pjotr Olev: Manchmal benutzen Sie ihre eigene Befindlichkeit für die
Rolle. Was falsch ist, weil Sie müssen doch andere Leute spielen
wollen und über andere Menschen erzählen wollen, ja? / Hannelore
Hoger: Stellen Sie sich vor: Wie soll man eine Situation spielen... Sagen wir mal: Penthesilea, die von ihrer tiefen Enttäuschung... zieht
aufs Schlachtfeld und zerhackt den Achilles da... mit Löwen und
Tigern... kommt zurück und ist fast wahnsinnig. Sie müssen da ja in
einem Zustand sein, in einem Zustand! Da können Sie nicht einfach
aus der Kantine kommen, ja? Eben 'ne Zigarette geraucht, noch mal 'n
Schluck Wasser getrunken oder Wein oder was auch immer, womit
sich Schauspieler stimulieren… - und dann auf die Bühne gehen und
das spielen. Das geht nicht! Wo wollen Sie das hernehmen? Das
müssen Sie irgendwo herholen. Sie müssen Ihren Körper stimulieren
und in einen Zustand bringen. Und bei solchen Dingen hilft eben das
emotionale Gedächtnis. / Pjotr Olev: Der Schauspieler steht auf der
Bühne… - Das ist nicht Macbeth oder Hamlet oder Desdemona. Das
sind Sie, und wenn Hannelore Hoger auf der Bühne steht und Lady
Macbeth spielt, kann sie nicht behaupten, sie hat ein paar Könige
umgebracht. Sie selber hat das nicht getan, das hat Lady Macbeth
vielleicht getan - oder ihren Mann angestiftet, das zu tun. Also verfügt
auch Frau Hoger nicht über dieses Gedächtnis. Das ist doch absoluter
Naturalismus.
Musik aus.
O-Ton 23:
Luk Perceval: Was manchmal passiert und was sehr auffällig ist, vor
allem bei Stücken, die in einer Art von Naturalismus spielen, wie
Tschechow, wie hier Arthur Miller: Jeder Satz ist hintereinander
geschrieben, nur funktioniert das nicht so auf der Bühne, wenn man
das aufs Stichwort spricht. Dann wird es auf einmal Literatur. Es
passiert Millionen von Mal pro Tag, dass ich jemandem zuhöre und
schon antworte und ihn nicht aussprechen lasse, was sehr unhöflich
ist, aber das macht es auch lustig und dumm und egoman. Das macht
es viel komplexer. Wo man das sehr gut demonstriert sieht, ist in den
Filmen von Woody Allen. Also, er gibt den Schauspielern sozusagen
ein paar Sätze mit, damit sie wissen, was sie in der Szene zu sagen
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 14
und zu vermitteln haben, und dann läuft er selber als Regisseur
dazwischen und quatscht ohne Ende und gibt eigentlich niemandem
den Raum, überhaupt in einen Dialog zu kommen. Und durch diese
Zerstörung kreiert er natürlich so eine Alltäglichkeit, die macht, dass
die Szene überhaupt nicht künstlich wirkt.
Musik:
Alban Berg: Streichquartett op.3, 1. Satz
Sie:
Die so überaus erfolgreiche Inszenierung der „Möwe“ am Moskauer
Künstlertheater prägte lange Zeit das Bild Tschechows auf den Bühnen
der Welt. Wie in einer Orchesterpartitur notierte Stanislawski auf das
Genaueste Stimmungen und Geräusche, die er dem Stück als
Atmosphäre hinzufügte. Und auf ähnliche Weise folgten unter seiner
Regie schon bald darauf Tschechows „Onkel Wanja“, seine „Drei
Schwestern“ und schließlich der „Kirschgarten“.
Musik:
Anton Webern: Fünf Stücke, Nr. 1
Zitator:
Ich habe kein Drama geschrieben, sondern eine Komödie, stellenweise
sogar eine Farce.
Sie:
Erklärte Tschechow. Und Stanislawski konterte.
Zitator:
Das ist keine Komödie, keine Farce, wie Sie schreiben, es ist eine
Tragödie. Ich habe geweint wie eine Frau.
Sie:
Und nach der Premiere klagte Tschechow.
Zitator:
Stanislawski hat mein Stück ruiniert.
Sie:
Er kritisierte die Technik der psychologischen Verlangsamung, die
Stimmung von gelähmter Schwermut.
Zitator:
Alles wird qualvoll in die Länge gezogen. Ein Akt, der 12 Minuten
maximum dauern soll, läuft bei Euch 40 Minuten. - Ich schwöre jeden
Eid, dass er mein Stück kein einziges Mal aufmerksam gelesen hat.
Sie:
Stanislawski beeindruckte das wenig.
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 15
Zitator:
Anton Tschechow konnte sich bis zu seinem Tod nicht damit abfinden,
dass wir in seinen Stücken die Tragödie des russischen Lebens
erkannten.
Er:
Meyerhold, ein Schüler Stanislawskis, schlug sich schließlich auf die Seite
Tschechows.
Zitator:
Das naturalistische Theater suchte unermüdlich nach der vierten Wand.
Es wollte, dass alles wie im Leben sei, und verwandelte sich in einen
Trödlerladen: Im Glauben an Stanislawski, dass der Theaterhimmel dem
Publikum einmal als echt erscheinen wird , sorgten sich die
Theaterdirektoren darum, den Himmel auf der Bühne so hoch wie nur
möglich zu hängen.
O-Ton 24:
Andreas Kriegenburg: Äh… - Ich hab einfach Angst vor Tschechow.
Weil Tschechow zum Inszenieren in einer Weise schwierig ist, wie
man es eigentlich kaum bei einem anderen Autor findet. Er hat eine so
große Komplexität in der Verwebung von verschiedenen Geschichten
ineinander, die alle so als Erzählfäden aufgenommen werden müssen,
aber dennoch so dezent von einem Akt in den anderen
weitergesponnen werden müssen.
Er:
Andreas Kriegenburg, geboren 1963 in Magdeburg, war Anfang der
neunziger Jahre Hausregisseur an der Berliner Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz, arbeitete unter anderem in München, Basel und Wien
– und ist seit 2001 Oberspielleiter am Hamburger Thalia Theater. In
seinen 22 Jahren, in denen er an unterschiedlichsten Häusern Regie
führte, hat er sich bislang an kein Stück von Tschechow gewagt.
O-Ton 25:
Andreas Kriegenburg: Also, Figuren mit solch einer Empfindsamkeit
und solch einer Sprachgewalt, einem solchen Reichtum von Sprache,
die gibt es in unserer Wirklichkeit nicht mehr. Außer auf deutschen
Bühnen. Das heißt, Tschechow bedient – für deutsches Publikum, aber
vor allem auch für deutsche Schauspieler – das Bedürfnis nach
Empfindsamkeit, nach Wehmut und nach dieser… ja,
zurücklehnenden Selbstbespiegelung.
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 16
Er:
In München beschäftigte sich Andreas Kriegenburg nun erstmals mit
dem russischen Dramatiker. Wie Amélie Niermeyer in Düsseldorf,
inszenierte er an den Münchner Kammerspielen die „Drei Schwestern“.
Premiere war Ende November 2006.
O-Ton 26:
„Drei Schwestern“, München: Mein Gott, heute früh bin ich
aufgewacht, habe das viele Licht gesehen, den Frühling gesehen, und
mein Herz füllte sich mit Freude. (Musik, Gejuchze)
O-Ton 27:
Andreas Kriegenburg: Für mich war beim Lesen des Stückes immer
die Frage: Wie kriege ich das, was er schreibt, wieder hörbar,
unbelastet durch… das klingt jetzt ketzerisch, aber: unbelastet durch
die Empfindsamkeitskunst des Spielers, der mit seiner Biographie sich
in diesem Text einnistet. Ich habe nach einem Weg gesucht, dass man
die Texte Tschechows und die Beziehungsbegegnungen der Figuren
quasi von der Mimik des Schauspielers erlöst. Dass ich das in eine
Distanz bekomme, vor allem den Schauspielern die Figuren nicht
gleich auf sich selbst als Schablone aufzulegen auf die eigenen
Biographien, sondern sie erstmal von sich zu entfernen. Darüber
entstand der Gedanke des Maskenspiels.
O-Ton 28:
„Drei Schwestern“, München: Die Zeit ist da. Etwas Ungeheueres
kommt auf uns zu. Ein heftiger Sturm bereitet sich vor, ist schon da,
ganz nah…! Und er wird die Gleichgültigkeit, die Trägheit unserer
Gesellschaft, ihr Vorurteil gegen Arbeit hinwegfegen. Und in 25, 30
Jahren wird jeder Mensch arbeiten. Jeder! / Ich nicht. / Sie zählen
nicht!
Sie:
In Kriegenburgs Inszenierung stülpen sich Tschechows Akteure immer
wieder überdimensionale, verbeulte Pappmaché-Köpfe über. Auf diese
Weise verwandeln sich die Schauspieler in Menschenpuppen mit viel zu
kleinen Körpern, schlenkernden Beinchen, weit aufgerissenen, starren
schwarzen Kulleraugen - und die Dialoge Tschechows hallen wie
Sprachhülsen durch den leeren weißen Raum.
O-Ton 29:
Andreas Kriegenburg: Die Schauspieler spielen in einer hoch
artifiziellen Weise, weil sie die Puppen als Eigenwesen beglaubigen
müssen. Das ist für Schauspieler sehr ungewohnt, weil man sich
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 17
plötzlich nicht mehr auf die Sprache verlassen kann, sondern man
muss vor allem das körperliche Spiel in die Konzentration setzen. Man
muss eben die Puppe tatsächlich verlebendigen, und das ist ein ganz
schmaler Grat. – Große Teile der Aufführung leben natürlich auch von
den Gesichtern der Spieler und von der Empfindsamkeit der Spieler.
Aber mir war eben wichtig, gerade für die Exposition innerhalb des
ersten Aktes, eine Situation oder einen Raum oder einen ästhetischen
Zugriff zu schaffen, der die Figuren Tschechows auf der einen Seite
authentisch werden lässt, in dieser Bühnenrealität. Aber sie dennoch
von uns in einer Weise distanziert, dass wir sie als Erinnerungsfiguren
– wie aus der eigenen Kindheit – wahrnehmen, aber nicht sagen, das
sind unsere Nachbarn.
Musik:
György Ligeti: Musica ricercata (Mesto, rigido e cerimoniale)
Zitator:
Der Schauspieler, der auf der Bühne danach strebt, in sich einen
Zustand zu erzeugen, kann jeweils nur einen von zwei Gedanken hegen:
a.) Ich habe den geforderten Zustand noch nicht erreicht, es mangelt
mir an etwas, und ich muss mich stärker anstrengen; oder b.) Ich habe
den geforderten Zustand erreicht, wie tüchtig ich doch bin! - Und an
diesem Punkt wirft der Verstand den Schauspieler zurück auf Punkt A.
Sie:
Auch der amerikanische Dramatiker David Mamet hält nichts von der
Stanislawski-Methode und Strasbergs Method Acting. Mamet spricht hier
von der Zerlegung eines Stücks in emotionale Oasen nach dem Prinzip
Malen nach Zahlen.
Zitator:
Die Wahrheit des Augenblicks ist ein anderes Wort für das, was
tatsächlich auf der Bühne zwischen zwei Menschen geschieht. Diese
Interaktion ist immer ungeplant, findet immer statt, ist immer
faszinierend; und auf das Ziel, diese Interaktion zu verschleiern, ist die
Schauspielerausbildung meistens ausgerichtet.
O-Ton 30:
Nicolas Stemann: In Wien am Reinhardt-Seminar hatten wir eine
ziemlich fundierte Stanislawski-Grundausbildung. Und ich habe
während des Schauspielunterrichts immer gedacht, dass mir das gar
nicht viel helfen wird, das zu kennen. Weil ich immer den Eindruck
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 18
hatte, dass Stanislawski doch sehr eine komplexe Welt voller
Widersprüche vereinfacht, um sie in sein System zu kriegen. Ich hatte
immer den Eindruck, so klare Entscheidungen gibt es ja gar nicht in
der Wirklichkeit, und klare und einfache Wahrheiten gibt es auch
nicht. Ich hab dann irgendwann, als ich angefangen habe, meine
eigenen Arbeiten zu machen, gemerkt, dass der Schauspieler, der auf
einer Bühne sich bewegt, doch immer letztendlich psychologisch
handelt und auch psychologisch nachvollziehbar handeln muss, damit
es nicht irgendein Quatsch wird. Was der Schauspieler macht, kann
man in einen sehr absurden Kontext stellen oder auf eine sehr
diskursive Art benutzen, aber letztendlich muss das, was er tut,
psychologisch nachvollziehbar sein.
Er:
Gerade inszenierte Nicolas Stemann am Hamburger Thalia Theater die
Uraufführung von Elfriede Jelineks RAF-Stück „Ulrike Maria Stuart“.
Premiere war Ende Oktober 2006.
Sie:
Anton Tschechow hatte in seinen Stücken sehr detaillierte Vorgaben
gemacht, was die Umsetzung auf der Bühne betrifft. So zur Figur des
kleingeistigen, aber ehrgeizigen Kaufmanns Lopachin im „Kirschgarten“.
Zitator:
Weiße Weste und gelbe Schuhe. Er geht, mit den Armen rudernd, weit
ausschreitend, denkt im Gehen nach, geht einer geraden Linie folgend.
Die Haare nicht kurz, darum wirft er oft den Kopf in den Nacken; im
Nachdenken streicht er sich den Bart…
Sie:
Stanislawski wollte Tschechow zur Unterstützung an den Regie-Tisch
holen, doch der konterte.
Zitator:
Ich habe alles aufgeschrieben. Ich bin kein Regisseur, ich bin Arzt.
Er:
Bei Elfriede Jelinek fand sich 1996 im Text nur noch ein kleiner Hinweis
für den potentiellen Regisseur.
Zitator:
Die Autorin gibt nicht viele Anweisungen, das hat sie inzwischen gelernt.
Machen Sie, was Sie wollen.
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 19
Sie:
Elfriede Jelinek schreibt – wie auch einige andere zeitgenössische
Autoren – immer weniger Stücke mit festen Rollen für unterscheidbare
Charaktere. Sie stellt Textflächen statt Dialoge her und tritt damit fast
alle Kompetenz an den Regisseur ab. Dieser muss die Wortmassen auf
eine ihm passende Anzahl Schauspieler verteilen.
O-Ton 31:
Nicolas Stemann: Also, beim Text von Jelinek geht es ja erstmal
darum zu erkennen, was in diesem Fluss von Sprache Handlung ist. Da
treten zwar Menschen auf, die heißen Ulrike oder Die Königin, nur:
Hinter dem Doppelpunkt, der da steht – Ulrike, Doppelpunkt –
kommen dann 30 oder 40 Seiten absatzloser Text, in den sich
verschiedenste Stimmen reinmischen. Und man kann das auf eine Art
erstmal der Bühnenfigur Ulrike Meinhof zuordnen, aber ich glaube
keinem Zuschauer wäre geholfen, wenn man dieses Stück jetzt als ein
Dialogstück zweier Frauen inszeniert – und dann in der kompletten
Länge, die das wahrscheinlich hätte, nämlich bestimmt so fünf
Stunden. Das sind keine Figuren in einem psychologisch-realistischen
Sinne, sondern – das schreibt die Autorin ja selber – diese Figuren
rennen eigentlich ihrer Sprache hinterher. Wo dann doch diese
Sprache… ja, sich vorwärts schraubt, aber immer in sehr redundanten
Bewegungen. Also, von daher muss man das schon glaube ich mit
theatralischen Vorgängen füllen, weil derjenige, der es spricht auf der
Bühne, ist ja ein Mensch.
Er:
Vier Frauen stehen im Zentrum des Stücks: Auf der einen Seite Ulrike
Meinhof und Gudrun Ensslin, auf der anderen Maria Stuart und Elisabeth
von England. Es geht um Macht, konkret um weibliche Macht. Die
Königinnen verfügen darüber, die Frauen der RAF wenden Gewalt an,
um sie zu erringen. Ein Zweikampf entsteht, in dem nicht Figuren,
sondern Produkte von Ideologie aufeinanderprallen. Die Frauen opfern
ihre Weiblichkeit. Und zerbrechen daran.
O-Ton 32:
„Ulrike Maria Stuart“, Hamburg: Das Schießen, es ist gutes Recht. Und
natürlich darf geschossen werden. / Natürlich darf geschossen
werden. / Es darf ja auch zurückgeschossen werden. / Es darf ja auch
zurückgeschossen werden. Ich bin die Mutter. / Nein, ich bin die
Mutter. / Du bist Stefan Aust.
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 20
O-Ton 33:
Nicolas Stemann: Bei Jelinek stellt sich diese Frage, bin ich jetzt
Ulrike Meinhof und wie war die eigentlich privat und wie stelle ich das
dar, stellt sich erstmal nicht. Dann stellt sich natürlich die Frage, was
machen wir stattdessen. Und wenn die Schauspieler erstmal merken,
stattdessen können sie sehr viel anderes tun, als sich darum zu
kümmern, wie war denn diese psychologische Figur eigentlich so
privat. Können zum Beispiel den Kampf, den sie selber mit dem Text
führen, ihr eigenes Unverständnis dem Text gegenüber, ihre Haltung
der Thematik gegenüber… die ist ja bei jedem sehr unterschiedlich.
Das können sie alles einbringen. Und dann erkennen sie auch auf
einmal, dass es nicht das Gegenteil von Schauspiel ist, sondern sehr
viel mit dem zu tun hat, was sie unter Schauspiel verstehen.
Er:
Authentizität lebt nur in der Interpretation.
O-Ton 34:
„Ulrike Maria Stuart“, Hamburg: Ulrike Maria Stuart. Von Elfriede
Jelinek. Erstes Teilstück. Ein Käfig mit den Prinzen im Tower.
Verschiedene Stimmen, deren Urheber man aber nicht sieht.
O-Ton 35:
Nicolas Stemann: Also, ich zeige am Anfang: Ein Schauspieler kommt
auf die Bühne, muss diesen Text sprechen, hat damit Probleme,
Probleme, die ich teile, die vielleicht der Zuschauer auch teilt, und
indem er sich diesen Problemen stellt, passiert etwas, und das, was
passiert, versuche ich in den Text und in die Thematik zurück zu
verlängern. Das ist erstmal der Grundvorgang, der passiert. Und dann
hat man natürlich zu dem Text eine Vielzahl von szenischen und
bildhaften Assoziationen, auch zu der Thematik natürlich. Das steht
teilweise im Text, teilweise auch nicht im Text. Und dann ist es
vielleicht auch ganz lustig, etwas zu machen, was das Gegenteil von
dem ist, wo der Text eigentlich hin will, den Text aber trotzdem
sprechen zu lassen. Dazu laden die Texte von Jelinek sehr ein. Je
mehr man szenisch, theatralisch diesem Text entgegensetzt, umso
größer ist die Kraft, die sie entfalten.
Musik:
John Cage: A Room (for Prepared Piano)
O-Ton 36:
Pjotr Olev: Die Ästhetik des Theaters ändert sich auch. Früher:
Commedia dell’Arte. Da haben sie Masken angehabt. Pantalone war
eine Maske, bewegte sich so und so und nicht anders… (spielt) Hat
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 21
auch so gesprochen… das war ein… was weiß ich… geiziger Mann.
Dann waren Masken weg, und die Schauspieler haben angefangen
sich zu schminken. Und zwar so zu schminken, dass sie wirklich zu
sehen waren. Das gab noch nicht so eine Beleuchtung. Das war viel
dicker. Und heute, wo wir mit Film und Fernsehen konkurrieren… Wir
konkurrieren natürlich mit anderen Mitteln, aber wir gehören auch zu
dieser Unterhaltungsbranche. / Hannelore Hoger: Und dann muss
man oft Schauspieler vom Spielen wegbringen. Also, Strasberg hat
gesagt: Don’t act!
Musik aus.
Er:
Anton Tschechow notierte…
Zitator:
Im wirklichen Leben verbringen die Menschen nicht jede Minute damit,
einander zu erschießen, sich aufzuhängen und Liebeserklärungen zu
machen. Sie widmen nicht ihre ganze Zeit dem Bestreben, gescheite
Dinge zu sagen. Sie sind damit beschäftigt zu essen, zu trinken, zu
flirten und Dummheiten zu sagen – und das ist es, was auf der Bühne
vor sich gehen sollte. Man sollte ein Stück schreiben, in dem die
Menschen kommen, gehen, speisen, über das Wetter reden und Karten
spielen. Leben sollte genauso sein, wie es ist, und Menschen sollten
genauso sein, wie sie sind. Auf der Bühne sollte alles genauso
kompliziert und gleichzeitig genauso einfach sein, wie es im Leben ist.
Die Menschen nehmen ihre Mahlzeit, und inzwischen ist ihr Glück
gemacht oder ihr Leben ruiniert.
Er:
Lee Strasberg benutzte immer gern das Beispiel mit der Maus…
Zitator:
Nehmt zum Beispiel an, dass eine Maus hier hereinrennen würde. Einige
Leute wären hysterisch, andere würden lachen, aber egal was, Ihr
würdet das beste Schauspiel haben, das Ihr Euch denken könnt, und
genau dasselbe wollen wir auf der Bühne erreichen. Nur: Die Maus
musst Du Dir selbst erschaffen, weil nichts auf der Bühne diese
buchstäbliche Realität hat. Selbst wenn es eine Maus hier auf der
Bühne, im Stück geben würde, weißt Du, dass es ein Requisit ist oder
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 22
eine trainierte Maus, und Du würdest nicht die Wirkung bekommen, die
Du haben möchtest. Also musst Du Dir in Deiner Vorstellung etwas
schaffen, das Dir hilft, Dich so zu verhalten, wie Du Dich verhalten
würdest, wenn WIRKLICH eine Maus vorhanden wäre.
Musik:
Alessandro Marcello: Adagio (arr. von J.S.Bach)
Sie:
Was ist „Realität“? Das, was wir als wirklich ansehen, wird heute
zunehmend von den Medien bestimmt. Shakespeare ist somit aktueller
denn je, wenn er die Welt eine Bühne und den Menschen einen
Schauspieler nennt.
Er:
Allerdings kann unsereiner im Alltag nicht wie in einem Theaterstück
oder einem Hollywoodfilm einfach lächelnd abtreten und zurück in die
Garberobe flüchten. Wir müssen stets weiterspielen und uns mit allerlei
Widrigkeiten auseinander setzen.
Musik:
György Ligeti: Musica ricercata (Mesto, rigido e cerimoniale)
Sie:
Nicolas Stemann, Hamburg.
O-Ton 37:
Nicolas Stemann: Eine meiner ersten Erfahrungen mit
Schauspielunterricht hatte ich bei einem Strasberg-Schüler: John
Costopoulos. Das war Anfang der neunziger Jahre. Und ich war
unglaublich beeindruckt von dieser Methode. Dass Dinge, die Teil
meiner Biographie sind und die vielleicht auch belastende und
schmerzhafte Teile meiner Biographie sind, dass die, wenn man es
schafft, sie in Kunst zu übersetzen, eine ganz tolle Energie entwickeln
können. Und ich habe deswegen auch in meiner Arbeit als Regisseur
immer gesucht nach dem Zusammenhang von Inszenierungen, die ich
gemacht habe, mit dem, was mich persönlich umtreibt. Also habe
vielleicht auch auf eine Art mit so etwas wie emotionalem Gedächtnis
gearbeitet, aber eben eher von der Regie-Seite.
Er:
Amélie Niermeyer, Düsseldorf.
O-Ton 38:
Amélie Niermeyer: Die Suche von emotionalen Zuständen, warum
eine Figur sich auf der Bühne bewegt, spielt in Amerika eine viel
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 23
größere Rolle als im deutschen Theater. Im deutschen Theater ist die
Form, die Bilder, die Umsetzung oft mehr das Thema als die Zustände.
Also, ich habe ja viel in Amerika gearbeitet, wo ich oft mit Bildern im
Kopf kam, und die Schauspieler immer sagten, das interessiert uns
überhaupt nicht. Sag uns was zu unserer Figur. Wir wollen etwas zu
unserer Figur wissen. Warum die den und den Satz sagt. Und was der
emotionale Beweggrund ist.
Sie:
Andreas Kriegenburg, München.
O-Ton 39:
Andreas Kriegenburg: Ich bin jemand, der in den Proben versucht mit
so wenig Empfindsamkeit wie möglich und so wenig Authentischem
wie möglich zu arbeiten. Sondern wir versuchen lange Zeit, bis kurz
vor der Endprobenphase, die Szenen erstmal eigentlich nur zu
strukturieren. Erst ganz zum Schluss, wenn die Abläufe der Szenen
klar sind, beginnen die Schauspieler füreinander und miteinander zu
spielen. Und da bin ich als Regisseur nicht mehr wichtig. Also, die
Aufforderung, sich sehr in eine Figur hineinzuimaginieren, diese
Begriffe, mit denen Stanislawski hantiert, wären eher hinderlich.
Er:
Luk Perceval, Berlin.
O-Ton 40:
Luk Perceval: Wir sind nicht monofokussiert, sage ich immer. Und das
widerspricht Stanislawski. Wenn wir Auto fahren, fahren wir nicht nur
Auto. Wir denken uns währenddessen noch ganze Gespräche und
Themen aus, und es ist überhaupt ein Wunder, dass wir dennoch von
A nach B geraten, ohne dass uns etwas passiert. Der Geist ist fähig,
sich nicht nur auf das Autofahren zu konzentrieren, sondern sich
gleichzeitig noch mit etwas völlig anderem auseinander zu setzen.
Und diese Doppelkonzentriertheit versuche ich zu trainieren bei der
Probe. Weil das macht für mich Menschen menschlich.
Sie:
In einer Sache hat Stanislawski sicher Recht.
Zitator:
Man muss sich von dem Vorurteil befreien, dass man jemandem
beibringen kann, diese oder jene Gefühle zu „spielen“. An den großen
Beispielen genialer Schauspieler sehen wir: Sie überragen alle an einer
Vorstellung Mitwirkenden durch besondere, rhythmische Harmonie der
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 24
ganzen Rolle, durch Gelöstheit ihrer körperlichen und psychischen
Handlungen; sie setzen sich über alle szenischen Konventionen hinweg,
heben den Abstand zwischen dem Zuschauerraum und sich selbst auf,
treffen die Menschen mitten ins Herz, reißen sie mit sich, um sie an den
Augenblicken ihres Schöpfertums teilnehmen zu lassen…
Musik:
John Cage: A Room (for Prepared Piano)
O-Ton 41:
Hannelore Hoger: Wissen Sie, man kann einen Menschen nur bis zu
einem gewissen Grad... Man kann sich ja auch nicht selber darstellen,
man kennt sich ja letztendlich gar nicht. Letztendlich kennen Sie sich
nicht. Sie wissen nicht, wie Sie reagieren in entscheidenden
Grenzsituationen, keine Ahnung. Da kann man nur hoffen. Auch mit
der Selbsterkenntnis. Das ist ja auch so eine Sache. (lacht) / Pjotr
Olev: In der Schule versuchen wir, Leute aufzunehmen, die über eine
starke Persönlichkeit verfügen. Davon gibt es nicht viele. / Hannelore
Hoger: Büchner hat gesagt: Jeder Mensch ist ein Abgrund. Es
schwindelt einen, wenn man hinabsieht. Wissen Sie, da hat man
natürlich auch eine Scheu vor. Und in unserem Beruf ist ja die
Ventilfunktion groß. Sie schaffen Ventile. Und deswegen ist die
Kreativität so wichtig. Weil es Ventile sind. Sonst ist man eingesperrt,
bleibt in sich eingesperrt, und dann kommt wahrscheinlich
irgendwann ein Deckel hoch - nur an der falschen Stelle.
Musik:
György Ligeti: Musica ricercata (Mesto, rigido e cerimoniale)
überblenden:
J.S.Bach: Präludium & Fuge es-Moll
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 25
Verwendete Musik:
6’35 aus: A Room (for prepared Piano); aus CD: Musik unserer Zeit; Komponist: John
Cage, Interpret: John Cage; Firma: Wergo, LC-Nr. 0846
3’00 aus: Lux Aeterna; aus CD: Ligeti; Komponist: György Ligeti, Interpreten: Chor des
NDR Hamburg, Ltg. Helmut Franz; Firma: Deutsche Grammophon, LC-Nr. 0173
0’30 aus: See me, feel me; aus CD: Ultimate Collection; Komponisten & Interpreten:
The Who; Firma: Universal, LC-Nr. 0407
4’35 aus: Adagio (Konzert für Oboe & Streichorchester op. 1 d-Moll, arr.: J.S.Bach); aus
CD: Martin Stadtfeld / Bach Klavierkonzerte; Komponist: Allessandro Marcello,
Interpret: Martin Stadtfeld, Firma: Sony, LC-Nr. 06868
0’50 aus: Canon (Streichquartett Nr. 1); aus CD: Schnittke – String Quartets No. 1-3;
Komponist: Alfred Schnittke, Interpreten: The Tale Quartet; Firma: BIS Austria, Ind.-Nr.
Bis-CD-467, ohne LC-Nr.
1’15 aus: Body through which the dream flows; aus CD: Adams – Violin Concerto;
Komponist: John Adams, Interpret: Gidon Kremer, London Symphony Orchestra, Ltg.
Kent Nagano. Firma: Warner/Nonesuch, LC-Nr. 0286
0’35 aus: Präludium & Fuge es-Moll, aus CD: Martin Stadtfeld / Bach Klavierkonzerte;
Komponist: J.S. Bach, Interpret: Martin Stadtfeld, Firma: Sony, LC-Nr. 06868
0’30 aus: Streichquartett op. 3, aus CD: At the Grave of Richard Wagner; Komponist:
Alban Berg, Interpreten: Kronos Quartet; Firma: Warner Nonesuch, LC-Nr. 0286
1’10 aus: Five Pieces, aus CD: At the Grave of Richard Wagner; Komponist: Anton
Webern, Interpreten: Kronos Quartet; Firma: Warner Nonesuch, LC-Nr. 0286
3’05 aus: Musica ricercata, aus CD: Ligeti – Works for Piano; Komponist: György Lifeti,
Interpret: Pierre-Laurrent Aimard; Firma: Sony Austria, Ind.-Nr. SK 62308, ohne LC-Nr.
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 26
Pressetext:
Sackgasse Sehnsucht
Stanislawski Oder Wie man Theater zum Leben erweckt
Melancholie kann ja etwas so Wunderbares, so Behagliches sein im Theater, bei
Tschechow-Aufführungen zum Beispiel. Wenn die Kirschbäume blühen, die Birken im
Abendschein leuchten; wenn der Wind den Gesang aus der Ferne übers Wasser trägt,
die Menschen sich vor der feuchten Kälte in die Gutshäuser flüchten und am
dampfenden Samowar beim Kartenspiel von ihren verlorenen Hoffnungen zu sprechen
beginnen… - An der Schwelle zum 20. Jahrhundert suchte der Russe Konstantin
Sergejewitsch Stanislawski nach einem Theater der Wahrheit, das die
Lebenswirklichkeit auf der Bühne detailgetreu reproduzieren sollte. In seinem
Moskauer Künstlertheater verhalf er damit nicht nur dem Dramatiker Anton Tschechow
zum Durchbruch, sondern sein Naturalismus beeinflusste nachhaltig das Theater des
20. Jahrhunderts. Tschechow selbst hielt damals wenig von der Regie-Arbeit
Stanislawskis, auch wenn dieser damit seine Stücke zum Erfolg führte. Und nicht
wenige Theaterregisseure geben heute dem russischen Dramatiker recht, sprechen
vom „Zelebrieren diffuser Gefühle“ ewiger „Wehmutssimulanten“. - Braucht das
Schauspiel gelebte Gefühle - oder ist das alles bloß Theater, ästhetischer Schwindel?
Luk Perceval in Berlin und Amélie Niermeyer in Düsseldorf, Andreas Kriegenburg in
München und Nicolas Stemann in Hamburg beziehen Stellung.
Wolf Eismann – Sackgasse Sehnsucht - Seite 27
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