»Es bleibt ein psychologisches Rätsel, wie dieser sanfteste und friedfertigste aller Menschen im Moment des Komponierens zum Anarchisten wird ...« Eduard Hanslick über Anton Bruckner nach der Uraufführung von dessen Dritter Sinfonie (1877) C3: Do, 06.02.2014, 20 Uhr | D5: Fr, 07.02.2014, 20 Uhr | Hamburg, Laeiszhalle Michael Gielen Dirigent | Isabelle Faust Violine Béla Bartók Violinkonzert Nr. 2 | Anton Bruckner Sinfonie Nr. 3 d-Moll DAS ORCHESTER DER ELBPHILHARMONIE Foto: © [[M]] Stockbyte, y , Stefano Stefani | Photodisc,, ccvision Frequenzen unter ndr.de/ndrkultur NDR SINFO NIEO RCHE S T ER Das Konzert wird am 10.03.2014 auf NDR Kultur gesendet. Donnerstag, 6. Februar 2014, 20 Uhr Freitag, 7. Februar 2014, 20 Uhr Hamburg, Laeiszhalle, Großer Saal Dirigent: Solistin: Michael Gielen Isabelle Faust Violine Béla Bartók (1881 – 1945) Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 Sz 112 (1937/38) I. Allegro non troppo II. Andante tranquillo III. Allegro molto Pause Anton Bruckner (1824 – 1896) Sinfonie Nr. 3 d-Moll (2. Fassung von 1877) I. II. III. IV. Die Konzerte des NDR Sinfonieorchesters hören Sie auf NDR Kultur Hören und genießen Gemäßigt, mehr bewegt, misterioso Andante. Bewegt, feierlich, quasi Adagio Scherzo. Ziemlich schnell Finale. Allegro Einführungsveranstaltungen mit Habakuk Traber am 06.02. und 07.02.2014 um 19 Uhr im Großen Saal der Laeiszhalle. 3 NDR SINFO NIEO RCHE S T ER Michael Gielen Isabelle Faust Dirigent Violine Michael Gielen wurde 1927 als Sohn des bedeutenden Opernregisseurs Josef Gielen in Dresden geboren. Seine musikalische Karriere begann er als Korrepetitor am Teatro Colón in Buenos Aires, wohin die Familie emigriert war. 1951 nach Europa zurückgekehrt, wurde Gielen Korrepetitor und Dirigent an der Wiener Staatsoper und begann eine erfolgreiche Konzerttätigkeit, wobei er für seine herausragenden Aufführungen zeitgenössischer Kompositionen ebenso bekannt wurde, wie für die der Wiener Klassik und der Werke von Bruckner und Mahler. Von 1960 bis 1965 übernahm er das Amt des musikalischen Leiters der Königlichen Oper in Stockholm, 1969 wurde er zum Chefdirigenten des Belgischen Nationalorchesters in Brüssel ernannt. Seit dieser Zeit gastiert Gielen bei allen großen Orchestern, Opernhäusern und Festivals Europas und der USA, u. a. beim New York Philharmonic, Cleveland, Pittsburgh, Chicago und London Symphony Orchestra, bei den Berliner und Wiener Philharmonikern, an der Berliner Staatsoper Unter den Linden (seit 1999 ist Gielen dort Erster Gastdirigent), an der Opéra National de Paris oder bei den Salzburger Festspielen. Isabelle Faust nimmt ihr Publikum durch ihre fundierten Interpretationen gefangen, durch eine Lesart, die auf gründlicher Kenntnis des musikgeschichtlichen Kontexts der Werke beruht. Größtmögliche Werktreue nach heutigem Wissensstand ist ihr Bestreben. Nachdem sie in sehr jungen Jahren Preisträgerin des renommierten Leopold-Mozart-Wettbewerbs und des Paganini-Wettbewerbs geworden war, gastierte sie schon bald mit den bedeutendsten Orchestern der Welt, u. a. mit den Berliner Philharmonikern, dem Orchestra of the Age of Enlightenment, Boston Symphony Orchestra oder NHK Symphony Orchestra Tokyo. Zentraler Abschnitt seiner Dirigentenkarriere waren die zehn Jahre als Direktor und Chefdirigent der Frankfurter Oper (1977 – 1987). Drei Jahre war Gielen Principal Guest Conductor des BBC Symphony Orchestra (1978 – 1981); weitere wichtige Stationen seiner künstlerischen Tätigkeit waren die Ernennung zum Music Director des Cincinnati Symphony Orchestra (1980 – 1986) sowie die Berufung zum 4 Chefdirigenten des SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg (1986 – 1999), bei dem er seitdem ständiger Gast ist. Im Jahr 2002 wurde ihm der „Cannes MIDEM Classical Lifetime Achievement Award“ verliehen. Seine Autobiographie „Unbedingt Musik“ ist im Januar 2008 erschienen. Im Jahr 2010 wurde Michael Gielen für sein Lebenswerk mit dem internationalen Ernst von Siemens Musikpreis sowie mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Seine Interpretationen sind durch eine große Zahl von CD-Einspielungen dokumentiert, darunter eine hoch gelobte Aufnahme von Schönbergs „Moses und Aron“. Isabelle Faust spielt ein Repertoire, das von Johann Sebastian Bach bis zu Werken zeitgenössischer Komponisten wie Ligeti, Lachenmann oder Widmann reicht. Ihre künstlerische Aufgeschlossenheit schließt alle Formen instrumentaler Partnerschaft ein, kleine Kammermusikensembles ebenso wie große Orchester, aber auch Originalklangensembles, wenn es darum geht, neue Repertoirebereiche zu erschließen. Ihre Konzertkarriere führte zur Zusammenarbeit mit Interpreten wie Claudio Abbado, Frans Brüggen, Mariss Jansons, Giovanni Antonini, Philippe Herreweghe und Daniel Harding, denen sie in regelmäßiger Konzert- und Aufnahmetätigkeit verbunden ist. Mit dem NDR Sinfonieorchester ist Michael Gielen seit vielen Jahren eng verbunden, wobei insbesondere die Sinfonien Mahlers und Bruckners einen Schwerpunkt dieser Zusammenarbeit bilden. Mit ihrem Kammermusikpartner Alexander Melnikov hat Isabelle Faust mehrere CDs eingespielt, u. a. die Gesamtaufnahme der Sonaten für Klavier und Violine von Beethoven, die mit dem Diapason d’or und dem Gramophone Award ausgezeichnet wurde. Nach den Sonaten und Partiten von Bach, für die sie den Diapason d’or de l’année 2010 erhielt, fand auch ihre Interpretation der Violinkonzerte von Beethoven und Berg unter der Leitung von Claudio Abbado bei der Kritik einhellige Zustimmung. Sie wurde ebenfalls mit einem Diapason d’or sowie mit einem ECHO Klassik und einem Gramophone Award 2012 ausgezeichnet. Isabelle Faust spielt die „Dornröschen“Stradivari von 1704, eine Leihgabe der L-Bank Baden-Württemberg. 5 NDR SINFO NIEO RCHE S T ER „Von einem jugendlichen Feuer beschwingt“ Béla Bartóks Zweites Violinkonzert Laut Arthur Honegger war Béla Bartók „der eigentliche Repräsentant der musikalischen Revolution“ seiner Zeit – „eine Schlüsselfigur der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts“ (Witold Lutosławski) und gleichzeitig „in einem umfassenderen Sinn als jemals ein Komponist vor ihm und nach Mozart ein Vollblutmusiker, der sich jedem anderen Interesse des Lebens verschloss“ (Cecil Gray). Doch nicht nur das. Denn Bartók war nicht „nur“ Komponist, ein großer Pianist und ein begnadeter Klavierpädagoge, er war auch ein engagierter Musikethnologe und Pionier der Volksmusikforschung, der während seines gesamten Lebens ungarische, rumänische und slowakische Folklore nach wissenschaftlichen Kriterien sammelte und edierte. Gemeinsam mit seinem Freund Zoltán Kodály reiste er in die entlegensten Gebiete und machte mit Hilfe eines Sonographen mehr als zehntausend Aufnahmen, die er später in mühevoller Kleinarbeit transkribierte und die zur Erneuerung der ungarischen Kunstmusik des 20. Jahrhunderts einen entscheidenden Beitrag leisteten. „Anfangs“, so Kodály, „suchten wir nur nach verlorengegangenen alten Melodien. Doch als wir die Leute in den Dörfern kennenlernten und sahen, wie viel Begabung und wie viel vitale Lebenskraft dort verloren gingen, erschien uns das Bild eines aus dem Volk neugeborenen Ungarns. Wir haben unser Leben darangesetzt, um dies zu verwirklichen.“ Es mag kaum überraschen, dass die intensive Forschungsarbeit in Bartóks eigenem Schaffen, das anfangs von Liszt, Strauss und Debussy 6 beeinflusst wurde, Spuren hinterließ: „Das Studium all dieser Bauernmusik“, so der Komponist, „war deshalb von entscheidender Bedeutung für mich, weil sie mich auf die Möglichkeit einer vollständigen Emanzipation von der Alleinherrschaft des bisherigen DurMoll-Systems brachte.“ Nachdem er 1904 seine formal sich an Liszts Werken orientierende Rhapsodie für Klavier veröffentlicht hatte, löste er sich zunehmend von der spätromantischen Musiktradition und begann auf der Basis der heimischen Folklore, seine eigene, expressive Musiksprache zu entwickeln. Dabei führte Bartóks sich zunehmend ausprägende antiromantische Haltung schließlich zu einem weit auf sein Schaffen der Nachkriegsjahre vorausdeutenden vitalistischen Ansatz, für den neben der Loslösung vom Dur-Moll-System ein stark exponierter Rhythmus in seiner einfachsten motorischen Form sowie ein harmonisch äußerst geschärftes Klangbild kennzeichnend sind. Natürlich setzte sich Bartók auch intensiv mit Schönbergs 12-Tontechnik auseinander, dessen Verfahren laut seiner Einschätzung „unerschöpflich neue Möglichkeiten“ biete. „Trotzdem“, so der Komponist in einem Schönberg gewidmeten Aufsatz, der 1920 in der Zeitschrift „Melos“ erschienen ist, „scheint es mir nicht richtig, daß wir das Prinzip der Tonalität als absoluten Gegensatz zum Prinzip der Atonalität auffassen. Die Atonalität ist eher eine sich langsam herausbildende Folge der Entwicklung, die die Tonalität durchmacht.“ Ungeachtet seiner kritischen Einstellung Béla Bartók beim Anhören seiner Folklore-Aufnahmen gegenüber der Dodekaphonie bekannte Bartók acht Jahre später, dass auch er bisweilen eine „Art ‚Zwölftonmusik’“ geschrieben habe, wovon er nun aber Abstand genommen habe. Zwölfton-Modelle finden sich allerdings auch vereinzelt noch in späteren Werken wie etwa dem Zweiten Violinkonzert, vor dessen Niederschrift sich der Komponist intensiv mit Alban Bergs epochalem Beitrag zu jenem Genre beschäftigt hatte. Entstanden ist jenes am 31. Dezember 1938 vollendete Werk für den ungarischen Geigenvirtuosen und ehemaligen Kodály-Schüler Zoltán Székely, der oft an Bartóks Kammermusikabenden teilnahm. Während Székely auf einer „klassischen“ Konzertanlage bestand, schwebte Bartók ein großer Variationszyklus vor, weshalb der Komponist schließlich zu einem Kompromiss fand: Äußerlich knüpft das dreisätzige Werk an die Konzerttradition des 7 NDR SINFO NIEO RCHE S T ER „Es wurde gestampft, getobt, geschrien ...“ Bruckners Dritte Sinfonie Béla Bartók (am Klavier) und der Geiger Zoltán Székely, für den das Zweite Violinkonzert entstand 19. Jahrhunderts an (womit es sich von Bartóks früheren Werken deutlich abhebt). Volkslieder werden in dem Werk nicht direkt zitiert, allerdings ist ihr Einfluss – etwa durch die Betonung von Quartintervallen in den Hauptthemen der Ecksätze – stets präsent. Die Premiere des überaus brillanten Werks, das „warm strömende, glücklich singende Melodien“ enthält und „von einem geradezu jugendlichen Feuer beschwingt“ ist (György Kroó), erfolgte am 23. März 1939 unter der Leitung von Willem Mengelberg im Amsterdamer Concertgebouw – eine immer noch eindrucks8 volle Aufzeichnung dieser Premiere liegt als Tondokument vor und ist heute als CD erhältlich bzw. auf YouTube zu hören. Im ersten Satz, in dem ein episches Hauptthema über Harfentönen und Geigenpizzicati exponiert wird, dominieren Kantabilität und ausladende Melodik. Das kontrastierende Seitenthema beruht auf einer Zwölftonreihe, die allerdings (ähnlich wie in Bergs Violinkonzert) deutliche tonale Implikationen aufweist. Mit den sechs Variationen des langsamen Mittelsatzes schuf Bartók dann eine Abfolge von schier atemberaubenden Klanggestalten, in denen avantgardistisches Klangfarben-Raffinement und klassische Einfachheit eine untrennbare Verbindung eingehen. Das bewegte Rondo-Finale präsentiert schließlich das thematische Material des Kopfsatzes in rhythmisch gestraffter Form. Im hochvirtuosen Solopart überwiegt eine rhythmische Triolenbewegung, der wuchtige Orchesterausbrüche gegenüberstehen. Für die Coda sind zwei Varianten überliefert: eine, die fast ausschließlich dem Orchester anvertraut ist und u. a. mit verblüffenden Glissandi der Blechbläser aufwartet; und eine überaus effektvolle, die es dem Solisten erlaubt, bis zum Schluss im Mittelpunkt zu stehen. Letzterer Version, die auch im heutigen Konzert erklingt, gab schon Zoltán Székely den Vorzug – schließlich, so der Virtuose, solle das Werk enden „wie ein Konzert und nicht wie eine Sinfonie“. Harald Hodeige Im Jahr 1868 übersiedelte Anton Bruckner von Linz nach Wien, wo ihm in der Nachfolge Simon Sechters die Professur für Harmonielehre, Kontrapunkt und Orgelspiel am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde angeboten worden war. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Komponist bereits viel erreicht, war vom Schulgehilfen zum Hauptschullehrer und schließlich zum Dom- und Stadtpfarrorganisten ernannt worden und konnte – nach Anregung des kunstbegeisterten Linzer Beamten Moritz von Mayfeld – auf die „Linzer Fassung“ seiner Ersten Sinfonie zurückblicken, über die in Eduard Hanslicks „Neuer Freier Presse“ eine kurze positive Rezension erschien. Mit der Unterstützung von Bruckners Förderer Johann Herbeck, den Hanslick später als das „Perpetuum mobile des Wiener Musiklebens“ bezeichnete, sollte die österreichische Metropole der Ausgangspunkt für Bruckners Komponistenkarriere werden – ein Vorhaben, das jedoch auf ganzer Linie zu scheitern schien. Denn Bruckners sinfonische Werke, die in Form, Ausmaß, Instrumentierung, Melodiebildung und Harmonik kaum dem Stil ihrer Zeit entsprachen, stießen bei Publikum und Presse auf alles andere als auf Begeisterung. Bruckners Zweite Sinfonie etwa, die erste, die ihre Uraufführung in Wien erlebte, wurde nach einer Durchspielprobe der Wiener Philharmoniker vom Dirigenten Otto Dessoff als „unspielbar“ und „Unsinn“ abgelehnt. Später glaubte Hanslick das „unvermittelte Nebeneinander von trockener kontrapunktischer Schulweisheit und maßloser Exaltation“ kritisieren zu müssen. „So zwischen Trunkenheit und Öde hin und hergeschleudert gelangen wir […] zu keinem künstlerischen Behagen. Alles fließt unübersichtlich, ordnungslos, gewaltsam in eine grausame Länge zusammen.“ Nicht besser erging es Bruckners Dritter Sinfonie, bei deren Uraufführung der revidierten Fassung von 1876/77, die am 16. Dezember 1877 im Großen Musikvereinssaal im Rahmen eines Gesellschaftskonzerts der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Bruckner selbst stattfand, große Teile des Publikums den Saal verließen und über die ebenfalls Hanslick schrieb, die Musik schließe mit „Wagners ‚Walküre‘ Freundschaft“, um schließlich „unter die Hufe ihrer Pferde“ zu geraten. „Es bleibt ein psychologisches Rätsel“, so der Kritiker, „wie dieser sanfteste und friedfertigste aller Menschen – zu den jüngsten gehört er auch nicht mehr – im Moment des Komponierens zum Anarchisten wird, der unbarmherzig alles „Bruckner und die Bösen Buben“ (Eduard Hanslick, Max Kalbeck und Richard Heuberger)., Zeichnung in Scherenschnittmanier von Otto Böhler 9 NDR SINFO NIEO RCHE S T ER zahm gewesen zu sein (denn in Wien hatte man mich anfangs ganz zusammengeschreckt), und nahm die 3. (D-Moll) vor, u. unter den Worten, schau, schau – a was – a was – ‚ ging er die ganze 1. Abteilung durch (die Trompete hat Hochderselbe besonders erwähnt) und sagte dann: ‚Lassen Sie mir dieses Werk hier, ich will es nach Tisch (es war 12 Uhr) noch genauer besichtigen.‘“ Musiker hatten nach der letzten Note eiligst die Flucht ergriffen, und Bruckner stand allein inmitten des großen Podiums. Seine Noten zusammenraffend, einen wehmutsvollen Blick in den leeren Saal werfend, verließ er dann den Schauplatz der großen Niederlage.“ Titelseite mit Widmung für Richard Wagner aus Bruckners eigenhändiger Handschrift der Dritten Sinfonie, 1. Fassung opfert, was Logik und Klarheit der Entwicklung, Einheit der Form und der Tonalität heißt. Wie eine unförmige glühende Rauchsäule steigt seine Musik auf, bald diese, bald jene groteske Gestalt annehmend.“ In der „Wiener Abendpost“ vom 17. Dezember 1877 konnte man lesen: „Man kommt bei dieser Musik aus dem Kopfschütteln nicht heraus, greift sich wohl auch zeitweilig an den Puls, um sich zu überzeugen, ob das Gehörte nicht etwa das Produkt selbsteigenen Fiebers sei.“ Der Bruckner-Biograph Max Auer schrieb über jenes Ereignis: „Die 10 Hanslicks Verweis auf Wagner war im Zusammenhang mit Bruckners Dritter natürlich kein Zufall. Denn jenes Werk, von dem nicht weniger als drei Versionen existieren und von deren ersten Entwürfen (1872) bis zur Drucklegung der dritten und letzten Fassung 18 Jahre vergehen sollten, ging als „Wagner-Sinfonie“ in die Musikgeschichte ein, was nicht nur mit ihrer Widmung zu tun hatte: „Sr. Hochwohlgeboren Herrn Richard Wagner, dem unerreichbaren, weltberühmten und erhabenen Meister der Dicht- und Tonkunst in tiefster Ehrfurcht gewidmet“. Um diese Widmung hatte sich Bruckner persönlich bei seinem Idol bemüht und war im September 1873 mit zwei Sinfonien im Gepäck – der späteren Zweiten in c-Moll und der Dritten in d-Moll – zu Wagner nach Bayreuth gereist, der in der damaligen Provinzstadt gerade mit dem Bau des Festspielhauses und dem der Villa Wahnfried beschäftigt war. Wagner versuchte, trotz eines gewissen Wohlwollens gegenüber dem „armen Organisten aus Wien“ (wie Cosima in ihrem Tagebuch schrieb), dem Treffen aus dem Weg zu gehen – vergeblich. Bruckner legte ihm die beiden mitgebrachten Werke vor, mit der Frage, welche er dem von ihm so hoch verehrten Meister widmen dürfe. „Der Hochselige“, berichtete Bruckner Jahre später in einem Brief an Hans Richard Wagner bietet Anton Bruckner Schnupftabak an (Karikatur von Otto Böhler) von Wolzogen über jene Begegnung, „weigerte sich wegen Mangel an Zeit (Theaterbau) u. sagte, er könne jetzt die Partituren nicht prüfen, da selbst die Nibelungen auf die Seite gelegt werden mußten. Als ich erwiderte: ‚Meister, ich habe kein Recht, Ihnen auch nur ¼ Stunde zu rauben, und glaubte nur, bei dem hohen Scharfblick des Meisters genüge ein Blick auf die Themen, und der Meister wissen, was an der Sache ist.‘ Darauf sagte der Meister, mich auf die Achsel klopfend: ‚Also kommen Sie‘, ging mit mir in den Salon u. sah die 2. Sinf. an. ‚Recht gut‘, sagte er, schien ihm aber doch zu Zum anschließenden Essen ließ Wagner ein Fässchen Weihenstephaner Bier servieren und nötigte den sich sträubenden Bruckner zum Trinken: Laut Cosimas Tagebuchaufzeichnungen schenkte Wagner immer „von neuem ein Glas voll, und der gute Bruckner trank und trank, trotz Jammer und Gegenwehr, die seine musikalischen Gespräche in komischer Weise unterbrachen.“ Am nächsten Tag konnte sich der wenig trinkfeste Komponist beim besten Willen nicht mehr erinnern, welches der beiden Werke der Meister am Abend zuvor zur Dedikation zugelassen hatte – zweifellos wird Wagner nach dem Partiturstudium Bruckners satztechnisches Können erkannt haben, ebenso wie die zahlreichen Zitate aus „Walküre“, „Tristan und Isolde“, „Meistersingern“ und „Tannhäuser“, mit denen die Urfassung der d-Moll-Sinfonie versehen war. In seiner Verlegenheit ließ Bruckner Wagner einen Zettel mit der Frage zukommen: „Symfonie in d Moll, wo die Trompete das Thema beginnt“, woraufhin dieser antwortete: „Ja! Ja! Herzlichen Gruß!“ Bruckner bezeichnete seine Dritte selbst als „Wagner-Sinfonie“ – in erster Linie wohl wegen 11 NDR SINFO NIEO RCHE S T ER gleitenden Übergangs in die Musikgeschichte einging. Zudem war die musikalische Form, die sich dem Bayreuther Meister als eine Frage des musikdramatischen Zusammenhangs präsentierte, für Bruckner eine Frage der Bewältigung eines eruptiven Ausdruckswillens innerhalb einer Großarchitektur, die ihre „tragenden Säulen und ebenso ihr Maßwerk in ausgezirkelten musikalischen Perioden besitzt“ (Gernot Gruber). Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 3, eigenhändige Partitur der 1. Fassung (Ausschnitt aus dem 1. Satz) der zahlreichen Wagner-Zitate, die er bei den späteren Umarbeitungen des Werks wieder weitgehend eliminiert hat. Dabei fielen jene bewusst gewählten Anklänge an keiner Stelle wörtlich aus, vielmehr gelang es Bruckner, das Übernommene in stets neuer Beleuchtung in die eigene Musik zu integrieren – ein Einschmelzungsprozess, der auch in den späteren Werkfassungen hörbar bleibt. Und obgleich die Tatsache, dass Bruckner merklich von Wagners 12 Harmonik beeinflusst war, ebenfalls kaum zu überhören ist, unterscheidet sich seine Musik in einem ganz zentralen Punkt von der wagnerschen Klangästhetik: Bruckner setzt in seiner Sinfonie, die wohl von der Orgelregistratur inspiriert wurde, auf ausgeprägte Kontraste zwischen ekstatisch vibrierenden Klangmassen und beispielsweise einer verweht-verhaltenen Flötenmelodie, während Wagner, Schöpfer der „unendlichen Melodie“, als ein Meister des In ihren Bahnen vollzieht sich der musikalische Prozess – im ersten Misterioso-Satz zwischen sakraler Kraft und weihevollen Momenten des Verklingens changierend, bis das Hauptthema in der Durchführung zu einem der für Bruckner typischen Höhepunkte geführt wird. Harmoniegesättigt hebt dann der zweite Satz an, mit unverkennbaren „Tristan“-Anklängen, die sämtliche Sinfonieversionen überlebt haben. Anschließend erklingt in den Bratschen eines der dankbarsten Themen, das in seiner lyrischen Emphase in der sinfonischen Literatur jenen Instrumenten anvertraut wurde, bevor der dritte Satz mit rhythmischer Energie und ausgeprägter Originalität alle Erwartungen erfüllt, die man an ein bewegtes Scherzo (mit kontrastierendem Trio) stellen kann. Im majestätischen Finale lässt Bruckner dann das Trompetenthema des Kopfsatzes, nach Dur erhöht, erneut erklingen, wobei das Werk mit eben jenem Thema endet. Zwischen beiden Ereignissen präsentiert sich Bruckner ganz auf der Höhe seines kontrapunktischen Könnens, etwa, wenn er das polkaartige Streicherthema mit einem feierlichen Bläserchoral kunstvoll kombiniert. „So ist’s im Leben, und das hab’ ich im letzten Satz meiner dritten Symphonie schildern wollen“, erklärte Bruckner gegenüber seinem Biographen August Göllerich, „die Polka bedeutet den Humor und den Frohsinn in der Welt – der Choral das Traurige, Schmerzliche in ihr.“ Es sollte 13 Jahre dauern, bis die Dritte Sinfonie – nun in der stark revidierten Form von 1888/89 – in Wien ein weiteres Mal zu hören war: Die Wiener Philharmoniker spielten sie unter der Leitung von Hans Richter am 21. Dezember 1890 in Wien im Großen Musikvereinssaal. Die Aufführung wurde für Bruckner zum Triumph: „Es wurde gestampft, getobt, geschrien: nach jedem Satz mußte der Komponist wiederholt dankend hervortreten“, musste selbst Eduard Hanslick zugeben. Jean Sibelius, der unter den Zuhörern war, schrieb nach dem Ereignis, er halte Bruckner für den größten lebenden Komponisten. Harald Hodeige 13 NDR SINFO NIEO RCHE S T ER Konzertvorschau NDR Sinfonieorchester B6 | Do, 20.02.2014 | 20 Uhr A6 | So, 23.02.2014 | 11 Uhr Hamburg, Laeiszhalle Christoph Eschenbach Dirigent Christopher Park Klavier Peter Tschaikowsky Hamlet – Fantasie-Ouvertüre op. 67a Franz Liszt „Wanderer-Fantasie“ von Franz Schubert für Klavier und Orchester Peter Tschaikowsky Manfred-Sinfonie h-Moll op. 58 Einführungsveranstaltung: 20.02.2014 | 19 Uhr Musik-Dialoge Gesprächskonzert mit Christoph Eschenbach (Klavier) und Christopher Franzius (Cello): 23.02.2014 | 20 Uhr Hamburg, Bucerius Kunst Forum D6 | Fr, 07.03.2014 | 20 Uhr Hamburg, Laeiszhalle Matthias Pintscher Dirigent Jeroen Berwaerts Trompete Daniel Roth Orgel Maurice Ravel Ma mère l’oye (Suite) Toshio Hosokawa Trompetenkonzert (Europäische Erstaufführung, Auftragswerk des NDR) Camille Saint-Saëns Sinfonie Nr. 3 c-Moll op. 78 „Orgelsinfonie“ 18.45 Uhr: Auftakt mit dem NDR Jugendsinfonieorchester unter der Leitung von Matthias Pintscher César Franck: Sinfonie d-Moll (siehe S. 17) B7 | Do, 20.03.2014 | 20 Uhr A7 | So, 23.03.2014 | 11 Uhr Hamburg, Laeiszhalle Thomas Hengelbrock Dirigent Arabella Steinbacher Violine Sara Hershkowitz Sopran Rodion Pogossov Bariton NDR Chor Chor des Bayerischen Rundfunks Frank Martin Polyptyque Johann Sebastian Bach Choräle zum Kreuzweg Gabriel Fauré Requiem Einführungsveranstaltungen mit Thomas Hengelbrock: 20.03.2014 | 19 Uhr 23.03.2014 | 10 Uhr Musik-Dialoge Gesprächskonzert mit Arabella Steinbacher und Mitgliedern des NDR Sinfonieorchesters: 22.03.2014 | 20 Uhr Hamburg, Bucerius Kunst Forum KAMMERKONZERT Di, 25.02.2014 | 20 Uhr Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio GROSSE KAMMERMUSIK Stefan Wagner Violine Rodrigo Reichel Violine Veronika Passin Violine Jan Larsen Viola Andreas Grünkorn Violoncello Christoph Rocholl Violoncello Volker Donandt Kontrabass Stipendiaten der Akademie des NDR Sinfonieorchesters Max Bruch Oktett B-Dur op. posth. Dmitrij Schostakowitsch Prelude und Scherzo für Oktett op. 11 Johann Sebastian Bach Brandenburgisches Konzert Nr. 6 BWV 1051 Matthias Pintscher Christoph Eschenbach Arabella Steinbacher 14 15 NDR SINFO NIEO RCHE S T ER Konzertvorschau Konzerttipp Weitere NDR Konzerte Das NDR Jugendsinfonieorchester mit Matthias Pintscher NDR DAS ALTE WERK NDR FAMILIENKONZERT Abo-Konzert 5 Mi, 26.02.2014 | 20 Uhr Hamburg, Laeiszhalle Lyriarte Valer Sabadus Countertenor Werke von Georg Friedrich Händel Nicola Antonio Porpora Sa, 01.03.2014 | 14.30 + 16.30 Uhr Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio UZU UND MUZU AUS KAKARUZU Thomas Schwarz und Jesús Porta Varela Schlagzeug NDR Sinfonieorchester Dirigent: Dave Claessen Sprecher: Jens Peter Brose Avner Dorman Uzu and Muzu aus Kakaruzu für zwei Schlagzeuger, Erzähler und Orchester nach einer Geschichte von Ephraim Sidon 19 Uhr: Einführungsveranstaltung im Kleinen Saal der Laeiszhalle ab 6 Jahren Weitere Konzerttermine in der Reihe „Konzert statt Schule“ (Klasse 1 – 6): Do, 27.02.2014 | 9.30 + 11 Uhr Fr, 28.02.2014 | 9.30 + 11 Uhr Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio Valer Sabadus Karten im NDR Ticketshop im Levantehaus, Tel. (040) 44 192 192, online unter ndrticketshop.de 16 Nach den umjubelten Auftritten im letzten Jahr – unter der Leitung von Krzysztof Urbański und bei der Opening Night unter Thomas Hengelbrock – präsentiert sich das NDR Jugendsinfonieorchester am 7. März 2014 wieder in der Laeiszhalle. Diesmal dirigiert Matthias Pintscher die Sinfonie d-Moll von César Franck. Das aus Mitgliedern führender norddeutscher Jugendorchester, Musikstudenten und den Akademisten des NDR Sinfonieorchesters zusammengesetzte Orchester wurde 2012 von der Akademie des NDR Sinfonieorchesters in Zusammenarbeit mit dem Education-Bereich gegründet, um talentierten Jugendlichen professionelle Erfahrungen in der Orchesterpraxis zu ermöglichen. Fr, 07.03.2014 | 18.45 Uhr Hamburg, Laeiszhalle NDR Jugendsinfonieorchester Matthias Pintscher Dirigent César Franck Sinfonie d-Moll Auftakt zum anschließenden Konzert des NDR Sinfonieorchesters (siehe S. 14). Eintritt frei. Einlasskarten im NDR Ticketshop, Tel: (040) 44 192 192 [email protected] 17 Unsuk Chin im Porträt Impressum Zwei Abende in der Reihe NDR das neue werk Saison 2013 / 2014 Fr, 14.02.2014 | 20 Uhr Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio NDR Sinfonieorchester Brad Lubman Dirigent Sunwook Kim Klavier Wu Wei Sheng Damen des NDR Chors György Ligeti Clocks and Clouds Unsuk Chin · Konzert für Klavier und Orchester (Deutsche Erstaufführung) · Konzert für Sheng und Orchester · „Rocaná“ für großes Orchester Unsuk Chin Unsuk Chin ist eine der erfolgreichsten Komponistinnen des letzten Jahrzehnts: 2004 gewann sie den Grawemeyer Award; 2007 wurde ihre Oper „Alice in Wonderland“ Oper des Jahres; 2014 wird sie Composer-in-Residence in Luzern sein. Doch vorher kommt sie wieder in die Stadt, in der für sie vieles begann. Von 1985 bis 1988 studierte Unsuk Chin bei György Ligeti an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Nach der begeistert aufgenommen Deutschen Erstaufführung ihrer „Scenes from Alice“ im Februar 2013 auf Kampnagel widmet NDR das neue werk der Wahlberlinerin mit koreanischen Wurzeln nun ein zweitägiges Porträt. 18 Sa, 15.02.2014 | 20 Uhr Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio NDR Chor Philipp Ahmann Dirigent Hae-Sun Kang Violine Mei Yi Foo Klavier N. N. Schlagzeug Werke von Unsuk Chin György Ligeti Isang Yun Herausgegeben vom NORDDEUTSCHEN RUNDFUNK PROGRAMMDIREKTION HÖRFUNK BEREICH ORCHESTER, CHOR UND KONZERTE Leitung: Andrea Zietzschmann Das NDR Sinfonieorchester im Internet ndr.de/sinfonieorchester facebook.com/ndrsinfonieorchester Redaktion Sinfonieorchester: Achim Dobschall Redaktion des Programmheftes: Julius Heile Die Einführungstexte von Dr. Harald Hodeige sind Originalbeiträge für den NDR. Fotos: Jacques Lévesque (S. 4) Felix Broede (S. 5) akg-images (S. 7, S. 9, S. 10, S. 11, S. 12) akg / De Agostini Picture Lib. (S. 8) Eric-Brissaud (S. 14 links) Andre Medici (S. 14 rechts) Henry Fair (S. 15) Arne Schultz (S. 16 links) Marcus Krüger | NDR (S. 16 rechts) Andreas Rehmann |NDR (S. 17) Eric Richmond (S. 18) NDR | Markendesign Gestaltung: Klasse 3b, Hamburg Litho: Otterbach Medien KG GmbH & Co. Druck: Nehr & Co. GmbH Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des NDR gestattet. 19