Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008,4

Werbung
Seminararbeit
„sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“
SS 2008,4. Juli 2008
Gerald Czech 9000325
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
len, ein essentieller Teil des Habi-
Einleitung
tus eines Sozialwissenschafters,
Die Lehrveranstaltung konfron-
der sich im akademischen Umfeld
tierte mich mit einem „Kanon“ der
sozialwissenschaftlichen Mikro-
adäquat bewegen will. Allein die
Auswahl des jeweiligen Zitatenlie-
theorien, die ich als Sozioökonom
gehört, gelesen und – zumindest
feranten für die Grundlagen bei
einer sozialwissenschaftlichen Ar-
grob – verstanden haben sollte.
beit verortet den Autor bereits im
Da die Sozialwissenschaften im
weiten Feld dieser verschiedenen
Sinne des Multiparadigmatismus
Zugänge zur einzigen Wahrheit
auch innerhalb eines Genres, also
beispielsweise innerhalb der Mik-
über den Menschen. Ganz gleich,
wie die Wahl des passenden Bein-
rotheorien, noch komplett ver-
kleids beim Besuch der Rennbahn,
schiedene Grundannahmen über
oder die Auswahl der richtigen
die Gesellschaft per se, aber auch
über die Position, die Aufgaben
Sneaker für das Rap-Konzert. Milieu-spezifischer Habitus wird das
und die Handlungsmöglichkeiten
dann später genannt werden.
der einzelnen gesellschaftlichen
Dass die Zugänge, die der Lehr-
AkteurInnen haben, müssen in
veranstaltungsleiter Karl-Michael
den Folgenden Kapiteln die ein-
Brunner im Rahmen seiner Lehr-
zelnen Theorien jeweils einzeln
veranstaltung für die Bearbeitung
und unabhängig voneinander be-
der Theorien wählt, zudem noch
trachtet und beurteilt werden.
sehr interessant waren und auch
Ganz nach Pierre Bourdieu (vgl.
die Auswahl der Theorie-Texte (im
das entsprechende Kapitel) ist das
Wissen um diese verschiedenen
tungen in diesem Studium) als
Theorien, zumindest aber das Mitreden-Können bei Dinnergesprächen, in denen diese Namen fal-
Vergleich zu anderen Veranstal-
gelungen bezeichnet werden
kann, ist ein angenehmer Beigeschmack.
Einleitung
2
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
Inhaltsverzeichnis
Einleitung....................................................................................... 2
Inhaltsverzeichnis ........................................................................... 3
Rollentheorie .................................................................................. 3
Homo Sociologicus........................................................................ 3
Rollen, Positionen und andere ärgerliche Tatsachen der Gesellschaft .... 5
Rollenkonflikte ............................................................................. 6
Kritik der Rollentheorie .................................................................. 7
Symbolischer Interaktionismus.......................................................... 8
Entstehung und Grundannahmen .................................................... 8
Die Entstehung von individuellen Bedeutungen ................................10
Gesellschaft ................................................................................10
Rollen ........................................................................................11
Ökonomische Ansätze .....................................................................13
Homo oeconomicus......................................................................13
Der „radikale“ Ansatz von Gary Becker ...........................................14
Kritik des Ansatzes ......................................................................16
Pierre Bourdieus Integration von Mikro- und Makroperspektive .............17
Der soziale Raum nach Pierre Bourdieu ...........................................17
Klasse und Habitus ......................................................................19
Conclusio ......................................................................................20
Literatur........................................................................................22
„Homo Sociologicus“ ist die erste
Rollentheorie
Betrachtung aus der sozialwissen-
Homo Sociologicus
schaftlichen Mikroperspektive.
Die Rollentheorie in der Interpre-
Verortet wird die Rollentheorie im
tation Ralf Dahrendorfs, also auf
Paradigmenumfeld des Funktiona-
der Basis seines Standardwerks1
lismus (vgl. Schülein et al. 2001),
sie entsteht sozusagen auf der
1
In seiner Autobiographie „Über Grenzen“ (Dahrendorf, 2004) beschreibt er
Homo Sociologicus ganz im Sinne des
britischen Understatements als einen
„Aufsatz“: „Als ich so mit meinem Spielzeug in dem Redwood-Studio am Center
vergnügte, kamen mir die Idee für zwei
kleinere Arbeiten, die eine Zeitlang Diskussionen über die Grenzen der Soziologie hinaus auslösen sollten. Die eine war
die Parsons-Kritik unter dem Titel »Pfade
aus Utopia«, die andere der Aufsatz
»Homo Sociologicus«, der die soziologische Kategorienlehre in eine liberale Kritik an der »ärgerlichen Tatsache der Ge-
Mikroperspektive des Individuums, wenn man die Makroebene mit der funktionalistischen
Theorie Talcott Parsons erklärt.
Einleitend schreibt Dahrendorf zu
seiner Arbeit: "Wenn Durkheims
sellschaft« einbettete.“ Dahrendorf
2004: 21f
Inhaltsverzeichnis
3
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
»soziale Tatsachen« mehr sind,
des ökonomistischen Menschen-
als Fiktion, dann muss es möglich
bildes.
sein, diese mit der ganzen stren-
Daher wählte Dahrendorf Begriff
ge erfahrungswissenschaftlich Methodik zu beschreiben und in be-
des "homo sociologicus" ganz bewusst als Gegenposition zum
stimmten Problemzusammenhängen zu erklären" (Dahrendorf
"homo oeconomicus"4 der Wirtschaftswissenschaften und zum
2006: 5)
"psychological man", der Psycho-
Doch man muss die Rollentheorie
logen, zwei Begrifflichkeiten, die
auch zu ihrer Entstehungszeit be-
zum Entstehungszeitpunkt des
trachten – am Ende der 1950er-
Buches 1958 in Kalifornien gerade
Jahre in Paolo Alto traf Dahren-
viel diskutiert wurden. (vgl. Dah-
dorf unter anderem auf jenen Tal-
rendorf 2006: 19)
cott Parsons, den er zuvor schon
Ein weiteres interessantes Detail
als Professor an der London
ist die Erweiterung des Durkheim-
2
School of Economics (LSE) ken-
schen Begriffs der „sozialen Tat-
nengelernt hatte, wo er nach sei-
sachen“, der „faits sociaux“, auf
ner Dissertation über Karl Marx im
die er sich bereits in der Einlei-
3
philosophischen Genre Soziologie
tung bezieht auf den Begriff der
studierte. Die Psychologie war die
„ärgerlichen Tatsachen der Ge-
Sozialwissenschaft der Stunde,
sellschaft“, der in nahezu jedem
vieles in der Theorie wurde Psy-
Kapitel wieder Erwähnung findet:
chologisch erklärt, durch die
„Die Tatsache der Gesellschaft ist
Freud’sche Logik der Triebe, eine
ärgerlich, weil wir ihr nicht ent-
weitere populäre Theorie war die
weichen können“ (Dahrendorf
2006: 31)
2
Ralf Dahrendorf wurde später selbst als
Direktor an die LSE berufen, wo er von
1974 bis 1984 wirkte.
3
„Ich ging sozusagen als Sozialist nach
England und kam als Liberaler zurück“,
beschreibt Dahrendorf seinen politischen
Wandel, der auf der einen Seite auf seinen sozialdemokratischen Vater zurückgeht und auf der anderen auf die intensive Beschäftigung mit Karl Marx zurückzuführen ist. (Dahrendorf 2004: 120)
4
Zum Thema gibt es im Kapitel „ökonomische Ansätze“ noch mehr an Informationen
Rollentheorie
4
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
ner Organisation. An jeder sozia-
Rollen, Positionen und
andere ärgerliche
Tatsachen der
Gesellschaft
len Position wird der der "homo
sociologicus" zur Projektionsfläche
von gesellschaftlichen Erwartun-
Ralf Dahrendorf bemüht in seiner
Rollentheorie die Metapher des
gen - diese "ärgerlichen Tatsachen der Gesellschaft" sind die so
Theaters, in dem er die gesell-
genannten Rollen, die man dort
schaftlichen Vorgänge mit denen
am Theater vergleicht. Gleich einem Stück des großen Welttheaters - des „theatrum mundi“ - gibt
es in der Gesellschaft unter-
zu übernehmen hat. Wenn man
im Theaterstück eine gewisse Position hat, dann wird man zum
Träger der Rolle und hat das Spiel
auch mitzuspielen, gleiches gilt
schiedlichste soziale Positionen,
auch in der Gesellschaft. (vgl.
die personenunabhängig bestehen
Dahrendorf 2006: 59f, 37)
und festgeschrieben sind. Diese
Positionen und die damit verbun-
Spielt man die Rolle anders, als
dies im Stück vereinbart wurde,
denen Verantwortungen, Über-
als es das Publikum oder der Re-
und Unterstellungen und Beziehungen kann man auch mit dem
Organigramm einer Organisation
gisseur erwartet, so kann man mit
Sanktionen rechnen. Als gesellschaftliche Sanktionen bezeichnet
vergleichen, in das noch keine
Namen der Stelleninhaber einge-
man die Einwirkung der Gesellschaft auf Individuen zur Bestäti-
tragen wurden. Man findet dort
alle „Rollen“ des „Organisationstheaters“ vom Leiter bis hin zum
„einfachen Organisationsmitglied“.
gung von korrektem, oder zur Bestrafung von devianten Verhalten.
Das kann beispielsweise durch
Verleihung von Orden und Aus-
Soziale Positionen können zugeschrieben sein, beispielsweise die
eines Mannes, eines Vaters, oder
eines Sohnes - oder sie sind er-
zeichnungen (im positiven Fall)
passieren, oder durch Gefängnisstrafen im negativen Fall. (vgl.
Dahrendorf 2006: 41)
worbene Positionen, wie die eines
Die gesellschaftlichen Erwartun-
Universitätsassistenten, eines
Lehrers, oder des Präsidenten ei-
gen, die mit einer sozialen Rolle
Rollentheorie
5
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
verknüpft sind, kann man in
Als Inter-Rollenkonflikte werden
"Muss-", "Kann-" und "Soll-
Konflikte bezeichnet, die sich auf-
"Erwartungen einteilen. Das
grund unterschiedlicher Rollener-
Nichteinhalten von Muss-
wartungen bei verschiedenen von
Erwartungen zieht mit Sicherheit
einem Akteur gleichzeitig einge-
negative Konsequenzen nach sich,
nommenen Rollen ergeben. Bei-
werden Soll-Erwarungen nicht er-
spielsweise erwartet man von der
füllt, so sind negative Konsequen-
mittleren Führungskraft, dass sie
zen ebenso zu erwarten, wenn
unbezahlt viele Überstunden im
auch nicht im selben Ausmaß. Die
Büro macht und vom jungen Fa-
Einhaltung von Soll-Erwartungen
milienvater, dass er viel Zeit für
kann auch zu positiven Konse-
seine Familie aufbringen kann. Je
quenzen führen. Die Nichterfül-
nach Stärke dieser Rollenkonflikte
lung von Kann-Erwartungen führt
kann man in kompatible Rollen
im Normalfall nicht zu Konse-
und solche mit Unvereinbarkeiten
quenzen, stellt man das Nichter-
unterscheiden. (vgl. Dahrendorf
halten positiver Konsequenzen im
2006: 82f)
Erfüllungsfalle nicht in Rechnung.
„An der Übereinstimmung von
( vgl. Dahrendorf 2006: 43)
Rollen und tatsächlichem Verhalten bzw. Normen und Meinungen
Rollenkonflikte
Als Intra-Rollenkonflikte bezeichnet Dahrendorf die Konflikte, die
sich innerhalb einer sozialen Rolle
aufgrund der verschiedenartigen,
oftmals konträren Ansprüche un-
können wir die Stabilität sozialer
Prozesse ablesen; ihre Nichtübereinstimmung verrät Konflikte und
damit Richtungen der Entwicklung“ (Dahrendorf 2006: 81f)
terschiedlicher Bezugsgruppen
Dahrendorf erklärt den sozialen
ergeben. Es gibt Rollen, die eine
Wandel als Abweichung der ein-
100%ige Erwartung aller Rollen-
zelnen AkteurInnen von den Rol-
erwartungen nicht erlauben, spe-
len (aufgrund der existierenden
ziell dort, wo total unterschiedli-
Rollenkonflikte) und damit lang-
che Anspruchsgruppen existieren.
samer Anpassung der gesell-
(vgl. Dahrendorf 2006: 82)
schaftlichen Erwartungen an das
Rollentheorie
6
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
veränderte Verhalten und damit
Oberhaupt der Familie vorbehal-
einer sozialen Redefinition von
ten – verändert. Misshandeln sei-
Rollenbildern. Dadurch verändert
ner Kinder gilt heute – vollkom-
sch das Normensystem langsam
men zu Recht - als verpönt und
aufgrund des Verhaltens der Ak-
wird auch mit sozialen (und juris-
teurInnen im sozialen Handeln.
tischen) Sanktionen bestraft.
Die ersten von den Rollen abwei-
Kritik der Rollentheorie
chenden Handlungen werden
Die Rollentheorie ist aufgrund ih-
wahrscheinlich noch als deviant
wahrgenommen und sanktioniert,
rer leichtverständlichen Metaphern gut geeignet, einfache sozi-
doch langsam – verbunden mit
ale Zusammenhänge in weniger
der steigenden Zahl der abweichenden AkteurInnen - verändern
sich die Perspektiven und das Ab-
komplexen sozialen Situationen
zu erklären. Gerade die Vertrautheit des eigenen Rollenspielens in
weichende wird zum Normalen.
unterschiedlichen Situationen
Damit verbunden kann es auch
macht die Theorie einfach ver-
vorkommen, dass das vormals
normale nun als deviant wahrgenommen wird. Beispielsweise war
es bis in die 1970er Jahre durchaus normal und auch üblich, Kin-
ständlich. Auch bietet die Theorie
einfache Erklärungszusammenhänge auf der Basis von simplen
Ursachen-Wirkungsketten für die
Auswirkung von sozialen Normen
der zum Zwecke der Erziehung
auf das Handeln der gesellschaft-
auch körperlich zu misshandeln
(oder aus der damaligen Perspektive. „zu züchtigen“). Diese Vor-
lichen AkteurInnen. Auch die Bilder der Konflikte innerhalb von
Rollen und zwischen verschiede-
gangsweise fand als „gesunde
Watschen“ Eingang in den österreichischen Sprachgebrauch. Im
Laufe der vergangenen Jahrzehn-
nen Rollen erklären einfach die
real existierenden Dilemmata, in
denen sich viele Personen immer
wieder befinden.
te hat sich dieses elterliche Rollenverhalten – es war hauptsäch-
Leider ist die Gesellschaft nicht
lich dem Vater als patriachalem
einfach und schon gar nicht auf
einfache UrsacheRollentheorie
7
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
Wirkungskonstellationen zurück-
ungebändigter Industrialisierung,
zuführen. Auch die Situation der
Masseneinwanderung und Urbani-
einzelnen Individuen ist komple-
sierung in extremster Form zum
xer, als es die Rollentheorie vor-
Vorschein. Es kam zu erheblichen
gibt. Zudem schränkt die Betrach-
sozialen Unruhen, aber auch zu
tung der sozialen AkteurInnen als
völlig neuen sozialen Problemen
normengebundene „Rolleninhabe-
wie Bandenbildung, organisierte
rInnen“ die tatsächliche Selbstbe-
Kriminalität usw." (Reiger 2007:
stimmtheit der handelnden Men-
139)
schen ein, es handelt sich um ein
Bereits George Herbert Mead
„Übersozialisiertes“ Menschenbild,
(1863 – 1931) als Begründer des
das individuelle Persönlichkeitsmerkmale und Eigenheiten der
Personen komplett vernachlässigt.
Symbolischer
Interaktionismus
erst später von seinem Nachfolger
Herbert Blumer als "symbolischen
Interaktionismus" benannten sozialwissenschaftlichen Konzepts
unterschied Interaktionen als
entweder nichtsymbolisch oder als
Entstehung und
Grundannahmen
symbolische Interaktion, die sich
durch den Gebrauch von signifi-
Dieses Paradigma der sozialwissenschaftlichen Mikroperspektiven
kanten Symbolen definiert. (vgl.
Blumer 1995: 29)
entstand an der Chicagoer Universität zu Beginn des 20. Jahr-
Als nicht-symbolische Handlungen
hunderts. Nicht der Sozialwissen-
werden „instinktive“ und automa-
schafter als neutraler Beobachter
tisch ablaufende Vorgänge be-
des sozialen Handelns stand dort
zeichnet, beispielsweise das Au-
im Mittelpunkt, sondern das Ver-
genzwinkern, das ein Staubkorn
stehen der Situation, die Verbes-
verursacht, das auf die Hornhaut
serungen und das eigene politi-
trifft.
sche Handeln der Wissenschaftler
„Eine Geste ist jener Teil einer
abseits ihrer Lehrstühle. „Hier
ablaufenden Handlung, der von
kamen die sozialen, politischen
anderen wahrgenommen wird und
und ökonomischen Folgen von
meistens eine unvermittelte Reak-
Symbolischer Interaktionismus
8
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
tion in ihnen auslöst. Sie wird
„Unter »Dingen« wird hier alles
dann zu einem „signifikanten
verstanden, was der Mensch in
Symbol“, wenn sie im Rahmen
seiner Welt wahrzunehmen ver-
eines Interpretationsprozesses
mag, physische Gegenstände, wie
sowohl im handelnden Individuum
Bäume oder Stühle; andere Men-
als auch im Individuum, an das
schen, wie eine Mutter oder einen
die Handlung gerichtet ist, diesel-
Verkäufer; Kategorien von Men-
ben Reaktionen bzw. Bedeutun-
schen, wie Freunde oder Feinde;
gen hervorruft5 und dadurch für
Institutionen, wie eine Schule o-
beide derselbe Sinn entsteht.“
der eine Regierunge; Leitideale,
(Reiger 2007: 142)
wie individuelle Unabhängigkeit
Der symbolische Interaktionismus
oder Ehrlichkeit; Handlungen an-
geht von insgesamt drei Prämis-
derer Personen, wie ihre Befehle
sen aus: Menschen handeln Din-
oder Wünsche; und solche Situa-
gen gegenüber auf der Basis der
tionen, wie sie dem Individuen in
Bedeutungen, die diese für sie
seinem täglichen Leben begeg-
besitzen; diese Bedeutung ist eine
nen“ (Blumer 1995: 23f)
Konsequenz aus dem Interakti-
Die Bedeutung von Dingen, also
onshandeln selbst, also kon-
ihr individueller Sinn, ergibt sich
struiert6 und die Bedeutung von
nicht direkt „aus ihrem Wesen“ sie
Dingen selbst wird durch individu-
entsteht durch Interpretation der
elle Interpretation gehandhabt
Interaktionen anderer Personen
und geändert (vgl. Blumer 1995:
auf diese Dinge, also wie andere
23f)
beispielsweise über sie denken,
welche Wertschätzung sie ihnen
beimessen oder auch wie sie sich
5
Das erinnert in jedem Falle auch an die
Webersche Bedeutung des sozialen Handelns: „Soziales Handeln orientiert sich
am Handeln anderer.“ (Weber 2006: 30)
ihnen gegenüber verhalten. (vgl.
Reiger 2007: 144)
6
Ein Zitat von William I. Thomas „Wenn
Menschen Situationen als real definieren,
sind auch ihre Folgen real“, das auch als
„Thomas-Theorem“ bekannt ist, zeigt
auf, warum Thomas als Vorläufer des
symbolischen Interaktionismus gilt. (vgl.
Abels 2004: 43)
Symbolischer Interaktionismus
9
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
Die Entstehung von
individuellen
Bedeutungen
Die Identität von Personen kann
im symbolischen Interaktionismus
in zwei unterschiedliche Seiten
oder Perspektiven geteilt werden.
Auf der einen Seite das „me“, die
durch Rollenübernahme erworbenen Einstellungen und Erwartungen der anderen - sozusagen die
inkorporierten Normen und Werte
der Gesellschaft - und andererseits das „I“, als persönlicher Teil
der Identität, der spontan und
impulsiv den Gegenpart zum "so-
ten sozialen Prozess, in dem das
Individuum sozusagen mit sich
selbst interagiert. Im zweiten
Schritt werden die Bedeutungen
quasi mit sich selbst ausgehandelt. Da diese Bedeutungsentstehung auch vom Kontext, von der
Umwelt und von vielen anderen
persönlichen und situativen Variablen abhängt, übersteigt er die
psychischen Prozesse als automatisch ablaufender Vorgänge und
kann analog zu einer Interaktion
mit andern als soziale Handlung
interpretiert werden (vgl. Blumer
1995: 26)
zialisierten" Selbst übernimmt.
(vgl. Reiger 2007: 148f)
Gesellschaft
Diese zwei Seiten der Persönlich-
Soziale Organisationen und Be-
keit, das individuelle „I“ und das
wegungen entstehen im symboli-
vergesellschaftete „me“ treten
schen Interaktionismus erst durch
nun im Interpretationsprozess
Interaktionen, durch das soziale
selbst miteinander in Interaktion
Treffen. Erwing Goffman, dessen
um die Bedeutung von Dingen zu
Perspektiven später zu finden sein
definieren.
werden, bezeichnet diese Situationen auch mit dem Theaterbegriff
Die Interpretation der individuellen Bedeutung von Dingen erfolgt
„Ensembles“. (vgl. Weymann
1998: 37)
in mehreren Schritten. Zunächst
macht man sich selbst auf den
„Durch den Gebrauch gemeinsa-
Gegenstand aufmerksam, man
mer ‚signifikanter Symbole’ wird
„zeigt sich den Gegenstand an“.
für Mead die innere Repräsentanz
Das erfolgt in einem internalisier-
der Gesellschaft im Bewusstsein,
die soziale Bedingtheit des Ichs
Symbolischer Interaktionismus
10
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
und des Handelns deutlich. Für
flexion in der Rolle erwähnt. Man
ihn sind Individuum und Gesell-
entwickelt sein Selbst unter ande-
schaft in den inneren Bewusst-
rem interaktionistisch durch
seins- und Erfahrungsprozessen
Selbstreflexion und Bedeutungsin-
permanent aufeinander bezogen,
terpretation dieser Selbst-
ist Gesellschaft an Handlungsab-
Wahrnehmung als Objekt. (vgl.
läufen und sozialen Interaktionen
Blumer 1995: 32)
sozusagen stets beteiligt, wobei
„Identität entsteht aus der Sicht
das Symbolsystem Sprache als
des symbolischen Interaktionis-
Medium der Vergesellschaftung
mus beim Erlernen des Rollen-
fungiert“ (Reiger 2007: 143)
spieles durch Rollenübernahme
Die menschliche Gesellschaft an-
und ist damit wesentlich, aber
erkennt der symbolische Interak-
nicht ausschließlich sozial vermit-
tionismus nur als Konstrukt inner-
telt. Die Menschen sind, obwohl
halb von Handlungen und nur für
sie in bestimmten Subkulturen
die Zeit während der Interaktio-
oder in Teilen der Gesellschaft
nen stattfinden. Das Soziale ent-
meistens gleiche signifikante
steht daher nach diesem Para-
Symbole und Perspektiven ver-
digma aufgrund fortgeführter
wenden, auch völlig unterschied-
Kaskaden von Interaktionen und
lich und einzigartig.“ (Reiger
der damit verbundenen Bedeu-
2007: 148)
tungstransfers. (vgl. Blumer
1995: 27)
Als "role taking" wird der Prozess
bezeichnet, in dem man sich als
an einer Interaktion beteiligtes
Rollen
Rollenhandeln nach der Idee des
symbolischen Interaktionismus
unterscheidet sich deutlich von
dem der funktionalistischen Rollentheorie, wie sie unter anderem
von Ralf Dahrendorf definiert
wurde. Auf der einen Seite hat
bereits Herbert Mead die Selbstre-
Individuum in die Rollen der jeweils anderen beteiligten Personen hineinversetzt und versucht,
die Situation aus deren Augen zu
sehen - damit versucht man auch,
die Beurteilung der sozialen Interaktion seines Gegenübers zu antizipieren. Als "role making" wird
Symbolischer Interaktionismus
11
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
das Phänomen bezeichnet, daß
Inszenierung - der symbolischen
sich Rollen durch die Interaktio-
Handlung - werden. Zur Darstel-
nen auch aktiv von den AkteurIn-
lung der Rolle, sei es als Auffüh-
nen gestalten und verändern las-
rungsort, oder als Ort von nicht
sen. (vgl. Reiger 2007: 145f)
direkt bemerkbaren Handlungen,
„Wenn der einzelne eine Rolle
spielt, fordert er damit seine Zuseher auf, den Eindruck, den er
gibt es die Bühne, die Hinterbühne oder auch den Zuseherraum.
(vgl. Goffman 1983)
bei ihnen hervorruft, ernst zu
Als Eindrucksmanipulation oder
nehmen. Sie sind aufgerufen zu
"impression management" be-
glauben, die Gestalt, die sie se-
zeichnet Goffmann unterschiedli-
hen, besitze wirklich die Eigen-
che Techniken und Handlungen,
schaften, die sie zu besitzen
die Bedeutungen der eigenen Per-
scheint, die Handlungen, die sie
son (als "Ding" im Sinne des
vollführt, hätten wirklich die im-
symbolischen Interaktionismus)
plizit geforderten Konsequenzen,
bei seinem Gegenüber zu steuern.
und es verhalte sich überhaupt
(vgl. Goffman 1983: 189)
alles so, wie es scheint.“ (Goff-
„Der Terminus Image kann als der
man 1983: 19)
positive Wert definiert werden,
Erving Goffmann übernimmt die
den man sich durch die Verhal-
Metapher des Theaters, die schon
tensstrategie erwirbt, von der die
in der funktionalistischen Rollen-
anderen annehmen, man verfolge
theorie beispielsweise bei Dah-
sie in einer bestimmten Interakti-
rendorf verwendet wurde, aller-
on “ (Goffman 1986: 10)
dings wird diese differenzierter
Gesellschaftlicher oder sozialer
dargestellt. Es werden nicht nur
Wandel entsteht nach den Theo-
Schauspieler und Rollen betrach-
retikern des symbolischen Inter-
tet, sondern auch der Rahmen-
aktionismus aufgrund von Bedeu-
kontext und die unterschiedlichen
tungswandel von Dingen. Das o-
Einrichtungen eines Theaters. Das
ben geschilderte „Role-Making“
Ensemble und das Publikum sind
führt ebenso zum Wandel von
nur zwei der Gruppen, die Teil der
Rollenbildern, die im Sinne der
Symbolischer Interaktionismus
12
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
fortgeführten Interaktion ebenso
Sinne der Nutzenmaximierung zu
die Rahmenbedingungen für wei-
wählen. Es ist ein striktes Handeln
tere Bedeutungsunterschiede dar-
nach dem ökonomischen Prinzip!
stellen kann.
Es wird also unterstellt, dass der
homo oeconomicus eine Zielfunk-
Ökonomische Ansätze
tion definieren kann und in der
Homo oeconomicus
Lage ist, diese Zielfunktion, ggf.
Die ökonomischen Ansätze des
unter bestimmten Nebenbedin-
sozialen Handelns fußen auf den
gungen, zu optimieren.“ (Gu-
utilitaristischen und rationalen
ckelsberger 2005: 2)
Prinzipien7 der englischen Philo-
Diese Vereinfachung ist für die
sophen Hobbes oder Bentham
mathematisch orientierte Mikro-
aus, deren Ideen aus dem sozia-
ökonomie, die dieses Konzept bei-
len Wandel der archaischen Ag-
spielsweise im Bereich der Haus-
rargesellschaften hin zu den mer-
haltskalkulationen zur Entschei-
kantilistischen Städten stammen,
dungsfindung von ökonomischen
beziehungsweise diesen Wandel
Akteurinnen benutzt wichtig und
zu begründen versuchten.
sinnvoll, für die Erklärung von so-
Kernkonzept dieser Denkschema-
zialen Realitäten manchmal doch
ta ist der nutzenoptimierende
zu einfach.
„homo oeconomicus“, der sämtli-
„Die Bedeutung eines Modells
che seiner Handlungen der Maxi-
liegt im Weglassen irrelevanter
mierung seines Gesamtnutzens
Einzelheiten, was der Volkswirtin
unterwirft. (vgl. Schülein et al.
erlaubt, sich auf das Wesentliche
2001: 60–65)
der ökonomischen Wirklichkeit zu
„Die dem homo oeconomicus un-
konzentrieren, die sie zu verste-
terstellte Rationalität bedeutet
hen versucht.“8 (Varian und Bu-
hier, von zwei (oder mehr) Alter-
chegger 2001: 1)
nativen stets die günstigere im
7
Auch Adam Smith benutzte diese Argumentationen, wenn er versuchte,
Menschliches Handeln in seinem Werk
„Reichtum der Nationen“ zu erklären.
8
Aus konstruktivistischer Sicht ist man
versucht auf dieses Zitat zu erwidern,
dass die ökonomische Wirklichkeit, die
durch solche Modelle konstruiert wird,
Ökonomische Ansätze
13
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
Der „radikale“ Ansatz von
Gary Becker
er zu seinem ökonomischen An-
Becker geht davon aus, dass sozi-
zu spät zu einer Vorlesung, muss-
ale Akteurinnen nutzenmaximie-
te sich entscheiden, ob er sich in
rendes Verhalten an den Tag le-
ein teures Parkhaus stellt, oder
gen. Neben dieser Grundannahme
sein Auto irgendwo illegal „fallen
für seinen Ansatz geht der Öko-
lässt“. Er kalkulierte die Wahr-
nom, der für seine Arbeit 1992
scheinlichkeit, einen Strafzettel zu
den Nobelpreis für Wirtschaftswis-
kriegen und seine mögliche Höhe
9
satz gefunden hat: Er kam einst
senschaften erhalten hat, auch
im Vergleich zur Parkgebühr und
von den anderen Basisannahmen
ließ das Auto falsch geparkt ste-
der Mikroökonomie aus, also bei-
hen. Dann erkannte er, dass die
spielsweise von so genannten
Prinzipien der Mikroökonomie, wie
"stabilen Präferenzen" oder einem
sie seit langem bekannt waren,
stabilen Marktgleichgewicht. (vgl.
auch sehr einfach auf andere
Becker 1982: 3f)
menschliche Handlungsweisen
"I was late and had to decide
transferiert werden können.
quickly whether to put the car in a
Als Präferenzen werden in der ö-
parking lot or risk getting a ticket
konomischen Theorie die stabilen
for parking illegally on the street.
und gleich reproduzierbaren Vor-
I calculated the likelihood of get-
lieben definiert, die auf Ebene der
ting a ticket, the size of the pen-
Individuen zur Entscheidungsfin-
alty, and the cost of putting the
dung herangezogen werden. vgl.
car in a lot. I decided it paid to
(Becker 1982: 4)
take the risk and park on the
street." (Becker 1992)
Preise sind als Indikatoren für die
Allokation von Gütern – seien sie
Becker beschreibt anekdotisch in
nun materieller oder ideeller Na-
seiner Nobelpreis-Vorlesung, wie
tur -die Steuerungsinstrumente
für den Markt. Angebot und Nach-
eine andere Realität ist, als die soziale
Wirklichkeit.
9
Für seine Ausdehnung der mikroökonomischen Theorie auf einen weiten Bereich menschlichen Verhaltens und
menschlicher Zusammenarbeit
frage regeln sich genau über diese Preise. Als „Schattenpreis“ bezeichnet Becker die in Geldeinhei-
Ökonomische Ansätze
14
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
ten gemessenen Opportunitäts-
approach embeds them in a
kosten der Verwendung eines Gu-
framework that combines maxi-
tes. Dieses Konzept schlägt er
mizing behavior with analysis of
dort vor, wo es keinen unmittel-
marriage and divorce markets,
baren Markt gibt, der Preise für
specialization and the division of
Güter oder Alternativen als Indi-
labor, old-age support, invest-
katoren bildet. (vgl. Becker 1982:
ments in children, and legislation
4–5)
that affects families. The implica-
Anders, als dies in der Mikroökonomie der Fall ist, geht Becker
nicht davon aus, dass die AkteurInnen im Besitz vollständiger In-
tions of the full model are often
not so obvious, and sometimes
run sharply counter to received
opinion.” (Becker 1992)
formation über die Handlungen,
Beckers Theorie, so behauptet er
den Markt und die Güter sind.
selbst, lässt sich auf Phänomene
Auch die Transaktionskosten wer-
wie die Kindererziehung, den Hei-
den mit in der Nutzenoptimierung
ratsmarkt oder die Bestrafung von
des Individuums berücksichtigt.
Verbrechern anwenden. Die Be-
Die Informationsgewinnung über
strafung von Verbrechern ver-
Handlungsalternativen selbst er-
gleicht er beispielsweise mit einer
klärt Becker ebenso mit seiner
Besteuerung (in Geldwerten oder
Theorie - es findet eine laufende
nicht-Geldwerten im Falle von
Evaluierung der Kosten für weite-
Haftstrafen) der kriminellen Hand-
re Informationsbeschaffung statt,
lungen, die zu einem Steigen der
die mit dem erwarteten Nutzen
Marktpreise dieser führt. Analog
dieser weiteren Information ver-
zu einer Besteuerung von anderen
glichen wird. (vgl. Becker 1982:
Gütern sinkt damit die Absatz-
5f)
menge dieser Güter, weil der Nut-
„Still, intuitive assumptions about
behavior is only the starting point
of systematic analysis, for alone
zen günstiger mit anderen Gütern
erzielt werden kann. (vgl. Becker
1982: 5)
they do not yield many interesting
implications. The rational choice
Ökonomische Ansätze
15
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
Kritik des Ansatzes
„Beckers radikale Fassung des
Becker selbst sieht seinen öko-
ökonomischen Rationalismus
nomischen Ansatz als Erklä-
scheitert letztlich daran, dass er
rungsmodell für jegliches mensch-
keine andere Perspektive zulässt
liche Verhalten. Es ist in seinen
und alles in seine Sprache über-
Augen mehr als eine sozialwissen-
setzt, wodurch alles beschreibbar,
schaftliche Mikrotheorie, weil es
aber nichts mehr erklärbar ist
auch nicht-soziales zu erklären
[...]“ (Schülein et al. 2001: 68)
versucht.
Gerade in Zeiten der einfachen
„Ich bin der Auffassung, dass die
Erklärungen eignet sich ein Theo-
besondere Stärke des ökonomi-
riegebilde wie dieses, weil es für
schen Ansatzes darin liegt, dass
sich in keinster Weise in Anspruch
er eine breite Skala menschlichen
nimmt, selbst normativ zu sein,
Verhaltens integrativ erfassen
obwohl im Hintergrund die Öko-
kann.“ (Becker 1982: 3)
nomisierung aller Lebensbereiche
Doch, wenn man mit einem Satz
die Welt erklären will, dann muss
man seine Bedeutung sehr breit
anlegen. Egal, ob es um Kaffeekonsum, Ehe, die Wirkung der
Todesstrafe, oder um die Entscheidung einer Autoroute geht –
Beckers Theorie hat scheinbar Lösungen für alles. Was auf der
Strecke bleibt ist die soziale Realität als vernachlässigbare Randbedingung. Diese wurde Schritt für
laufend mitschwingt. Es verwundert trotzdem nicht, dass Becker
für diese Ansätze einen Nobelpreis
erhalten hat. Auf der einen Seite
war es der Preis für Wirtschaftswissenschaften - damit wurde die
Theorie auch aus der ökonomischen Perspektive gesehen – und
auf der anderen Seite passt eine
Theorie wie diese sehr gut in die
neoliberale Rationalität einer globalisierten Welt.
Schritt durch eine ökonomische
Realität ersetzt, ganz im Sinne
des zuvor zitierten Volkswirtschaftlichen Modellbegriffs.
Ökonomische Ansätze
16
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
Pierre Bourdieus
Integration von Mikround Makroperspektive
Pierre Bourdieu, ein Französischer
Soziologe, versteht die Gesellschaft und die gesellschaftliche
Welt als „akkumulierte Geschichte“. Man kann daher Geschichte
nicht als „Aneinanderreihung von
kurzlebigen und mechanischen
Gleichgewichtszuständen“ betrachten. (vgl. Bourdieu und
Steinrücke 2005: 49)
„Eines der zentralen Anliegen, die
Pierre Bourdieu mit seinen soziologischen Analysen stets verfolgt
hat, liegt in der Entschleierung
der ‚verborgenen Grundlagen der
Herrschaft’, wie er es in seinem
Buch ‚Questions de sociologie’
einmal formuliert hat. Er geht davon aus, dass die Soziologie entscheidend dazu beitragen sollte
und auch kann, die Reproduktionsmechanismen der Macht aufzudecken und damit ihre ‚symbolische Wirksamkeit zu zerstören’,
Das als „Feldtheorie“ bezeichnete
Konzept Bourdieus versucht, die
Mikroperspektive der handelnden
AkteurInnen mit der Makroper-
indem sie ‚an den Glauben der
herrschenden Klassen an ihre eigene Legitimität’ rührt“ (Hartmann 2002: 361)
spektive der Gesellschaft zu verknüpfen. Das jeweils eine wird
durch das jeweils andere beeinflusst, ohne dass der Mensch zu
einem übersozialisierten Homunkulus verkommt.
Ein wesentlicher Begriff in Bourdieus Theoriegebilde ist das Kapital. Er definiert Kapital als „akkumulierte Arbeit“. (vgl. Bourdieu
und Steinrücke 2005: 49). Bourdieus Kapitalbegriff geht deutlich
Der soziale Raum nach
Pierre Bourdieu
An dieser Stelle soll der Bourdieusche Ansatz des sozialen Raums
und die Manifestation von inkorporierter Gesellschaft als „Habitus“ ausgeführt werden.
weiter, als der simple ökonomische Sinn als monetäre Ressource
wie sie der Autor des Werks „Das
Kapital“ Karl Marx im 19. Jahrhundert definiert hat. Kapital ist
bei Bourdieu als generalisierte
Ressource zu verstehen, die monetär oder nichtmonetär sein
Pierre Bourdieus Integration von Mikro- und Makroperspektive
17
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
kann und materiell bzw. auch i-
Profit, den die Kinder aus ver-
materiell.
schiedenen sozialen Klassen und
Bourdieu unterscheidet im Prinzip
drei unterschiedliche Kapitalien,
die von Ihm je nach untersuchtem
Feld auch angepasst wurden.
Klassenfraktionen auf dem schulischen Markt erlangen können, auf
die Verteilung des kulturellen Kapitals zwischen den Klassen und
Klassenfraktionen bezogen."
Als ökonomisches Kapital versteht
er geldwerte Einkünfte und ande-
(Bourdieu und Steinrücke 2005:
53)
re finanzielle Ressourcen, die
auch in Form von institutionellen
Das soziale Kapital beinhaltet die
Eigentumsrechten auftreten kön-
mobilisierbaren Ressourcen, die
nen. Eine weitere Kapitalart ist
aus persönlichen Netzwerken bzw.
das kulturelle Kapital, das in un-
Kontakten entstehen. „Das Ge-
terschiedlicher Form auftreten
samt-Kapital, das die einzelnen
kann. Soziales Kapital als dritte
Gruppenmitglieder besitzen, dient
von Bourdieu definierte Kapital-
ihnen allen gemeinsam als Si-
form beschreibt die Summe der
cherheit und verleiht ihnen - im
aktuellen und potentiellen Res-
weitesten Sinne des Wortes -
sourcen, die durch die Teilnahme
Kreditwürdigkeit." (Bourdieu und
bzw. Mitgliedschaft an sozialen
Steinrücke 2005: 63)
Netzwerken und Organisationen
Das Sozialkapital entsteht aus den
mobilisiert werden können. (vgl.
persönlichen Netzwerken der so-
Anheier et al. 1995: 862)
zialen Akteurinnen und es verän-
"Der Begriff des kulturellen Kapi-
dert sich je nach Mobilisierbarkeit
tals hat sich mir bei der For-
dieser Kontakte und ihrer Res-
schungsarbeit als Forschungs-
sourcen. "Der Umfang des Sozial-
hypothese angeboten, die es ges-
kapitals, das der einzelne besitzt,
tattete, die Ungleichheit der schu-
hängt demnach sowohl von der
lischen Leistungen von Kindern
Ausdehnung des Netzes der Be-
aus verschiedenen sozialen Klas-
ziehungen ab, die er tatsächlich
sen zu begreifen. Dabei wurde der
mobilisieren kann, als auch vom
Schulerfolg, d.h. der spezifische
Umfang des (ökonomischen, kul-
Pierre Bourdieus Integration von Mikro- und Makroperspektive
18
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
turellen oder symbolischen) Kapi-
Strukturen unterschiedlich. Die
tals, das diejenigen besitzen, mit
Vorherrschaft von ökonomischem
denen er in Beziehung steht."
Kapital beispielsweise führt zu ge-
(Bourdieu und Steinrücke 2005:
ringerer Segmentation und leicht
64)
durchgängigen aber starren Hie-
Die unterschiedlichen Kapitalformen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Konvertibilität und Liquidität, aber auch in Bezug auf Effekte wie Inflation. Während ökonomisches Kapital am leichtesten
umzusetzen und in andere Kapitalformen transferiert werden
kann, ist es komplizierter und
dauert es länger, kulturelles Kapital zu akkumulieren. Auch soziales
Kapital ist schwerer zu akkumulieren bzw. mobilisierbar. (vgl. Anheier et al. 1995: 862)
rarchien. Eine Dominanz von Sozialkapital führt in der Regel zu
vielen wenig institutionalisierten
Segmenten, die ein komplexes
soziales Netzwerk formen. Eine
Prädominanz von (symbolischem)
kulturellem Kapital schließlich
führt zu hierarchischen und segmentierten Sozialstrukturen. (vgl.
Anheier et al. 1995: 865f)
Klasse und Habitus
Als Habitus bezeichnet Bourdieu
die strukturellen Dispositionen,
die in weiterer Folge sämtliche
„Der soziale Raum ist so kon-
Praxis strukturieren. Im Habitus
struiert, daß die Verteilung der
äußern sich daher die inkorporier-
Akteure oder Gruppen in ihm der
ten Makrostrukturen der Gesell-
Position entspricht, die sich aus
schaft auf persönlicher Mikroebe-
ihrer statistischen Verteilung nach
ne der AkteurInnen. In den Wahr-
zwei Unterscheidungsprinzipien
nehmungs-, Denk- und Hand-
ergibt [...] nämlich das ökonomi-
lungsschemata der gesellschaftli-
sche Kapital und das kulturelle
chen Akteure manifestieren sich
Kapital.“ (Bourdieu 1998: 18)
daher die gesellschaftlichen Nor-
Je nach Dominanz unterschiedli-
men und Werte. Diese äußern
cher Kapitalformen in unter-
sich vielfältig, beginnend bei der
schiedlichen sozialen Feldern ent-
Bedeutung von Symbolen bis hin
wickeln sich auch die sozialen
Pierre Bourdieus Integration von Mikro- und Makroperspektive
19
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
zum "Geschmack". (vgl. Schwin-
schen Situationen konfrontiert zu
gel 2005: 61–63)
werden, sei für sie aber sehr viel
"Eine soziale Klasse wird in dreier-
größer als für die Angehörigen der
anderen Klassen (vgl. Hartmann
lei Hinsicht theoretisch definiert
und empirisch bestimmt: 1. durch
2005: 259)
ihre objektiven - ökonomischen,
„Der Habitus kann auch als kollek-
kulturellen, sozialen, laufbahnspe-
tives Klassen-Unterbewußtsein
zifischen - Lebensbedingungen, 2.
bezeichnet werden.“ (Treibel
durch ihre aus der Inkorporation
1993: 212)
dieser Lebensbedingungen her-
„Jene, die Proust als ‚Adel der In-
vorgegangene, die Praxis in äs-
telligenz’ bezeichnet, verstehen
thetischer, kognitiver und norma-
es, ihre Distinktionen auf die ent-
tiver Hinsicht systematisch be-
scheidende Weise zu kennzeich-
stimmende Habitusform und 3.
nen - nämlich dadurch, dass sie
durch ihren spezifischen Lebens-
die Zeichen ihrer Zugehörigkeit
stil, also durch die gewählten
zur »Elite« [...] wie der Diskreti-
Praktiken und Objekte der symbo-
on, die sie beim Geltendmachen
lischen Lebensführung.“ (Schwin-
dieser Zugehörigkeit zu wahren
gel 2005: 116)
wissen, eben für die »Elite« derer
Der Habitus vermittelt für Bour-
bestimmen, die sie zu entziffern
dieu zwischen der Stellung einer
verstehen.“ (Bourdieu und
Person im sozialen Raum und ih-
Schwibs 1987: 782)
rem Verhalten und ihren Einstellungen. Im Habitus hätten sich
Conclusio
ihre Erfahrungen, wie die ihrer
Die hier diskutierten unterschied-
Familie und ihrer Klasse, verkör-
lichen Ansätze der sozialwissen-
perlicht. Zwar sei ausgeschlossen,
schaftlichen Mikrotheorien sind
dass die Mitglieder einer Klasse
genauso unterschiedlich, wie die
exakt dieselben Erfahrungen und
Problemlagen, zu deren Erklärung
das auch noch in der gleichen
sie gerne herangezogen werden.
Reihenfolge machten, die Aus-
Manche Theorien, wie die funktio-
sicht, mit für diese Klasse typi-
nalistische Rollentheorie, oder die
Conclusio
20
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
ökonomischen Ansätze sind zunächst leicht zu verstehen, weil
ihre Begründungszusammenhänge nahe dem Alltagsbewusstsein
von sozial handelnden AkteurInnen liegen. Es werden keine komplexen Grundannahmen getroffen
und die (soziale) Welt wird durch
diese beiden Theorien modellhaft
und sehr stark abstrahiert – die
Folge ist, dass die Theorien aufgrund ihrer einfachen Annahmen
über die Menschen auch zu „einfachen“ Lösungen kommen, die
der tatsächlichen Realität nicht
immer entsprechen.
Komplexere Ansätze stehen nicht
so stark im Widerspruch zur komplexen und vielschichtigen Realität. Zudem sind die beiden komplexeren - im Rahmen der Lehrveranstaltung bearbeiteten - Konzepte dieses Textes selbst teils
normativ – deren maßgebliche
Theoretiker waren selbst in soziale Anliegen verstrickt und verstanden sich daher nicht nur als
die Durkheimschen „sozialen Tatsachen“ beschreibend.
Conclusio
21
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
Literatur
Abels, Heinz (2004): Interaktion,
Identität, Präsentation. Kleine
Einführung in interpretative
Theorien der Soziologie. 3.,
durchges. Aufl. Wiesbaden: VS
Verl. für Sozialwiss. (Hagener
Studientexte zur Soziologie).
Anheier, Helmut K.; Gerhards,
Jürgen; Romo, Frank P.
(1995): Forms of Capital and
Social Structure in Cultural
Fields: Examining Bourdieu's
Social Topography. In: American Journal for Sociology, Jg.
100, H. 4, S. 859–903.
Becker, Gary S. (1992): The
economic way of looking at life.
Nobel Lecture. Online verfügbar
unter
http://nobelprize.org/nobel_pri
zes/economics/laureates/1992/
becker-lecture.pdf, zuletzt geprüft am 02. Juli 2008.
Becker, Gary Stanley (1982):
Der ökonomische Ansatz zur
Erklärung menschlichen Verhaltens. In: Becker, Gary Stanley
(Hg.): Der ökonomische Ansatz
zur Erklärung menschlichen
Verhaltens. Tübingen: Mohr
(Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften), S. 1–15.
Blumer, Herbert (1995): Der methodologische Standort des
Symbolischen Interaktionismus.
In: Burkart, Roland (Hg.):
Kommunikationswissenschaft.
Grundlagen und Problemfelder ;
Umrisse einer interdisziplinären
Sozialwissenschaft. 2. Aufl.
Wien: Böhlau (BöhlauStudienbücherGrundlagen des
Studiums), S. 23–39.
Bourdieu, Pierre (1998): Sozialer
Raum, symbolischer Raum. In:
Bourdieu, Pierre (Hg.): Praktische Vernunft. Zur Theorie des
Handelns. Frankfurt am Main ,
S. 13–27.
Bourdieu, Pierre; Schwibs,
Bernd (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 1.
Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt am
Main: Surkamp Taschenbuch
Verlag; Suhrkamp (Suhrkamp
Taschenbuch Wissenschaft,
658).
Bourdieu, Pierre; Steinrücke,
Margareta (2005): Die verborgenen Mechanismen der Macht.
Unveränd. Nachdr. der Erstaufl.
von 1992. Hamburg: VSA-Verl.
(Schriften zu Politik & Kultur /
Pierre Bourdieu. Hrsg. von Margareta Steinrücke, 1).
Dahrendorf, Ralf (2004): Über
Grenzen. Lebenserinnerungen.
München: Fischer Taschenbuch;
Fischer-Taschenbuch-Verl. (Fischer, 15948).
Dahrendorf, Ralf (2006): Homo
Sociologicus. Ein Versuch zur
Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen
Rolle. 16. Auflage. Wiesbaden:
VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage
GmbH Wiesbaden
Goffman, Erwing (1983): Wir alle
spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. 5. Aufl. München: Piper.
Goffman, Erwing (1986): Interaktionsrituale. Über Verhalten
in direkter Kommunikation.
Frankfurt am Main: Surkamp
Taschenbuch Verlag.
Literatur
22
Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325
Guckelsberger, Ulrich (2005):
Das Menschenbild in der Ökonomie. Ein dogmengeschichtlicher Abriß. Ludwigshafen.
5., verb. Aufl. Hamburg: Junius
(Zur Einführung, [280).
Hartmann, Michael (2002): Leistung oder Habitus? Das Leistungsprinzip und die soziale Offenheit der deutschen Wirtschaftselite. In: Bittlingmayer,
U. Eickelpasch R. Kastner J.
Rademacher C. (Hrsg.) (Hg.):
Theorie als Kampf? Zur politischen Soziologie Pierre Bourdieus. Opladen: Leske +
Budrich , S. 361–377.
Hartmann, Michael (2005): Eliten und das Feld der Macht. In:
Colliot-Thélène, C. François E.
Gebauer G. (Hrsg.) (Hg.): Pierre Bourdieu: Deutschfranzösische Perspektiven.
Frankfurt am Main: Suhrkamp ,
S. 255–275.
Treibel, Annette (1993): Einführung in soziologische Theorien
der Gegenwart. Opladen: Leske
und Budrich.
Varian, Hal R.; Buchegger, Reiner (2001): Grundzüge der Mikroökonomik. 5., überarb. Aufl.
München: Oldenbourg (Internationale Standardlehrbücher der
Wirtschafts- und Sozialwissenschaften).
Weber, Max (2006): Wirtschaft
und Gesellschaft. Paderborn:
Voltmedia (Hauptwerke der
großen Denker).
Weymann, Ansgar (1998): Sozialer Wandel. Theorien zur Dynamik der modernen Gesellschaft. Weinheim: Juventa-Verl.
(Grundlagentexte Soziologie).
Reiger, Horst (2007): Symbolischer Interaktionismus. In: Buber, Renate; Holzmüller, Hartmut H. (Hg.): Qualitative
Marktforschung. Konzepte - Methoden - Analysen. Wiesbaden:
Betriebswirtschaftlicher Verlag
Dr. Th. Gabler | GWV Fachverlage GmbH Wiesbaden (Springer-11775 /Dig. Serial]), S.
137–155.
Schülein, Johann August; Brunner, Karl-Michael (Hg.) (2001):
Soziologische Theorien. Eine
Einführung für Amateure. 2.
Aufl. Unter Mitarbeit von Horst
Reiger. Wien: Springer-Verlag;
Springer (Springers Kurzlehrbücher der Wirtschaftswissenschaften).
Schwingel, Markus (2005): Pierre Bourdieu zur Einführung.
Literatur
23
Herunterladen