Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008,4. Juli 2008 Gerald Czech 9000325 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 len, ein essentieller Teil des Habi- Einleitung tus eines Sozialwissenschafters, Die Lehrveranstaltung konfron- der sich im akademischen Umfeld tierte mich mit einem „Kanon“ der sozialwissenschaftlichen Mikro- adäquat bewegen will. Allein die Auswahl des jeweiligen Zitatenlie- theorien, die ich als Sozioökonom gehört, gelesen und – zumindest feranten für die Grundlagen bei einer sozialwissenschaftlichen Ar- grob – verstanden haben sollte. beit verortet den Autor bereits im Da die Sozialwissenschaften im weiten Feld dieser verschiedenen Sinne des Multiparadigmatismus Zugänge zur einzigen Wahrheit auch innerhalb eines Genres, also beispielsweise innerhalb der Mik- über den Menschen. Ganz gleich, wie die Wahl des passenden Bein- rotheorien, noch komplett ver- kleids beim Besuch der Rennbahn, schiedene Grundannahmen über oder die Auswahl der richtigen die Gesellschaft per se, aber auch über die Position, die Aufgaben Sneaker für das Rap-Konzert. Milieu-spezifischer Habitus wird das und die Handlungsmöglichkeiten dann später genannt werden. der einzelnen gesellschaftlichen Dass die Zugänge, die der Lehr- AkteurInnen haben, müssen in veranstaltungsleiter Karl-Michael den Folgenden Kapiteln die ein- Brunner im Rahmen seiner Lehr- zelnen Theorien jeweils einzeln veranstaltung für die Bearbeitung und unabhängig voneinander be- der Theorien wählt, zudem noch trachtet und beurteilt werden. sehr interessant waren und auch Ganz nach Pierre Bourdieu (vgl. die Auswahl der Theorie-Texte (im das entsprechende Kapitel) ist das Wissen um diese verschiedenen tungen in diesem Studium) als Theorien, zumindest aber das Mitreden-Können bei Dinnergesprächen, in denen diese Namen fal- Vergleich zu anderen Veranstal- gelungen bezeichnet werden kann, ist ein angenehmer Beigeschmack. Einleitung 2 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 Inhaltsverzeichnis Einleitung....................................................................................... 2 Inhaltsverzeichnis ........................................................................... 3 Rollentheorie .................................................................................. 3 Homo Sociologicus........................................................................ 3 Rollen, Positionen und andere ärgerliche Tatsachen der Gesellschaft .... 5 Rollenkonflikte ............................................................................. 6 Kritik der Rollentheorie .................................................................. 7 Symbolischer Interaktionismus.......................................................... 8 Entstehung und Grundannahmen .................................................... 8 Die Entstehung von individuellen Bedeutungen ................................10 Gesellschaft ................................................................................10 Rollen ........................................................................................11 Ökonomische Ansätze .....................................................................13 Homo oeconomicus......................................................................13 Der „radikale“ Ansatz von Gary Becker ...........................................14 Kritik des Ansatzes ......................................................................16 Pierre Bourdieus Integration von Mikro- und Makroperspektive .............17 Der soziale Raum nach Pierre Bourdieu ...........................................17 Klasse und Habitus ......................................................................19 Conclusio ......................................................................................20 Literatur........................................................................................22 „Homo Sociologicus“ ist die erste Rollentheorie Betrachtung aus der sozialwissen- Homo Sociologicus schaftlichen Mikroperspektive. Die Rollentheorie in der Interpre- Verortet wird die Rollentheorie im tation Ralf Dahrendorfs, also auf Paradigmenumfeld des Funktiona- der Basis seines Standardwerks1 lismus (vgl. Schülein et al. 2001), sie entsteht sozusagen auf der 1 In seiner Autobiographie „Über Grenzen“ (Dahrendorf, 2004) beschreibt er Homo Sociologicus ganz im Sinne des britischen Understatements als einen „Aufsatz“: „Als ich so mit meinem Spielzeug in dem Redwood-Studio am Center vergnügte, kamen mir die Idee für zwei kleinere Arbeiten, die eine Zeitlang Diskussionen über die Grenzen der Soziologie hinaus auslösen sollten. Die eine war die Parsons-Kritik unter dem Titel »Pfade aus Utopia«, die andere der Aufsatz »Homo Sociologicus«, der die soziologische Kategorienlehre in eine liberale Kritik an der »ärgerlichen Tatsache der Ge- Mikroperspektive des Individuums, wenn man die Makroebene mit der funktionalistischen Theorie Talcott Parsons erklärt. Einleitend schreibt Dahrendorf zu seiner Arbeit: "Wenn Durkheims sellschaft« einbettete.“ Dahrendorf 2004: 21f Inhaltsverzeichnis 3 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 »soziale Tatsachen« mehr sind, des ökonomistischen Menschen- als Fiktion, dann muss es möglich bildes. sein, diese mit der ganzen stren- Daher wählte Dahrendorf Begriff ge erfahrungswissenschaftlich Methodik zu beschreiben und in be- des "homo sociologicus" ganz bewusst als Gegenposition zum stimmten Problemzusammenhängen zu erklären" (Dahrendorf "homo oeconomicus"4 der Wirtschaftswissenschaften und zum 2006: 5) "psychological man", der Psycho- Doch man muss die Rollentheorie logen, zwei Begrifflichkeiten, die auch zu ihrer Entstehungszeit be- zum Entstehungszeitpunkt des trachten – am Ende der 1950er- Buches 1958 in Kalifornien gerade Jahre in Paolo Alto traf Dahren- viel diskutiert wurden. (vgl. Dah- dorf unter anderem auf jenen Tal- rendorf 2006: 19) cott Parsons, den er zuvor schon Ein weiteres interessantes Detail als Professor an der London ist die Erweiterung des Durkheim- 2 School of Economics (LSE) ken- schen Begriffs der „sozialen Tat- nengelernt hatte, wo er nach sei- sachen“, der „faits sociaux“, auf ner Dissertation über Karl Marx im die er sich bereits in der Einlei- 3 philosophischen Genre Soziologie tung bezieht auf den Begriff der studierte. Die Psychologie war die „ärgerlichen Tatsachen der Ge- Sozialwissenschaft der Stunde, sellschaft“, der in nahezu jedem vieles in der Theorie wurde Psy- Kapitel wieder Erwähnung findet: chologisch erklärt, durch die „Die Tatsache der Gesellschaft ist Freud’sche Logik der Triebe, eine ärgerlich, weil wir ihr nicht ent- weitere populäre Theorie war die weichen können“ (Dahrendorf 2006: 31) 2 Ralf Dahrendorf wurde später selbst als Direktor an die LSE berufen, wo er von 1974 bis 1984 wirkte. 3 „Ich ging sozusagen als Sozialist nach England und kam als Liberaler zurück“, beschreibt Dahrendorf seinen politischen Wandel, der auf der einen Seite auf seinen sozialdemokratischen Vater zurückgeht und auf der anderen auf die intensive Beschäftigung mit Karl Marx zurückzuführen ist. (Dahrendorf 2004: 120) 4 Zum Thema gibt es im Kapitel „ökonomische Ansätze“ noch mehr an Informationen Rollentheorie 4 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 ner Organisation. An jeder sozia- Rollen, Positionen und andere ärgerliche Tatsachen der Gesellschaft len Position wird der der "homo sociologicus" zur Projektionsfläche von gesellschaftlichen Erwartun- Ralf Dahrendorf bemüht in seiner Rollentheorie die Metapher des gen - diese "ärgerlichen Tatsachen der Gesellschaft" sind die so Theaters, in dem er die gesell- genannten Rollen, die man dort schaftlichen Vorgänge mit denen am Theater vergleicht. Gleich einem Stück des großen Welttheaters - des „theatrum mundi“ - gibt es in der Gesellschaft unter- zu übernehmen hat. Wenn man im Theaterstück eine gewisse Position hat, dann wird man zum Träger der Rolle und hat das Spiel auch mitzuspielen, gleiches gilt schiedlichste soziale Positionen, auch in der Gesellschaft. (vgl. die personenunabhängig bestehen Dahrendorf 2006: 59f, 37) und festgeschrieben sind. Diese Positionen und die damit verbun- Spielt man die Rolle anders, als dies im Stück vereinbart wurde, denen Verantwortungen, Über- als es das Publikum oder der Re- und Unterstellungen und Beziehungen kann man auch mit dem Organigramm einer Organisation gisseur erwartet, so kann man mit Sanktionen rechnen. Als gesellschaftliche Sanktionen bezeichnet vergleichen, in das noch keine Namen der Stelleninhaber einge- man die Einwirkung der Gesellschaft auf Individuen zur Bestäti- tragen wurden. Man findet dort alle „Rollen“ des „Organisationstheaters“ vom Leiter bis hin zum „einfachen Organisationsmitglied“. gung von korrektem, oder zur Bestrafung von devianten Verhalten. Das kann beispielsweise durch Verleihung von Orden und Aus- Soziale Positionen können zugeschrieben sein, beispielsweise die eines Mannes, eines Vaters, oder eines Sohnes - oder sie sind er- zeichnungen (im positiven Fall) passieren, oder durch Gefängnisstrafen im negativen Fall. (vgl. Dahrendorf 2006: 41) worbene Positionen, wie die eines Die gesellschaftlichen Erwartun- Universitätsassistenten, eines Lehrers, oder des Präsidenten ei- gen, die mit einer sozialen Rolle Rollentheorie 5 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 verknüpft sind, kann man in Als Inter-Rollenkonflikte werden "Muss-", "Kann-" und "Soll- Konflikte bezeichnet, die sich auf- "Erwartungen einteilen. Das grund unterschiedlicher Rollener- Nichteinhalten von Muss- wartungen bei verschiedenen von Erwartungen zieht mit Sicherheit einem Akteur gleichzeitig einge- negative Konsequenzen nach sich, nommenen Rollen ergeben. Bei- werden Soll-Erwarungen nicht er- spielsweise erwartet man von der füllt, so sind negative Konsequen- mittleren Führungskraft, dass sie zen ebenso zu erwarten, wenn unbezahlt viele Überstunden im auch nicht im selben Ausmaß. Die Büro macht und vom jungen Fa- Einhaltung von Soll-Erwartungen milienvater, dass er viel Zeit für kann auch zu positiven Konse- seine Familie aufbringen kann. Je quenzen führen. Die Nichterfül- nach Stärke dieser Rollenkonflikte lung von Kann-Erwartungen führt kann man in kompatible Rollen im Normalfall nicht zu Konse- und solche mit Unvereinbarkeiten quenzen, stellt man das Nichter- unterscheiden. (vgl. Dahrendorf halten positiver Konsequenzen im 2006: 82f) Erfüllungsfalle nicht in Rechnung. „An der Übereinstimmung von ( vgl. Dahrendorf 2006: 43) Rollen und tatsächlichem Verhalten bzw. Normen und Meinungen Rollenkonflikte Als Intra-Rollenkonflikte bezeichnet Dahrendorf die Konflikte, die sich innerhalb einer sozialen Rolle aufgrund der verschiedenartigen, oftmals konträren Ansprüche un- können wir die Stabilität sozialer Prozesse ablesen; ihre Nichtübereinstimmung verrät Konflikte und damit Richtungen der Entwicklung“ (Dahrendorf 2006: 81f) terschiedlicher Bezugsgruppen Dahrendorf erklärt den sozialen ergeben. Es gibt Rollen, die eine Wandel als Abweichung der ein- 100%ige Erwartung aller Rollen- zelnen AkteurInnen von den Rol- erwartungen nicht erlauben, spe- len (aufgrund der existierenden ziell dort, wo total unterschiedli- Rollenkonflikte) und damit lang- che Anspruchsgruppen existieren. samer Anpassung der gesell- (vgl. Dahrendorf 2006: 82) schaftlichen Erwartungen an das Rollentheorie 6 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 veränderte Verhalten und damit Oberhaupt der Familie vorbehal- einer sozialen Redefinition von ten – verändert. Misshandeln sei- Rollenbildern. Dadurch verändert ner Kinder gilt heute – vollkom- sch das Normensystem langsam men zu Recht - als verpönt und aufgrund des Verhaltens der Ak- wird auch mit sozialen (und juris- teurInnen im sozialen Handeln. tischen) Sanktionen bestraft. Die ersten von den Rollen abwei- Kritik der Rollentheorie chenden Handlungen werden Die Rollentheorie ist aufgrund ih- wahrscheinlich noch als deviant wahrgenommen und sanktioniert, rer leichtverständlichen Metaphern gut geeignet, einfache sozi- doch langsam – verbunden mit ale Zusammenhänge in weniger der steigenden Zahl der abweichenden AkteurInnen - verändern sich die Perspektiven und das Ab- komplexen sozialen Situationen zu erklären. Gerade die Vertrautheit des eigenen Rollenspielens in weichende wird zum Normalen. unterschiedlichen Situationen Damit verbunden kann es auch macht die Theorie einfach ver- vorkommen, dass das vormals normale nun als deviant wahrgenommen wird. Beispielsweise war es bis in die 1970er Jahre durchaus normal und auch üblich, Kin- ständlich. Auch bietet die Theorie einfache Erklärungszusammenhänge auf der Basis von simplen Ursachen-Wirkungsketten für die Auswirkung von sozialen Normen der zum Zwecke der Erziehung auf das Handeln der gesellschaft- auch körperlich zu misshandeln (oder aus der damaligen Perspektive. „zu züchtigen“). Diese Vor- lichen AkteurInnen. Auch die Bilder der Konflikte innerhalb von Rollen und zwischen verschiede- gangsweise fand als „gesunde Watschen“ Eingang in den österreichischen Sprachgebrauch. Im Laufe der vergangenen Jahrzehn- nen Rollen erklären einfach die real existierenden Dilemmata, in denen sich viele Personen immer wieder befinden. te hat sich dieses elterliche Rollenverhalten – es war hauptsäch- Leider ist die Gesellschaft nicht lich dem Vater als patriachalem einfach und schon gar nicht auf einfache UrsacheRollentheorie 7 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 Wirkungskonstellationen zurück- ungebändigter Industrialisierung, zuführen. Auch die Situation der Masseneinwanderung und Urbani- einzelnen Individuen ist komple- sierung in extremster Form zum xer, als es die Rollentheorie vor- Vorschein. Es kam zu erheblichen gibt. Zudem schränkt die Betrach- sozialen Unruhen, aber auch zu tung der sozialen AkteurInnen als völlig neuen sozialen Problemen normengebundene „Rolleninhabe- wie Bandenbildung, organisierte rInnen“ die tatsächliche Selbstbe- Kriminalität usw." (Reiger 2007: stimmtheit der handelnden Men- 139) schen ein, es handelt sich um ein Bereits George Herbert Mead „Übersozialisiertes“ Menschenbild, (1863 – 1931) als Begründer des das individuelle Persönlichkeitsmerkmale und Eigenheiten der Personen komplett vernachlässigt. Symbolischer Interaktionismus erst später von seinem Nachfolger Herbert Blumer als "symbolischen Interaktionismus" benannten sozialwissenschaftlichen Konzepts unterschied Interaktionen als entweder nichtsymbolisch oder als Entstehung und Grundannahmen symbolische Interaktion, die sich durch den Gebrauch von signifi- Dieses Paradigma der sozialwissenschaftlichen Mikroperspektiven kanten Symbolen definiert. (vgl. Blumer 1995: 29) entstand an der Chicagoer Universität zu Beginn des 20. Jahr- Als nicht-symbolische Handlungen hunderts. Nicht der Sozialwissen- werden „instinktive“ und automa- schafter als neutraler Beobachter tisch ablaufende Vorgänge be- des sozialen Handelns stand dort zeichnet, beispielsweise das Au- im Mittelpunkt, sondern das Ver- genzwinkern, das ein Staubkorn stehen der Situation, die Verbes- verursacht, das auf die Hornhaut serungen und das eigene politi- trifft. sche Handeln der Wissenschaftler „Eine Geste ist jener Teil einer abseits ihrer Lehrstühle. „Hier ablaufenden Handlung, der von kamen die sozialen, politischen anderen wahrgenommen wird und und ökonomischen Folgen von meistens eine unvermittelte Reak- Symbolischer Interaktionismus 8 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 tion in ihnen auslöst. Sie wird „Unter »Dingen« wird hier alles dann zu einem „signifikanten verstanden, was der Mensch in Symbol“, wenn sie im Rahmen seiner Welt wahrzunehmen ver- eines Interpretationsprozesses mag, physische Gegenstände, wie sowohl im handelnden Individuum Bäume oder Stühle; andere Men- als auch im Individuum, an das schen, wie eine Mutter oder einen die Handlung gerichtet ist, diesel- Verkäufer; Kategorien von Men- ben Reaktionen bzw. Bedeutun- schen, wie Freunde oder Feinde; gen hervorruft5 und dadurch für Institutionen, wie eine Schule o- beide derselbe Sinn entsteht.“ der eine Regierunge; Leitideale, (Reiger 2007: 142) wie individuelle Unabhängigkeit Der symbolische Interaktionismus oder Ehrlichkeit; Handlungen an- geht von insgesamt drei Prämis- derer Personen, wie ihre Befehle sen aus: Menschen handeln Din- oder Wünsche; und solche Situa- gen gegenüber auf der Basis der tionen, wie sie dem Individuen in Bedeutungen, die diese für sie seinem täglichen Leben begeg- besitzen; diese Bedeutung ist eine nen“ (Blumer 1995: 23f) Konsequenz aus dem Interakti- Die Bedeutung von Dingen, also onshandeln selbst, also kon- ihr individueller Sinn, ergibt sich struiert6 und die Bedeutung von nicht direkt „aus ihrem Wesen“ sie Dingen selbst wird durch individu- entsteht durch Interpretation der elle Interpretation gehandhabt Interaktionen anderer Personen und geändert (vgl. Blumer 1995: auf diese Dinge, also wie andere 23f) beispielsweise über sie denken, welche Wertschätzung sie ihnen beimessen oder auch wie sie sich 5 Das erinnert in jedem Falle auch an die Webersche Bedeutung des sozialen Handelns: „Soziales Handeln orientiert sich am Handeln anderer.“ (Weber 2006: 30) ihnen gegenüber verhalten. (vgl. Reiger 2007: 144) 6 Ein Zitat von William I. Thomas „Wenn Menschen Situationen als real definieren, sind auch ihre Folgen real“, das auch als „Thomas-Theorem“ bekannt ist, zeigt auf, warum Thomas als Vorläufer des symbolischen Interaktionismus gilt. (vgl. Abels 2004: 43) Symbolischer Interaktionismus 9 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 Die Entstehung von individuellen Bedeutungen Die Identität von Personen kann im symbolischen Interaktionismus in zwei unterschiedliche Seiten oder Perspektiven geteilt werden. Auf der einen Seite das „me“, die durch Rollenübernahme erworbenen Einstellungen und Erwartungen der anderen - sozusagen die inkorporierten Normen und Werte der Gesellschaft - und andererseits das „I“, als persönlicher Teil der Identität, der spontan und impulsiv den Gegenpart zum "so- ten sozialen Prozess, in dem das Individuum sozusagen mit sich selbst interagiert. Im zweiten Schritt werden die Bedeutungen quasi mit sich selbst ausgehandelt. Da diese Bedeutungsentstehung auch vom Kontext, von der Umwelt und von vielen anderen persönlichen und situativen Variablen abhängt, übersteigt er die psychischen Prozesse als automatisch ablaufender Vorgänge und kann analog zu einer Interaktion mit andern als soziale Handlung interpretiert werden (vgl. Blumer 1995: 26) zialisierten" Selbst übernimmt. (vgl. Reiger 2007: 148f) Gesellschaft Diese zwei Seiten der Persönlich- Soziale Organisationen und Be- keit, das individuelle „I“ und das wegungen entstehen im symboli- vergesellschaftete „me“ treten schen Interaktionismus erst durch nun im Interpretationsprozess Interaktionen, durch das soziale selbst miteinander in Interaktion Treffen. Erwing Goffman, dessen um die Bedeutung von Dingen zu Perspektiven später zu finden sein definieren. werden, bezeichnet diese Situationen auch mit dem Theaterbegriff Die Interpretation der individuellen Bedeutung von Dingen erfolgt „Ensembles“. (vgl. Weymann 1998: 37) in mehreren Schritten. Zunächst macht man sich selbst auf den „Durch den Gebrauch gemeinsa- Gegenstand aufmerksam, man mer ‚signifikanter Symbole’ wird „zeigt sich den Gegenstand an“. für Mead die innere Repräsentanz Das erfolgt in einem internalisier- der Gesellschaft im Bewusstsein, die soziale Bedingtheit des Ichs Symbolischer Interaktionismus 10 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 und des Handelns deutlich. Für flexion in der Rolle erwähnt. Man ihn sind Individuum und Gesell- entwickelt sein Selbst unter ande- schaft in den inneren Bewusst- rem interaktionistisch durch seins- und Erfahrungsprozessen Selbstreflexion und Bedeutungsin- permanent aufeinander bezogen, terpretation dieser Selbst- ist Gesellschaft an Handlungsab- Wahrnehmung als Objekt. (vgl. läufen und sozialen Interaktionen Blumer 1995: 32) sozusagen stets beteiligt, wobei „Identität entsteht aus der Sicht das Symbolsystem Sprache als des symbolischen Interaktionis- Medium der Vergesellschaftung mus beim Erlernen des Rollen- fungiert“ (Reiger 2007: 143) spieles durch Rollenübernahme Die menschliche Gesellschaft an- und ist damit wesentlich, aber erkennt der symbolische Interak- nicht ausschließlich sozial vermit- tionismus nur als Konstrukt inner- telt. Die Menschen sind, obwohl halb von Handlungen und nur für sie in bestimmten Subkulturen die Zeit während der Interaktio- oder in Teilen der Gesellschaft nen stattfinden. Das Soziale ent- meistens gleiche signifikante steht daher nach diesem Para- Symbole und Perspektiven ver- digma aufgrund fortgeführter wenden, auch völlig unterschied- Kaskaden von Interaktionen und lich und einzigartig.“ (Reiger der damit verbundenen Bedeu- 2007: 148) tungstransfers. (vgl. Blumer 1995: 27) Als "role taking" wird der Prozess bezeichnet, in dem man sich als an einer Interaktion beteiligtes Rollen Rollenhandeln nach der Idee des symbolischen Interaktionismus unterscheidet sich deutlich von dem der funktionalistischen Rollentheorie, wie sie unter anderem von Ralf Dahrendorf definiert wurde. Auf der einen Seite hat bereits Herbert Mead die Selbstre- Individuum in die Rollen der jeweils anderen beteiligten Personen hineinversetzt und versucht, die Situation aus deren Augen zu sehen - damit versucht man auch, die Beurteilung der sozialen Interaktion seines Gegenübers zu antizipieren. Als "role making" wird Symbolischer Interaktionismus 11 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 das Phänomen bezeichnet, daß Inszenierung - der symbolischen sich Rollen durch die Interaktio- Handlung - werden. Zur Darstel- nen auch aktiv von den AkteurIn- lung der Rolle, sei es als Auffüh- nen gestalten und verändern las- rungsort, oder als Ort von nicht sen. (vgl. Reiger 2007: 145f) direkt bemerkbaren Handlungen, „Wenn der einzelne eine Rolle spielt, fordert er damit seine Zuseher auf, den Eindruck, den er gibt es die Bühne, die Hinterbühne oder auch den Zuseherraum. (vgl. Goffman 1983) bei ihnen hervorruft, ernst zu Als Eindrucksmanipulation oder nehmen. Sie sind aufgerufen zu "impression management" be- glauben, die Gestalt, die sie se- zeichnet Goffmann unterschiedli- hen, besitze wirklich die Eigen- che Techniken und Handlungen, schaften, die sie zu besitzen die Bedeutungen der eigenen Per- scheint, die Handlungen, die sie son (als "Ding" im Sinne des vollführt, hätten wirklich die im- symbolischen Interaktionismus) plizit geforderten Konsequenzen, bei seinem Gegenüber zu steuern. und es verhalte sich überhaupt (vgl. Goffman 1983: 189) alles so, wie es scheint.“ (Goff- „Der Terminus Image kann als der man 1983: 19) positive Wert definiert werden, Erving Goffmann übernimmt die den man sich durch die Verhal- Metapher des Theaters, die schon tensstrategie erwirbt, von der die in der funktionalistischen Rollen- anderen annehmen, man verfolge theorie beispielsweise bei Dah- sie in einer bestimmten Interakti- rendorf verwendet wurde, aller- on “ (Goffman 1986: 10) dings wird diese differenzierter Gesellschaftlicher oder sozialer dargestellt. Es werden nicht nur Wandel entsteht nach den Theo- Schauspieler und Rollen betrach- retikern des symbolischen Inter- tet, sondern auch der Rahmen- aktionismus aufgrund von Bedeu- kontext und die unterschiedlichen tungswandel von Dingen. Das o- Einrichtungen eines Theaters. Das ben geschilderte „Role-Making“ Ensemble und das Publikum sind führt ebenso zum Wandel von nur zwei der Gruppen, die Teil der Rollenbildern, die im Sinne der Symbolischer Interaktionismus 12 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 fortgeführten Interaktion ebenso Sinne der Nutzenmaximierung zu die Rahmenbedingungen für wei- wählen. Es ist ein striktes Handeln tere Bedeutungsunterschiede dar- nach dem ökonomischen Prinzip! stellen kann. Es wird also unterstellt, dass der homo oeconomicus eine Zielfunk- Ökonomische Ansätze tion definieren kann und in der Homo oeconomicus Lage ist, diese Zielfunktion, ggf. Die ökonomischen Ansätze des unter bestimmten Nebenbedin- sozialen Handelns fußen auf den gungen, zu optimieren.“ (Gu- utilitaristischen und rationalen ckelsberger 2005: 2) Prinzipien7 der englischen Philo- Diese Vereinfachung ist für die sophen Hobbes oder Bentham mathematisch orientierte Mikro- aus, deren Ideen aus dem sozia- ökonomie, die dieses Konzept bei- len Wandel der archaischen Ag- spielsweise im Bereich der Haus- rargesellschaften hin zu den mer- haltskalkulationen zur Entschei- kantilistischen Städten stammen, dungsfindung von ökonomischen beziehungsweise diesen Wandel Akteurinnen benutzt wichtig und zu begründen versuchten. sinnvoll, für die Erklärung von so- Kernkonzept dieser Denkschema- zialen Realitäten manchmal doch ta ist der nutzenoptimierende zu einfach. „homo oeconomicus“, der sämtli- „Die Bedeutung eines Modells che seiner Handlungen der Maxi- liegt im Weglassen irrelevanter mierung seines Gesamtnutzens Einzelheiten, was der Volkswirtin unterwirft. (vgl. Schülein et al. erlaubt, sich auf das Wesentliche 2001: 60–65) der ökonomischen Wirklichkeit zu „Die dem homo oeconomicus un- konzentrieren, die sie zu verste- terstellte Rationalität bedeutet hen versucht.“8 (Varian und Bu- hier, von zwei (oder mehr) Alter- chegger 2001: 1) nativen stets die günstigere im 7 Auch Adam Smith benutzte diese Argumentationen, wenn er versuchte, Menschliches Handeln in seinem Werk „Reichtum der Nationen“ zu erklären. 8 Aus konstruktivistischer Sicht ist man versucht auf dieses Zitat zu erwidern, dass die ökonomische Wirklichkeit, die durch solche Modelle konstruiert wird, Ökonomische Ansätze 13 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 Der „radikale“ Ansatz von Gary Becker er zu seinem ökonomischen An- Becker geht davon aus, dass sozi- zu spät zu einer Vorlesung, muss- ale Akteurinnen nutzenmaximie- te sich entscheiden, ob er sich in rendes Verhalten an den Tag le- ein teures Parkhaus stellt, oder gen. Neben dieser Grundannahme sein Auto irgendwo illegal „fallen für seinen Ansatz geht der Öko- lässt“. Er kalkulierte die Wahr- nom, der für seine Arbeit 1992 scheinlichkeit, einen Strafzettel zu den Nobelpreis für Wirtschaftswis- kriegen und seine mögliche Höhe 9 satz gefunden hat: Er kam einst senschaften erhalten hat, auch im Vergleich zur Parkgebühr und von den anderen Basisannahmen ließ das Auto falsch geparkt ste- der Mikroökonomie aus, also bei- hen. Dann erkannte er, dass die spielsweise von so genannten Prinzipien der Mikroökonomie, wie "stabilen Präferenzen" oder einem sie seit langem bekannt waren, stabilen Marktgleichgewicht. (vgl. auch sehr einfach auf andere Becker 1982: 3f) menschliche Handlungsweisen "I was late and had to decide transferiert werden können. quickly whether to put the car in a Als Präferenzen werden in der ö- parking lot or risk getting a ticket konomischen Theorie die stabilen for parking illegally on the street. und gleich reproduzierbaren Vor- I calculated the likelihood of get- lieben definiert, die auf Ebene der ting a ticket, the size of the pen- Individuen zur Entscheidungsfin- alty, and the cost of putting the dung herangezogen werden. vgl. car in a lot. I decided it paid to (Becker 1982: 4) take the risk and park on the street." (Becker 1992) Preise sind als Indikatoren für die Allokation von Gütern – seien sie Becker beschreibt anekdotisch in nun materieller oder ideeller Na- seiner Nobelpreis-Vorlesung, wie tur -die Steuerungsinstrumente für den Markt. Angebot und Nach- eine andere Realität ist, als die soziale Wirklichkeit. 9 Für seine Ausdehnung der mikroökonomischen Theorie auf einen weiten Bereich menschlichen Verhaltens und menschlicher Zusammenarbeit frage regeln sich genau über diese Preise. Als „Schattenpreis“ bezeichnet Becker die in Geldeinhei- Ökonomische Ansätze 14 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 ten gemessenen Opportunitäts- approach embeds them in a kosten der Verwendung eines Gu- framework that combines maxi- tes. Dieses Konzept schlägt er mizing behavior with analysis of dort vor, wo es keinen unmittel- marriage and divorce markets, baren Markt gibt, der Preise für specialization and the division of Güter oder Alternativen als Indi- labor, old-age support, invest- katoren bildet. (vgl. Becker 1982: ments in children, and legislation 4–5) that affects families. The implica- Anders, als dies in der Mikroökonomie der Fall ist, geht Becker nicht davon aus, dass die AkteurInnen im Besitz vollständiger In- tions of the full model are often not so obvious, and sometimes run sharply counter to received opinion.” (Becker 1992) formation über die Handlungen, Beckers Theorie, so behauptet er den Markt und die Güter sind. selbst, lässt sich auf Phänomene Auch die Transaktionskosten wer- wie die Kindererziehung, den Hei- den mit in der Nutzenoptimierung ratsmarkt oder die Bestrafung von des Individuums berücksichtigt. Verbrechern anwenden. Die Be- Die Informationsgewinnung über strafung von Verbrechern ver- Handlungsalternativen selbst er- gleicht er beispielsweise mit einer klärt Becker ebenso mit seiner Besteuerung (in Geldwerten oder Theorie - es findet eine laufende nicht-Geldwerten im Falle von Evaluierung der Kosten für weite- Haftstrafen) der kriminellen Hand- re Informationsbeschaffung statt, lungen, die zu einem Steigen der die mit dem erwarteten Nutzen Marktpreise dieser führt. Analog dieser weiteren Information ver- zu einer Besteuerung von anderen glichen wird. (vgl. Becker 1982: Gütern sinkt damit die Absatz- 5f) menge dieser Güter, weil der Nut- „Still, intuitive assumptions about behavior is only the starting point of systematic analysis, for alone zen günstiger mit anderen Gütern erzielt werden kann. (vgl. Becker 1982: 5) they do not yield many interesting implications. The rational choice Ökonomische Ansätze 15 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 Kritik des Ansatzes „Beckers radikale Fassung des Becker selbst sieht seinen öko- ökonomischen Rationalismus nomischen Ansatz als Erklä- scheitert letztlich daran, dass er rungsmodell für jegliches mensch- keine andere Perspektive zulässt liche Verhalten. Es ist in seinen und alles in seine Sprache über- Augen mehr als eine sozialwissen- setzt, wodurch alles beschreibbar, schaftliche Mikrotheorie, weil es aber nichts mehr erklärbar ist auch nicht-soziales zu erklären [...]“ (Schülein et al. 2001: 68) versucht. Gerade in Zeiten der einfachen „Ich bin der Auffassung, dass die Erklärungen eignet sich ein Theo- besondere Stärke des ökonomi- riegebilde wie dieses, weil es für schen Ansatzes darin liegt, dass sich in keinster Weise in Anspruch er eine breite Skala menschlichen nimmt, selbst normativ zu sein, Verhaltens integrativ erfassen obwohl im Hintergrund die Öko- kann.“ (Becker 1982: 3) nomisierung aller Lebensbereiche Doch, wenn man mit einem Satz die Welt erklären will, dann muss man seine Bedeutung sehr breit anlegen. Egal, ob es um Kaffeekonsum, Ehe, die Wirkung der Todesstrafe, oder um die Entscheidung einer Autoroute geht – Beckers Theorie hat scheinbar Lösungen für alles. Was auf der Strecke bleibt ist die soziale Realität als vernachlässigbare Randbedingung. Diese wurde Schritt für laufend mitschwingt. Es verwundert trotzdem nicht, dass Becker für diese Ansätze einen Nobelpreis erhalten hat. Auf der einen Seite war es der Preis für Wirtschaftswissenschaften - damit wurde die Theorie auch aus der ökonomischen Perspektive gesehen – und auf der anderen Seite passt eine Theorie wie diese sehr gut in die neoliberale Rationalität einer globalisierten Welt. Schritt durch eine ökonomische Realität ersetzt, ganz im Sinne des zuvor zitierten Volkswirtschaftlichen Modellbegriffs. Ökonomische Ansätze 16 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 Pierre Bourdieus Integration von Mikround Makroperspektive Pierre Bourdieu, ein Französischer Soziologe, versteht die Gesellschaft und die gesellschaftliche Welt als „akkumulierte Geschichte“. Man kann daher Geschichte nicht als „Aneinanderreihung von kurzlebigen und mechanischen Gleichgewichtszuständen“ betrachten. (vgl. Bourdieu und Steinrücke 2005: 49) „Eines der zentralen Anliegen, die Pierre Bourdieu mit seinen soziologischen Analysen stets verfolgt hat, liegt in der Entschleierung der ‚verborgenen Grundlagen der Herrschaft’, wie er es in seinem Buch ‚Questions de sociologie’ einmal formuliert hat. Er geht davon aus, dass die Soziologie entscheidend dazu beitragen sollte und auch kann, die Reproduktionsmechanismen der Macht aufzudecken und damit ihre ‚symbolische Wirksamkeit zu zerstören’, Das als „Feldtheorie“ bezeichnete Konzept Bourdieus versucht, die Mikroperspektive der handelnden AkteurInnen mit der Makroper- indem sie ‚an den Glauben der herrschenden Klassen an ihre eigene Legitimität’ rührt“ (Hartmann 2002: 361) spektive der Gesellschaft zu verknüpfen. Das jeweils eine wird durch das jeweils andere beeinflusst, ohne dass der Mensch zu einem übersozialisierten Homunkulus verkommt. Ein wesentlicher Begriff in Bourdieus Theoriegebilde ist das Kapital. Er definiert Kapital als „akkumulierte Arbeit“. (vgl. Bourdieu und Steinrücke 2005: 49). Bourdieus Kapitalbegriff geht deutlich Der soziale Raum nach Pierre Bourdieu An dieser Stelle soll der Bourdieusche Ansatz des sozialen Raums und die Manifestation von inkorporierter Gesellschaft als „Habitus“ ausgeführt werden. weiter, als der simple ökonomische Sinn als monetäre Ressource wie sie der Autor des Werks „Das Kapital“ Karl Marx im 19. Jahrhundert definiert hat. Kapital ist bei Bourdieu als generalisierte Ressource zu verstehen, die monetär oder nichtmonetär sein Pierre Bourdieus Integration von Mikro- und Makroperspektive 17 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 kann und materiell bzw. auch i- Profit, den die Kinder aus ver- materiell. schiedenen sozialen Klassen und Bourdieu unterscheidet im Prinzip drei unterschiedliche Kapitalien, die von Ihm je nach untersuchtem Feld auch angepasst wurden. Klassenfraktionen auf dem schulischen Markt erlangen können, auf die Verteilung des kulturellen Kapitals zwischen den Klassen und Klassenfraktionen bezogen." Als ökonomisches Kapital versteht er geldwerte Einkünfte und ande- (Bourdieu und Steinrücke 2005: 53) re finanzielle Ressourcen, die auch in Form von institutionellen Das soziale Kapital beinhaltet die Eigentumsrechten auftreten kön- mobilisierbaren Ressourcen, die nen. Eine weitere Kapitalart ist aus persönlichen Netzwerken bzw. das kulturelle Kapital, das in un- Kontakten entstehen. „Das Ge- terschiedlicher Form auftreten samt-Kapital, das die einzelnen kann. Soziales Kapital als dritte Gruppenmitglieder besitzen, dient von Bourdieu definierte Kapital- ihnen allen gemeinsam als Si- form beschreibt die Summe der cherheit und verleiht ihnen - im aktuellen und potentiellen Res- weitesten Sinne des Wortes - sourcen, die durch die Teilnahme Kreditwürdigkeit." (Bourdieu und bzw. Mitgliedschaft an sozialen Steinrücke 2005: 63) Netzwerken und Organisationen Das Sozialkapital entsteht aus den mobilisiert werden können. (vgl. persönlichen Netzwerken der so- Anheier et al. 1995: 862) zialen Akteurinnen und es verän- "Der Begriff des kulturellen Kapi- dert sich je nach Mobilisierbarkeit tals hat sich mir bei der For- dieser Kontakte und ihrer Res- schungsarbeit als Forschungs- sourcen. "Der Umfang des Sozial- hypothese angeboten, die es ges- kapitals, das der einzelne besitzt, tattete, die Ungleichheit der schu- hängt demnach sowohl von der lischen Leistungen von Kindern Ausdehnung des Netzes der Be- aus verschiedenen sozialen Klas- ziehungen ab, die er tatsächlich sen zu begreifen. Dabei wurde der mobilisieren kann, als auch vom Schulerfolg, d.h. der spezifische Umfang des (ökonomischen, kul- Pierre Bourdieus Integration von Mikro- und Makroperspektive 18 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 turellen oder symbolischen) Kapi- Strukturen unterschiedlich. Die tals, das diejenigen besitzen, mit Vorherrschaft von ökonomischem denen er in Beziehung steht." Kapital beispielsweise führt zu ge- (Bourdieu und Steinrücke 2005: ringerer Segmentation und leicht 64) durchgängigen aber starren Hie- Die unterschiedlichen Kapitalformen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Konvertibilität und Liquidität, aber auch in Bezug auf Effekte wie Inflation. Während ökonomisches Kapital am leichtesten umzusetzen und in andere Kapitalformen transferiert werden kann, ist es komplizierter und dauert es länger, kulturelles Kapital zu akkumulieren. Auch soziales Kapital ist schwerer zu akkumulieren bzw. mobilisierbar. (vgl. Anheier et al. 1995: 862) rarchien. Eine Dominanz von Sozialkapital führt in der Regel zu vielen wenig institutionalisierten Segmenten, die ein komplexes soziales Netzwerk formen. Eine Prädominanz von (symbolischem) kulturellem Kapital schließlich führt zu hierarchischen und segmentierten Sozialstrukturen. (vgl. Anheier et al. 1995: 865f) Klasse und Habitus Als Habitus bezeichnet Bourdieu die strukturellen Dispositionen, die in weiterer Folge sämtliche „Der soziale Raum ist so kon- Praxis strukturieren. Im Habitus struiert, daß die Verteilung der äußern sich daher die inkorporier- Akteure oder Gruppen in ihm der ten Makrostrukturen der Gesell- Position entspricht, die sich aus schaft auf persönlicher Mikroebe- ihrer statistischen Verteilung nach ne der AkteurInnen. In den Wahr- zwei Unterscheidungsprinzipien nehmungs-, Denk- und Hand- ergibt [...] nämlich das ökonomi- lungsschemata der gesellschaftli- sche Kapital und das kulturelle chen Akteure manifestieren sich Kapital.“ (Bourdieu 1998: 18) daher die gesellschaftlichen Nor- Je nach Dominanz unterschiedli- men und Werte. Diese äußern cher Kapitalformen in unter- sich vielfältig, beginnend bei der schiedlichen sozialen Feldern ent- Bedeutung von Symbolen bis hin wickeln sich auch die sozialen Pierre Bourdieus Integration von Mikro- und Makroperspektive 19 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 zum "Geschmack". (vgl. Schwin- schen Situationen konfrontiert zu gel 2005: 61–63) werden, sei für sie aber sehr viel "Eine soziale Klasse wird in dreier- größer als für die Angehörigen der anderen Klassen (vgl. Hartmann lei Hinsicht theoretisch definiert und empirisch bestimmt: 1. durch 2005: 259) ihre objektiven - ökonomischen, „Der Habitus kann auch als kollek- kulturellen, sozialen, laufbahnspe- tives Klassen-Unterbewußtsein zifischen - Lebensbedingungen, 2. bezeichnet werden.“ (Treibel durch ihre aus der Inkorporation 1993: 212) dieser Lebensbedingungen her- „Jene, die Proust als ‚Adel der In- vorgegangene, die Praxis in äs- telligenz’ bezeichnet, verstehen thetischer, kognitiver und norma- es, ihre Distinktionen auf die ent- tiver Hinsicht systematisch be- scheidende Weise zu kennzeich- stimmende Habitusform und 3. nen - nämlich dadurch, dass sie durch ihren spezifischen Lebens- die Zeichen ihrer Zugehörigkeit stil, also durch die gewählten zur »Elite« [...] wie der Diskreti- Praktiken und Objekte der symbo- on, die sie beim Geltendmachen lischen Lebensführung.“ (Schwin- dieser Zugehörigkeit zu wahren gel 2005: 116) wissen, eben für die »Elite« derer Der Habitus vermittelt für Bour- bestimmen, die sie zu entziffern dieu zwischen der Stellung einer verstehen.“ (Bourdieu und Person im sozialen Raum und ih- Schwibs 1987: 782) rem Verhalten und ihren Einstellungen. Im Habitus hätten sich Conclusio ihre Erfahrungen, wie die ihrer Die hier diskutierten unterschied- Familie und ihrer Klasse, verkör- lichen Ansätze der sozialwissen- perlicht. Zwar sei ausgeschlossen, schaftlichen Mikrotheorien sind dass die Mitglieder einer Klasse genauso unterschiedlich, wie die exakt dieselben Erfahrungen und Problemlagen, zu deren Erklärung das auch noch in der gleichen sie gerne herangezogen werden. Reihenfolge machten, die Aus- Manche Theorien, wie die funktio- sicht, mit für diese Klasse typi- nalistische Rollentheorie, oder die Conclusio 20 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 ökonomischen Ansätze sind zunächst leicht zu verstehen, weil ihre Begründungszusammenhänge nahe dem Alltagsbewusstsein von sozial handelnden AkteurInnen liegen. Es werden keine komplexen Grundannahmen getroffen und die (soziale) Welt wird durch diese beiden Theorien modellhaft und sehr stark abstrahiert – die Folge ist, dass die Theorien aufgrund ihrer einfachen Annahmen über die Menschen auch zu „einfachen“ Lösungen kommen, die der tatsächlichen Realität nicht immer entsprechen. Komplexere Ansätze stehen nicht so stark im Widerspruch zur komplexen und vielschichtigen Realität. Zudem sind die beiden komplexeren - im Rahmen der Lehrveranstaltung bearbeiteten - Konzepte dieses Textes selbst teils normativ – deren maßgebliche Theoretiker waren selbst in soziale Anliegen verstrickt und verstanden sich daher nicht nur als die Durkheimschen „sozialen Tatsachen“ beschreibend. Conclusio 21 Seminararbeit „sozialwissenschaftliche Mikrotheorien“ SS 2008, Gerald Czech 9000325 Literatur Abels, Heinz (2004): Interaktion, Identität, Präsentation. Kleine Einführung in interpretative Theorien der Soziologie. 3., durchges. Aufl. 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