DEUTSCHES ÄRZTEBLATT HIV-Infektion und AIDS als Berufskrankheit Hinweise zur Anerkennung und zur Unfallrente Jens Jarke Der Fall eines aidskranken Zahnarztes aus Florida, der fünf seiner Patienten mit HIV infiziert hatte, führte im Vorjahr zu einer weltweiten Diskussion über die wechselseitigen Infektionsrisiken bei medizinischem Personal und Patienten. Dieser Fall ist bisher einzigartig, aber auch die berufsbedingte HIV-Infektion bei Gesundheitsberufen ist sehr selten. Mit der weiter steigenden Zahl von AIDS-Behandlungsfällen werden jedoch in den nächsten Jahren auch Berufskrankheitenverfahren zunehmen. Wenn direkt nach einem Berufsunfall mit möglicher Exposition zu HIVpositivem Blut ein HIV-Test durchgeführt und bei späteren Kontrollen eine Serokonversion festgestellt wird, ist die Anerkennung als Berufskrankheit in der Regel unproblematisch. Dagegen ist es äußerst schwierig, einen ursächlichen Zusammenhang mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu belegen, wenn ein Arbeitsunfall lange zurückliegt und meist auch nicht angezeigt wurde. Zur Beurteilung derartiger Fälle werden gutachterliche Kriterien begründet. Ist eine Berufskrankheit anerkannt, muß eine Unfallrente gewährt werden. Erstmals werden Erfahrungswerte zur Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) vorgeschlagen. 1. Berufskrankheit Die berufsbedingte HIV-Infektion (infolge eines Arbeitsunfalles) im Gesundheitswesen ist sehr selten. Bei einmaligem Kontakt mit HIV (direkter Blutkontakt — 1:200 — oder Exposition der Schleimhäute und/oder von Wunden — 1:300 bis 1:400 — ) liegt das Infektionsrisiko unter 0,5 Prozent (1). Aus einer mit dem Stichtag 31. Juli 1989 abgeschlossenen Literaturstudie geht hervor, daß bis zu diesem Zeitpunkt weltweit 34 Fälle von sicher oder wahrscheinlich berufsbedingten HIV-Infektionen bei medizinischem Personal beschrieben worden waren (2). In der Bundesrepublik Deutschland waren bis Ende 1991 drei Fälle berufsbedingter HIVInfektionen durch die gesetzlichen Unfallversicherungsträger als Berufskrankheit anerkannt (3). Eine unbekannte Dunkelziffer berufsbedingter HIV-Infektionen muß angenommen werden. Bei einer HIV-Infektion oder bei AIDS liegt eine Berufskrankheit nach Nr. 3101 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BeKV) in allen Stadien der Krankheit vor, wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege, einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war und bei dieser Tätigkeit infiziert wurde. Für die Anerkennung als Berufskrankheit muß wahrscheinlich gemacht werden, daß die Infektion durch die versicherte Tätigkeit verursacht worden ist und keine andere Infektionsquelle ernstlich in Betracht kommt (Kausalzusammenhang). So muß sorgfältig geprüft werden, ob die Infektionsgefahr beruflich bedingt war und gegenüber der — statistisch ungleich größeren — Gefahr, sich diese Infektion im privaten Bereich zuzuziehen, so überwiegt, daß die Gefährdung im täglichen Leben in den Hintergrund tritt. Für die Bejahung des ursächlichen Zusammenhanges der Infektion mit der versicherten Tätigkeit genügt eine hinreichende Wahrscheinlichkeit. Hierunter ist eine Wahrscheinlichkeit zu verstehen, nach der bei vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, so daß darauf die Uberzeugung gegründet werden kann (4). Der Unfallversicherungsträger muß den Sachverhalt von Amts wegen ermitteln und alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für den Verletzten günstigen Umstände berücksichtigen (§ 20 I und II SGB X). Hier wird in der Regel ein medizinischer Sachverständiger als Gutachter eingeschaltet. 2. Gutachterliche Beurteilung Wenn direkt nach einem Unfall — Nadelstich- oder Schnittverletzung; Haut-, Schleimhaut- oder Wundkontamination mit Blut — beim Verletzten eine Blutprobe entnommen wird und zu diesem Zeitpunkt keine HIV-Antikörper nachweisbar sind, diese jedoch bei späteren Nachuntersuchungen auftreten Dt. Ärztebl. 90, Heft 7, 19. Februar 1993 (55) A1-437 (Serokonversion), ist der ursächliche Zusammenhang anzunehmen (5). Weitere Indizien können die Identifizierung einer Infektionsquelle (nur mit Einverständnis des Patienten) oder zumindest das Vorkommen von AIDS-Kranken und HIV-Infizierten im Beschäftigungsbereich sein. Problematisch sind all diejenigen Fälle, wo eine HIV-Infektion oder fortgeschrittene Krankheitsstadien wie eine Lymphadenopathie oder AIDS diagnostiziert werden und die betroffene Person erst jetzt eine Berufskrankheitenanzeige erstattet. Hier ist dann der Kausalzusammenhang mit einem oftmals sehr lange zurückliegenden und meist nicht angezeigten Arbeitsunfall wahrscheinlich zu machen. Nach dem Handkommentar zur BeKV gilt der ursächliche Zusammenhang als anzunehmen: „Bei Nachweis einer HIV-Infektion und eines berufsbedingten Kontaktes mit Blut ist in der Regel die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs zu bejahen, es sei denn, die Gegebenheit einer außerberuflichen Infektion ist so groß, daß deswegen eine berufliche Infektion nicht als ausreichend wahrscheinlich angesehen werden kann (der Infizierte war bzw. ist Fixer, sexuelle Kontakte mit einem bereits infizierten Partner liegen vor, der Betroffene gehört zum Personenkreis mit ausgiebigen homo- oder heterosexuellen Kontakten)." (6) Nachforschungen müssen daher zum Ziel haben • einen Blutkontakt zu belegen und ggf. die näheren Umstände zu bestimmen, sowie • eine außerberufliche Infektion auszuschließen oder unwahrscheinlich zu machen. 2.1 Blutkontakt Blut und Körperflüssigkeiten werden grundsätzlich als infektiös angesehen (nicht nur bezüglich HEV). Nach den heutigen Erkenntnissen über den Verlauf der HIVEpidemie in der Bundesrepublik Deutschland ist durchaus davon auszugehen, daß ab Anfang der 80er Jahre auch HIV-infizierte Patienten in Einrichtungen des Gesundheitswesens behandelt wurden (7). Wenn ein Blutkontakt zum Beispiel durch Zeugenaussagen oder Dienstpläne belegt werden kann, ist es retrospektiv aus praktischen, rechtlichen und ethischen Gründen meist nicht möglich, die Infektionsquelle zu identifizieren. Einen Hinweis für einen bestimmten Blutkontakt kann der Verlauf der HIV-Infektion beim Geschädigten geben. Nach neueren Untersuchungen, soll es bei mindestens 30 Prozent (nach anderen Studien 55 Prozent bis 90 Prozent) der Infizierten in den ersten 3 bis 8 Wochen (aber auch bis zu 6 Monate) nach der Ansteckung zu einem akuten Krankheitsbild kommen, das einer Grippe oder einem Pfeifferschen Drüsenfieber (Mononukleose) ähneln kann. Die Krankheitserscheinungen sind so allgemein — Fieber, Schwitzen, Abgeschlagenheit bzw. Leistungsabfall, Gliederschmerzen, Kopf- und Halsweh, gelegentlich rötlicher Hautausschlag (Exanthem) —, daß sie bei vielen anderen Virusinfekten auch vorkommen (8). Mittlerweile liegen auch mehrere Veröffentlichungen aus größeren Verkaufsstudien und mathematischen Modellen vor, die Auskunft geben über die mittlere Dauer der Inkubations- oder Latenzzeit vom Zeitpunkt der Ansteckung mit HIV bis zum Auftreten von AIDS. Danach wird heute davon ausgegangen, daß nach einer Latenzzeit von 8 bis 10 Jahren 50 Prozent der Infizierten an AIDS erkrankt sind (9). Aus anderen Studien läßt sich schließen, daß Personen, die zum Zeitpunkt der HIV-Infektion 40 Jahre und älter sind, mit einer 4- bis 8fach höheren Wahrscheinlichkeit innerhalb von 7 Jahren AIDS entwickeln als Patienten unter 20 Jahren (10). Damit ist die Dauer der Inkubationszeit und die Krankheitsmanifestationsrate offenbar altersabhängig unterschiedlich. Die Wahrscheinlichkeit einer HIV-Infektion durch einen bestimmten Blutkontakt kann jedoch erheblich erhärtet werden, wenn Angaben über die näheren Umstände des Blutkontaktes vorliegen. In der wissenschaftlichen Fachdiskussion der Al 438 (56) Dt. Ärztebl. 90, Heft 7, 19. Februar 1993 - letzten Jahre hat sich eine Vorstellung darüber herausgebildet, welche Bedingungen eine HIV-Übertragung wesentlich oder gar notwendig bestimmen. Diese Umstände können oft durch Befragung des Geschädigten und etwaiger Zeugen teilweise geklärt werden. Bisher haben HIV-Übertragungen am Arbeitsplatz nur durch erregerhaltiges Blut und Viruskonzentrat stattgefunden. Beschrieben wurden: • die perkutane Inokulation (Stichoder Schnittverletzungen), • der Kontakt mit einer offenen Wunde oder nicht intakter Haut (aufgerissene, nässende oder dermatitische veränderte Haut), • Schleimhautexposition gegenüber Blut oder blutkontaminierten Körperflüssigkeiten (2). Obwohl insbesondere im Vergleich zu Hepatitis B das Risiko der HIV-Übertragung bei einmaligem Kontakt mit verletzter Haut als zehnmal geringer eingeschätzt wird als das einer parenteralen Exposition mit infiziertem Blut (11), steigt die Infektionswahrscheinlichkeit bei beiden Risiken mit der Häufigkeit entsprechender Expositionen. Weiterhin wird das HIV-Infektionsrisiko erheblich beeinflußt durch das klinische Krankheitsstadium des Patienten (Indexperson), von dem das erregerhaltige Blut stammt. Die bislang beschriebenen berufsbedingten HIV-Infektionen waren in der Regel auf Patienten zurückzuführen, die sich bereits im AIDS-Stadium befanden. Durch die quantitative Bestimmung von HIV im Blut von infizierten Personen kann davon ausgegangen werden, daß das (Blut-) Plasma von Patienten mit symptomatischem AIDS ungefähr eine TCID (Tissue-Culture-Infective-Dose) pro 0,3111 enthält und daß im Plasma von Patienten ohne Symptome eine etwa 100-fach geringere Konzentration des HIV vorhanden ist (12). Eine HIV-Übertragung durch Blutkontakt ist wesentlich abhängig von • Art und Häufigkeit der Exposition, • dem Krankheitsstadium des In- dexpatienten, • der Menge des inokulierten Blutes, der Kontaktzeit des Blutes mit Schleimhäuten und/oder Wunden. Je ansteckungsfähiger der Indexpatient, je direkter der Zugang zur Blutbahn und je größer die Blutmenge, desto wahrscheinlicher wird eine HIV-Infektion nach einem bestimmten Blutkontakt. 2.2 Außerberufliche Ansteckungsrisiken Da eine HIV-Infektion im Privatleben statistisch sehr viel wahrscheinlicher ist als im Berufsleben, müssen der Versicherungsträger und der beauftragte Gutachter den antragstellenden Versicherten dahingehend befragen. Der Versicherte ist im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht (§ 60 SGB I) verpflichtet, entsprechende Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten. Alle in der Sache notwendigen und ethisch vertretbaren Auskünfte über den Lebenswandel des Betroffenen dürfen bis an die Grenze der Intimsphäre eingeholt werden (4). Gefragt werden muß nach der Verabreichung von Bluttransfusionen und Blutprodukten, nach iv-Drogenkonsum sowie nach (homo- und/oder hetero-) sexuellen Kontakten. Angaben zum Sexualverhalten können unter Umständen durch serologische Untersuchungen auf früher durchgemachte Geschlechtskrankheiten (Lues, Gonorrhoe, Chlamydien) indirekt überprüft werden. 3. Unfallrente Ist eine Berufskrankheit anerkannt, muß eine Unfallrente als Vollrente oder Teilrente entsprechend der Minderung der Erwerbsfähigkeit gewährt werden (§ 581 RVO). Versichertes Rechtsgut in der Unfallversicherung ist die individuelle Erwerbsfähigkeit. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) — ausgedrückt in Prozentsätzen — bezeichnet den durch die körperlichen, seelischen und geistigen Folgen des Versicherungsfalles (Arbeitsunfall, Berufskrankheit) bedingten Verlust an Erwerbsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens, Tabelle: Vergleich der „Anhaltspunkte"/Erfahrungswerte zum GdB und zur MdE Klinische Stadienbezeichnung Allgemein CDC1 Walter Reede Labor GdB3 GdB4 MdE CD 4 Zellen WR 1 Symptomfreie HIV-Infektion II LAS Lymphadenopathiesyndrom III WR 2 (<) Normalwert 0 0 10 — 40 < Nor- 30 50 50 — 60 50 — 60 malwert AR C/AIDS AIDS Related Complex IV A IV B WR 3 WR 4 WR 5 < 400 AIDS IV BE WR 6 < 400 50 — 80 60 — 80 100 100 60 — 80 100 1 Klassifikation der Centers for Desease Control — CDC und der Weltgesundheitsorganisation — WHO von 1987 2 Klassifikation des Walter Reed Military Hospital 3 Sektion „Versorgungsmedizin" beim Bundesminister für ,Arbeit und Sozialordnung (15) 4 Vorschläge zur GdB-Beurteilung von Exner-Freisfeld/Helm (13) (nicht aufgenommen wurde die akute HIV-Infektion = CDC I — WRO/WR 1) dem sogenannten allgemeinen Arbeitsmarkt. Eine Teilrente bei Minderung der Erwerbsfähigkeit will nicht einen tatsächlich eingetretenen materiellen Schaden (zum Beispiel Entgeltminderung) ausgleichen, sondern ist allein abgestellt auf den abstrakt bemessenen Verlust von Erwerbsmöglichkeiten aufgrund einer verbliebenen Minderung der Erwerbsfähigkeit. Über die individuelle Leistungsfähigkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen, sagt die MdE nichts aus. Dementsprechend erlauben die Anerkennung von Berufsoder Erwerbsunfähigkeit durch einen Rentenversicherungsträger oder die Feststellung einer Dienst- oder Arbeitsunfähigkeit keine Rückschlüsse auf den Grad der MdE, umgekehrt darf aus dem Grad der MdE nicht auf Leistungsvoraussetzungen anderer Rechtsgebiete geschlossen werden (17). Es ist notwendig, den MdE-Begriff vom „Grad der Behinderung (GdB)" aus dem Schwerbehindertengesetz abzugrenzen, weil der GdB allgemein ein Maß für den Mangel an körperlichem, geistigem oder seelischen Vermögen ausdrückt und nicht speziell auf das Erwerbsleben ausgerichtet ist. Anders als zur Unfallrente liegen allerdings zur Anwendung des Schwerbehindertengesetzes für HIV-Infizierte und AIDSKranke bereits mehrere Veröffentlichungen vor (13, 14, 15, 16). Diese Bewertungen und Stellungnahmen zum GdB werden hier zur Abgrenzung in die Diskussion miteinbezogen. 3.1 MdE und die Stadien der HIV-Infektion Um den im Einzelfall sehr unterschiedlichen und komplexen Verlauf einer HIV-Infektion vergleichend zu beschreiben, sind mittlerweile verschiedene klinische Stadieneinteilungen gebräuchlich. Der zeitliche Ablauf der HIV-Infektion, also das Fortschreiten von einem Stadium zum anderen ist individuell sehr unterschiedlich. Nach der meist recht langen Latenzzeit ohne klinisch faß- Dt. Ärztebl. 90, Heft 7, 19. Februar 1993 (59 A1 439 - bare Symptome kann der weitere Ablauf im Einzelfall sehr rasch erfolgen, die Übergänge zwischen den Stadien können fließend sein. Nicht erfaßt von den Stadieneinteilungen werden die vielfältigen psycho-sozialen Auswirkungen einer HIV-Infek tion. Nach der Rechtslage und den Sachverständigen-Empfehlungen sind auch seelische Begleiterscheinungen bei der Beurteilung des GdB und der MdE zu beachten. Außergewöhnliche seelische Begleiterscheinungen sind gegebenenfalls gesondert zu beurteilen. Sie sind dann anzunehmen, wenn anhaltende psychoreaktive Störungen in einer solchen Ausprägung vorliegen, daß eine spezielle ärztliche Behandlung dieser Störungen — insbesondere eine Psychotherapie — erforderlich ist (Nr. 18 Abs. 8 der „Anhaltspunkte" [18]). Im folgenden werden MdE-Erfahrungswerte für die Stadien der chronischen HIV-Infektion begründet. Diese Regelsätze sind als Anhaltspunkte für den Normalfall anzusehen und dürfen nicht schematisch angewendet werden. Vielmehr sollen sie in Verbindung mit den Umständen des Einzelfalles dessen angemessene Würdigung ermöglichen. Die Tabelle ordnet die vorgeschlagenen MdE-Erfahrungswerte den klinischen Stadien der HIV-Infektion zu und vergleicht sie mit den zwei etwas voneinander abweichenden „Anhaltspunkten" für die Zuteilung des GdB. 3.2 Symptomfreie HIV Infektion HIV-Infizierte im Stadium CDC II sind körperlich frei von Krankheitserscheinungen und meist uneingeschränkt dienst- bzw. arbeitsfähig. Die 59. Konferenz der für das Gesundheitswesen zuständigen Minister und Senatoren der Länder kommt in ihrer Entschließung vom November 1988 zu dem Schluß: „. . eine HIV-Infektion ohne Krankheitssymptomatik darf einer — auch auf Lebenszeit angelegten — Verbeamtung nicht entgegenste- hen." Für symptomfrei HIV-Infizierte besteht weder eine erhöhte EigengeA1 440 - fährdung zum Beispiel durch Infektionserreger, noch geht eine Fremdgefährdung von ihnen aus. Letzteres hat der Nationale AIDS-Beirat (NAB) in seinem Votum 1 (5. März 1987: Berufstätigkeit von HIV-Infizierten) formuliert (19): „Eine Gefärdung anderer durch eine HIV-infizierte Person in Ausübung ihrer Berufstätigkeit als Ansteckungsquelle sowie eine Gefärdung durch HIVbedingte Komplikationen besteht nicht. Eine obligatorische Antikörper-Testung wird deshalb nicht empfohlen. (Der Beirat hat sich bei diesem Votum nicht mit der Frage der Prostitution befaßt.)" Im Sommer 1990 wurde erstmals ein Einzelfall aus den USA dokumentiert, wonach ein aidskranker Zahnarzt fünf Patienten wahrscheinlich durch die Nicht-Einhaltung elementarer Hygienemaßnahmen mit HIV infiziert hat (20). Weltweit ist in der Folge davon die Diskussion über die wechselseitigen Infektionsrisiken bei medizinischem Personal und Patienten erneut öffentlich geführt worden. Die zuvor zitierte Aussage des NAB zur Fremdgefährdung wurde danach eingeschränkt. Eine Stellungnahme des Bundesgesundheitsministeriums in Abstimmung mit Spitzenorganisationen der deutschen Ärzteschaft empfiehlt . einen freiwilligen HIVTest für Ärzte mit begründeten Infektionsrisiken, die bestimmte operative Maßnahmen durchführen: „Bei positivem Testausfall sollten keine ärztlichen oder zahnärztlichen Eingriffe vorgenommen werden, die eine Verletzungsgefahr für den Operateur selbst beinhalten und somit auch eine Infektionsgefahr für den jeweiligen Patienen" (21). Eine solche Einschränkung der Möglichkeiten beruflicher Tätigkeit wird bei der MdE-Bemessung gesondert zu berücksichtigen sein. Auch zur möglichen Eigengefährdung für im Krankenhaus beschäftigte HIV-Infizierte hat der NAB Stellung genommen; im Votum 15 (21. September 1988) wird eine besondere Infektionsgefährdung von Krankenhausbediensteten verneint. Die bis hierher referierten Bewertungen der symptomfreien HIVInfektion sind auch in die umfangreiche arbeitsrechtliche Diskussion zur (60) Dt. Ärztebl. 90, Heft 7, 19. Februar 1993 HIV-Infektion und AIDS-Erkrankung eingegangen. Eine aktuelle Übersicht dazu findet sich z. B. bei Lichtenberg/Schücking (22). Allein aus klinischer und arbeitsrechtlicher Sicht hat eine HIVInfektion ohne organische Symptomatik keinen Verlust an Erwerbsmöglichkeiten zur Folge. Diese Bewertung muß allerdings um die psycho-sozialen Dimensionen der HIVInfektion ergänzt werden, die ja von der Stadieneinteilung nicht mit erfaßt sind. Zu den psycho-sozialen Folgen der HIV-Infektion hat sich die Enquete-Kommission des 11. Deutschen Bundestages „Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung" in ihrem Endbericht ausführlich geäußert; einige Auszüge werden hier wiedergegeben (23): „In der Auseinandersetzung mit der Diagnose „HIV-positiv" können Depressionen auftreten, die mit Suizidalität sowie psychischen Reaktionen, wie Schuldgefühlen und Ängsten, auch vor den sozialen Konsequenzen der Krankheit, verbunden sind. Der bedrohliche Lebensmittelpunkt eines asymptomatisch HIVPositiven ist der Widerspruch, sich gesund zu fühlen, aber potentiell todkrank zu sein. Die daraus resultierende und immer wiederkehrende Todesangst kann abhängig von der psychischen Struktur als Angst vor körperlichem Verfall und Siechtum, als Angst vor Schwäche und Angewiesensein auf andere oder als Angst vor dem sozialen Tod erlebt werden. Sie wird darüber hinaus auch stark durch die in den Medien immer wieder — nach heutigem Wissensstand sachlich unzutreffend — beschworene Zwangsläufigkeit der Erkrankung verstärkt. . ." „. . Eine besondere psychische Belastung stellt für HIV-Positive der Umgang mit der Sexualität dar: Ihnen ist bewußt, daß sie lebenslang ihr Sexualverhalten umstellen müssen; gleichzeitig führt die Angst, ihren Partner trotz Schutzmaßnahmen doch zu infizieren, häufig zu einer unerträglichen psychischen Situation. Viele HIV-Infizierte versuchen die Situation dadurch zu lösen, daß sie sich zumindest zeitweilig die Sexualität völlig verbieten. Auch die gesellschaftlichen Moralvorstellungen, Prüderie, Intoleranz bis hin zur Sexualfeindlichkeit, haben großen Anteil an der psychischen Situation, in der sich HIV-Infizierte befinden. . ." „. Nebdn den psychischen Belastungen, denen symptomlos HIVInfizierte sich immer wieder ausgesetzt sehen, kommt es auch in vielen Fällen zu einer drastischen Veränderung der sozialen Situation. Nach der Eröffnung eines positiven Testergebnisses kann das nähere soziale Umfeld häufig psychische Veränderungen bemerken. Das führt dazu, daß selbst HIV-Infizierte ohne jegliche Krankheitssymptome sich aus ihrem sozialen Umfeld zurückziehen, um peinigenden Fragen aus dem Wege zu gehen. Aus dem Wunsch heraus, Unterstützung zu erhalten, teilen manche HIV-Positive ihr Testergebnis ihrem sozialen Umfeld (Freund, Kollegen) unüberlegt mit, erleben dann aber oft das Gegenteil, das heißt soziale Isolierung. . ." Alle bisherigen Erfahrungen und wissenschaftlichen Beobachtungen — zuletzt vorgetragen auf dem 3. Deutschen AIDS-Kongreß, 1990 (24) — zeigen, daß die Diagnose „HIV-positiv" die Persönlichkeit des HIV-infizierten im Kern beeinträchtigen und zu seelischen Schäden führen kann. Durch Anpassungs- und Verdrängungsleistungen können HIV-Infizierte die seelischen Störungen nur bedingt ausgleichen oder gar bewältigen. Individuell sind die Kompensationsmöglichkeiten sehr unterschiedlich, nicht selten kommt es auch zu außergewöhnlichen seelischen Begleiterscheinungen. Die psychischen Störungen bei HIV-Infizierten wie extreme Angstzustände, Depressionen, Schlafstörungen, Minderwertigkeitskomplexe und andere beeinträchtigen das Selbstbewußtsein und beeinflussen die allgemeine Lebensführung, den Kontakt mit der Umwelt sowie die Leistungen im Berufsleben. Deshalb ist regelmäßig eine Minderung der Erwerbsfähigkeit für die symptomfreie HIVInfektion anzunehmen. Als Vergleich sei auf die Impotenz hingewiesen. Hier gibt es ebenfalls keine organisch bedingten Auswirkungen auf das Erwerbsleben; es wird aber sehr wohl regelmäßig eine MdE infolge der seelischen Störungen angenommen (vgl. dazu 25). Als Erfahrungswert wird vorgeschlagen: • Symtomfreie HIV-Infektion (CDC II; WR 1) MdE 10 bis 40 Prozent. Wegen der individuell sehr unterschiedlichen Ausprägung seelischer Störungen wird der MdE-Rahmen hier relativ weit gefaßt. Ein fachpsychologisches Gutachten für die individuelle Rentenbemessung dürfte in der Regel erforderlich sein (26), nach den allgemeinen Erfahrungen über die seelischen Begleiterscheinungen der HIV-Infektion sollte eine rentenberechtigende Mindest-MdE von 20 Prozent zuerkannt werden. Rentenbeginn ist entweder der Zeitpunkt des Arbeitsunfalles oder bei einem erst retrospektiv festgestellten Ursachenzusammenhang der Zeitpunkt der Diagnosestellung „HIV-positiv". 33 Lymphadenopathiesyndrom — LAS Im LAS-Stadium treten relevante Krankheitserscheinungen auf: anhaltende Lymphknotenschwellungen an mehreren Körperstellen, Abgeschlagenheit, Nachtschweiß, Fieber, anhaltende Durchfälle, häufig auch auffällige Hauterscheinungen und neurologische Veränderungen. Daraus folgt fast immer eine individuell unterschiedlich ausgeprägte Leistungsminderung, und es ergeben 3.4 AIDS Related Complex — ARC/AIDS HIV-Infizierte in diesen Stadien haben bereits einen manifesten Immundefekt, in dessen Folge sie nahezu andauernd an Infektionen (zum Beispiel Mundsoor) leiden können. Die Leistungsminderung (zum Beispiel anhaltende Müdigkeit) nimmt zu. Opportunistische Infektionen und Tumoren können nun gehäuft auftreten. Ärztlicherseits werden jetzt regelmäßige Diagnostik und prophylaktische und/oder antiretrovirale Behandlung (wie PCP-Prophylaxe, AZT-Therapie) empfohlen. sich vermehrt Ausfallzeiten durch Krankheitsepisoden, diagnostische und therapeutische Maßnahmen. Gerade in den Stadien LAS und ARC sind besonders ausgeprägte psychoreaktive Störungen als Folge des Auftretens erster Krankheitserscheinungen typisch. Aufgrund der arbeitsrechtlichen Bewertung ist beim Auftreten relevanter Krankheitserscheinungen, spätestens im Stadium ARC, die Frage des Arbeitgebers nach der Erkrankung zum Beispiel bei Stellenbewerbern zulässig (22), die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sinken damit erheblich. Es liegt auf der Hand, daß die 1987 vom Arztlichen Sachverständigenbeirat beim BMAS vorgeschlagenen „Anhaltspunkte" für die GdBBeurteilung als MdE-Richtwerte zu kurz greifen, weil sie die arbeitsmarktbezogenen Aspekte nicht berücksichtigen. Der Vorschlag für den MdE-Erfahrunswert folgt daher der weitergehenden Tabelle von ExnerFreisfeld/Helm, obwohl sie in bezug auf den GdB als zu hoch angesetzt kritisiert wurden (5). • Lymphadenopathiesyndrom — LAS (CDC III; WR 2): MdE 50 bis 60 Prozent. Das Fortschreiten von einem klinischen Stadium in das andere stellt eine wesentliche Änderung der Verhältnisse i. S. einer „Anderung in den Unfallfolgen" (§ 48 SGB X) dar. Daher ist mit dem Zeitpunkt der Diagnosestellung eine Erhöhung der Rente erforderlich. Die mittlere Überlebenszeit nach Eintritt in das AIDS-Stadium wird nach neueren Studien mit 18 bis 25 Monaten angegeben. Ausfallzeiten durch Leistungsminderung, Krankheit, Diagnostik und Therapie können erheblich sein. Nicht nur aus körperlichen und seelischen, sondern auch aus arbeitsrechtlichen Gründen (zum Beispiel sollten jetzt HIV-infizierte Beschäftigte im Gesundheitswesen wegen der Eigengefährdung nicht mehr in Bereichen erhöhter Infektionsgefahr tätig sein — UVV Gesundheitsdienst VBG 103 §§ 2a und 18) sind die Erwerbsmöglichkeiten extrem eingeschränkt. Dt. Ärztebi. 90, Heft 7, 19. Februar 1993 (63) A1 441 - FOR SIE REFERIERT Glossar ARC AIDS Related Complex, ältere Bezeichnung, heute AIDS (CDC IIV A) BeKV Berufskrankheitenverordnung CDC Centers for Disease Control, etwa Bundesgesundheitsamt der USA CDC-Klassifikation: Stadieneinteilung von AIDS (CDC I— IV) nach der CDC Falldefinition von 1987 GdB Grad der Behinderung (Schwerbehindertengesetz) LAS Lymphadenopathiesyndrom, ältere Bezeichnung für ein Vorstadium von AIDS, heute CDC III MdE Minderung der Erwerbsfähigkeit NAB Nationaler AIDSBeirat, Beratungsgremium des Bundesministeriums für Gesundheit ReichsversicherungsRVO ordnung SGB Sozialgesetzbuch Walter-Reed-InstiWR tute: Forschungsinstitute der US-Armee in Washington Walter-Reed-Klassifikation: klinische Stadieneinteilung der HIV-Infektion (WRO — WR 6) UnfallverhütungsvorUVV schriften der Berufsgenossenschaften und der gesetzlichen Unfallversicherungen VBG Vorschriftenwerk der (gewerblichen) Berufsgenossenschaften 41-442 Die Betroffenen stehen dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung. Vorschlag für den MdE-Erfahrungswert: • ARC/AIDS (CDC IV A, B; WR 3 —5): MdE 60 bis 80 Prozent. 3.5 AIDS Beim Vollbild AIDS sollte von einer MdE von 100 Prozent ausgegangen werden, selbst wenn einige Betroffene sich über längere Zeit noch relativ wohl fühlen, möglicherweise psychisch stabilisiert sind und ihrer Arbeit (voll) nachgehen können. Unabhängig davon ist jetzt die Lebenserwartung extrem reduziert. Die Mehrzahl der AIDS-Kranken wird in zunehmendem Maße (stationär) behandlungs- oder pflegebedürftig. Krankheits- und Befindlichkeitszustände wechseln so rasch, daß eine Anpassung der MdE schon aus zeitlichen Gründen nicht mehr möglich ist. Wenn überhaupt noch ein Arbeitsplatz existiert und gelegentlich Arbeitsfähigkeit besteht, sind die AIDS-Kranken nicht mehr in der Lage, sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen. Vorschlag für den MdE-Erfahrungswert: • AIDS (CDC IV B — E, WR 6): MdE 100 Prozent. Dt. Ärztebl. 90 (1993) A 1 -437-442 [Heft 7] Die in Klammem gesetzten Ziffern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis beim Sonderdruck, zu beziehen über die Verfasser. Anschrift des Verfassers: Dr. med. Jens Jarke Arzt für Allgemeinmedizin — Tropenmedizin — AIDS-Beratungsstelle der Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales Lübeckertordamm 5 W-2000 Hamburg 1 (64) Dt. Ärztebl. 90, Heft 7, 19. Februar 1993 Serum-Cholesterinspiegel und Lebensdauer — Ergebnisse der Seven Countries Study Die Frage der Beeinflussung der Lebensdauer durch Serumcholesterin wird in letzter Zeit kontrovers diskutiert. Die Autoren begannen 1959 eine Studie mit 1426 Männern zwischen 40 und 59 Jahren, die frei von Krankheitszeichen waren. Diese finnische Kohorte war Teil der sogenannten Seven Countries Study unter Ancel Keys. Seither ereigneten sich 748 Todesfälle ( = 53 Prozent der Teilnehmer) innerhalb der auf den Studienbeginn folgenden 25 Jahre. Die Männer mit einem hohen Cholesterinspiegel hatten zu allen Phasen der Anschlußstudie eine höhere Sterblichkeit an koronaren Herzkrankheiten zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu wechselten die Beziehungen zwischen Gesamtsterblichkeit und Serumcholesterin insofern, als diese Probanden während der ersten zehn Jahre trotz hohen Serumcholesterins bei hoher Koronarsterblichkeit niedrigere Mortalitätsraten aus anderen Ursachen aufwiesen. Hier war insbesondere die niedrigere Krebssterblichkeit bemerkenswert. Während der letzten 15 Jahre ergaben sich keine Beziehungen zwischen Serumcholesterin und allgemeiner Sterblichkeit, das heißt hohe koronare Mortalität bei hohem Cholesterin, ebenfalls verbunden mit einer höheren allgemeinen Sterblichkeitsrate aus nicht koronaren Ursachen. Die Autoren schließen aus diesen Ergebnissen, daß für die Beurteilung der Gesamtsterblichkeit einer Kohorte die Beobachtungszeit lang genug sein muß, am besten länger als zehn Jahre. Quoten der Sterblichkeitsrate sollten jedenfalls bei der Beurteilung aller Stoffwechselstudien berücksichtigt werden. sht Pekkanen, J., A. Nissinen, S. Punsar, M. J. Karvonen: Short and Jong-term association of serum cholesterol with mortality — The 25-year follow-up of the Finnish cohorts of the Seven Countries Study. Am. Journ. Epidem. 135 (1992) 1251-1258. Department of Environmental Epidemiology, National Public Health Institute, Kuopio, Finnland.