22.02.2015 Die ethische Vertretbarkeit von Tierversuchen Jörg Luy Privates Forschungs- und Beratungsinstitut für angewandte Ethik und Tierschutz, Berlin [email protected] 6. Tierexperimentelle Fortbildung des Regierungspräsidiums Gießen, 24.02.2015 Gliederung 1. Was ist zu prüfen, wenn auf „ethische Vertretbarkeit“ zu prüfen ist? • • Die „ethische Vertretbarkeit“ als Ausdruck des „Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“. Die historische Entwicklung der „ethischen Vertretbarkeit“ und des daraus resultierenden Verbotes länger anhaltender schwerer Schmerzen und Leiden. 2. Was müsste der Gesetzgeber tun, damit rechtssicher auf „ethische Vertretbarkeit“ geprüft werden kann? 1 22.02.2015 Die „ethische Vertretbarkeit“ als Ausdruck des „Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“ Entdeckung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (GdV) durch das BVerfG in Karlsruhe • während der 1950er und 1960er Jahre • Schutz (des Bürgers) vor unverhältnismäßiger Gewaltausübung (durch den Staat) – betrifft alle drei Gewalten • A. Schutz vor nicht erforderlichen Belastungen (quantitativ) • B. Schutz vor unverhältnismäßigen Belastungen i.e.S. (qualitativ) Zwei Teile: (+) nur Fakten+ Logik A. → Grundsatz der Erforderlichkeit (Bsp. Demonstrationen I) (-) keine Rechtfertigung Anwendung nur gemeinsam! (+) Rechtfertigung B. → Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i.e.S. (Bsp. Demonstrationen II) (-) keine Logik 2 22.02.2015 Primäre ethische Rechtfertigung (Prüfung via Faustregel): „Was Du nicht willst, das man Dir tu‘, das füge keinem andern zu!“ Moralisches Dilemma (z.B. Therapienotstand): Situation, in der eine Gefahr nur durch eine primär ethisch nicht zu rechtfertigende Handlung abgewendet oder vermindert werden kann. Sekundäre ethische Rechtfertigung: In einem moralischen Dilemma gilt eine primär ethisch nicht zu rechtfertigende Handlung dann als sekundär gerechtfertigt, wenn sie die Voraussetzungen des Grundsatzes des Verhältnismäßigkeit erfüllt. Gewissensfreiheit In einem moralischen Dilemma gibt es zwei ethisch rechtfertigungsfähige (d.h. legitime) Handlungsoptionen: Man kann sich (1) unter Inkaufnahme der tragischen Konsequenzen dafür entscheiden, niemanden durch das eigene Verhalten zu schädigen; und man kann (2) zur Abwendung der Gefahr eine moralisch problematische Handlung vollziehen, wenn dabei der Grundsatzes des Verhältnismäßigkeit nicht verletzt wird. Zusammenfassung der ethischen Aussage des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit: Beeinträchtigungen des Wohlbefindens von Mensch und Tier sind • nur in einem moralischen Dilemma, hier • nur zum Zweck der Verringerung des erwarteten Schadens, • nur mit den mildesten geeigneten Mitteln und auch dann • nur in verhältnismäßigem Umfang ethisch rechtfertigungsfähig. Der Mensch als unverzichtbares „Messgerät“: • Die Prüfung „verhältnismäßig oder unverhältnismäßig?“ erfolgt autonom durch die menschliche Vernunft (im Alltag z.B. bei Preisen, Löhnen, Strafen etc.). • Da es keinen außerhalb der menschlichen Vernunft liegenden Algorithmus gibt, ist es unverzichtbar, diese Prüfung – repräsentativ für die Gesellschaft – durch unbefangene Personen (z.B. Richter) durchführen zu lassen. 3 22.02.2015 “Parallelverschiebung” des GdV in das Tierschutzgesetz von 1972 • während der 1960er und 1970er Jahre („vernünftiger Grund“) • GdV I → GdV II • GdV II: Schutz (des Tieres) vor unverhältnismäßiger Gewaltausübung (durch den Mensch) Zwei Teile: (+) nur Fakten+ Logik A. → GS der Erforderlichkeit (quantitativ) (Bsp. Tierversuche I: 3Rs) (-) keine Rechtfertigung Anwendung nur gemeinsam! (+) Rechtfertigung B. → GS der Verhältnismäßigkeit i.e.S. (qualitativ) (Bsp. Tierversuche II: eth. Vertretbarkeit, 1986) (-) keine Logik GdV II im EU-Recht • • A. seit 1986 B. seit 2010 (verbindliche Anwendung ab 2013) (+) nur Fakten+ Logik A. → GS der Erforderlichkeit (quantitativ) (EU: 3Rs, Directive 86/609/EEC) (-) keine Rechtfertigung Anwendung nur gemeinsam! (+) Rechtfertigung B. → GS der Verhältnismäßigkeit i.e.S. (qualitativ) (EU: harm-benefit analysis, Dir. 2010/63/EU) (-) keine Logik 4 22.02.2015 Ein Versuchsvorhaben wird als ethisch nicht vertretbar empfunden, wenn die Schmerzen/Leiden/Schäden als “zu hoch” oder der Nutzen als “zu gering” wahrgenommen werden: Der in-Kauf-genommenen Schaden der Tiere kann als “zu hoch” empfunden werden wegen: • Charakteristika des Schadens (z.B. schwere, lang anhalt. Schmerzen) • Charakteristika der Tiere (z.B. Primaten, Companion Animal Arten; Tiere die dem Menschen „näher“ stehen) • Charakteristika der Bewertenden, wenn diese großen Wert auf ethisch korrektes Verhalten legen (z.B. in NGOs sich engagierende Personen) Der Nutzen kann als “zu gering” empfunden werden wegen: • Charakteristika des Nutzens (z.B. Grundlagenforschung). • Charakteristika des verfolgten Zwecks (z.B. Kosmetik-Tierversuche) • Charakteristika der Bewertenden, wenn diese davon überzeugt sind, dass in einem unverhältnismäßigen Umfang öffentliche Mittel (eine begrenzte Ressource) für tierexperimentelle Forschung eingesetzt werden, statt heute betroffenen Patienten zugute zu kommen. Die historische Entwicklung der „ethischen Vertretbarkeit“ und des daraus resultierenden Verbotes länger anhaltender schwerer Schmerzen und Leiden. 5 22.02.2015 Erlaubnisvorbehalt für Tierversuche mit erheblichen Schmerzen oder Schädigungen Keine nicht erforderlichen Schmerzen ! Keine nicht erforderlichen Versuche ! Keine nicht erforderlichen Tiere ! Alternativmethoden dort, wo möglich ! 1972: Einführung des Begriffs „unerlässliches Maß“ durch das zweite deutsche Tierschutzgesetz Bei der Novellierung 1972 werden alle benannten Aspekte beibehalten. Für die Aussage Keine nicht erforderlichen Versuche! wird eine neue Formulierung eingeführt: „Die Versuche sind auf das unerlässliche Maß zu beschränken.“ (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 TierSchG 1972) 6 22.02.2015 1986: Einführung des Begriffs „ethische Vertretbarkeit“ durch TierSchG von 1986. Bei der Novellierung 1986 werden alle benannten Aspekte beibehalten. Neu hinzu kommt eine ausdrückliche Verhältnismäßigkeitsprüfung i.e.S.: „Versuche an Wirbeltieren dürfen nur durchgeführt werden, wenn die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind.“ (§ 7 Abs. 3 Satz 1 TierSchG 1986) Hintergrund (die Prüfung wird durch die EG seit 1986 vorgeschrieben für „severe pain which is likely to be prolonged”): „Soll ein Tier einem Versuch unterzogen werden, bei dem mit erheblichen und möglicherweise länger anhaltenden Schmerzen zu rechnen ist, so muß dieser Versuch der Behörde besonders angezeigt und begründet oder von der Behörde ausdrücklich genehmigt werden. Die Behörde hat geeignete gerichtliche oder administrative Schritte zu veranlassen, wenn sie nicht davon überzeugt ist, daß der Versuch für grundlegende Bedürfnisse von Mensch und Tier von hinreichender Bedeutung ist.“ (Art. 12 Abs. 2 RL 86/609/EWG) 2010: Ausdehnung der ethischen Vertretbarkeitsprüfung auf alle Tierversuche durch RL 2010/63/EU. „Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass ein Projekt nur dann durchgeführt wird, wenn es eine positive Projektbeurteilung durch die zuständige Behörde gemäß Artikel 38 erhalten hat.“ (Art. 36 Abs. 2 RL 2010/63/EU) „Die Projektbeurteilung umfasst insbesondere Folgendes: … d) eine SchadenNutzen-Analyse des Projekts, in deren Rahmen bewertet wird, ob die Schäden für die Tiere in Form von Leiden, Schmerzen und Ängsten unter Berücksichtigung ethischer Erwägungen durch das erwartete Ergebnis gerechtfertigt sind und letztlich Menschen, Tieren oder der Umwelt zugute kommen können …“ (Art. 38 Abs. 2 Punkt d ebd.) Zusätzlich werden die „procedure[s] [which] involve severe pain, suffering or distress that is likely to be long-lasting” nun grundsätzlich verboten. „Vorbehaltlich der Anwendung der Schutzklausel nach Artikel 55 Absatz 3 gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass ein Verfahren nicht durchgeführt wird, wenn es starke Schmerzen, schwere Leiden oder schwere Ängste verursacht, die voraussichtlich lang anhalten und nicht gelindert werden können.“ (Art. 15 Abs. 2 ebd.) 7 22.02.2015 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i.e.S. (CH: „Güterabwägung“) → Verbot schwer belastender Tierversuche In der Schweiz wurde eine ethisch treffende Begründung für ein Verbot schwer belastender Tierversuche formuliert: „Bestimmte Versuchsanordnungen sind für Tiere voraussichtlich mit derart schwerem Leiden verbunden, dass eine Güterabwägung immer zugunsten der Tiere ausfallen wird. Wenn es nicht gelingt, durch Änderung der zu prüfenden Aussage andere, weniger belastende und ethisch vertretbare Versuchsanordnungen zu finden, muss auf den Versuch und damit auf den erhofften Erkenntnisgewinn verzichtet werden.“ Punkt 3.5 aus „Ethische Grundsätze und Richtlinien für Tierversuche“ (Schweizerische Akademien der Medizinischen Wissenschaften und der Naturwissenschaften; 3. Aufl. 2005) Ein Beispiel (aus der Schweiz) für die Prüfung eines Tierversuchsvorhabens anhand des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit i.e.S. 8 22.02.2015 Aus dem Bundesgericht-Urteil vom 07.10.2009 (2C_421/2008, online beim Bundesgericht der Schweiz) Durchzuführen ist eine Güterabwägung zw. Erkenntnisgewinn und Tierbelastung, welche beide „zunächst gewichtet“ und anschließend „gegeneinander abgewogen“ werden. Die über Tierversuche verfolgten Zwecke haben (entsprechend der verfassungsrechtlichen Gewichtung der verschiedenen Interessen) nicht alle das gleiche Gewicht (z.B. Schutz von Leben/Gesundheit > grundlegende Erkenntnisse über Lebensvorgänge). „Im vorliegenden Fall muss berücksichtigt werden, dass der Nutzen des zu erwartenden Erkenntnisgewinns insgesamt aufgrund der äußerst ungewissen klinischen Verwendbarkeit relativ tief ist. Auf der anderen Seite ist die Belastung hoch.“ Zusätzlich ist die „Nähe zum Menschen“ bei nicht-menschlichen Primaten „rechtlich von Bedeutung“; denn „je näher [ein Tier] dem Menschen genetisch und sinnesphysiologisch steht, desto mehr Gewicht kommt der Belastung der Tiere zu und desto wahrscheinlicher ist die Unverhältnismäßigkeit des Versuchs“. Zudem ist auch „die Würde der Kreatur“ im Sinne einer stärkeren Gewichtung zu berücksichtigen. „Aufgrund der ganz besonderen Nähe dieser nicht-menschlichen Primaten zum Menschen bereitet der vorliegende Tierversuch, gemessen am erwarteten Kenntnisgewinn, den Versuchstieren unverhältnismäßige Schmerzen, Leiden, Schäden, Angst oder Beeinträchtigungen ihres Allgemeinbefindens. Die Vorinstanz hat deshalb zu Recht das Interesse der Versuchstiere an der Belastungsfreiheit höher gewichtet als das menschliche Interesse am Versuchsergebnis.“ „Die Beschwerde ist demnach abzuweisen.“ Wo findet sich ein Maßstab zur Belastungseinschätzung geplanter Versuche? - Im Belastungskatalog der EU (= Anhang VIII Abschnitt III Richtlinie 2010/63/EU): 44 beispielhafte Eingriffe und Behandlungen mit Schweregrad-Angabe 9 22.02.2015 Was müsste der Gesetzgeber tun, damit rechtssicher auf „ethische Vertretbarkeit“ geprüft werden kann? 2013: Problematische Subsumption der „ethischen Vertretbarkeit“ unter die „Unerlässlichkeit“. Was meint „unerlässlich“ jetzt? „Bei der Entscheidung, ob ein Tierversuch unerlässlich ist, sowie bei der Durchführung von Tierversuchen sind folgende Grundsätze zu beachten: 1. … 2. … 3. Versuche an Wirbeltieren oder Kopffüßern dürfen nur durchgeführt werden, wenn die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Tiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind. 4. … 5. …“ (§ 7a Abs. 2 Nr. 3 TierSchG 2013) 10 22.02.2015 2013: Streit um das Prüfungsrecht der Behörde (BVerwG Beschl. vom 20.01.2014): „Die Genehmigung eines Versuchsvorhabens ist zu erteilen, wenn 1. wissenschaftlich begründet dargelegt ist, dass a) die Voraussetzungen des § 7a Absatz 1 und 2 Nummer 1 bis 3 vorliegen, …“ (§ 8 Abs. 1 Satz 2 TierSchG 2013) Bis 2013: „Die Genehmigung darf nur erteilt werden, wenn 1. wissenschaftlich begründet dargelegt ist, dass a) die Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 und 3 vorliegen, …“ (§ 8 Abs. 3 TierSchG) Zu klären: Setzt die neue Formulierung den Art. 36 (Abs. 2; s.o.) der EU-Richtlinie um? – Wenn ja, dann darf die Behörde substanziell prüfen; wenn nein, ist das TierSchG zu korrigieren (denn die RL muss umgesetzt werden). Die Prüfung „verhältnismäßig oder unverhältnismäßig?“ erfolgt autonom durch die menschliche Vernunft, aber: • • kein Algorithmus Vernunft bei gegenwärtigen Forschungsthemen überfordert Dringend erforderlich: Zur Klarstellung des Willens des Gesetzgebers ist es dringend erforderlich Beispiele für ethisch nicht vertretbare Tierversuche in das TierSchG aufzunehmen. Betrifft: • • • • Illegitime Zwecke (Was soll neben Kosmetik-, Waschmittel- und Waffentierversuchen als Tierversuche-nicht-rechtfertigend gelten? – Botox? Tierversuche für LM-Routinetests?), Versuche an uns näher stehenden Spezies (insb. Menschenaffenversuche), Grundlagenforschung (ethisch vertretbare Grundlagenforschung ist exemplarisch zu differenzieren von ethisch nicht vertretbarer Grundlagenforschung), sowie Versuche mit den durch Art. 15 RL 2010/63/EU verbotenen „starken Schmerzen, schweren Leiden oder schweren Ängsten, die voraussichtlich lang anhalten“. Ohne Beispiele läuft die Vorschrift leer. --:-- 11