Haas.indd 1 07.10.11 07:45 DIAKONIE Bildung – Gestaltung – Organisation Herausgegeben von Jürgen Gohde Hanns-Stephan Haas Klaus Hildemann Beate Hofmann Heinz Schmidt Christoph Sigrist Band 11 Haas.indd 2 07.10.11 07:45 Hanns-Stephan Haas Unternehmen für Menschen Diakonische Grundlegung und Praxisherausforderungen Verlag W. Kohlhammer Haas.indd 3 07.10.11 07:45 Den FreundInnen und WeggefährtInnen in Diakonie und Kirche Alle Rechte vorbehalten © 2012 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Reproduktionsvorlage: Andrea Siebert, Neuendettelsau Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany ISBN 978-3-17-021838-3 Haas.indd 4 07.10.11 07:45 Inhalt Vorwort ............................................................................................................ 1 1.1 1.2 1.3 1.4 Menschen in Führung. Führungsfragen in Diakonischen Unternehmen .......................................................... Ohne Ethik kein Erfolg ........................................................................ 1.1.1 Die Notwendigkeit eines wirtschaftsethischen Commitments nach dem Ende des Rheinischen Kapitalismus ............................................................................ 1.1.2 Der wirtschaftsethische Beitrag für ein erfolgreiches ökonomisches Handeln .......................................................... 1.1.3 Konturen unternehmerischer Verantwortung ................... Das Paradigma theologischer Reflexion im unternehmensethischen Diskurs ........................................................ 1.2.1 Einleitung: John Maynard Keynes als Fremdprophet ........ 1.2.2 Theologie als Normenlieferant .............................................. 1.2.3 Normieren und Verstehen ..................................................... 1.2.4 Betriebswirtschaft – ein ethikfreier Raum? ......................... 1.2.5 Theologie als unternehmensrelevante Wirklichkeitssicht . Die Kunst der Führung in Kirche und Diakonie .............................. 1.3.1 Einleitung ................................................................................. 1.3.2 Führung und Leitung. Eine theologiegeschichtliche Spurensuche eines randständigen Themas .......................... 1.3.3 Führung in Kirche und Diakonie. Gemeinsame Besonderheiten und geteilte Unterschiede .......................... 1.3.4 Wandlungen des Organisations- und Führungsverständnisses in systemischkonstruktivistischer Perspektive ........................................... 1.3.5 Bausteine einer Führungskunst für Kirche und Diakonie 1.3.5.1 Führungsverständnis .............................................................. 1.3.6 Steuerungskonzepte und Organisationskulturen ............... 1.3.6.1 Führungsstile und Führungstheorien ................................... 1.3.6.2 Führungskompetenzen/ Führungsethos .............................. TheologInnen im Vorstand des Unternehmens für Menschen. Überflüssiges Relikt oder sinnvolles Konstrukt? .............................. 1.4.1 Theologie als berufliche Identität im diakonischen Unternehmen. Problemanzeige ............................................ 1.4.2 Sekundärableitungen einer theologischen Funktion für die Leitungsverantwortung .................................................... 1.4.3 Theologische Rationalitätsmuster mit Relevanz für die Unternehmensleitung ...................................................... 1.4.4 Funktionen der TheologIn in der Unternehmensleitung .. 9 11 11 13 15 18 20 20 25 28 31 34 38 38 40 45 51 55 55 58 62 70 72 72 75 79 86 6 Inhalt 2 Bausteine einer diakonischen Anthropologie ........................... 2.1 Aufgabe und Problem einer diakonierelevanten theologischen Anthropologie .............................................................. 2.1.1 Der fremde Kontinent „Mensch“ und seine Wahrnehmung in der Diakonie ............................................ 2.1.2 Zum Verständnis einer diakonierelevanten Anthropologie Geborenwerden und Sterben .............................................................. 2.2.1 Geburt und Tod und ihre Botschaft über das Leben .......... 2.2.2 Geborenwerden und Sterben und die Autonomie des Menschen ........................................................................... 2.2.3 Lachen und Weinen als Ausdruck menschlichen Lebens . 2.2.4 Lachen oder Weinen – Beispiele eines Umgangs mit Gefühlen, die Leben zulassen ................................................ Kinder als Thema einer diakoniebezogenen Anthropologie .......... 2.3.1 Kinder entdecken – eine stets neue Aufgabe ....................... 2.3.2 Das Kind in der Bibel .............................................................. 2.3.2 Das Kind in der theologischen Anthropologie ................... Jugendliche als Thema einer diakonierelevanten Anthropologie .. 2.4.1 Jugendliche verstehen ............................................................. 2.4.2 Jugendliche(r) sein in biblisch-theologischer Perspektive 2.4.3 Jugend – Begriffsgeschichte und Wandel des Verständnisses .................................................................. 2.4.4 Veränderte Konfliktfelder von Jugendlichen und Erwachsenen im Fokus diakonischer Handlungsfelder ..... Im Alter beheimatet ............................................................................. 2.5.1 Im Alter zu Hause sein – ein persönlicher und ein literarischer Zugang ................................................................ 2.5.2 Gestaltungen des Alterns zu Hause ...................................... 2.5.3 Demografische Einsichten über das Alter ........................... 2.5.4 Paradigmen für das Phänomen der Langlebigkeit ............. 2.5.5 Konkretionen ........................................................................... Leben mit Behinderung ....................................................................... 2.6.1 „Homo definiri nequit“ .......................................................... 2.6.2 Ambivalenzen und Paradoxien im Umgang mit dem Phänomen der Behinderung .................................................. 2.6.3 Plädoyer für einen intentionalen Diskurs ............................ Wohnen ................................................................................................. 2.7.1 Wohnen, Würde und Individualität ..................................... 2.7.2 Der ewige Riss zwischen Wunsch und Wirklichkeit und die Suche nach subjektiv stimmigen Kompromissen ........ 2.7.3 Megatrends des Wohnens ...................................................... 2.7.4 Perspektiven zum Wohnen für Menschen mit Behinderungen und im Alter ................................................. Leiden und Leiderfahrungen. Der leidende Mensch als Thema der systematischen Theologie ............................................................. 2.8.1 Eine kleine Vorrede zur Themenwahl ................................. 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 89 89 89 92 98 98 99 104 107 108 108 110 112 117 117 119 121 124 127 128 131 132 144 145 147 147 151 159 162 162 164 166 169 171 171 Inhalt 2.8.2 2.8.3 2.8.4 2.8.5 2.8.6 2.8.7 7 Der leidende Mensch in der Theologie. Zugangsweise und Eingrenzung ........................................... Der leidende Mensch in der Schöpfung ............................... Leiden in der Perspektive des Leidens Jesu Christi ............ Leiden in der Perspektive der Eschatologie ......................... Der leidende Mensch in der theologischen Anthropologie Der leidende Mensch. Eine systematisch-theologische Positionsbestimmung in konstruktivistischer Perspektive 173 175 179 181 183 187 3 Diakonische Positionierungen ....................................................... 191 3.1 Stichwort „Unternehmen für Menschen“ ......................................... 3.1.1 „Diakonisches Unternehmen“ – ein (relativ) neuer Begriff 3.1.2 Diakonische Unternehmen als „Non-Profit-Organisationen“ ............................................... 3.1.3 „Diakonisches Unternehmen“ als Indiz einer Veränderung 3.1.4 Grenzen und Probleme des Unternehmensbegriffes ......... 3.1.5 Die paradoxale Verwendung des Unternehmensbegriffes als Aufgabe ............................................................................... Strategiebildung zwischen Emergenz und Planung ......................... 3.2.1 Strategie – eine einleitende Begriffsverständigung ............. 3.2.2 Strategien in diakonischen Unternehmen – eine Bestandsaufnahme .......................................................... 3.2.3 Strategien für diakonische Unternehmen – eine Perspektive 3.2.4 Strategiebildung am Beispiel: die Evangelische Stiftung Alsterdorf .................................................................. Holding-Bildung als strategische Herausforderung ........................ 3.3.1 Einleitung: Gründe zur Holding-Bildung und Differenzierungen des Holdingbegriffes .............................. 3.3.2 Problemanalyse von Holdingstrukturen in der Sozialwirtschaft ............................................................ 3.3.3 Prozessschritte auf dem Weg zur Holdingbildung ............. Kooperation und Koopetition. Eine Zukunftsfrage diakonischer Unternehmensführung ................................................. 3.4.1 Kooperation – (k)ein theologisches Thema? ....................... 3.4.2 Leitlinien eines biblisch-theologischen Nachdenkens über Kooperation .................................................................... 3.4.3 Diakonisches Kooperationsdesign im Wettbewerb ........... Gemeinschaft als Kennzeichen des Unternehmens für Menschen 3.5.1 Das Nachdenken über Gemeinschaft im Horizont der Individualisierung ............................................................ 3.5.2 Gemeinschaft als Phänomen im Unternehmen .................. 3.5.3 Biblisch theologische Gedanken zum Gemeinschaftsverständnis ..................................................... Effizienz von Pflege und deren Messbarkeit – wie verträgt sich soziale und ökonomische Effizienz? ................................................... 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 191 191 192 194 196 197 199 199 201 204 207 211 211 215 220 223 223 224 227 230 230 232 235 240 8 Inhalt 3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.6.4 Begriffsklärung „Effizienz“ – keine akademische Frage .... Effizienz und Effektivität – eine Frage des Betrachters ...... Die Multiperspektivität von „Effizienz in der Pflege“ ........ Das magische Fünfeck der Effizienzbeurteilung in der Pflege ............................................................................. 3.6.5 Weichenstellungen .................................................................. 3.7 Ökonomisierung und Kommerzialisierung im Unternehmen für Menschen ......................................................................................... 3.7.1 Phänomene der so genannten Ökonomisierung ................ 3.7.2 Ort und Relevanz der Wirtschaftsethik in kirchlichen Unternehmen ........................................................................... 3.7.3 Der heuristische Wert der Unterscheidung von Kommerzialisierung und Ökonomisierung ........................ 3.8 Bildung als Aufgabe und Anliegen des Unternehmens für Menschen ......................................................................................... 3.8.1 Diakonie als Bildungsträgerin ............................................... 3.8.2 Das Bildungsverständnis im Unternehmen für Menschen 3.8.3 Wie betreiben wir in der Diakonie Bildung? ....................... 3.8.4 Warum betreiben wir Bildung in bewusster Nähe zu diakonischen Unternehmen? ................................................ 3.8.5 Bildung und Inklusion ............................................................ 3.9 Sozialraumorientierung – neuer Hype oder nachhaltige Perspektive für eine gesellschaftliche Veränderung ......................... 3.9.1 Sozialraumorientierung – alter Wein in neuen Schläuchen? 3.9.2 Die Bürgerkirche im Sozialraum ........................................... 3.9.3 Die sozialräumliche Umsteuerung als Notwendigkeit einer demografiefesten Gesellschaft ..................................... 3.9.4 Sozialraum als Chance auf ein neues Miteinander von Kirche und Diakonie .............................................................. 3.10 Diakonie als Werkstatt des Paradoxes (Predigt über Matthäus 5,42) 3.11 Immer wieder am Anfang (Predigt über Philipper 3,12–14) .......... 240 241 244 245 249 250 250 253 255 258 258 259 267 269 271 272 272 275 279 283 284 290 Literaturverzeichnis .................................................................................... 296 Vorwort Zu meinen liebsten Künstlern gehören die französischen Pointillisten, allen voran Georges Seurat und Paul Signac. Ihre besondere Maltechnik bestand darin, Gesamtbilder aus häufig ganz kleinen und regelhaft angeordneten Punkten zu schaffen. Sie arbeiteten mit reinen Farben, aus deren Kontrast sich der starke Eindruck ihrer Bilder ergibt, sofern der Betrachter in einer angemessenen Entfernung zu dem jeweiligen Bild steht. Zu große Nähe lässt nur noch die einzelnen Punkte erkennen, zu große Entfernung lässt den Eindruck völlig verschwimmen. Ohne den ästhetischen oder künstlerischen Anspruch vergleichen zu wollen, gleicht auch das diakonische Unternehmen als „Unternehmen für Menschen“ einem pointillistischen Bild. Es setzt sich aus unendlich vielen einzelnen Punkten zusammen, es lebt von den starken Kontrasten, die dicht beieinander liegen. Vor allem aber: Es erschließt sich nur in der Perspektive des Betrachtenden, die oder der einen spezifischen Abstand zu seinem Bild braucht. Im Unternehmensalltag ist es schwer, diesen richtigen Abstand immer wieder zu finden, gerade auf der Leitungsebene. Der einzelne Punkt lenkt so viel Aufmerksamkeit auf sich und verhindert die Sicht von Zusammenhängen. Erlebte Gegensätze werden nicht mehr als Teile eines Ganzen gesehen. Zu viele scheinen mit ganz anderen Farbvorstellungen an dem Bild des Unternehmens mitzuwirken, als dass die Vorstellung eines Gesamtkunstwerkes überhaupt noch nachvollziehbar wäre. Die Kritiker des Pointillismus gaben der neuen Stilrichtung den spöttischen Namen „Confettisme“, frei übersetzt: Konfettikunst. Statt gestaltender Vielfalt sahen sie nur verwirrende Buntheit. Der gesetzte Punkt war ihnen nur ein zufälliger Schnipsel. – Betrachtern und häufig genug auch Mitarbeitenden des Unternehmens für Menschen mag sich häufig ein ähnlicher Eindruck aufdrängen: Diakonische Unternehmen gleichen häufiger zufälligen Konfettibildern mit verwirrender Buntheit. Der vorliegende Band ist der Versuch, den Abstand zum Gesamtbild des Unternehmens für Menschen zu finden, der die Wahrnehmung des Ganzen in subjektiver Begrenzung möglich macht. Er will einzelne Punkte beleuchten, will Farbkontraste als wesentlichen Bestandteil sichtbar machen und Zusammenhängen auf die Spur kommen. Nicht zufällig kommt dabei den Punkten einer diakoniebezogenen Anthropologie (Teil 2) eine Mittenstellung 10 Vorwort zu. Es geht in diakonischen Unternehmen um Menschen, ihre Lebenssituationen, ihre Fähigkeiten, ihre besonderen Unterstützungsbedarfe und ihre Lebenserfahrungen. Wenn sie hier nur in ersten Punkten angesprochen werden können, ist dies sicher vor allem den zeitlichen Einschränkungen der Leitungstätigkeit geschuldet, enthält aber auch den Verweis darauf, dass ein Gesamtbild heute nur noch von einer Künstlerwerkstatt erstellt werden könnte. Zu der deutlichen humanistischen Orientierung steht der Unternehmensbegriff in einer Spannung. Diese fruchtbar zu machen ist das Anliegen der diakonischen Positionierungen (Teil 3). Sie behandeln Brennpunkte heutiger Unternehmensgestaltung, die gegenwärtig besonders virulent sind. Mal ist dabei beobachtbar, dass sie kaum theoretisch bearbeitet worden sind, mal lag der Anstoß zur Bearbeitung darin, dass die bearbeiteten Themen bisher kaum auf die Unternehmenswirklichkeit bezogen worden sind. Alle versuchten Positionierungen sind aber davon geprägt, dass sie unterschiedliche Fachlichkeiten einzubeziehen versuchen. Schließlich: Das Spannungsverhältnis zwischen humanistischer Orientierung und Unternehmenserfolg, zwischen christlichen Grundüberzeugungen und ökonomischen oder rechtlichen Rahmenbedingungen ist eine Grundkonstante für Führungskräfte. Sie nötigt zu wirtschaftsethischer Positionierung, hier bezogen auf die Unternehmensebene, und einer Klärung der Führungsaufgabe und –kompetenz. Diesem Fragekreis widmen sich die ersten Beiträge (Teil 1). Ob sich der Eindruck eines Gesamtbildes ergibt oder doch eher einer Konfetticollage sei den Lesern überlassen. Selbst der hier vorgelegte Bildversuch verdankt sich aber einer Reihe von Faktoren und Menschen. Besonders danken möchte ich meinen VorstandskollegInnen und meinem Stiftungsrat, speziell seinem Vorsitzenden, Uwe Kruschinski. Sie alle haben mich unterstützt darin, dass die Evangelische Stiftung Alsterdorf seine Innovationsfähigkeit nur durch Nachdenken erhalten kann und dies auch Vorstandsverantwortung ist. Darüber hinaus denke ich an viele Freunde und Weggefährten in Diakonie und Kirche, mit denen ich die Leidenschaft für die Gestaltung und die Reflexion der Diakonie teile. Ihnen ist dieses Buch deshalb auch gewidmet. In besonderer Weise gilt der Dank meinen Kollegen Prof. Schoenauer aus der Diakonie Neuendettelsau und Pfarrer Humbrich von der kreuznacher diakonie für ihren Druckkostenzuschuss. Ganz konkret zu danken habe ich auch Herrn stud.theol. Christoph Jarosch, der mich bei manchen Recherchen und Formalien unterstützt hat, und Herrn Specker vom Kohlhammer Verlag, der mich mit zeitlicher Großzügigkeit und verlegerischem Know-How unterstützt hat. 1 Menschen in Führung. Führungsfragen in Diakonischen Unternehmen 1.1 Ohne Ethik kein Erfolg Vielleicht ist dies eins der größten Probleme: In die öffentlichen Diskussion um mehr Ethik in der Wirtschaft mischen sich häufig Menschen ein, die von Wirtschaft keine Ahnung haben. Dies gilt nicht zuletzt für die Berufszunft der TheologInnen. Schon vor 20 Jahren kritisierte deshalb etwa Henning Scherf einen „Überschuss an ‚moralischer Gesinnung‘ über die geleistete Analyse“.1 Der Philosoph und Wirtschaftethiker Josef Meran sprach ironisch von einer „alles überragende[n] Quantität konfessioneller Traktate zur Wirtschaftsethik“.2 Auch wenn es hier gewichtige Ausnahmen und neue Trends gibt, kann man sich bis heute des Eindruckes nicht erwehren, dass sich in weiten Teilen der öffentlichen und kirchlichen Diskussion die ökonomische Sachanalyse darauf beschränkt, das normative Defizit der Ökonomie festzustellen und dieses dann durch unmittelbare moralische Handlungsanweisungen auszugleichen. Demgegenüber reagieren Wirtschaftsvertreter häufig verständlicherweise befremdet, verweisen auf wirtschaftliche Sachzwänge und die Inkompetenz ihrer Gesprächspartner. Teil des Rituals ist dabei der angedrohte oder vollzogene Kirchenaustritt, der die moralische Ausgrenzung nun auch kirchenrechtlich aufnimmt. Wer selbst solche Gesprächssituationen erlebt hat, wird deren Fruchtlosigkeit nur bedauern können. Theologisch gesehen sind sie es vor allem deshalb, weil sie das Potenzial der Theologie als Kunst sinnvoller Unterscheidungen unterschreiten. Ein Beispiel dafür sei genannt: Der große evangelische Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer formulierte einmal: „[D]aß ein Mensch in den Armen seiner Frau sich nach dem Jenseits sehnen soll, das ist milde gesagt eine Geschmacklosigkeit und jedenfalls nicht Gottes Wille.“3 In der Tat: Es gibt Cocktails, die in so unzulässiger Weise Ingredienzien vermischen, dass sie schlicht ungenießbar werden. Man muss schon wissen, wie man was zueinander bringt. Das gilt für kulinarische Genüsse, es gilt für das Verhältnis von Erotik und Religion und es gilt schließlich auch für das Verhältnis von Ethik und Wirtschaft. Und es dürfte dabei sinnvoll 1 2 3 H. Scherf (1988), S. 370. J. Meran (1992), S. 50. D. Bonhoeffer (1977), S. 189. 12 Menschen in Führung. Führungsfragen in diakonischen Unternehmen sein, sich an die Warnung Max Webers zu erinnern, dass es eine schlichte, für alle Lebensbereiche geltende Grundrezeptur nicht gibt. Zu Recht fragte er deshalb in seiner Schrift „Politik als Beruf“: „Aber ist es denn wahr: dass für erotische und geschäftliche, familiäre und amtliche Beziehungen, für die Beziehungen zur Ehefrau, Gemüsefrau, dem Sohn, Konkurrenten, Freund, Angeklagten die inhaltlich gleichen Gebote von irgendeiner Ethik der Welt aufgestellt werden könnten?“4 In diesem Sinne soll im Folgenden eingetreten für eine Zuordnung von Ökonomie und Ethik, die die jeweils eigenen Logiken berücksichtigt, die nach den unterschiedlichen Orten ethischer Verantwortung fragt und diese Verantwortung nicht mit einem moralischen Apostolat ohne jede Wirkung verkommen lässt. Aus der Perspektive des diakonischen Unternehmens für Menschen ist dies auch deshalb einzig angemessen, weil das Verhältnis von ethischem Anspruch und ökonomischen Zwängen auch hier alltäglich konfliktär ist. Die Frage der Verhältnisbestimmung ist hier genauso wenig ein Selbstgänger wie in jedem anderen Unternehmen. Um dieser Frage nachzugehen, soll für das Verhältnis von Ökonomie und Ethik zunächst historisch der Einsatzpunkt gekennzeichnet werden, an dem die Verhältniszuordnung heute versucht werden muss. Die Perspektive, von der her dieser Punkt beschrieben werden soll, ist dabei nicht die interdisziplinäre Fachperspektive, sondern eher das vermutete Durchschnittserleben von Unternehmern in Deutschland,5 die sich einer ethischen Verantwortung ihres Unternehmens bewusst sind. Bewusst wird dabei nicht die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise als Scheitelpunkt angesehen, sondern das Ende des so genannten Rheinischen Kapitalismus. 4 5 M. Weber (1958), S. 537f. Diese Durchschnittsannahme verdankt sich im Wesentlichen persönlichen Gesprächskontakten und Zeitgeistwahrnehmungen. Bei Vorträgen und in öffentlichen Diskursen wurde ich immer wieder darauf hingewiesen, dass die Unterscheidung von Unternehmern und Managern sinnvoll sein könnte. Während Unternehmer als Eigentümer eine langfristige Perspektive für ihre Organisationen haben, die ihnen wesentlich wichtiger ist als kurzfristige Renditeerwartungen, bespiele der Manager nur auf Zeit ein Unternehmen und richte, nicht zuletzt aufgrund eigens danach austarierter Anreizsysteme, seine Führungsentscheidungen nach kurzfristigen Gewinnerzielungsperspektiven aus. Auch wenn ein gewisser heuristischer Wert in dieser Unterscheidung liegt, ist er sicherlich doch zu holzschnittartig. Für diakonische Unternehmen trifft er jedenfalls im Regelfall deshalb nicht zu, weil sich Unternehmensverantwortliche hier eher als langfristig handelnde Unternehmer verstehen dürften. Ohne Ethik kein Erfolg 13 1.1.1 Die Notwendigkeit eines wirtschaftsethischen Commitments nach dem Ende des Rheinischen Kapitalismus Der Begriff des „Rheinischen Kapitalismus“ ist nicht geschützt, er ist schillernd und es gibt ihn nicht in einer klaren Definition. Er ist eher ein Konstrukt, in dem sich ein bestimmtes Staats- und Wirtschaftsverständnis, eine spezifische persönliche Werthaltung und Überzeugung und ein historisches volkswirtschaftliches Modell abbildet. In diesem „Kapitalismus mit einem menschlichen Gesicht“ kamen verschiedene Überzeugungen und Setzungen zusammen, die vermutlich so nur in der spezifischen Situation der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland leitend werden konnten. So war man davon überzeugt; dass – Eigeninitiative und Eigennutz die Motoren von Fortschritt, Innovation und wirtschaftlichem Erfolg sind, – dass eine freie Marktordnung in einem demokratischen Rechtsstaat ein sinnvoller Zusammenhang ist, – dass möglichst breite Bevölkerungsschichten über einen ausgebauten Sozialstaat von den Vorzügen dieser Wirtschaftsordnung partizipieren werden, oder wie Ludwig Erhard dies unüberboten auf die prägnante Formel brachte, dass das Ziel der „Wohlstand für alle“ sei, – dass korporatistische, auf Konsens zielende Strukturen die beste Basis für friedvolle und effiziente gesellschaftliche Aushandlungsprozesse sind. Ein besonders prägnantes Beispiel sind in Deutschland die Tarifpartnerschaften. Sind dies die tragenden Überzeugungen, so kann man den „rheinischen Kapitalismus“ mit Werner Abelshauser als „eine dichte, historisch gewachsene Landschaft wirtschaftlicher Institutionen und Spielregeln“6 verstehen. Man musste diese Landschaft nicht stets von Neuem beschreiben, weil sie von einer gewachsenen und freiwilligen Akzeptanz der wesentlichen Akteure getragen wurde und weil die positiven Wirkungen für (fast) alle erlebbar waren. Die Transaktionskosten waren ungewöhnlich niedrig. An die Stelle des frühindustriellen Paternoster-Effektes, nach dem der Aufstieg der einen immer den Abstieg der Anderen notwendig macht, trat der Fahrstuhl, der das Wohlstandsniveau für (fast) alle erlebbar machte. Neben dem schwedischen Volksheim war damit ein zweites Modell lebendig, in dem Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen in einen ökonomisch sinnvollen Ausgleich gebracht waren. 6 Zit. aus den Thesen von W. Abelshauser (o.J.), S. 1. 14 Menschen in Führung. Führungsfragen in diakonischen Unternehmen Wirtschaftshistoriker streiten darüber, wann dieses Modell des rheinischen Kapitalismus ins Wanken geriet. War es, als mit der ersten Ölkrise die Erkenntnis wuchs, dass die Bewässerungslogik der gewachsenen Landschaft so nicht auf Dauer durchhaltbar sein würde? Waren es die nach der Wiedervereinigung versprochenen „blühenden Landschaften“, die sich dann doch als dauerhafte Steppen herausstellten? Waren es die Auswüchse des Sozialstaates, die mit einer etablierten Vollkaskomentalität die Kostenentwicklung des Systems unbeherrschbar machten? Waren es die zunehmenden Probleme des ‚Sozialversicherungsstaaates‘, dessen tragende Säulen: familiale Rollenteilung, klassische Erwerbsarbeit, Lebensstandard sichernde Rente, Tarifverträge, lebenslange Betriebszugehörigkeit etc. immer mehr Risse bekamen? Jedenfalls konnte zu Beginn dieses Jahrtausends der „Economist“ vom Ende des Rheinischen Kapitalismus sprechen.7 Feindliche Übernahmen wie im Falle von Mannesmann und Vodafone machten endgültig für alle deutlich, dass es in den neu wachsenden Landschaften keine Grenzflüsse mehr gab, und der „Economist“ attestierte Europa, es sei auf dem besten Weg „to be just another United States“. Ob dies so ist, sei dahingestellt, aber in jedem Fall dürfte die gegenwärtige Finanzkrise auch dem Letzten gezeigt haben, dass wir in einer globalen Wirtschaft angekommen sind. Bei diesem kleinen Ausflug zum Rheinischen Kapitalismus ging es nicht um eine nostalgische Rückschau oder einen versteckten letzten Aufruf zum Erhalt des Sozialstaates. Im Zusammenhang der Zuordnung von ökonomischer Rationalität und ethischer Verantwortung lag das Interesse nur darin, das Folgende aufzuzeigen: Über etwa 50 Jahre hinweg gab es in unserer Gesellschaft ein Wirtschaftsmodell, das von moralischen Standards lebte und seinerseits diese Standards plausibilisiert hat.8 Nach allem, was erkennbar ist, sind diese Standards heute nicht mehr einfach in unserer Gesellschaft verfügbar und prägend wirksam. Das Modell droht zum Auslaufmodell zu werden, ohne dass schon erkennbar wäre, auf welche ethischen Standards sich ökonomisches Handeln in Zukunft beziehen kann. Dass ein solcher Bezug aber keinesfalls wertlos ist, dürfte und könnte wiederum eine der Lehren aus der letzten Krise sein. Auf der Suche nach diesen ethischen Standards sei ein typologisierender Durchgang durch die Entwicklung der Wirtschaftethik versucht, der sich speziell auf die Frage nach dem Beitrag der Wirtschaftsethik für das ökonomische Handeln ausrichtet. 7 8 Vgl. dazu L. Castellucci (2001) mit Verweis auf den Artikel: What is Europe?, in: The Economist vom 10. Februar 2000; das folgende Zitat ebd. Vgl. in diesem Zusammenhang J. Wieland (1993), S. 18. Ohne Ethik kein Erfolg 15 1.1.2 Der wirtschaftsethische Beitrag für ein erfolgreiches ökonomisches Handeln Auch wenn die Wirtschaftsethik auf eine lange Geschichte9 zurücksieht, hat sie doch vor allem in den letzten 20 Jahren einen enormen Auftrieb erfahren und ist in diesem Zusammenhang zu einer internationalen Wissenschaft geworden. Die hier versuchte Darstellung von vier (nicht im historischen Sinne trennscharfen) Stadien10 folgt dem Interesse, deutlich zu machen, dass die Wirtschaftsethik eine Entwicklung durchgemacht hat, die sie auch für UnternehmerInnen wieder interessant macht. Lange Zeit war Wirtschaftsethik, insbesondere in Deutschland, gleichbedeutend mit fundamentaler Kapitalismuskritik. Das Strickmuster dieser konfrontativen Wirtschaftsethik war sehr schlicht: Der Kapitalismus setzt auf egoistische Gewinnsucht und erzeugt auf einem durch diese Haltung gestalteten Markt Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten. Mit Verweis auf die Opfer dieses Systems wird ein grundlegender Systemwechsel gefordert, dem meist ein planwirtschaftliches Ordnungsmodell zugrunde liegt. – Die große Schwäche dieser konfrontativen Wirtschaftsethik, meist marxistischer Provenienz, lag darin, dass sie die ökonomischen und sozialen Erfolge des kritisierten Systems leugnete, ohne ihrerseits auf Erfolge in real existierenden Umsetzungsmodellen verweisen zu können. Im Gegensatz zu dieser Fundamentalkritik hat sich das Modell einer korrektiven Wirtschaftsethik entwickelt, die das individuelle Gewinnstreben nicht prinzipiell ablehnt, aber es in einen normativ vorgegebenen Rahmen eingebunden wissen will. Entweder setzt man dann darauf, dass die Austauschprozesse des Marktes übergreifend nach einer sozialpolitisch zu verantwortenden und durchzusetzenden Verteilungsgerechtigkeit gestaltet werden müssen oder dass das einzelne Wirtschaftssubjekt, speziell der Unternehmer, eine sittlich gereifte, humane Persönlichkeit sein muss, der seinem Gewissen auch in seinem wirtschaftlichen Handeln folgt. – Das Problem dieser Position besteht insbesondere darin, dass es die Vermittlung von ökonomischer und ethischer Vernunft entweder ganz offen lässt oder völlig individualisiert. Zu einem relevanten Gesprächspartner für UnternehmerInnen hat sich die Wirtschaftsethik erst dadurch entwickelt, dass sie die ethische Rationalität nicht gegen eine ökonomische Logik stellt, sondern beide ineinander verwoben sieht. Diese so genannte funktionale Wirtschaftsethik geht seit Max We- 9 10 Vgl. dazu die aufschlussreiche Darstellung in: W. Korff (1999), S. 344–566. Vgl. zum Folgenden T. Jähnichen (2008), S. 69–122. 16 Menschen in Führung. Führungsfragen in diakonischen Unternehmen ber davon aus, dass ökonomisches Handeln auf dem Markt kein a-ethischer Bereich ist, sondern einer spezifischen Marktethik folgt, und zwar gerade um erfolgreich sein zu können. Dazu nur die wichtigsten Stichworte: – Nicht zufällig ist die Kaufmannssprache von einer ethischen Sprache des „Treu und Glaubens“ durchzogen. Schon früh stand dabei die Überzeugung im Hintergrund, dass der, der sein Gewinnstreben rücksichtslos und schädigend ausübt, bei nächster Gelegenheit auf dem Markt abgestraft wird. Diese Grunderkenntnis ist im Handelsrecht in eine rationale Legalität übersetzt. – Die Einhaltung von ethischen Standards ist nicht nur sozial sinnvoll, sie senkt auch die Transaktionskosten. Bei verabredeten und eingehaltenen ethischen Standards sinkt der Kontrollaufwand und etablieren sich belastbare Geschäftsbeziehungen. – Der Markt lebt von und zielt auf eine Tauschgerechtigkeit, bei der Preis und Leistung in einem möglichst ausgewogenen Verhältnis stehen. Markttransparenz und Wahlrecht, dem korrespondierend die Verhinderung von Marktabsprachen und Monopolbildung, sind Grundpfeiler eines Wettbewerbs, der nicht zuletzt dem Käuferinteresse dient. – Ethische Grundentscheidungen wie Vorsorge und Fürsorge führen zu einer Sparsamkeit, die für volkswirtschaftliche Kapitalbildung und eine nicht-inflationäre Investitionsfinanzierung einen wesentlichen Baustein darstellt. – Kurz und knapp: Ökonomie und Ethik sind einander nicht Feind wie Feuer und Wasser, sie stehen eher in einem geschwisterlichen Verhältnis. Für einige Vertreter der funktionalen Wirtschaftsethik geht es einzig darum, den ökonomischen Vorteil von ethischen Regeln darzulegen, da dieser Vorteil „als einzige ‚Währung‘ in der globalen, heterogenen, fragmentierten modernen Weltgesellschaft verläßlich bleibt“.11 Das Gewicht dieser funktionalen Position kann kaum überschätzt werden. Eine Ethik, die nicht als Fremdkörper empfunden wird, sondern an der ökonomischen Rationalität ansetzt, hat in jedem Fall die erheblich besseren Chancen, Wirkungen zu erzeugen. Auch hier könnte uns die gegenwärtige Finanzkrise heilsam zu der Erkenntnis führen, dass es letztlich keinen Shareholder Value ohne Stakeholder Value gibt, dass deshalb Beziehungswerte immer auch erfolgswirksam sind. Freilich sollte man bei dieser Position nicht stehen bleiben. Auch Geschwis- 11 K. Homann (2001), S. 101. Ohne Ethik kein Erfolg 17 terschaft ist kein Selbstläufer. Die so ungleichen Geschwister Ethik und Ökonomie bedürfen der Pflege und Entwicklung ihrer Beziehung. Deshalb steht am Ende des wirtschaftsethischen Überfluges der integrative Ansatz von ethischer und ökonomischer Rationalität.12 Er geht davon aus, dass ethische und ökonomische Interessen durchaus konvergieren können. Aber sie stehen doch nicht einfach in einem ausgeglichenen, spannungsfreien Miteinander. Denn es ist ja schlichtweg eine Erfahrung, dass das Eigeninteresse nicht nur gelegentlich in reinen Opportunismus umschlagen kann. Eilert Herms hat deshalb statt vom wohlverstandenen Egoismus richtiger von dem „gereiften Selbstinteresse“13 gesprochen. Dieses gereifte Interesse schließt ein, dass neben den wirtschaftlichen Auswirkungen einer ökonomischen Handlung immer auch die Folgen für das Gemeinwohl bedacht werden. Dies führt konsequent zu der Position des St. Galler Wirtschaftsethikers Peter Ulrich,14 der auf einen „ethisch gehaltvollen Begriff von vernünftigem Wirtschaften“ abhebt, bei dem die Ökonomie immer eingebettet ist in die Lebenswelt, und letztlich nicht mehr und nicht weniger ist als ein Mittel für das gute Leben und Zusammenleben von Bürgern. Entsprechend verweist Ulrich darauf, dass es sich bei den sog. ökonomischen Sachzwängen letztlich nur um Denkzwänge handelt, die aufzuheben sinnvoll sein kann. In der Perspektive der Menschenrechte mutet uns dieses Konzept zu, nachzudenken und zu gestalten, inwieweit wir unsere Gesellschaft nicht nur als „Marktzusammenhang, sondern als Rechtszusammenhang“15 sehen. Dieser Rechtszusammenhang ist aber kein Selbstläufer. Er muss in einer globalen Welt auch global entworfen und durchgesetzt werden. Dass dies auch ökonomisch vernünftig sein könnte, könnte eine weitere Lehre der letzten Krise sein. Für den Ansatz von Peter Ulrich ist dabei grundlegend wichtig, dass er die sogenannte topologische Frage eingeführt hat. Sie führt letztlich zu der Unterscheidung von Verantwortungsebenen in der Wirtschaftsethik. Danach ist grundlegend zu differenzieren zwischen der Mikroebene des individuellen Verhaltens von ökonomischen Akteuren, der Mesoebene von Organisationen wie Unternehmen und Verbänden, der Makroebene ordnungspolitischer Entscheidungen und schließlich der Großbaustelle einer globalen Weltwirtschaftsordnung. Diese Ebenenunterscheidung dient dazu, spezifische Handlungsräume erkennen und nutzen zu können und Überforderungen zu ver12 13 14 15 Vgl. dazu vor allem P. Ulrich (2001). E. Herms, (2001), S. 117. Vgl. zur Bewertung von Peter Ulrichs Ansatz H.-S. Haas (2010b), S. 292–297. P. Ulrich (2002), S. 31. 18 Menschen in Führung. Führungsfragen in diakonischen Unternehmen meiden. Dem Gestaltungsraum der Mesoebene soll sich der letzte Punkt in der Frage nach einem integrativen Unternehmerverständnis widmen. 1.1.3 Konturen unternehmerischer Verantwortung Auch wenn die gesellschaftliche Akzeptanz von UnternehmerInnen und ManagerInnen durchaus volatil und z.Zt. notorisch unterbewertet ist: Unternehmertum sieht in Deutschland – und nicht nur dort – auf eine lange Erfolgsgeschichte zurück, in der ökonomische und ethische Verantwortung immer wieder wirksame Verbindungen eingegangen sind. Unternehmen sind die Impulsgeber für technischen Fortschritt, intelligente Dienstleistungen und wertvolle Produkte gewesen. Unternehmerstolz ist deshalb nicht Hybris, sondern Realismus. Gerade im sozialen Bereich hat das Unternehmen zu einer deutlichen Verbesserung der Lebenssituation von benachteiligten Menschen und zu einem effizienteren Einsatz von öffentlichen Geldern geführt. Zu diesem grundsätzlichen Ja gibt es kein gleichwertiges Aber. Es gehört deshalb zum unternehmerischen Selbstbewusstsein dazu, sich nicht in eine ethische Schmuddelecke stellen zu lassen, sondern die Annäherung von ethischer und ökonomischer Rationalität selbst als Aufgabe und Stärke anzunehmen. Sinnvoll ist deshalb ein ethisch reflektiertes Selbstbewusstsein von UnternehmerInnen. Grundzüge dieses Selbstbewusstseins könnten sein: – Der Unternehmer/die Unternehmerin von heute hat eine Berufsleidenschaft: den Erfolg seines Unternehmens. Langfristig ist dieser Erfolg aber nie das Ergebnis autistischer Wettbewerbsstrategien, sondern belastbarer Beziehungen zu Lieferanten, Kunden und Anspruchsgruppen. Konsequent führt dieser Weg zu einem normativen Anspruchsgruppenkonzept, in dem sich das ökonomische Handeln immer auch gegenüber seinem sozialen Umfeld und gegenüber künftigen Generationen verantwortlich weiß. In dieser Perspektive vereinen sich ökonomische und ethische Rationalität zu einer gereiften unternehmerischen Klugheit. – Diese gilt es auszubauen und zu stärken. – Unternehmer und Manager sind heute, nach dem Grundtenor der neueren Managementliteratur, vor allem gute Sozialarchitekten. Das Schreckbild des Unternehmers als raffgierigem Ausbeuter wird auch durch Beschwörung nicht realer. Faktisch gelingt heute eine gute Performance nicht ohne Identifikation mit dem Unternehmen; Innovation bleibt an gelingende Kommunikation gebunden und die ungeheure Arbeitsver- Ohne Ethik kein Erfolg 19 dichtung und Wertschöpfung wären nicht zu leisten gewesen, wenn Menschen in Unternehmen nicht auch und wachsend Freiheits- und Entfaltungsräume finden würden. – Als Sozialakteure mit Kompetenz müssen sich Unternehmer vielleicht noch stärker in die Gestaltung des Sozialen einbringen16. – Unternehmer und Manager wissen um die Grenzen der Ökonomisierungen. Wer sich in seiner Familie als Vorstandsvorsitzender aufspielt ist schnell aller Posten enthoben, und wer im Freundeskreis sich nur nach ökonomischer Rationalität verhält hat schnell jeden Kredit verspielt. Dass Menschsein mehr ist als homo oeconomicus Existenz und dass Leben mehr ist als ökonomischer Erfolg, muss man vielleicht am wenigsten denen sagen, die diesen Erfolg haben. – Was wir eher brauchen ist eine gepflegte Kultur der Nachdenklichkeit, einen Austausch, der das ethische Kulturinteresse nicht zum privaten Hobby macht. – UnternehmerInnen haben Einfluss. Sie machen diesen Einfluss geltend, in unseren Unternehmen, in unseren Verbänden, auch in der Politik. Sie kennen den Unterschied zwischen Legalität und Bürokratismus. Sie haben aus Erfahrung ein feines Gespür für Ineffizienz von Maßnahmen und sich bietenden Gestaltungschancen. – Mit diesem Rüstzeug bringen sich Unternehmer immer wieder verstärkt ein, mindestens in die Gestaltung ihrer eigenen Lebensräume. Dazu gehört der Einsatz für eine soziale Stadt, für ein soziales Dorf, ein Gemeinwesen, das mit seinen Kranken, mit seinen hochaltrigen Menschen, mit seinen BürgerInnen mit Behinderung phantasie- und liebevoll umgeht. In unüberbotener Formulierung hat die biblische Tradition den Zusammenhang von ethischem Anspruch und ökonomischer Rationalität auf den Punkt gebracht. Er steht für eine Perspektive, die sich in keinen Kontextveränderungen erledigen wird und gedeckt ist durch eine mehr als 3000-jährige Geschichte: „Gerechtigkeit erhöht ein Volk!“ (Sprüche 14,34) 16 In größeren Firmen wird so heute eine ausgedehnte gesellschaftliche Beteiligung unter dem Stichwort der Corporate Social Responsibility (CSR) bewusst geplant und gesteuert. In kleineren Firmen ist diese Aktivität, häufig aufgrund der stärkeren örtlichen Einbindung ohnehin selbstverständlich. 20 Menschen in Führung. Führungsfragen in diakonischen Unternehmen 1.2 Das Paradigma theologischer Reflexion im unternehmensethischen Diskurs 1.2.1 Einleitung: John Maynard Keynes als Fremdprophet Die folgenden Überlegungen knüpfen an eine Leerstelle aus dem Vorausgehenden an. Der bisherige Gedankengang zielte darauf ab zu zeigen, dass sich die Wirtschaftethik zu einem Diskurs entwickelt hat, in dem die notwendige Vermittlung von ethischem Anspruch und ökonomischer Rationalität grundgelegt werden kann. Damit freilich ist noch in keiner Weise begründet, ob die Theologie in diesem Diskurs einen Beitrag zu liefern hat. Die klassische Antwort auf diese Frage lautet häufig, dass die Theologie die Normen liefern kann, die sich die Wirtschaftsethik nicht selbst geben kann. Ohne das Wahrheitselement dieser Antwort gänzlich zu bestreiten, soll im Folgenden eine andere Positionierung versucht werden. Nicht zuletzt aus didaktischen Gründen bedient diese sich eines ökonomischen ‚Fremdpropheten‘, dessen paradoxale Wirklichkeitseinblendung in einer ökonomischen Krisensituation m.E. einen paradigmatischen Entdeckungszusammenhang für den Ort der Theologie im wirtschaftsethischen Diskurs abgeben könnte. Die Perspektive geht dabei über den wirtschaftsethischen Diskurs hinaus, weil von ihr her auch der unternehmerische Alltag des diakonischen Unternehmens mit in den Blick kommt. Doch zunächst sei der Fremdprophet bemüht: John Maynard Keynes. John Maynard Keynes ist eine der schillerndsten Figuren der Wirtschaftsgeschichte.17 Sein Lebensweg schwankt zwischen einer glänzenden akademischen Karriere, einer tiefen und ausschweifenden Lebenssehnsucht und dem vielleicht größten politischen Einfluss, den ein Wirtschaftswissenschaftler je gehabt hat. Er war ein Meister des britischen Humors und konnte mit seinem Sarkasmus komplizierte Analysen auf den Punkt bringen. Als er 1919, damals 36 Jahre alt, als britischer Unterhändler an den Friedensverhandlungen von Versailles teilnahm, lieferte er ein Portrait der beteiligten Staatsmänner, die nicht einsahen, dass ein Land, das gemolken werden soll, nicht vorher ruiniert werden darf. Über den rhetorisch glänzenden britischen Premier Lloyd George urteilte er: „Wenn er allein in seinem Zimmer ist, ist keiner da.“ Und dem französischen Ministerpräsidenten Clemenceau gedachte er die Charakteristik zu: „Er hatte eine Illusion – Frankreich; und eine Desillu- 17 Die Darstellung seines Lebens folgt P. Strathern (2003), S. 263–288. Die folgenden Zitate entstammen diesem Beitrag und werden im Fließtext in Klammern belegt. Das Paradigma theologischer Reflexion 21 sion – die Menschheit.“ (272) Glasklar prognostizierte er die Folgen des Friedensvertrages. Deutschland war zu Reparationszahlungen in Höhe von 24 Milliarden Pfund verurteilt worden, aber maximal zur Zahlung von zwei Milliarden Pfund fähig. Keynes prognostizierte eine Depression in Europa, die in Deutschland bis zu einer Hungersnot ausarten werde. Warnend formulierte er „Die Menschen sterben nicht immer leise“ (273) und wies damit auf den Nährboden des Radikalismus hin. An die Stelle überhöhter Reparationen setzte Keynes verkraftbare Belastungen und erhob die Forderung nach einer europäischen Freihandelszone, damit sich die Wirtschaft auf dem gesamten Kontinent erholen konnte. Realitätssinn, Vision und Sachverstand kamen bei Keynes zusammen, gepaart mit einem Sinn für die Pointe. Als man ihn am Ende seines Lebens befragte, was er am meisten bedauere, antwortete er, dass „er zu wenig Champagner getrunken“ (268) habe. Immerhin konnte er zu diesem Zeitpunkt auf ein ausgesprochen spannendes Leben zurückschauen. Im Alter von nur 25 Jahren wurde er nach Cambridge berufen, auf einen Lehrstuhl für Wirtschaftswissenschaften, für den der studierte Mathematiker und Moralwissenschaftler gar keine Ausbildung hatte. Nach seiner glänzenden Analyse des Friedensvertrages stieg sein politischer Einfluss stetig. Er beriet die britische Regierung während des 2. Weltkrieges als wichtigster Berater für Wirtschafts- und Finanzfragen, wurde Direktor der Bank von England und 1942 zum Lord geadelt. Noch im Krieg wurde er zum Architekten der neuen internationalen Wirtschaftsordnung und war 1944 einer der Väter der legendären Konferenz von Bretton Woods, die mit ihrem festen Wechselkurs, der Gründung der Weltbank und des internationalen Währungsfonds der erste ernsthafte Versuch einer Regelung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in einer sich immer dichter vernetzenden Welt war. John Maynard Keynes ist es mit zu verdanken, dass in den 25 Jahren, in denen die Vereinbarungen von Bretton Woods ihre Gültigkeit behielten, die Arbeitslosigkeit weltweit geringer war als in jeder anderen Periode des letzten Jahrhunderts und die Weltwirtschaft in einem rasanten Tempo wuchs. Vom Leben verstand Keynes nicht nur in Wirtschaftsfragen etwas. Er hatte eine der besten Kunstsammlungen, nannte u.a. einen Matisse und einen Cézanne sein eigen. 20 Jahre lang lebte er seine homosexuelle Orientierung aus, relativ offen und nur 10 Jahre nachdem Oscar Wilde für seine Neigung neben der öffentlichen Ächtung auch noch für zwei Jahre ins Zuchthaus gegangen war. Mit über 40 Jahren verliebte er sich in eine 20 Jahre jüngere russische Ballerina, mit der er dann eine den Zeitzeugen zufolge glückliche und liebevolle Ehe führte. An Mut hat es ihm auch nie gefehlt: 1914 verwei- 22 Menschen in Führung. Führungsfragen in diakonischen Unternehmen gerte er bei Ausbruch des 1. Weltkrieges den Kriegsdienst aus Gewissensgründen. Es gibt genügend Gründe, von diesem John Maynard Keynes, dessen Namen die meisten nur in attributivem Gebrauch als „keynesianisch“ kennen, fasziniert zu sein. Die Faszination gilt nicht in erster Linie seiner glänzenden Karriere, nicht seinem bunten Lebenslauf und nicht nur seinem beißenden Humor. Eher noch ist Keynes vielleicht deshalb von Interesse, weil er für viele eher links orientierte Ökonomen der personifizierte Ausbruch aus dem Gedankengebäude des Neoliberalismus war. Und noch mehr steht Keynes als Ökonom für das Primat der Politik und für die Gestaltung einer gerechteren Gesellschaft. Die eigene Faszination für Keynes hat, zunächst überraschend, theologische Gründe und hängt mit einem scheinbar banalen Satz von ihm zusammen: „Auf lange Sicht sind wir alle tot!“ (276) Warum dieser Satz in seinem spezifischen Kontext und noch dazu für eine Theologie, für die der Glaube an die Auferstehung in der Mitte steht, fruchtbar gemacht werden kann, soll in einer gedanklichen Reise deutlich werden. Diese Zeitreise beginnt im Jahre 1929. In diesem Jahr brach die New Yorker Börse zusammen. In der Geschichte der Börse ist dies immer wieder geschehen, und jedes Mal erwischte es die Anleger völlig überraschend. Die Folgen für die Weltwirtschaft waren bei diesem Börsencrash allerdings besonders heftig. Der 29. Oktober 1929, an dem die Rekordzahl von 16 Millionen Aktien gehandelt wurde, gilt noch heute als der schwärzeste Tag der Börsengeschichte. Einer der Gründe war, dass der Aktienhandel zum allgemeinen Volkssport geworden war. Allein 300 Millionen Aktien waren auf Kredit gekauft worden, und dies keineswegs nur von gewinnsüchtigen Großspekulanten sondern ebenso auch von den sog. kleinen Leuten. Über Nacht platzten Kredite, aus hohen Buchwerten wurden plötzlich riesige Schuldenlöcher. Nur wenige waren rechtzeitig aus dem Börsenrausch ausgestiegen. Einer der prominentesten war Joseph Kennedy, der gerade noch rechtzeitig seine Millionen in sichere Projekte, vor allem in den Alkoholschmuggel, umschichtete und so das Vermögen schuf, das seinem Sohn den Wahlkampf finanzieren sollte. Den meisten aber ging es nicht so gut. Und noch schlimmer, die Wirtschaft sollte sich auch in den Folgejahren nicht erholen. Bis 1932 fielen die Kurse auf 20% ihres früheren Wertes: 40 Milliarden Dollar Wertverzehr. Fast die Hälfte der amerikanischen Banken ging in Konkurs, 90 000 Unternehmen verschwanden vom Markt. Die Industrieproduktion ging um 50% zurück und ein Drittel der Arbeiter verloren ihren Job. Am Rande der Städte entstanden überall die nach dem Präsidenten, der Amerika Das Paradigma theologischer Reflexion 23 das Ende der Armut versprochen hatte, benannten Hoovervilles, also Slums von unbeschreiblichem Elend. In einer schon damals globalen Welt zogen die Ereignisse schnell weite Kreise. Der wirtschaftliche Aufschwung in Europa nach dem Krieg war nicht zuletzt durch amerikanische Investitionen gestützt. Der gesamte Welthandel ging bis zum Jahre 1933 um 70% zurück. Überall war die Entwicklung desaströs. In Österreich brach die größte Bank, die Credit-Anstalt, zusammen. In Deutschland, das ohnehin noch an der Hyperinflation der 20er Jahre litt, schnellte die Arbeitslosigkeit wieder auf 25% hoch und die Wirtschaft lag komplett darnieder. Überall wurde der Ruf nach starken Männern laut, die mit Deutschland und Italien an der Spitze nicht lange auf sich warten ließen. Für die Wirtschaftswissenschaften war dies die Geisterstunde der neoklassischen Theorie. Seit Adam Smith hatte man sich daran gewöhnt zu glauben, dass die Märkte von einer unsichtbaren Hand regiert würden. Nach dem berühmten Sayschen Theorem ging man davon aus, dass sich das Angebot seine Nachfrage schafft. Man musste nur lange genug dem Spiel der freien Kräfte seinen Lauf lassen, dann würde auch der zyklische Aufschwung wieder seinen Anfang nehmen. – Aber nun dauerte diese Depression schon sechs Jahre und von Verbesserung der Verhältnisse war nichts zu spüren. Auch in den Wirtschaftswissenschaften halten sich Dogmen, selbst wenn sie jedem Augenschein widersprechen. Und so predigten die ökonomischen Apostel des Laissez-faire weiterhin die Bekenntnisse der freien Marktwirtschaft. Ja, im Moment schienen die Gesetze des Marktes außer Kraft, aber auf lange Sicht würden die Arbeitslosen schon wieder einsehen, dass sie ihre Lohnforderungen absenken müssten, um wieder Arbeit zu finden. Und auf lange Sicht würden die Unternehmer ihre Preise senken und so ihre Waren Absatz finden. Auf lange Sicht wäre jeder Eingriff in die natürlichen Marktmechanismen nur schädlich. Auf lange Sicht, in the long run … John Maynard Keynes stellte diesem Glauben an die Selbstheilungskräfte des Marktes entgegen: „In the long run we are all dead.“ Mit einem einzigen Satz entkräftete er die Wirklichkeitswahrnehmung der Selbstheilungskräfte des Marktes. Langfristig regelt sich nicht alles von selbst, langfristig kommt es nicht wie von selbst zu Wachstum und Fortschritt, sondern: Langfristig sind wir alle tot. Am Ende steht nicht die Selbstheilung durch Laissez-faire, sondern Sterben und Vergehen. Auf lange Sicht herrscht der Tod. Gegen diesen Trend des Lebens zum Tod setzte Keynes nun mit aller Verve das Programm der Intervention. Er stellte die gesamte Logik der damals geltenden Wirtschaftswissenschaften auf den Kopf. Nicht das Angebot schafft sich die erforderliche Nachfrage, sondern umgekehrt wird ein Schuh draus: 24 Menschen in Führung. Führungsfragen in diakonischen Unternehmen Die Nachfrage zieht das entsprechende Angebot nach sich. Wenn aber die Nachfrage zurückgeht, wird die Produktion zurückgefahren. Es kommt zu Entlassungen. Entlassene Arbeiter haben aber keine Möglichkeit zu konsumieren. Der zurückgehende Konsum zwingt wiederum die Unternehmer zu erneuten Anpassungen und Entlassungen. Und so beginnt die Spirale, deren erschreckendes Ende die Weltwirtschaftskrise so alltäglich vor Augen führte. – Gegen diese Entwicklung setzte Keynes seinen Ansatz, der auf eine Stärkung der Nachfrage hinauslief, und der als nachfrageorientierte Theorie in die Geschichte eingehen sollte. Ob durch Steuersenkung, Zinsabsenkung, staatliche Investitionen oder vor allem durch Lohnerhöhung sollte die Nachfrage erneut angekurbelt werden, bis die Wirtschaft in Schwung kam. Aus theologischer Perspektive ist weniger interessant, dass die damalige Entwicklung John Maynard Keynes weitestgehend Recht gab. Aus wirtschaftsgeschichtlicher Sicht interessant ist, dass Keynes trotz seiner großen Erfolge den Siegeszug der Vertreter des ökonomischen Laissez-faire nicht verhindern konnte. Für Theologen, anders als für Ökonomen, ist es auch weniger interessant, dass die volkswirtschaftliche Theoriebildung heute weit über Keynes hinausgegangen ist und insbesondere die Fehler seiner dogmatistischen Nachahmer exakt nachweisen kann. Theologisch wegweisend ist das Argumentationsmuster von Keynes. Keynes setzt gegen das Dogma der unsichtbaren Hand von Adam Smith eine andere Wirklichkeitswahrnehmung, genauer eine anthropologische Einsicht von schlichter Evidenz. Der menschliche Tod wird zum korrektiven Paradox gegenüber einer Wirklichkeitssicht, die sich in großartiger Realitätsausblendung dem Konzept einer permanenten Lebenssteigerung verschreibt. Der Referenzrahmen einer dogmatischen Wirklichkeitskonstruktion wird gesprengt durch eine Wahrnehmung aus einem völlig anderen Zusammenhang, die für einen Moment die Frage nach der Wahrheit wieder möglich macht. In diesem Möglichkeitsraum entsteht eine neue Theorie, die ein neues Handeln und eine neue Verständigung möglich macht. Biblisch-theologisch ist dieses Muster bestens bekannt: Zu denken ist hier an die frühe alttestamentliche Prophetie, die den Menschen mitten in einer wirtschaftlichen Blütezeit nicht die Botschaft des Gerichtes erspart. Erinnert sei an die Heilsbotschaft eines Deuterojesaja, der gegen jeden Augenschein das Eingreifen der sichtbaren Hand Gottes zugunsten seines Volkes ankündigt. Zentral ist auch die Botschaft Jesu, die lange vor Keynes den Narren entlarvt, der inmitten seiner unternehmerischen Wachstumsstrategien vom Tod überrascht wird. Es fällt einem die Macht der Bilder, etwa eines neuen Jerusalems, ein, die die Apokalypse des Johannes gegen die Schreckensbilder Das Paradigma theologischer Reflexion 25 eines totalitären Staates setzt. Zu denken ist an den Protest des Paulus, der gegen alle Selbstverbesserungstendenzen linearen Religionsverständnisses die Botschaft der geschenkten und geglaubten Gottesgerechtigkeit setzt. Bei aller Vielfalt der biblischen Stimmen: Ist es nicht der Streit um die Wirklichkeit, ist es nicht die ganz andere Wahrnehmung der Wirklichkeit Gottes, die immer wieder als Korrektiv gegen die dogmatistischen Ausblendungsstrategien menschlicher Wirklichkeitssicht gesetzt wird? Bevor dieses Muster weiter analysiert werden soll, soll zunächst noch einmal die Reise fortgesetzt werden, die vom Jahre 1929 bis in unsere Gegenwart führt. Dabei gilt es, den Vergleichspunkt mit im Blick zu halten, der den Fremdpropheten John Maynard Keynes so attraktiv gemacht hat: Er durchkreuzt die Scheinlogik einer herrschenden ökonomischen Theorie, indem er sie mit einer ganz anderen Wahrnehmung konfrontiert. Er schafft damit den Freiraum, in dem eine andere Verfertigung der ökonomischen Wirklichkeit möglich wird. Diese neue Sicht führt deutlich spürbar in ein verändertes Handeln. Aber auf diesem Weg ist es der Indikativ einer veränderten Sicht und nicht der Imperativ der geforderten Tat, der dem neuen Handeln den Boden bereitet. 1.2.2 Theologie als Normenlieferant Die Zeitreise nimmt ihren Zwischenstopp in einem Sackbahnhof. Sackbahnhöfe sind dadurch gekennzeichnet, dass man sie nicht in exakt der gleichen Richtung verlassen kann, aus der man gekommen ist. Wer auf Sackbahnhöfen darauf besteht, dass die bisherige Fahrtrichtung mit der zukünftigen übereinstimmt, muss schlichtweg stehen bleiben. Wer von Hamburg bis Frankfurt mit seiner Sicht erfolgreich gefahren ist, mag sich sogar im moralischen Recht zu dieser Sichtweise sehen. Nur: Weiter kommt er so nicht. M.E. ist die Wirtschaftsethik konfessioneller Provenienz weitestgehend auf einem Sackbahnhof angekommen. Die Zeit ist vorbei, in der die moralische Bevormundung der Wirtschaft jenseits des schlichten Unverständnisses auch nur die geringste Resonanz erzeugen kann. Aber hier ist es wie in der Metapher des Sackbahnhofs dargelegt: Über lange Zeit war die moralische Begleitung der Wirtschaft ein Weg, bei dem Blick- und Zielrichtung unverändert zueinander bestehen bleiben konnten. Um das zu verstehen, führt uns unsere Zeitreise exemplarisch in das Jahr 1941. Es ist die Zeit, in der in Deutschland die ökonomische Theoriebildung einer ideologischen Verzweckung dienstbar gemacht werden sollte bzw. be- 26 Menschen in Führung. Führungsfragen in diakonischen Unternehmen reits gemacht worden war. Jeder Fachdiskurs war ausgeblendet oder verbannt, und es ergab sich das unheilvolle Konglomerat von planwirtschaftlichen Elementen, nationalistischem Expansionsdrang und einer menschenverachtenden Orientierung der gesamtwirtschaftlichen Zielsetzung. Sofern noch irgendein Rationalitätstypus erkennbar war, war es der der Kriegsmaschinerie, die Gewinn der einen (auch im wirtschaftlichen Sinn) nur als die Folge von Vernichtung anderer sehen konnte. In dieser Zeit waren es nur wenige Wirtschaftswissenschaftler, die den Mut zum Widerspruch hatten. Es gehört zu den gelegentlichen Gesichtsfeldverlusten der Aufarbeitung der Geschichte der Bekennenden Kirche, dass neben den theologischen Vorbildern – etwa dem eines Dietrich Bonhoeffer – die großen Laien der Kirche häufig in Vergessenheit geraten sind, die als Ökonomen, Juristen und Historiker mit großem Mut die Stimme des christlichen Glaubens gegen den auch fachlichen Wahnsinn der nationalsozialistischen Theorie erhoben. Zu dieser Gruppe gehören die Männer des sog. Freiburger Bonhoeffer-Kreises, und unter ihnen an vorderster Stelle Constantin von Dietze (1891–1973), seit 1938 Mitglied im Reichsbruderrat. Als Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft ist sein Beitrag unbestritten. Aber noch wird kaum gesehen, in welchem Dilemma sich dieser brillante Rechts- und Staatswissenschaftler im Jahre des Unheils 1941 befunden haben mag, als er in seinem berühmten Vortrag „Nationalökonomie und Theologie“ die Zeilen formulierte: „Die eigentliche Aufgabe der Theologie besteht dabei in der Feststellung der unabänderlichen, aus Gottes Geboten zu entnehmenden Grundsätze für die wirtschaftliche und soziale Ordnung; dagegen wird ihr nicht zugemutet, die konkreten wirtschaftlichen und sozialen Fragen zu meistern.“18 Diese Zuschreibung der Theologie als exklusive Normenlieferantin nimmt von Dietze, wie er schreibt, als „ein[en] Hilferuf der Nationalökonomie“ wahr, und fügt hinzu: „[E]s ist ein Hilferuf aus innerer Bedrängnis.“19 Zwar sieht er auch die Theologie durch den Nationalsozialismus in eine Bedrängnis gebracht, aber diese ist eine „äußere[.] Bedrängnis“20. Die Theologie mag durch den Nationalsozialismus angefeindet und bedroht sein, in Blick auf die Findung ihrer eigenen Grundlagen sei die Theologie unerschüttert. Die Nationalökonomie dagegen sei in ihren zwei wesentlichen Grundfragen auf die Fundierung durch die Theologie angewiesen. Denn wenn, so Dietze, der Volkswirtschaft „die Versorgung unseres Leibes mit seiner Nahrung und 18 19 20 C. v. Dietze (1947), S. 41. A.a.O., S. 40. Ebd. Das Paradigma theologischer Reflexion 27 Notdurft“21 als eigentlicher Gegenstand aufgegeben ist, dann müsse sie eine Vorstellung vom Menschen haben. Und um die Lenkung des wirtschaftlichen Gesamtzusammenhanges gewährleisten zu können, müsse sie ein Bild der Wirtschaftsordnung haben. Vereinfacht gesagt: Ohne den Beitrag der theologischen Anthropologie und der Schöpfungslehre arbeite die Nationalökonomie ohne eine sichere Basis. Für von Dietze konnte allein die christliche Anthropologie den aktuellen Gefahren einer schwärmerischen Überbewertung des Menschen oder seiner gänzlichen Verteufelung wehren, und allein eine an dem Doppelgebot der Liebe orientierte Wirtschaftsordnung vermochte eine falsche Zielorientierung des Wirtschaftens zu verhindern. Es kann hier nur angedeutet werden, dass von Dietze keineswegs einem naiven Fundamentalismus verfallen war. So grenzte er sich durchaus von dem Missverständnis eines politischen Protestantismus ab und verwies darauf, dass in weniger zugespitzten Zeiten durchaus auch säkularisierte christliche Vorstellungen – oder wie er mit Bismarck sagte „die fossilen Überreste des Christentums der Väter“22 – eine hinreichende Basis für die Nationalökonomie sein können. Aber nun, in der Bekenntnisstunde, bedarf es für ihn des eindeutigen Schulterschlusses einer menschendienlichen Ökonomie mit einer normativen Theologie. Bezogen auf die Zeit des Nationalsozialismus ist die von Dietze vorgenommene Zuordnung von Ökonomie und Theologie eine grandiose Konstruktion. Sie ermöglichte einen einmaligen Bundesschluss, machte eine Kokonstruktion führender Theologen, Staatsrechtler und Ökonomen möglich und legte damit die Basis für die Neuordnung unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der sog. Sozialen Marktwirtschaft. Neben der besonderen geschichtlichen Stunde bestand dabei ein wesentliches Passungselement darin, dass von Dietze mit seinem Ökonomieverständnis die Theologie exakt mit einer Funktion behaftete, die ihrem zumindest in der Dialektischen Theologie vorherrschenden Selbstverständnis entsprach, demzufolge die Theologie ungetrübt von jeder interdisziplinären Relativierung ganz bei ihrer eigenen Sache zu bleiben hatte, um sich nicht in der Bindestrichlogik subjektiver menschlicher Bewusstseinssetzungen zu verlieren. Bis hierhin ist diese Einschätzung frei von jeder beurteilenden Kritik gemeint. Das eigentliche Problem besteht nämlich erst darin, dass dieses in der Bekenntnissituation von 1937 und 1941 hochwirksame Muster nun selbst in 21 22 A.a.O., S. 23. A.a.O., S. 39. 28 Menschen in Führung. Führungsfragen in diakonischen Unternehmen den Bekenntnisstand gehoben wurde. Immer wieder wurden in den Folgejahrzehnten wirtschaftliche Fragen zu Bekenntnisfragen stilisiert und in der unmittelbaren Konfrontation mit vermeintlichen oder tatsächlichen wirtschaftlichen Missständen durch eklektische Gebotsmühlen weiter gemahlen. Und selbst dort, wo man sich in kirchenamtlichen Stellungnahmen zu Wirtschaftsfragen um mehr Mäßigung bemühte, blieb doch das Muster erhalten, nach dem es die eigentliche Aufgabe der Theologie sei, wirtschaftliche Fragen und Entwicklungen auf der Basis einer normativ verstandenen Gebotsethik zu zensieren und so ein moralisches Wächteramt auszuüben. – Aber damit stehen wir eigentlich schon bei einer weiteren Station unserer Zeitreise, die mit dem Jahr 1991 angesetzt werden kann. 1.2.3 Normieren und Verstehen Im Jahr 1991 erschien die Wirtschaftsdenkschrift „Gemeinwohl und Eigennutz“.23 Grundsätzlich gilt es m.E. skeptisch zu sein, wenn etwas von der überragenden Bedeutung kirchlicher Denkschriften geschrieben wird, und sich lieber alsbald der Lektüre der Heiligen Schrift zuzuwenden. Die meisten Denkschriften verdienen nicht einmal den Namen, weil sie nur allfällig Bekanntes verschriftlichen, ohne wirklich Neues zu denken. Wenn hier dennoch die 1991er Denkschrift zu einer Wegmarke deklariert wird, so geschieht dies nicht wegen ihres umwerfenden Neuansatzes, sondern als Symbol eines vollzogenen Musterwechsels, dessen Spuren man bereits in früheren Denkschriften nachweisen kann. Der Musterwechsel besteht schlicht darin, dass man seit 1991 sichtbar die normative Funktion der Theologie nur noch dann beanspruchte, wenn vorher der ernsthafte Versuch gemacht worden war, den ökonomischen Diskurs auch seinerseits zunächst verstanden zu haben. Von 1968 bis 1991 hat es etwa 22 kirchenamtliche Stellungnahmen zu wirtschaftlichen und ordnungspolitischen Fragen gegeben;24 und die Zahl verdoppelt sich noch, wenn man alle Stellungnahmen dazu nimmt, die in ökumenischen Zusammenhängen oder anderen Kooperationen entstanden sind. Jenseits der Bekenntnissituation ist der Kirche also der Vorwurf des Schweigens nicht zu machen. Im Gegenteil: Selbst Kritiker bescheinigen, wie schon erwähnt, der evangelischen Kirche eine „alles überragende[n] Quantität konfessioneller Traktate zur Wirtschaftsethik.“25 Aus23 24 25 Kirchenamt der EKD (1991). Vgl. Kirchenamt der EKD (1991), S. 153–156. J. Meran (1992), S. 50. Das Paradigma theologischer Reflexion 29 gewiesene Wirtschaftsethiker wie der überzeugte Katholik Josef Wieland wundern sich darüber, dass die kirchliche Wirtschaftsethik unter einer „deduktiven Unergiebigkeit“26 leidet, indem sie immer wieder personale Tugenden in Feldern der Unternehmenführung einfordert, ohne damit auch nur den geringsten Effekt zu erzielen. Mit der 1991er Denkschrift wird hier insofern ein Wechsel vollzogen, als nun definitiv das Verstehen von wirtschaftlichen Zusammenhängen zur Voraussetzung für die Beurteilung wirtschaftlicher Erscheinungen gemacht wird. Deutlich wird damit, dass das Diskursmuster, das zu diesem Zeitpunkt schon längst das Verhältnis der Theologie etwa zur Philosophie oder zu anderen Human- und Gesellschaftswissenschaften geprägt hat, nun auch die Beziehungen zur Ökonomie zu prägen beginnt. Deutlich vollzieht die Denkschrift die Positionierung der in Deutschland üblichen ökonomischen Theoriebildung nach, die die doppelte Abgrenzung gegen eine dirigistische Zwangswirtschaft („Extrem des wirtschaftlichen Kollektivs“) und einem liberalistischen Laisser-faire („Wirtschaftsanarchie eines einseitigen und falsch verstandenen Wirtschaftsliberalismus“)27 vertritt. Propagiert wird demgegenüber ein Modell, das einerseits die „freie Initiative der Wirtschaftenden nicht durch ein Übermaß bürokratischer Reglementierungen“ lähmt, noch die Wirtschaft sich selbst oder der Wahrnehmung von Interessengruppen überlässt.28 Entscheidend ist aber nicht schon diese Positionierung, sondern deren Begründung, die über weite Strecken auf normative Deduktionen verzichtet. Auf eine normative Funktion der Theologie wird deshalb nicht verzichtet. Sie richtet sich nun aber nicht mehr grundsätzlich auf eine Systemwahl, sondern auf eine instrumentelle Eingrenzung der die Systeme prägenden Prinzipien. So werden etwa Leistungsgedanke und Wettbewerbsgesichtpunkte zu Instrumenten einer Wirtschaftsordnung, die ihrerseits einer ethischen Gesamtsteuerung bedarf.29 Kritiker haben gegenüber der 1991er Denkschrift eingewandt, dass ihr ökonomischer Kenntnisstand noch nicht wirklich überzeugend ist. Systemtheoretisch ist eingewandt worden, dass funktional ausdifferenzierte Systeme wie Volkswirtschaften keiner einfachen ethischen Steuerung unterliegen.30 Andere haben darauf verwiesen, dass ökonomische Prinzipien wie Wettbe- 26 27 28 29 30 J. Wieland (1992)., S. 198. Vgl. EKD (1991), S. 91; Zitate ebd. Vgl. a.a.O., S. 93; Zitat ebd.. Vgl. a.a.O., S. 9. Vgl. J. Wieland (1992), S. 196f.