ca 130127 Avidan Vaterjuden red

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Zwischen Heimatgefühl und Ausgrenzung
Vaterjuden suchen ihre religiöse Identität
Von Igal Avidan
hr2-kultur
Camino. Religionen auf dem Weg
Sendedatum: Sonntag, 27. Januar 2013. 11:30 bis 12:00 Uhr
OT 1: ATMO-Shabbat-Fest (1104, 0:36-0:45/1:04-1:14)
SPRECHER: Es ist Freitagabend im kargen Sitzungsraum des Volkshauses Zürich.
Oliver Minzloff und sein Sohn Ephraim leiten die Kabalat-Shabbat-Zeremonie zum
Empfang des jüdischen Ruhetages, der mit dem dazugehörigen Gebet und dem
Anzünden der beiden Kerzen beginnt.
Drei Dutzend Menschen stehen oder sitzen im Kreis, halten Hefte mit den
liturgischen Texten und nehmen Plastikbecher mit koscherem Wein für den Kiddusch
entgegen, den Segensspruch, mit dem der Schabbat eingeleitet wird.
OT 1: ATMO-Shabbat-Fest noch mal hoch (1104, 0:36-0:45/1:04-1:14)
SPRECHER: In der Runde sitzt auch die 30-jährige Sarah Wohl, die mit ihrem
kleinen Sohn anstößt. Beide kennen die Zeremonie, denn Sarah hatte als Kind am
Religionsunterricht der jüdischen Gemeinde teilgenommen und ihr fünfjähriger Sohn
besucht die jüdische Schule. Sarah Wohl ist eine der Initiatorinnen dieses
Gottesdienstes. Gefeiert wird er im Rahmen der ersten Tagung so genannter
„patrilinearer Juden“. Das sind Frauen und Männer, die – wie Sarah Wohl – einen
jüdischen Vater haben, aber eine nicht-jüdische Mutter. Deshalb werden sie zwar von
deutschen Behörden als Juden angesehen, von jüdischen Gemeinden aber als
Nichtjuden ausgegrenzt. Neuerdings organisieren sie sich als Gruppe unter dem
Namen „Doppelhalb“.
OT 2: Jüdische MUSIK
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SPRECHER: Sarah Wohl wuchs in einem atheistischen Haus auf, in dem keine
Feiertage begangen wurden. Als sie sieben Jahre alt war, entdeckte sie im
Glasschrank eine Thorarolle und ein Gebetbuch, beide in hebräischer Schrift; Sie
hatten einst ihrem verstorbenen jüdischen Großvater gehört.
OT 3: Sarah Wohl (1088, 0:45-1:13)
„Und dann bin ich in die jüdische Gemeinde gegangen, um Hebräisch zu lernen, zwei
Jahre lang, jede Woche…weil ich das lesen wollte. Ich habe fünf Buchstaben gelernt
in den zwei Jahren und viel auf der Bühne gesungen und getanzt zu irgendwelchen
Festen, was man im Religionsunterricht in der Gemeinde macht“.
SPRECHER: 15 Kilometer fuhr das Mädchen mit der Straßenbahn vom Dorf in
Südhessen in die benachbarte jüdische Gemeinde nach Darmstadt, begleitet von
ihrer kleinen Schwester Lea. Im Sommer wollten die Schwestern zum Sommercamp
der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, dem sogenannten Machane.
Davon hatten sie zu Hause so viel gehört. Denn ihr jüdischer Vater war dort einmal
Jugendleiter gewesen.
OT 4: Sarah Wohl (DR2/1088, 1:14-1:26;) ausblenden
„Und dann wollten wir nach Bad Sobernheim zum Sommerlager und durften nicht
mit, weil wir nicht jüdisch sind. Und das war auch das Ende meiner Karriere in der
Jüdischen Gemeinde. Ich bin nicht mehr hingegangen und auch die ganze Familie ist
nicht mehr hingegangen“.
SPRECHER: Es werden 15 Jahre vergehen, bis die Schwestern, inzwischen selbst
Mütter, sich wieder ihrer jüdischen Identität zuwenden.
OT 5: Jüdische MUSIK
SPRECHER: Jüdisch zu sein ist viel einfacher als Jude zu werden. Man kann jüdisch
sein auch wenn man mit einem Nichtjuden zusammenlebt, was die meisten Juden in
Deutschland tun. Ein geborener Jude bleibt jüdisch, auch wenn er unbeschnitten ist,
niemals eine Synagoge betritt oder nie Mitglied in einer jüdischen Gemeinde wird.
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Wer aber keine jüdische Mutter hat und einen rabbinischen Koscherstempel haben
will, der muss zum Judentum konvertieren.
Kindern eines jüdischen Vaters wird dieser Akt der religiösen Konversion, der
sogenannte „Giur“, erleichtert, sagt der niedersächsische Landesrabbiner Jonah
Sievers, der auch Geschäftsführer der Allgemeinen Rabbinerkonferenz und
Gemeinderabbiner in Braunschweig ist. Denn sie seien „aus dem Stamme Israels“,
auf Hebräisch „Sera Israel“:
OT 6: Sievers (0:12-1:02-1:44)
„Wenn jemand ‚Sera Israel‘ hat.… dann bedeutet das, dass wir… anerkennen, dass
du eine jüdische Tradition hast, dass du vielleicht sogar jüdisch aufgewachsen bist
mit deinem Vater, du bist zur Synagoge gegangen und du möchtest jüdisch sein oder
du möchtest das offiziell machen nach außen. Dann erleichtern wir den GiurProzess, … es ist einen technischen Giur… Wie die Person das selber sieht, ob es
eine Statusbestätigung für ihn ist oder etwas nur nach außen dokumentiert, was
sowieso schon immer da war, denn im Giur wir machen nicht die Leute zu Juden, wir
bestätigen nur, dass sie Juden sind“.
SPRECHER: Brauche ich aber eine rabbinische Bestätigung meines Jüdischseins?
Mit dieser Frage hat auch Esther Schapira eine Zeitlang gerungen. Als Kind war ihre
Welt einfach: Juden hier, Deutsche da und der Holocaust dazwischen. Jude in
Deutschland zu sein bedeutete für sie, einer gefährdeten Minderheit anzugehören
und wachsam zu bleiben. Man muss nicht unbedingt auf gepackten Koffern sitzen,
sollte aber den Reisepass griffbereit halten.
OT 7: Schapira (1224, 0:30-1:12)
„Und ich habe meinen Vater sehr frühzeitig gefragt warum wir ausgerechnet in
Deutschland leben und seine Antwort war, er sagte: ‚Das ist im Moment der sicherste
Platz für einen Juden, die dürften erst mal nicht. Dir wird nichts passieren, hier guckt
die ganze Welt drauf. Das wird nicht immer so bleiben möglicherweise; man muss
rechtzeitig gucken, dass man wieder weggeht, aber im Moment ist es hier sicher.
Und du muss immer aufpassen im Leben, dass du nicht den Moment verpasst,
wegzugehen‘. Und dieser Rat war von vornherein… der Rat eines jüdischen Vaters
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an seine Tochter, da war gar keine Frage, ob die Tochter gar nicht jüdisch ist und
deswegen das für sie nicht zutrifft“.
SPRECHER: Die Zugehörigkeit zu dieser Opfergemeinschaft, die im Land der Täter
lebt, war im Nachkriegsdeutschland weitaus wichtiger als die Bestätigung eines
Rabbiners. Die christlich-jüdische Koexistenz in der Familie Schapira wurde
pragmatisch gestaltet:
OT 8: Schapira (1222, 1:26-)
„Gleichzeitig ist meine Mutter evangelisch und es war klar, wenn es ein Mädchen
wird, dann wird das Mädchen evangelisch, und so ist es auch gehandhabt worden;
wäre ich ein Junge geworden, wäre meine Mutter konvertiert, das war vorher
vereinbart… meinem Vater zuliebe, hätte sie es gerne gemacht.
SPRECHER: Die Schapiras feierten Weihnachten und Channuka, Purim und
Fasching. Die kleine Esther bekam zweimal Geschenke und genoss es sehr. Am
jüdischen Feiertag Yom Kippur ging sie mit ihrem Vater in die Synagoge; in der
Theatergruppe des jüdischen Jugendzentrums der Frankfurter Gemeinde spielte sie
die Hauptrolle, und auf den Partys der Zionistischen Jugend feierte sie mit. Im
Konfirmationsunterricht erzählte sie dem Pfarrer von ihren Israel-Reisen. Esther
Schapiras multi-religiöse Welt war intakt:
OT 9: Schapira (1222, 2:32-2:55)
„bis zu diesem Tag, an dem ich eben nicht mit auf Machane fahren durfte und alle
meine Freundinnen und Freunde fuhren. Das war eine enorme Kränkung, das habe
ich nicht verstanden als Kind. Mein Vater hat es letztlich auch nicht verstanden. Aber
ich habe auch dann nicht weiter nachgefragt. Ich bin trotzdem weiter ins
Jugendzentrum gegangen, aber das war schwierig“.
SPRECHER: Trotz der Abweisung und trotz ihrer Konfirmation hielten Nachbarn und
Freunde Esther Schapira für eine Jüdin. Auch ihre weltlichen Freunde in Israel. In der
Schule musste sie sich stets zu jüdischen Themen äußern, zum Nationalsozialismus
und zu Israel.
OT 10: Schapira (1223, 2:26-3:01)
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„Das Verrückte an einer solchen Konstellation wie meiner ist ja, dass nach außen viel
klarer zu sein scheint, also der Name klingt ja sehr koscher und ich bin natürlich von
allen immer als jüdisch wahrgenommen worden. Wir reden von einer Zeit Anfang der
60er, die 60er Jahre, da war das Bewusstsein, was jüdische Namen sind, in
Deutschland sehr ausgeprägt. Und es gab bei Lehrern keinerlei Zweifel daran, dass
ich natürlich jüdisch sei“.
SPRECHER: Davon gehen bis heute auch viele Fernsehzuschauer in Deutschland
aus, denen Esther Schapiras Kommentare oder Dokumentarfilme missfallen. Sie
richten ihre Kritik oder Schmähungen jedoch nicht an die „Ressortleiterin
Zeitgeschehen“ beim Hessischen Rundfunk. Sie beschimpfen stattdessen die
„jüdische Journalistin“ Esther Schapira.
OT 11: Schapira (1227, 1:01-1:37)
„Antisemitismus… das begleitet mich zeitlebens und das begleitet mich sowieso in
meinem Beruf, wenn ich mit meinem Namen auftrete und dann auch noch Themen
mache, die mit Israel zusammenhängen, die mit Judentum, mit Antisemitismus, mit
Rechtsradikalismus – Arbeitsfelder, mit denen ich viel zu tun habe. Dann gibt es da
immer wieder Zuschriften, die sehr massiv sind, dass endlich die Jüdin aus der ARD
entfernt werden muss. Ich habe das eine Zeitlang früher gesammelt, das mache ich
längst nicht mehr, ich werfe es einfach weg“.
OT 12: Jüdische Musik (Alexander Rozenbaum, Vals Boston)
SPRECHER: Mit dem Fall der Berliner Mauer brach für die jüdischen Gemeinden in
Deutschland eine neue Ära an. Ab 1991 durften vor allem aus den Ländern der
ehemaligen Sowjetunion so genannte „jüdische Kontingentflüchtlinge“ nach
Deutschland emigrieren, wenn sie von mindestens einem jüdischen Elternteil
abstammten. Durch diese Einwanderung sollte die Legitimität des vereinigten
Deutschland gestärkt und „das jüdische Element im deutschen Kultur- und
Geistesleben“ revitalisiert werden, zitiert die Sozialwissenschaftlerin Karen Körber
aus einer Debatte im Bundestag. Sie ist Fellow, also Gast-Wissenschaftlerin am
Jüdischen Museum in Berlin, und hat über diese Einwanderung geforscht.
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OT 13: Körber (1345, 0:03-1:03)
„Die deutschen Politiker haben nicht entscheiden wollen vor dem Hintergrund vor
allen Dingen der deutschen Geschichte, wen zählen wir zum Judentum dazu. Dann
wussten sie von der Problematik, dass in der Sowjetunion Jüdischsein anders
definiert worden war als das hier die jüdischen Gemeinden tun, dass es patrilineare
Judentum sozusagen der sowjetischen Definition entspricht. Und insofern haben sie
(von) einerseits vor dem Hintergrund der besonderen Verantwortung vor der
deutschen Geschichte und andererseits eingedenk der Tatsache, dass es
offensichtlich verschiedene Definitionen jüdischer Herkunft gibt… sollte diese
Differenz nicht gemacht werden und damit hat man die Kategorie weit geöffnet“.
SPRECHER: Deutschland sah die Einwanderer als Angehörige einer
Opfergemeinschaft, denn die Nationalsozialisten hatten auch Menschen jüdischer
Abstammung verfolgt. Nach der jüdischen Gesetzgebung, der Halacha jedoch, die
für alle Gemeinden in Deutschland bindend ist, gelten nur Kinder einer jüdischen
Mutter oder Konvertiten als jüdisch. Die stark überalterten jüdischen Gemeinden und
der Zentralrat der Juden in Deutschland setzten sich seinerzeit dennoch für diese
Einwanderung ein, obwohl nicht alle Immigranten jüdisch waren. Es galt, das
jüdische Leben in Deutschland zu retten.
Aber nur 80.000 Juden von insgesamt 220.000 so genannten „jüdischen
Kontingentflüchtlingen“ wurden in die Gemeinden aufgenommen.
Viele der Einwanderer erfuhren erst durch die Abweisung in den Gemeinden, dass
sie laut jüdischer Tradition gar keine Juden sind, auch wenn sie selbst sich für solche
gehalten hatten. Das konnten viele nicht verstehen. In der Sowjetunion waren sie
Angehörige der jüdischen nationalen Minderheit, die nach dem Vater bestimmt
wurde, und wurden als Juden diskriminiert. In Deutschland wiederum wurden sie von
jüdischen Funktionären und Rabbinern vor die Tür gesetzt.
OT 11: Jüdische Musik (Alexander Rozenbaum, Vals Boston)
SPRECHER: An solch eine unangenehme Begegnung mit einem etwa 40-jährigen
eingewanderten Vaterjuden erinnert sich Ingrid Wettberg, Vorsitzende der 1995
gegründeten Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, sehr gut.
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OT 14: Wettberg (1293, 2:28„Wir verlangen für jeden einen Nachweis, in diesen Fällen sind es meistens
russischen Pässen gewesen oder Geburtsurkunden. Das konnte er vorlegen, von
seinem Vater, aber nicht von seiner Mutter… Und wir haben da eine Lösung
gefunden: Wir haben eine Gemeinde-Mitgliederliste und wir haben parallel dazu…
eine Freundeskreisliste,… patrilineare Juden werden dort aufgenommen, die bei uns
die gleichen Rechte haben wie die Gemeinde-Mitglieder was Feste, Feiertage
angeht“.
SPRECHER: Diese „Freunde der Gemeinde“ zahlen Mitgliedsgebühren in gleicher
Höhe, sind aber als Vaterjuden keine Gemeindemitglieder. Das heißt, sie dürfen nicht
für den Vorstand kandidieren und dürfen auch nicht im Gottesdienst aus der Thora
vorlesen. Inzwischen zählt die liberale Gemeinde in Hannover 700 Mitglieder und 130
Freunde. 80 sind patrilineare Juden. Was wäre, wenn die Gemeinde Vaterjuden
aufnehmen würde, so wie das liberale jüdische Gemeinden in den USA zum Beispiel
tun?
OT 15: Wettberg (1295, 2:12-2:47; 4:36-5:01) (hier evtl. noch anderer O-Ton?!)
„Ich denke bestimmt, dass wir enorme Probleme bekommen würden…(dann würde
es heißen, ‚in den Statuten steht aber, dass sie nur halachische Juden als
Gemeindemitglieder aufnehmen‘). Ich denke, dass wir auch vielleicht aus dem
Zentralrat rausfliegen würden. Keine Ahnung! Ich weiß nicht, was uns alles
bevorstehen würde. Ich weiß nur, dass es große Schwierigkeiten geben wird. Ich bin
sicher, wenn ich morgen einen patrilinearen Juden heimlich aufnehmen würde und
das nicht an die große Glocke hänge, dann würde gar nichts passieren. Aber ich
möchte das nicht… Ich möchte lieber, dass das Problem öffentlich gelöst wird“.
SPRECHER: Und nicht auf dem Rücken der jungen liberalen Gemeinde, betont
Ingrid Wettberg.
OT 16: ATMO-Gebet
SPRECHER: Eine Lösung wäre, dass die Zuwanderer zum Judentum übertreten,
entweder bei einem orthodoxen oder bei einem liberalen Rabbiner. Doch das wollen
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die wenigsten. Für Sarah Wohl war das immer klar, auch Esther Schapira entschied
sich nach gründlicher Überlegung dagegen:
OT 17: Schapira (1229, 0:01-0:30)
„Wenn ich ein Kind gehabt hätte, wäre es etwas anders gewesen, dann wäre die
Frage zu konvertieren viel dringender gewesen. Nun habe ich mir nie explizit Kinder
gewünscht und habe mich deswegen auch dagegen entschieden. Aber wenn ich ein
Kind gewollt hätte unbedingt, dann wäre ich wahrscheinlich schon konvertiert, weil
ich gern einem Kind diesen Konflikt erspart hätte, den ich durchleben musste und
weil ich unbedingt gewollt hätte, dass ein Kind jüdisch aufwächst“.
SPRECHER: Im Jahr 2011 konvertierten in Deutschland etwas mehr als 100
Menschen zum Judentum, 17 in orthodoxen Gemeinden und rund 100 bei liberalen
Rabbinern (Quellen: ORD und ARK, I.A.). Nur etwa jeder Dritte war ein Vaterjude und nur
wenige stammen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Das liegt daran,
dass die meisten russischsprachigen Juden Atheisten sind und keinen Bezug zur
Religion haben. Ihr Jüdischsein lebten sie vor allem in der Familie und dieses
bestand aus jiddischer Sprache, biblischen Namen, jüdischem Humor und selbst
zubereitetem gefülltem Fisch.
Die Enttäuschung der abgewiesenen Emigranten, die sich für Juden halten, kennt
Daniel Neumann allzu gut. Der Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen
Gemeinden in Hessen, der für 10 Gemeinden zuständig ist, will die Vaterjuden in der
Gemeinde mit offenen Armen empfangen, aber nicht als Mitglieder.
OT 18: Neumann (1249, 0:36-/ 0:51-1:07/1:30)
„Ich habe keine Lösung für dieses Problem. Ich kann nur versuchen auf der
menschlichen Ebene den Menschen… zu erklären, warum das so ist, wie es ist und
dass wir mit einem religiös-politischen System arbeiten, was im Moment keine
andere Entscheidung zulässt.
Ich verstehe, dass die Menschen sich darüber ärgern und ich verstehe, dass sie
enttäuscht sind, gerade die Zuwanderer, die es im Pass hatten. Aber das kann auf
der anderen Seite nicht dazu führen, dass wir uns praktisch von der Politik der
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ehemaligen Sowjetunion hier in Deutschland… erklären lassen, wer Jude ist und wer
nicht.
Es gibt ein halachisches System dafür, das zumindest hier in Deutschland glaube ich
zweifellos anerkannt ist. Ich weiß zumindest nicht von Gemeinden, die unter dem
Dach des Zentralrats versammelt sind und die… praktisch Vaterjuden anerkennen
würden“.
SPRECHER: Doch in letzter Zeit findet ein vorsichtiges Umdenken statt, weil die
jüdische Einwanderung fast gestoppt wurde, mit Zustimmung des Zentralrats. Die
kleinen jüdischen Gemeinden waren mit der Integrationsarbeit überfordert. In den
großen Gemeinden kämpften russische Einwanderer gegen Alteingesessene. Israel
machte Druck, weil inzwischen mehr russischsprachige Juden nach Deutschland
auswanderten als nach israel. Und deutsche Diplomaten stellten fest, dass manche
jüdischen Abstammungspapiere gefälscht waren und es sich eher um
Wirtschaftseinwanderer handelte.. Das neue Zuwanderungsgesetz, das seit 2005
gilt, erschwert die Einwanderung von Vaterjuden, sagt Soziologin Karen Körber.
Nach dieser Neuregelung…
OT 19: Körber (1346, 0:31-0:57/1:11)
„…ist de facto die Gemeindezugehörigkeit - und das heißt faktisch die halachische
Zugehörigkeit - eine zentrale Kategorie geworden. Es ist richtig, dass bei dem
Begehren der Einreise nach Deutschland es nicht das einzige Kriterium für die
Aufnahme heute ist. Also wenn Sie eine gute Ausbildung mitbringen und gute
deutsche Sprachkenntnisse, dann müssen Sie nicht halachischer Jude sein, dann
können Sie andere Möglichkeiten haben, in dieses Land zu kommen. (Aber Fakt ist,
dass… die halachische Definition des Judentums für die Regelung an Bedeutung
enorm gewonnen hat mit den veränderten Gesetzeslage nach 2004)“.
SPRECHER: Als Folge des neuen Zuwanderungsgesetzes meldeten sich 2011
lediglich 636 Einwanderer aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion bei den
jüdischen Gemeinden. Seit 2006 sinkt die Zahl der jüdischen Gemeindemitglieder
kontinuierlich, allein 2011 um 1.200. (2012 sollen es doppelt so viele sein, womit die
Mitgliederzahl die psychologisch wichtige Zahl 100.000 erreicht haben wird.) Parallel
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dazu erhoben sich die ersten Stimmen, die für die Aufnahme der Vaterjuden in die
Gemeinden plädierten.
Als erster Gemeindevorsitzender setzte sich der kürzlich verstorbene Vorsitzende der
jüdischen Gemeinde in Bamberg, Heinrich Olmer, dafür ein.
In seinem wegweisenden Buch „Wer ist Jude?“ erinnerte er daran, dass in biblischer
Zeit die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk vom Vater abhängig war. Erst ab dem 2.
Jahrhundert unserer Zeit wurde die Religion der Mutter bestimmend. Dies hatte den
Zweck, nach den niedergeschlagenen Aufständen gegen die Römer und gegenüber
dem aufkommenden Christentum den Fortbestand des jüdischen Volkes zu sichern,
so Gemeindeleiter Heinrich Olmer.
ZITATOR: „Die damals richtige normative Festlegung der Matrilinearität für die
Zugehörigkeit zum Judentum ist heute in einer Zeit, in der das Judentum wieder vor
großen Herausforderungen steht, abermals zu überdenken… Die Akzeptanz der
Patrilinearität würde die große Gefahr der Mischehe sofort beenden, da die
Nachkommen immer Juden bleiben würden“.
SPRECHER: Allein die Rabbiner können dies ändern, meint Gemeindefunktionär
Daniel Neumann, selbst Mitglied der jüdischen Gemeinde in Darmstadt und
traditionell eingestellt. Auch wenn die meisten Gemeindemitglieder säkular leben, ist
für Neumann allein die Religion das Fundament des Judentums und der jüdischen
Gemeinden und bestimmt auch die Mitgliedschaft in der Gemeinde. Die Politik in
Israel geht schon jetzt andere Wege.
OT 20: Neumann (1249, 2:35-3:03)
„Der Staat Israel hat eine politische Entscheidung getroffen und die war massiv
beeinflusst aus der Position des Staates Israel als Auffangbecken für alle Juden
weltweit und für alle diskriminierten Juden weltweit. Und da wollte man natürlich nach
den Erfahrungen der Nazizeit; Die Nazis haben auch nicht unterschieden zwischen
Vater oder Mutter und deshalb wollte man im Staat Israel diese Unterscheidung nie
vornehmen und irgendjemand vor den Kopf stoßen. Aber in der Situation sind die
jüdischen Gemeinden heute doch nicht“.
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SPRECHER: 1950 verabschiedete Israel das sogenannte Rückkehrgesetz, das
jedem Juden weltweit ermöglicht, nach Israel auszuwandern. Die Gesetzgeber haben
bewusst nicht definiert, wer Jude ist, um auch Shoah-Überlebende aufnehmen zu
können, die die Nationalsozialisten als Juden verfolgt hatten. Dieses Gesetz wurde
zwar 1970 eingeschränkt, in dem nur Kinder einer jüdischen Mutter als Juden gelten
oder Menschen, die zum Judentum übergetreten sind und keiner anderen Religion
angehören. Zugleich durften nach dem neuen Gesetz auch die Kinder und die Enkel
eines Juden einwandern, auch wenn er selbst schon längst nicht mehr am Leben
war. Eine solche soziale und kulturelle Integration ohne religiöse Vorschriften würde
sich Pavel Lokshin auch für Deutschland wünschen.
Der 27-jährige Sohn eines Juden und einer Russin kam 1997 mit seinen Eltern und
seiner jüdischer Großmutter aus St. Petersburg nach Deutschland. In Russland
beschränkte sich sein Judentum auf die staatliche Diskriminierung, seinen jüdischen
Nachnamen und seine Verwandten in Israel. In Deutschland waren Lokshins Vater
und Großmutter passive Gemeindemitglieder. Er schrieb seine Magisterarbeit über
russisch-jüdische Einwanderer in Deutschland; er besuchte Israel im Rahmen des
zionistischen „Taglit“-Programms – das Vaterjuden als potentielle Zuwanderer gern
aufnimmt; und er macht sich viele Gedanken über die Zukunft der Juden in
Deutschland. Seit kurzem ist Lokshin in der von Leah Wohl gegründeten Berliner
Gruppe der Vaterjuden, „Doppelhalb“, aktiv. Pavel Lokshin sagt, das Judentum sei
ein Teil von ihm. Aber die religiösen Spielregeln, die ihn ausgrenzen, lehnt er ab:
OT 21: Lokshin (1269, 0:54-1:22)
„Jüdischsein hat viel mit Lernen zu tun und mit Wissen, mit (der) Weitergabe von
Wissen und ich würde gern lernen, aber die Frage ist wo. Jüdische Geschichte,
jüdische Tradition, wie ich vielleicht jüdische Rituale in ein modernes Leben
integrieren kann ohne dass zwangsläufig das Religiöse die Oberhand nimmt, weil ich
glaube einfach nicht an Gott“.
SPRECHER: Pavel Lokshin will nicht wie ein Bittsteller dastehen, um in der
jüdischen Gemeinde seine in der Sowjetzeit verschüttete jüdische Identität zu
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entdecken. Zuerst müssten sich die Gemeinden ändern, sagt er, bevor er Mitglied
werden kann.:
OT 22: Lokshin (1274, 0:57-1:47)
Wenn ich jetzt eintreten müsste, würde das heißen: Konversion. Aber für mich ist es
Quatsch. Das ergibt für mich keinen Sinn. Das impliziert ja eine sehr starke religiöse
Komponente. Ich kann nicht konvertieren – an manchen Tagen bin ich Agnostiker, an
schlechten Tagen bin ich Atheist, was soll ich machen?“
SPRECHER: Rabbiner und Gemeindefunktionäre wie die liberale Ingrid Wettberg
diskutieren zunehmend besorgt über schwindende Mitgliederzahlen und die
heranrückende demographische Katastrophe, die wohl nicht einmal die vielen
Tausenden Israelis abwenden können, die in letzter Zeit nach Berlin strömen.
OT 23: Wettberg (1299, 1:31/1:40-1:50)
„Ich weiß nur, dass die Israelis es immer ablehnen, in eine jüdische Gemeinde zu
gehen. Sie sagen immer, wir brauchen keine jüdische Gemeinde. Mir hat mal ein
Israeli gesagt: ‚Ich brauche keine Gemeinde: Ich möchte Hebräisch sprechen und
Falafel essen, und das habe ich in einem privaten Kreis‘“ (lacht).
(noch mal Musik zum Schluß?)
ENDE
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