Deutsches Ärzteblatt 1993: A-437

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DEUTSCHES
ÄRZTEBLATT
HIV-Infektion und AIDS
als Berufskrankheit
Hinweise zur Anerkennung und zur Unfallrente
Jens Jarke
Der Fall eines aidskranken Zahnarztes aus Florida, der fünf seiner
Patienten mit HIV infiziert hatte,
führte im Vorjahr zu einer weltweiten Diskussion über die
wechselseitigen Infektionsrisiken bei medizinischem Personal
und Patienten. Dieser Fall ist bisher einzigartig, aber auch die berufsbedingte HIV-Infektion bei
Gesundheitsberufen ist sehr selten. Mit der weiter steigenden
Zahl von AIDS-Behandlungsfällen werden jedoch in den nächsten Jahren auch Berufskrankheitenverfahren zunehmen. Wenn
direkt nach einem Berufsunfall
mit möglicher Exposition zu HIVpositivem Blut ein HIV-Test
durchgeführt und bei späteren
Kontrollen eine Serokonversion
festgestellt wird, ist die Anerkennung als Berufskrankheit in der
Regel unproblematisch. Dagegen ist es äußerst schwierig, einen ursächlichen Zusammenhang mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu belegen, wenn
ein Arbeitsunfall lange zurückliegt und meist auch nicht angezeigt wurde. Zur Beurteilung derartiger Fälle werden gutachterliche Kriterien begründet. Ist eine
Berufskrankheit anerkannt, muß
eine Unfallrente gewährt werden.
Erstmals werden Erfahrungswerte zur Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit
(MdE) vorgeschlagen.
1. Berufskrankheit
Die berufsbedingte HIV-Infektion (infolge eines Arbeitsunfalles) im
Gesundheitswesen ist sehr selten. Bei
einmaligem Kontakt mit HIV (direkter Blutkontakt — 1:200 — oder Exposition der Schleimhäute und/oder
von Wunden — 1:300 bis 1:400 — )
liegt das Infektionsrisiko unter 0,5
Prozent (1). Aus einer mit dem Stichtag 31. Juli 1989 abgeschlossenen Literaturstudie geht hervor, daß bis zu
diesem Zeitpunkt weltweit 34 Fälle
von sicher oder wahrscheinlich berufsbedingten HIV-Infektionen bei
medizinischem Personal beschrieben
worden waren (2). In der Bundesrepublik Deutschland waren bis Ende
1991 drei Fälle berufsbedingter HIVInfektionen durch die gesetzlichen
Unfallversicherungsträger als Berufskrankheit anerkannt (3). Eine unbekannte Dunkelziffer berufsbedingter
HIV-Infektionen muß angenommen
werden.
Bei einer HIV-Infektion oder
bei AIDS liegt eine Berufskrankheit
nach Nr. 3101 der Anlage 1 zur
Berufskrankheiten-Verordnung
(BeKV) in allen Stadien der Krankheit vor, wenn der Versicherte im
Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege, einem Laboratorium
tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt
war und bei dieser Tätigkeit infiziert
wurde.
Für die Anerkennung als Berufskrankheit muß wahrscheinlich
gemacht werden, daß die Infektion
durch die versicherte Tätigkeit verursacht worden ist und keine andere
Infektionsquelle ernstlich in Betracht kommt (Kausalzusammenhang). So muß sorgfältig geprüft
werden, ob die Infektionsgefahr beruflich bedingt war und gegenüber
der — statistisch ungleich größeren
— Gefahr, sich diese Infektion im
privaten Bereich zuzuziehen, so
überwiegt, daß die Gefährdung im
täglichen Leben in den Hintergrund
tritt. Für die Bejahung des ursächlichen Zusammenhanges der Infektion mit der versicherten Tätigkeit genügt eine hinreichende Wahrscheinlichkeit. Hierunter ist eine Wahrscheinlichkeit zu verstehen, nach der
bei vernünftiger Abwägung aller
Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein
deutliches Übergewicht zukommt, so
daß darauf die Uberzeugung gegründet werden kann (4).
Der Unfallversicherungsträger
muß den Sachverhalt von Amts wegen ermitteln und alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für
den Verletzten günstigen Umstände
berücksichtigen (§ 20 I und II SGB
X). Hier wird in der Regel ein medizinischer Sachverständiger als Gutachter eingeschaltet.
2. Gutachterliche
Beurteilung
Wenn direkt nach einem Unfall
— Nadelstich- oder Schnittverletzung; Haut-, Schleimhaut- oder
Wundkontamination mit Blut —
beim Verletzten eine Blutprobe entnommen wird und zu diesem Zeitpunkt keine HIV-Antikörper nachweisbar sind, diese jedoch bei späteren Nachuntersuchungen auftreten
Dt. Ärztebl. 90, Heft 7, 19. Februar 1993 (55)
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(Serokonversion), ist der ursächliche
Zusammenhang anzunehmen (5).
Weitere Indizien können die Identifizierung einer Infektionsquelle (nur
mit Einverständnis des Patienten)
oder zumindest das Vorkommen von
AIDS-Kranken und HIV-Infizierten
im Beschäftigungsbereich sein.
Problematisch sind all diejenigen Fälle, wo eine HIV-Infektion
oder fortgeschrittene Krankheitsstadien wie eine Lymphadenopathie
oder AIDS diagnostiziert werden
und die betroffene Person erst jetzt
eine Berufskrankheitenanzeige erstattet. Hier ist dann der Kausalzusammenhang mit einem oftmals sehr
lange zurückliegenden und meist
nicht angezeigten Arbeitsunfall
wahrscheinlich zu machen.
Nach dem Handkommentar zur
BeKV gilt der ursächliche Zusammenhang als anzunehmen: „Bei
Nachweis einer HIV-Infektion und
eines berufsbedingten Kontaktes mit
Blut ist in der Regel die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs zu bejahen, es sei denn, die
Gegebenheit einer außerberuflichen
Infektion ist so groß, daß deswegen
eine berufliche Infektion nicht als
ausreichend wahrscheinlich angesehen werden kann (der Infizierte war
bzw. ist Fixer, sexuelle Kontakte mit
einem bereits infizierten Partner liegen vor, der Betroffene gehört zum
Personenkreis mit ausgiebigen homo- oder heterosexuellen Kontakten)." (6)
Nachforschungen müssen daher
zum Ziel haben
• einen Blutkontakt zu belegen und
ggf. die näheren Umstände zu bestimmen, sowie
• eine außerberufliche Infektion
auszuschließen oder unwahrscheinlich zu machen.
2.1 Blutkontakt
Blut und Körperflüssigkeiten
werden grundsätzlich als infektiös
angesehen (nicht nur bezüglich
HEV). Nach den heutigen Erkenntnissen über den Verlauf der HIVEpidemie in der Bundesrepublik
Deutschland ist durchaus davon auszugehen, daß ab Anfang der 80er
Jahre auch HIV-infizierte Patienten
in Einrichtungen des Gesundheitswesens behandelt wurden (7). Wenn
ein Blutkontakt zum Beispiel durch
Zeugenaussagen oder Dienstpläne
belegt werden kann, ist es retrospektiv aus praktischen, rechtlichen und
ethischen Gründen meist nicht möglich, die Infektionsquelle zu identifizieren.
Einen Hinweis für einen bestimmten Blutkontakt kann der Verlauf der HIV-Infektion beim Geschädigten geben. Nach neueren Untersuchungen, soll es bei mindestens
30 Prozent (nach anderen Studien 55
Prozent bis 90 Prozent) der Infizierten in den ersten 3 bis 8 Wochen
(aber auch bis zu 6 Monate) nach der
Ansteckung zu einem akuten Krankheitsbild kommen, das einer Grippe
oder einem Pfeifferschen Drüsenfieber (Mononukleose) ähneln kann.
Die Krankheitserscheinungen sind
so allgemein — Fieber, Schwitzen,
Abgeschlagenheit bzw. Leistungsabfall, Gliederschmerzen, Kopf- und
Halsweh, gelegentlich rötlicher
Hautausschlag (Exanthem) —, daß
sie bei vielen anderen Virusinfekten
auch vorkommen (8).
Mittlerweile liegen auch mehrere Veröffentlichungen aus größeren
Verkaufsstudien und mathematischen Modellen vor, die Auskunft
geben über die mittlere Dauer der
Inkubations- oder Latenzzeit vom
Zeitpunkt der Ansteckung mit HIV
bis zum Auftreten von AIDS. Danach wird heute davon ausgegangen,
daß nach einer Latenzzeit von 8 bis
10 Jahren 50 Prozent der Infizierten
an AIDS erkrankt sind (9). Aus anderen Studien läßt sich schließen,
daß Personen, die zum Zeitpunkt
der HIV-Infektion 40 Jahre und älter sind, mit einer 4- bis 8fach höheren Wahrscheinlichkeit innerhalb
von 7 Jahren AIDS entwickeln als
Patienten unter 20 Jahren (10). Damit ist die Dauer der Inkubationszeit
und die Krankheitsmanifestationsrate offenbar altersabhängig unterschiedlich.
Die Wahrscheinlichkeit einer
HIV-Infektion durch einen bestimmten Blutkontakt kann jedoch erheblich erhärtet werden, wenn Angaben
über die näheren Umstände des
Blutkontaktes vorliegen. In der wissenschaftlichen Fachdiskussion der
Al 438 (56) Dt. Ärztebl. 90, Heft 7, 19. Februar 1993
-
letzten Jahre hat sich eine Vorstellung darüber herausgebildet, welche
Bedingungen eine HIV-Übertragung
wesentlich oder gar notwendig bestimmen. Diese Umstände können
oft durch Befragung des Geschädigten und etwaiger Zeugen teilweise
geklärt werden.
Bisher haben HIV-Übertragungen am Arbeitsplatz nur durch erregerhaltiges Blut und Viruskonzentrat
stattgefunden. Beschrieben wurden:
• die perkutane Inokulation (Stichoder Schnittverletzungen),
• der Kontakt mit einer offenen
Wunde oder nicht intakter Haut
(aufgerissene, nässende oder dermatitische veränderte Haut),
• Schleimhautexposition gegenüber
Blut oder blutkontaminierten Körperflüssigkeiten (2).
Obwohl insbesondere im Vergleich zu Hepatitis B das Risiko der
HIV-Übertragung bei einmaligem
Kontakt mit verletzter Haut als
zehnmal geringer eingeschätzt wird
als das einer parenteralen Exposition
mit infiziertem Blut (11), steigt die
Infektionswahrscheinlichkeit bei beiden Risiken mit der Häufigkeit entsprechender Expositionen.
Weiterhin wird das HIV-Infektionsrisiko erheblich beeinflußt durch
das klinische Krankheitsstadium des
Patienten (Indexperson), von dem
das erregerhaltige Blut stammt. Die
bislang beschriebenen berufsbedingten HIV-Infektionen waren in der
Regel auf Patienten zurückzuführen,
die sich bereits im AIDS-Stadium
befanden. Durch die quantitative
Bestimmung von HIV im Blut von
infizierten Personen kann davon ausgegangen werden, daß das (Blut-)
Plasma von Patienten mit symptomatischem AIDS ungefähr eine TCID
(Tissue-Culture-Infective-Dose) pro
0,3111 enthält und daß im Plasma von
Patienten ohne Symptome eine etwa
100-fach geringere Konzentration
des HIV vorhanden ist (12).
Eine HIV-Übertragung durch
Blutkontakt ist wesentlich abhängig
von
• Art und Häufigkeit der Exposition,
• dem Krankheitsstadium des In-
dexpatienten,
• der Menge des inokulierten Blutes,
der Kontaktzeit des Blutes mit
Schleimhäuten und/oder Wunden.
Je ansteckungsfähiger der Indexpatient, je direkter der Zugang
zur Blutbahn und je größer die Blutmenge, desto wahrscheinlicher wird
eine HIV-Infektion nach einem bestimmten Blutkontakt.
2.2 Außerberufliche
Ansteckungsrisiken
Da eine HIV-Infektion im Privatleben statistisch sehr viel wahrscheinlicher ist als im Berufsleben,
müssen der Versicherungsträger und
der beauftragte Gutachter den antragstellenden Versicherten dahingehend befragen. Der Versicherte ist
im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht (§ 60 SGB I) verpflichtet, entsprechende Fragen wahrheitsgemäß
zu beantworten. Alle in der Sache
notwendigen und ethisch vertretbaren Auskünfte über den Lebenswandel des Betroffenen dürfen bis an die
Grenze der Intimsphäre eingeholt
werden (4). Gefragt werden muß
nach der Verabreichung von Bluttransfusionen und Blutprodukten,
nach iv-Drogenkonsum sowie nach
(homo- und/oder hetero-) sexuellen
Kontakten. Angaben zum Sexualverhalten können unter Umständen
durch serologische Untersuchungen
auf früher durchgemachte Geschlechtskrankheiten (Lues, Gonorrhoe, Chlamydien) indirekt überprüft werden.
3. Unfallrente
Ist eine Berufskrankheit anerkannt, muß eine Unfallrente als
Vollrente oder Teilrente entsprechend der Minderung der Erwerbsfähigkeit gewährt werden (§ 581
RVO). Versichertes Rechtsgut in
der Unfallversicherung ist die individuelle Erwerbsfähigkeit. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) —
ausgedrückt in Prozentsätzen — bezeichnet den durch die körperlichen,
seelischen und geistigen Folgen des
Versicherungsfalles (Arbeitsunfall,
Berufskrankheit) bedingten Verlust
an Erwerbsmöglichkeiten auf dem
gesamten Gebiet des Erwerbslebens,
Tabelle: Vergleich der „Anhaltspunkte"/Erfahrungswerte zum GdB
und zur MdE
Klinische Stadienbezeichnung
Allgemein
CDC1 Walter
Reede
Labor GdB3 GdB4 MdE
CD 4
Zellen
WR 1
Symptomfreie
HIV-Infektion
II
LAS
Lymphadenopathiesyndrom
III WR 2
(<)
Normalwert
0
0
10 — 40
< Nor- 30 50 50 — 60 50 — 60
malwert
AR C/AIDS
AIDS Related
Complex
IV A
IV B
WR 3
WR 4
WR 5
< 400
AIDS
IV
BE
WR 6
< 400
50 — 80 60 — 80
100
100
60 — 80
100
1 Klassifikation der Centers for Desease Control — CDC und der Weltgesundheitsorganisation — WHO von 1987
2 Klassifikation des Walter Reed Military Hospital
3 Sektion „Versorgungsmedizin" beim Bundesminister für ,Arbeit und Sozialordnung (15)
4 Vorschläge zur GdB-Beurteilung von Exner-Freisfeld/Helm (13)
(nicht aufgenommen wurde die akute HIV-Infektion = CDC I — WRO/WR 1)
dem sogenannten allgemeinen Arbeitsmarkt. Eine Teilrente bei Minderung der Erwerbsfähigkeit will
nicht einen tatsächlich eingetretenen
materiellen Schaden (zum Beispiel
Entgeltminderung) ausgleichen, sondern ist allein abgestellt auf den abstrakt bemessenen Verlust von Erwerbsmöglichkeiten aufgrund einer
verbliebenen Minderung der Erwerbsfähigkeit. Über die individuelle
Leistungsfähigkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen, sagt die MdE
nichts aus. Dementsprechend erlauben die Anerkennung von Berufsoder Erwerbsunfähigkeit durch einen Rentenversicherungsträger oder
die Feststellung einer Dienst- oder
Arbeitsunfähigkeit keine Rückschlüsse auf den Grad der MdE, umgekehrt darf aus dem Grad der MdE
nicht auf Leistungsvoraussetzungen
anderer Rechtsgebiete geschlossen
werden (17).
Es ist notwendig, den MdE-Begriff vom „Grad der Behinderung
(GdB)" aus dem Schwerbehindertengesetz abzugrenzen, weil der GdB
allgemein ein Maß für den Mangel
an körperlichem, geistigem oder seelischen Vermögen ausdrückt und
nicht speziell auf das Erwerbsleben
ausgerichtet ist. Anders als zur Unfallrente liegen allerdings zur Anwendung des Schwerbehindertengesetzes für HIV-Infizierte und AIDSKranke bereits mehrere Veröffentlichungen vor (13, 14, 15, 16). Diese
Bewertungen und Stellungnahmen
zum GdB werden hier zur Abgrenzung in die Diskussion miteinbezogen.
3.1 MdE und die Stadien der
HIV-Infektion
Um den im Einzelfall sehr unterschiedlichen und komplexen Verlauf
einer HIV-Infektion vergleichend zu
beschreiben, sind mittlerweile verschiedene klinische Stadieneinteilungen gebräuchlich. Der zeitliche
Ablauf der HIV-Infektion, also das
Fortschreiten von einem Stadium
zum anderen ist individuell sehr unterschiedlich. Nach der meist recht
langen Latenzzeit ohne klinisch faß-
Dt. Ärztebl. 90, Heft 7, 19. Februar 1993 (59
A1 439
-
bare Symptome kann der weitere
Ablauf im Einzelfall sehr rasch erfolgen, die Übergänge zwischen den
Stadien können fließend sein. Nicht
erfaßt von den Stadieneinteilungen
werden die vielfältigen psycho-sozialen Auswirkungen einer HIV-Infek tion. Nach der Rechtslage und
den Sachverständigen-Empfehlungen sind auch seelische Begleiterscheinungen bei der Beurteilung des
GdB und der MdE zu beachten. Außergewöhnliche seelische Begleiterscheinungen sind gegebenenfalls gesondert zu beurteilen. Sie sind dann
anzunehmen, wenn anhaltende psychoreaktive Störungen in einer solchen Ausprägung vorliegen, daß eine
spezielle ärztliche Behandlung dieser Störungen — insbesondere eine
Psychotherapie — erforderlich ist
(Nr. 18 Abs. 8 der „Anhaltspunkte"
[18]).
Im folgenden werden MdE-Erfahrungswerte für die Stadien der
chronischen HIV-Infektion begründet. Diese Regelsätze sind als Anhaltspunkte für den Normalfall anzusehen und dürfen nicht schematisch angewendet werden. Vielmehr
sollen sie in Verbindung mit den
Umständen des Einzelfalles dessen
angemessene Würdigung ermöglichen. Die Tabelle ordnet die vorgeschlagenen MdE-Erfahrungswerte
den klinischen Stadien der HIV-Infektion zu und vergleicht sie mit den
zwei etwas voneinander abweichenden „Anhaltspunkten" für die Zuteilung des GdB.
3.2 Symptomfreie HIV Infektion
HIV-Infizierte im Stadium CDC
II sind körperlich frei von Krankheitserscheinungen und meist uneingeschränkt dienst- bzw. arbeitsfähig.
Die 59. Konferenz der für das Gesundheitswesen zuständigen Minister und Senatoren der Länder
kommt in ihrer Entschließung vom
November 1988 zu dem Schluß:
„. . eine HIV-Infektion ohne
Krankheitssymptomatik darf einer
— auch auf Lebenszeit angelegten
— Verbeamtung nicht entgegenste-
hen."
Für symptomfrei HIV-Infizierte
besteht weder eine erhöhte EigengeA1 440
-
fährdung zum Beispiel durch Infektionserreger, noch geht eine Fremdgefährdung von ihnen aus. Letzteres
hat der Nationale AIDS-Beirat
(NAB) in seinem Votum 1 (5. März
1987: Berufstätigkeit von HIV-Infizierten) formuliert (19): „Eine Gefärdung anderer durch eine HIV-infizierte Person in Ausübung ihrer
Berufstätigkeit als Ansteckungsquelle sowie eine Gefärdung durch HIVbedingte Komplikationen besteht
nicht. Eine obligatorische Antikörper-Testung wird deshalb nicht empfohlen. (Der Beirat hat sich bei diesem Votum nicht mit der Frage der
Prostitution befaßt.)" Im Sommer
1990 wurde erstmals ein Einzelfall
aus den USA dokumentiert, wonach
ein aidskranker Zahnarzt fünf Patienten wahrscheinlich durch die
Nicht-Einhaltung elementarer Hygienemaßnahmen mit HIV infiziert
hat (20). Weltweit ist in der Folge
davon die Diskussion über die wechselseitigen Infektionsrisiken bei medizinischem Personal und Patienten
erneut öffentlich geführt worden.
Die zuvor zitierte Aussage des NAB
zur Fremdgefährdung wurde danach
eingeschränkt. Eine Stellungnahme
des Bundesgesundheitsministeriums
in Abstimmung mit Spitzenorganisationen der deutschen Ärzteschaft
empfiehlt . einen freiwilligen HIVTest für Ärzte mit begründeten Infektionsrisiken, die bestimmte operative Maßnahmen durchführen:
„Bei positivem Testausfall sollten
keine ärztlichen oder zahnärztlichen
Eingriffe vorgenommen werden, die
eine Verletzungsgefahr für den Operateur selbst beinhalten und somit
auch eine Infektionsgefahr für den
jeweiligen Patienen" (21). Eine solche Einschränkung der Möglichkeiten beruflicher Tätigkeit wird bei der
MdE-Bemessung gesondert zu berücksichtigen sein.
Auch zur möglichen Eigengefährdung für im Krankenhaus beschäftigte HIV-Infizierte hat der
NAB Stellung genommen; im Votum
15 (21. September 1988) wird eine
besondere Infektionsgefährdung von
Krankenhausbediensteten verneint.
Die bis hierher referierten Bewertungen der symptomfreien HIVInfektion sind auch in die umfangreiche arbeitsrechtliche Diskussion zur
(60) Dt. Ärztebl. 90, Heft 7, 19. Februar 1993
HIV-Infektion und AIDS-Erkrankung eingegangen. Eine aktuelle
Übersicht dazu findet sich z. B. bei
Lichtenberg/Schücking (22).
Allein aus klinischer und arbeitsrechtlicher Sicht hat eine HIVInfektion ohne organische Symptomatik keinen Verlust an Erwerbsmöglichkeiten zur Folge. Diese Bewertung muß allerdings um die psycho-sozialen Dimensionen der HIVInfektion ergänzt werden, die ja von
der Stadieneinteilung nicht mit erfaßt sind.
Zu den psycho-sozialen Folgen
der HIV-Infektion hat sich die Enquete-Kommission des 11. Deutschen Bundestages „Gefahren von
AIDS und wirksame Wege zu ihrer
Eindämmung" in ihrem Endbericht
ausführlich geäußert; einige Auszüge
werden hier wiedergegeben (23):
„In der Auseinandersetzung mit
der Diagnose „HIV-positiv" können
Depressionen auftreten, die mit Suizidalität sowie psychischen Reaktionen, wie Schuldgefühlen und Ängsten, auch vor den sozialen Konsequenzen der Krankheit, verbunden
sind. Der bedrohliche Lebensmittelpunkt eines asymptomatisch HIVPositiven ist der Widerspruch, sich
gesund zu fühlen, aber potentiell
todkrank zu sein. Die daraus resultierende und immer wiederkehrende
Todesangst kann abhängig von der
psychischen Struktur als Angst vor
körperlichem Verfall und Siechtum,
als Angst vor Schwäche und Angewiesensein auf andere oder als Angst
vor dem sozialen Tod erlebt werden.
Sie wird darüber hinaus auch stark
durch die in den Medien immer wieder — nach heutigem Wissensstand
sachlich unzutreffend — beschworene Zwangsläufigkeit der Erkrankung
verstärkt. . ."
„. . Eine besondere psychische
Belastung stellt für HIV-Positive der
Umgang mit der Sexualität dar: Ihnen ist bewußt, daß sie lebenslang
ihr Sexualverhalten umstellen müssen; gleichzeitig führt die Angst, ihren Partner trotz Schutzmaßnahmen
doch zu infizieren, häufig zu einer
unerträglichen psychischen Situation. Viele HIV-Infizierte versuchen
die Situation dadurch zu lösen, daß
sie sich zumindest zeitweilig die Sexualität völlig verbieten. Auch die
gesellschaftlichen Moralvorstellungen, Prüderie, Intoleranz bis hin zur
Sexualfeindlichkeit, haben großen
Anteil an der psychischen Situation,
in der sich HIV-Infizierte befinden. . ."
„. Nebdn den psychischen Belastungen, denen symptomlos HIVInfizierte sich immer wieder ausgesetzt sehen, kommt es auch in vielen
Fällen zu einer drastischen Veränderung der sozialen Situation. Nach
der Eröffnung eines positiven Testergebnisses kann das nähere soziale
Umfeld häufig psychische Veränderungen bemerken. Das führt dazu,
daß selbst HIV-Infizierte ohne jegliche Krankheitssymptome sich aus ihrem sozialen Umfeld zurückziehen,
um peinigenden Fragen aus dem
Wege zu gehen. Aus dem Wunsch
heraus, Unterstützung zu erhalten,
teilen manche HIV-Positive ihr Testergebnis ihrem sozialen Umfeld
(Freund, Kollegen) unüberlegt mit,
erleben dann aber oft das Gegenteil,
das heißt soziale Isolierung. . ."
Alle bisherigen Erfahrungen
und wissenschaftlichen Beobachtungen — zuletzt vorgetragen auf dem
3. Deutschen AIDS-Kongreß, 1990
(24) — zeigen, daß die Diagnose
„HIV-positiv" die Persönlichkeit des
HIV-infizierten im Kern beeinträchtigen und zu seelischen Schäden führen kann. Durch Anpassungs- und
Verdrängungsleistungen können
HIV-Infizierte die seelischen Störungen nur bedingt ausgleichen oder
gar bewältigen. Individuell sind die
Kompensationsmöglichkeiten sehr
unterschiedlich, nicht selten kommt
es auch zu außergewöhnlichen seelischen Begleiterscheinungen. Die
psychischen Störungen bei HIV-Infizierten wie extreme Angstzustände,
Depressionen, Schlafstörungen,
Minderwertigkeitskomplexe und andere beeinträchtigen das Selbstbewußtsein und beeinflussen die allgemeine Lebensführung, den Kontakt
mit der Umwelt sowie die Leistungen
im Berufsleben. Deshalb ist regelmäßig eine Minderung der Erwerbsfähigkeit für die symptomfreie HIVInfektion anzunehmen. Als Vergleich sei auf die Impotenz hingewiesen. Hier gibt es ebenfalls keine organisch bedingten Auswirkungen auf
das Erwerbsleben; es wird aber sehr
wohl regelmäßig eine MdE infolge
der seelischen Störungen angenommen (vgl. dazu 25).
Als Erfahrungswert wird vorgeschlagen:
• Symtomfreie HIV-Infektion (CDC
II; WR 1) MdE 10 bis 40 Prozent.
Wegen der individuell sehr unterschiedlichen Ausprägung seelischer Störungen wird der MdE-Rahmen hier relativ weit gefaßt. Ein
fachpsychologisches Gutachten für
die individuelle Rentenbemessung
dürfte in der Regel erforderlich sein
(26), nach den allgemeinen Erfahrungen über die seelischen Begleiterscheinungen der HIV-Infektion
sollte eine rentenberechtigende Mindest-MdE von 20 Prozent zuerkannt
werden. Rentenbeginn ist entweder
der Zeitpunkt des Arbeitsunfalles
oder bei einem erst retrospektiv festgestellten Ursachenzusammenhang
der Zeitpunkt der Diagnosestellung
„HIV-positiv".
33 Lymphadenopathiesyndrom
— LAS
Im LAS-Stadium treten relevante Krankheitserscheinungen auf: anhaltende Lymphknotenschwellungen
an mehreren Körperstellen, Abgeschlagenheit, Nachtschweiß, Fieber,
anhaltende Durchfälle, häufig auch
auffällige Hauterscheinungen und
neurologische Veränderungen. Daraus folgt fast immer eine individuell
unterschiedlich ausgeprägte Leistungsminderung, und es ergeben
3.4 AIDS Related Complex —
ARC/AIDS
HIV-Infizierte in diesen Stadien
haben bereits einen manifesten Immundefekt, in dessen Folge sie nahezu andauernd an Infektionen (zum
Beispiel Mundsoor) leiden können.
Die Leistungsminderung (zum Beispiel anhaltende Müdigkeit) nimmt
zu. Opportunistische Infektionen
und Tumoren können nun gehäuft
auftreten. Ärztlicherseits werden
jetzt regelmäßige Diagnostik und
prophylaktische und/oder antiretrovirale Behandlung (wie PCP-Prophylaxe, AZT-Therapie) empfohlen.
sich vermehrt Ausfallzeiten durch
Krankheitsepisoden, diagnostische
und therapeutische Maßnahmen.
Gerade in den Stadien LAS und
ARC sind besonders ausgeprägte
psychoreaktive Störungen als Folge
des Auftretens erster Krankheitserscheinungen typisch.
Aufgrund der arbeitsrechtlichen
Bewertung ist beim Auftreten relevanter Krankheitserscheinungen,
spätestens im Stadium ARC, die
Frage des Arbeitgebers nach der Erkrankung zum Beispiel bei Stellenbewerbern zulässig (22), die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sinken damit erheblich.
Es liegt auf der Hand, daß die
1987 vom Arztlichen Sachverständigenbeirat beim BMAS vorgeschlagenen „Anhaltspunkte" für die GdBBeurteilung als MdE-Richtwerte zu
kurz greifen, weil sie die arbeitsmarktbezogenen Aspekte nicht berücksichtigen. Der Vorschlag für den
MdE-Erfahrunswert folgt daher der
weitergehenden Tabelle von ExnerFreisfeld/Helm, obwohl sie in bezug
auf den GdB als zu hoch angesetzt
kritisiert wurden (5).
• Lymphadenopathiesyndrom —
LAS (CDC III; WR 2): MdE 50 bis
60 Prozent.
Das Fortschreiten von einem klinischen Stadium in das andere stellt
eine wesentliche Änderung der Verhältnisse i. S. einer „Anderung in
den Unfallfolgen" (§ 48 SGB X) dar.
Daher ist mit dem Zeitpunkt der
Diagnosestellung eine Erhöhung der
Rente erforderlich.
Die mittlere Überlebenszeit
nach Eintritt in das AIDS-Stadium
wird nach neueren Studien mit 18 bis
25 Monaten angegeben. Ausfallzeiten durch Leistungsminderung,
Krankheit, Diagnostik und Therapie
können erheblich sein. Nicht nur aus
körperlichen und seelischen, sondern auch aus arbeitsrechtlichen
Gründen (zum Beispiel sollten jetzt
HIV-infizierte Beschäftigte im Gesundheitswesen wegen der Eigengefährdung nicht mehr in Bereichen
erhöhter Infektionsgefahr tätig sein
— UVV Gesundheitsdienst VBG
103 §§ 2a und 18) sind die Erwerbsmöglichkeiten extrem eingeschränkt.
Dt. Ärztebi. 90, Heft 7, 19. Februar 1993 (63)
A1 441
-
FOR SIE REFERIERT
Glossar
ARC AIDS Related Complex,
ältere Bezeichnung,
heute AIDS (CDC
IIV A)
BeKV Berufskrankheitenverordnung
CDC
Centers for Disease
Control,
etwa Bundesgesundheitsamt der USA
CDC-Klassifikation:
Stadieneinteilung
von AIDS (CDC
I— IV)
nach der CDC Falldefinition von 1987
GdB Grad der Behinderung (Schwerbehindertengesetz)
LAS
Lymphadenopathiesyndrom,
ältere Bezeichnung
für ein Vorstadium
von AIDS,
heute CDC III
MdE
Minderung der Erwerbsfähigkeit
NAB
Nationaler AIDSBeirat,
Beratungsgremium
des Bundesministeriums für Gesundheit
ReichsversicherungsRVO
ordnung
SGB
Sozialgesetzbuch
Walter-Reed-InstiWR
tute:
Forschungsinstitute
der US-Armee in
Washington
Walter-Reed-Klassifikation:
klinische
Stadieneinteilung
der HIV-Infektion
(WRO — WR 6)
UnfallverhütungsvorUVV
schriften der Berufsgenossenschaften
und der gesetzlichen
Unfallversicherungen
VBG
Vorschriftenwerk
der (gewerblichen)
Berufsgenossenschaften
41-442
Die Betroffenen stehen dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr zur
Verfügung.
Vorschlag für den MdE-Erfahrungswert:
• ARC/AIDS (CDC IV A, B; WR
3 —5): MdE 60 bis 80 Prozent.
3.5 AIDS
Beim Vollbild AIDS sollte von
einer MdE von 100 Prozent ausgegangen werden, selbst wenn einige
Betroffene sich über längere Zeit
noch relativ wohl fühlen, möglicherweise psychisch stabilisiert sind und
ihrer Arbeit (voll) nachgehen können. Unabhängig davon ist jetzt die
Lebenserwartung extrem reduziert.
Die Mehrzahl der AIDS-Kranken
wird in zunehmendem Maße (stationär) behandlungs- oder pflegebedürftig. Krankheits- und Befindlichkeitszustände wechseln so rasch, daß
eine Anpassung der MdE schon aus
zeitlichen Gründen nicht mehr möglich ist. Wenn überhaupt noch ein
Arbeitsplatz existiert und gelegentlich Arbeitsfähigkeit besteht, sind
die AIDS-Kranken nicht mehr in der
Lage, sich dem Arbeitsmarkt zur
Verfügung zu stellen.
Vorschlag für den MdE-Erfahrungswert:
• AIDS (CDC IV B — E, WR 6):
MdE 100 Prozent.
Dt. Ärztebl. 90 (1993) A 1 -437-442
[Heft 7]
Die in Klammem gesetzten Ziffern beziehen
sich auf das Literaturverzeichnis beim Sonderdruck, zu beziehen über die Verfasser.
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Jens Jarke
Arzt für Allgemeinmedizin
— Tropenmedizin —
AIDS-Beratungsstelle der Behörde
für Arbeit, Gesundheit und Soziales
Lübeckertordamm 5
W-2000 Hamburg 1
(64) Dt. Ärztebl. 90, Heft 7, 19. Februar 1993
Serum-Cholesterinspiegel
und Lebensdauer —
Ergebnisse der
Seven Countries Study
Die Frage der Beeinflussung der
Lebensdauer durch Serumcholesterin wird in letzter Zeit kontrovers
diskutiert. Die Autoren begannen
1959 eine Studie mit 1426 Männern
zwischen 40 und 59 Jahren, die frei
von Krankheitszeichen waren. Diese
finnische Kohorte war Teil der sogenannten Seven Countries Study unter Ancel Keys. Seither ereigneten
sich 748 Todesfälle ( = 53 Prozent
der Teilnehmer) innerhalb der auf
den Studienbeginn folgenden 25 Jahre. Die Männer mit einem hohen
Cholesterinspiegel hatten zu allen
Phasen der Anschlußstudie eine höhere Sterblichkeit an koronaren
Herzkrankheiten zu verzeichnen. Im
Gegensatz dazu wechselten die Beziehungen zwischen Gesamtsterblichkeit und Serumcholesterin insofern, als diese Probanden während
der ersten zehn Jahre trotz hohen
Serumcholesterins bei hoher Koronarsterblichkeit niedrigere Mortalitätsraten aus anderen Ursachen aufwiesen. Hier war insbesondere die
niedrigere Krebssterblichkeit bemerkenswert. Während der letzten 15
Jahre ergaben sich keine Beziehungen zwischen Serumcholesterin und
allgemeiner Sterblichkeit, das heißt
hohe koronare Mortalität bei hohem
Cholesterin, ebenfalls verbunden mit
einer höheren allgemeinen Sterblichkeitsrate aus nicht koronaren Ursachen. Die Autoren schließen aus
diesen Ergebnissen, daß für die Beurteilung der Gesamtsterblichkeit einer Kohorte die Beobachtungszeit
lang genug sein muß, am besten länger als zehn Jahre. Quoten der
Sterblichkeitsrate sollten jedenfalls
bei der Beurteilung aller Stoffwechselstudien berücksichtigt werden. sht
Pekkanen, J., A. Nissinen, S. Punsar, M. J.
Karvonen: Short and Jong-term association
of serum cholesterol with mortality — The
25-year follow-up of the Finnish cohorts of
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Department of Environmental Epidemiology, National Public Health Institute,
Kuopio, Finnland.
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