»Die Bezugnahme auf Beethoven ist eine so augenscheinliche, daß hier nicht schwächliche unproductive Nachahmung, sondern bewusste Absicht vorausgesetzt werden muss ...« Friedrich Chrysander über Brahms’ Erste Sinfonie, 1878 B5: Do, 12.01.2012, 20 Uhr | A5: So, 15.01.2012, 11 Uhr | Hamburg, Laeiszhalle L4: Fr, 13.01.2012, 19.30 Uhr | Lübeck, Musik- und Kongresshalle Semyon Bychkov Dirigent Martin Helmchen Klavier Robert Schumann Ouvertüre, Scherzo und Finale E-Dur op. 52 Felix Mendelssohn Bartholdy Klavierkonzert Nr. 1 g-Moll op. 25 Johannes Brahms Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 68 DAS ORCHESTER DER ELBPHILHARMONIE In Hamburg auf 99,2 In Lübeck auf 88,0 Weitere Frequenzen unter ndr.de/ndrkultur N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER Das Konzert am 15.01.2012 wird live auf NDR Kultur gesendet Donnerstag, 12. Januar 2012, 20 Uhr Sonntag, 15. Januar 2012, 11 Uhr Hamburg, Laeiszhalle, Großer Saal Foto: Stefano Stefani | gettyimages Freitag, 13. Januar 2012, 19.30 Uhr Lübeck, Musik- und Kongresshalle Die Konzerte des NDR Sinfonieorchesters hören Sie auf NDR Kultur Hören und genießen Dirigent: Solist: Semyon Bychkov Martin Helmchen Klavier Robert Schumann (1810 – 1856) Ouvertüre, Scherzo und Finale E-Dur op. 52 (1841, rev. 1845) I. Ouvertüre. Andante con moto – Allegro II. Scherzo vivo III. Finale. Allegro molto vivace Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1847) Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 g-Moll op. 25 (1830/31) I. Molto allegro con fuoco – II. Andante III. Presto. Molto allegro vivace Pause Johannes Brahms (1833 – 1897) Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 68 (1876) I. Un poco sostenuto – Allegro II. Andante sostenuto III. Un poco allegretto e grazioso IV. Adagio – Più Andante – Allegro non troppo, ma con brio Stefan Wagner Solo-Violine Einführungsveranstaltung mit Habakuk Traber am 12.01.2012 um 19 Uhr im Großen Saal der Laeiszhalle. Mit-Mach-Musik parallel zum Konzert am 15.01.2012 um 11 Uhr in Studio E der Laeiszhalle. 3 N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER Semyon Bychkov Martin Helmchen Dirigent Klavier Seit seiner Emigration aus dem heimatlichen St. Petersburg in den 1970er Jahren ist Semyon Bychkov auf den wichtigsten Konzertpodien und bei den bedeutendsten Orchestern der Welt zu Gast. Gleichermaßen im sinfonischen wie im Opernrepertoire zu Hause, unterhält er langjährige und fruchtbare Beziehungen zu den Orchestern der großen Opernhäuser von London, Paris, Wien, Mailand, Berlin, Chicago und New York. Bychkovs Interpretationen sind in einer Reihe ausgezeichneter CDs und DVDs dokumentiert, die zum großen Teil aus seiner Amtszeit als Chefdirigent des WDR Sinfonieorchesters Köln stammen. Seine Aufnahme von Wagners „Lohengrin“ wurde 2010 „Record of the Year“ des BBC Music Magazine. Bychkovs jüngste Einspielung der „Alpensinfonie“ ist Teil einer Serie von maßstabsetzenden Strauss-Aufnahmen, darunter „Ein Heldenleben“, „Daphne“ mit Renée Fleming oder „Elektra“ mit Deborah Polaski. Ebenfalls mit dem WDR Sinfonieorchester entstanden CDs mit Werken von Mahler, Schostakowitsch und Rachmaninow, den kompletten Brahms-Sinfonien sowie mit Verdis Requiem. 1982 in Berlin geboren, studierte Martin Helmchen bei Galina Iwanzowa an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin und wechselte 2001 zu Arie Vardi an die Musikhochschule Hannover; außerdem nimmt er bei William Grant Naboré sowie bei Alfred Brendel Unterricht. Einen ersten entscheidenden Impuls erhielt seine Karriere, als er 2001 den „Concours Clara Haskil“ gewann. 2006 ermöglichte ihm der „Credit Suisse Young Artist Award“ sein Debüt mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Valery Gergiev. Seither trat Martin Helmchen mit zahlreichen renommierten Orchestern auf, so mit den Berliner Philharmonikern, den Rundfunkorchestern in Frankfurt, Stuttgart, Hannover und Berlin, der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, dem Orchestre de Paris, dem City of Birmingham Symphony Orchestra, dem London Philharmonic Orchestra und dem NHK Sinfonieorchester Tokio; er arbeitete mit Dirigenten wie Marc Albrecht, Herbert Blomstedt, Philippe Herreweghe, Sir Neville Marriner, Kurt Masur, Andris Nelsons und Sir Roger Norrington zusammen. Zwei seiner CD-Aufnahmen wurden mit dem ECHO Klassik ausgezeichnet. In der Saison 2010/11 – der ersten Spielzeit nach dem Ende seiner 13-jährigen Amtszeit beim WDR Sinfonieorchester – dirigierte Bychkov u. a. die Filarmonica della Scala auf einer Tournee durch Asien und Europa, das Concertgebouw Orchester in Europa sowie die Wiener Philharmoniker in den USA. Ferner gastierte er beim Cleveland, Philadelphia und San Francisco Symphony Orchestra, bei den Münchner Philharmonikern und beim Gewandhausorchester 4 Leipzig. In der Saison 2011/12 ist Semyon Bychkov bei den Berliner Philharmonikern, dem Chamber Orchestra of Europe, dem London, Chicago und San Francisco Symphony Orchestra, dem Russian National Orchestra, den Münchner Philharmonikern sowie beim Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI Turin eingeladen. Semyon Bychkov, ein Schüler des legendären Pädagogen Ilja Musin, wurde international während seiner Amtszeit als Music Director des Grand Rapids Symphony Orchestra Michigan und des Buffalo Philharmonic Orchestra bekannt. Nach seiner Übersiedlung nach Paris wurde Bychkov Directeur musical des Orchestre de Paris (1989), Erster Gastdirigent der St. Petersburger Philharmoniker (1990) und des Maggio Musicale Florenz (1992), Chefdirigent des WDR Sinfonieorchesters (1997) und Chefdirigent der Dresdner Semperoper (1998). Martin Helmchen gastiert regelmäßig bei den großen europäischen Sommerfestivals; eine enge Verbindung pflegt er vor allem zur Schubertiade Schwarzenberg. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Kammermusik – eine Leidenschaft, für die Boris Pergamenschikow die wesentlichen Impulse gab. Er musiziert regelmäßig mit Heinrich Schiff, Christian Tetzlaff, Sharon Kam, Juliane Banse, Julia Fischer, Sabine Meyer sowie mit seiner Ehefrau Marie-Elisabeth Hecker. Zu Beginn der Saison 2011/12 gab Martin Helmchen in Tanglewood mit dem Boston Symphony Orchester unter Christoph von Dohnányi sein USA-Debüt. Beim Tonhalle-Orchester Zürich ist er Artist in Residence, mit der Jungen Deutschen Philharmonie unternimmt er eine Deutschlandtournee. Ferner gastiert er diese Spielzeit beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, bei den Philharmonischen Orchestern in Dresden, Rotterdam und Luxemburg, dem Philharmonia Orchestra und dem London Philharmonic Orchestra sowie bei der Academy of St. Martin in the Fields. Mit Soloabenden tritt er in New York, Frankfurt, Zürich, London und Bilbao auf. Seit 2010 unterrichtet Martin Helmchen an der Kronberg Akademie Kammermusik. 5 N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER Beethovens langer Schatten Zu den Werken von Schumann, Mendelssohn und Brahms Vor oder nach Beethoven? – Das ist in Hinblick auf die Entwicklungsgeschichte der Sinfonik eine vieles entscheidende Frage. Gleich einem unüberwindbaren Hindernis lähmte das sinfonische Erbe des Titanen der „Wiener Klassik“ die nachgeborenen Komponisten. In seinen neun Sinfonien hatte Beethoven die Gattung formal, klanglich und inhaltlich vollkommen ausgeschöpft, ja, ihm war der traditionelle Rahmen am Ende bekanntlich sogar selbst zu eng geworden, hatte er in seiner letzten Sinfonie doch bereits neue, vokalsinfonische Wege beschritten. Kein Komponist der folgenden Generationen mochte auf die durch Beethoven zur Königsdisziplin erhobene Gattung verzichten, niemand aber wollte dabei ins Epigonale verfallen – ein Dilemma, welches Robert Schumann in seiner „Neuen Zeitschrift für Musik“ auf den Punkt brachte: „Wenn der Deutsche von Sinfonien spricht, so spricht er von Beethoven: die beiden Namen gelten ihm für eines und unzertrennlich, sind seine Freude, sein Stolz. Wie nun die Schöpfungen dieses Meisters mit unserm Innersten verwachsen, einige sogar der symphonischen populär geworden sind, so sollte man meinen, sie müßten auch tiefe Spuren hinterlassen haben, die sich doch am ersten in den Werken gleicher Gattung der nächstfolgenden Periode zeigen würden. Dem ist nicht so. Anklänge finden wir wohl, […] – Anklänge nur zu viele und zu starke“. Wer als Komponist etwas auf sich hielt, der war insofern gut beraten, entweder zunächst ganz von der Sinfonie Abstand zu halten oder der Gattung wirklich neue Impulse zu liefern. 6 gener verhielt sich da schon das Wunderkind Felix Mendelssohn Bartholdy: Zwar hatte er später bei der Komposition seiner Streichquartette und Sinfonien ebenfalls immer den Prüfstein Beethoven im Blick, doch empfand er offenbar keine Hemmungen, bereits als 15-Jähriger im Jahr 1824 – also noch zu Beethovens Lebzeiten – mit einer ersten Sinfonie auf den Plan zu treten. Für einen eminent selbstkritischen Komponisten wie Johannes Brahms schließlich mussten die von Schumann beschriebenen Zweifel jedoch ins Unermessliche wachsen. Nach der chronologisch letzten Sinfonie Schumanns, der „Rheinischen“ von 1850, verging so rund ein Vierteljahrhundert, bis sich auch Brahms mit einer ersten Sinfonie zu präsentieren traute. Der Komponist war damals bereits 43-jährig – ein Alter, in dem das große Vorbild Beethoven bereits seine siebte Sinfonie vollendet hatte ... Ludwig van Beethoven geriet im 19. Jahrhundert nicht nur für Komponisten zu einem künstlerischen Ideal. Der Brahms-Freund Max Klinger schuf 1902 sein BeethovenDenkmal, das den Komponisten allegorisch als Verkörperung des schöpferischen menschlichen Geistes zeigt Schumann selbst träumte von einem „Ideal einer modernen Sinfonie, die uns nach Beethovens Hinscheiden in neuer Norm aufzustellen beschieden ist“, weshalb er sich konsequent seit frühester Zeit mit sinfonischen Plänen herumtrug. Seit der Entdeckung von Schuberts Großer C-Dur-Sinfonie im Jahr 1839 hatte er sein neues, alternatives Vorbild gefunden und wagte sich – ermutigt durch Schuberts Gegenentwurf – bald mit einem vollgültigen sinfonischen Erstling an die Öffentlichkeit. Unbefan- Robert Schumann, Kreidelithographie von Josef Kriehuber (1839) Weder Sinfonie noch Suite – Schumanns „Ouvertüre, Scherzo und Finale“ op. 52 So lange wie sein späterer Freund Brahms wollte und konnte Robert Schumann – trotz der Angst vor dem Epigonentum – nicht auf seine erste Sinfonie warten. Ihm war sehr wohl bewusst, dass man eine Sinfonie zu komponieren hatte, wenn man als ernstzunehmender Komponist in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden sollte. Zwar trat er in den Jahren 1830 bis 1839 fast ausschließlich als Komponist von Klavierwerken hervor, doch schrieb er bereits als 19-Jähriger an seinen Klavierlehrer und späteren Schwiegervater Friedrich Wieck: „Aber wüßten Sie, wie es in mir drängt und treibt und wie ich in meinen Sinfonien schon bis zu op. 100 gekommen sein könnte, hätte ich sie aufgeschrieben und wie ich mich so eigentlich im ganzen Orchester so recht wohl befinde.“ Drei Jahre später wagte er mit dem tatsächlich aufgeführten Kopfsatz einer g-Moll- Sinfonie (der so genannten „Zwickauer“) einen ersten Vorstoß, doch blieb das Werk anschließend in den Skizzen stecken. Angespornt durch Freunde und seine spätere Frau Clara, die der Überzeu7 N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER gung war, „Du müsstest ein 2ter Beethoven sein“, entstanden dann im nächsten Anlauf, im „Sinfoniejahr“ 1841, in rascher Folge die Erste Sinfonie B-Dur („Frühlingssinfonie“) und die erste Fassung der späteren Vierten Sinfonie d-Moll. Was Schumann sich als Ideal einer modernen „romantischen“ Sinfonie vorgestellt hatte, dass sich nämlich die „Schlag auf Schlag“ wechselnden Ideen dennoch „durch ein inneres geistiges Band verkettet“ zeigen sollten und so die viersätzige Anlage der Sinfonie als zyklische Einheit erscheinen konnte, das verwirklichte er in diesen beiden Werken überzeugend. „Die neueren Symphonien“, so hatte Schumann dagegen zahlreiche Zeitgenossen gerügt, „verflachen sich zum größten Theil in den Ouverturenstyl hinein, die ersten Sätze namentlich; die langsamen sind nur da, weil sie nicht fehlen dürfen; die Scherzo’s haben nur den Namen davon; die letzten Sätze wissen nicht mehr, was die vorigen enthalten.“ – Diese Worte im Ohr, muss es dann umso mehr überraschen, dass Schumann zwischen seinen beiden großen Sinfonien ausgerechnet genau eine solche scheinbar nur lose zusammenhängende Sammlung von Orchesterstücken komponierte: Noch vor der ersten Fassung der d-Moll-Sinfonie entstand vom 12. April bis 8. Mai 1841 sein Werk mit dem – wohl unfreiwillig an die soeben zitierte Passage aus Schumanns kritischem Aufsatz erinnernden – Titel „Ouvertüre, Scherzo und Finale“. Auch wenn Schumann dem Verleger Friedrich Hofmeister die Möglichkeit eröffnete, die drei Sätze auch einzeln aufführen zu können, finden 8 sich zwischen ihnen dennoch motivische Bezüge. So enthält die Coda des „Scherzos“ etwa eine Reminiszenz an das – ein wenig an Mozarts g-Moll-Sinfonie anklingende – Hauptthema der „Ouvertüre“. Mit den ursprünglich erwogenen Titeln „Symphonette“ (was in der Musikgeschichte singulär gewesen wäre!) oder „Suite“ wollte Schumann vermutlich aber gleichfalls klarstellen, dass er dieses Werk mitnichten als Beitrag zur Gattung der ehrwürdigen Sinfonie im emphatischen, von Beethoven geprägten Sinne verstanden wissen wollte. In diese Richtung weist auch sein Kommentar: „Das Ganze hat einen leichten, freundlichen Charakter, ich schrieb es in recht fröhlicher Stimmung“. Dennoch dürfen dergleichen lockere Worte freilich nicht über die kompositorische Ernsthaftigkeit des Werks hinwegtäuschen. Schumann wurde auch hier – zumindest innerhalb der Sätze – dem von ihm selbst proklamierten sinfonischen Anspruch in punkto konzeptioneller Einheit gerecht: Das EinleitungsThema der „Ouvertüre“ wird in der Schlussgruppe der Exposition sowie in der Durchführung dieses Satzes aufgegriffen. Und im „Finale“, dessen Hauptthema als Fugato daherkommt, bildet das rhythmische Moment einen vereinheitlichenden Zug. Formale Weiterentwicklung der „alten Spur“ – Mendelssohns Klavierkonzert Nr. 1 Nicht nur die Entwicklung der Sinfonie, sondern auch diejenige des Klavierkonzerts betrachtete Felix Mendelssohn spielte sein Erstes Klavierkonzert nach der Münchner Uraufführung u. a. in Paris, London und – zu seinem Einstand als neuer Gewandhaus-Kapellmeister – in Leipzig. Das Bild zeigt den Konzertsaal des Gewandhauses um 1840. Ein Jahr später erklang hier auch erstmals die Urfassung von Robert Schumanns „Ouvertüre, Scherzo und Finale“ Robert Schumann in seiner Rolle als Musikschriftsteller wie als Komponist stets mit einem kritischen Auge – auch hier galt es, den von Beethoven vorgelegten Normen zu genügen, im besten Falle über sie hinaus zu wachsen. Bis ein solcher „Genius“ erscheine, so formulierte Schumann 1839, „werden wir noch oft nach jenen älteren Kompositionen greifen müssen, die des Künstlers Gediegenheit am sichersten zu erproben geeignet sind: nach jenen von Mozart oder Beethoven oder, will man endlich Neues zu Gehör bringen, nach jenen, in welchen die alte Spur, namentlich die Beethovensche, mit Glück und Geschick weiter verfolgt ist.“ Felix Mendelssohn Bartholdy war ein Komponist, den Schumann auf genau dieser Spur wandeln sah. An seinen Konzerten lobte er, dass – im Gegensatz zu manchen Zeitgenossen – nicht allein die Zurschaustellung der neuen pianistischen Möglichkeiten im Mittelpunkt stünde, sondern auch „die Form des Konzerts eine kleine Änderung“ widerfahren habe. Gelten die Klavierkonzerte Mendelssohns heute weithin als vornehmlich brillante Virtuosenstücke, so beachtet man deren formale Beson9 N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER derheiten in der Tat umso seltener. Immerhin hielt der Komponist das 1830/31 während eines Rom-Aufenthalts und zu Hause in Berlin geschriebene g-Moll-Klavierkonzert als erstes Werk dieser Gattung – nach nicht wenigen „Studienwerken“ für Klavier(e) und Streichorchester – zur Veröffentlichung für wert genug. Und bei allen erkennbaren Einflüssen durch Carl Maria von Webers Konzertstück f-Moll ist das laut Mendelssohn „schnell hingeworfene Ding“, das vielleicht gar als Liebeserklärung an die 17-jährige Delphine Schauroth (mit der er in München vierhändig Klavier gespielt hatte) aufzufassen ist, alles andere als ein „Durchschnittskonzert“ wie so viele Fingerfertigkeitsbeweise der Zeit. Schon die lose Verknüpfung der üblichen drei Sätze im Sinne einer übergreifenden formalen Einheit ist unkonventionell und lässt an Schumanns (sinfonische) Ideen denken. Aber auch in anderen Punkten entspricht das Werk nicht der traditionellen Konzertform. So fehlt dem 1. Satz die normalerweise am Anfang stehende Orchesterexposition: Ein anrollendes Crescendo als „Vorspann“ genügt – und schon tritt der Solist auf und präsentiert bald auch das markante Hauptthema, das – in Umkehrung der üblichen Rollen – vom Orchester wiederholt wird. Auch das Seitenthema erklingt im Klavier. Dessen suchende, zwischen Dur und Moll changierende Gestalt wird später von einer Geigenlinie bereichert. In der Schlussgruppe überwiegen virtuose Klaviergirlanden über Seitenthema-Bruchstücken, während die Durchführung die Motive aus „Vorspann“ (Oktavfall), Haupt- und Seitenthema im Austausch zwischen Orchester und Solist 10 vermischt. Die äußerst verdichtete Reprise lässt einer auskomponierten Solokadenz und einer virtuosen Coda Platz. Plötzliche Trompetensignale kündigen den Beginn des 2. Satzes an, scheinen vorerst aber eine Irritation auszulösen: Erst nach einem Rezitativ des Klaviers (wohin soll es gehen?) wird das kantable Thema in bemerkenswerter Instrumentation aus Bratschen und Celli (ohne Violinen!) gefunden, das später mit reichen Figurationen umspielt wird. Wiederum läuten Fanfaren den 3. Satz ein, der, ausgehend vom schwungvoll-polonaisenartigen Thema des Klaviers, ein ganzes Feuerwerk kaum unterbrochener Geläufigkeit entfacht. Im Sinne der Einheit kehren im Verlauf Motive aus dem 1. Satz wieder (Oktavfall und Seitenthema), bis schließlich alles in der mitreißend brillanten Coda endet. „Beethovens Zehnte“? – Johannes Brahms’ Sinfonie Nr. 1 c-Moll „Wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen, im Chor und Orchester, ihre Kräfte leihen, so stehen uns noch wunderbare Blicke in die Geheimnisse der Geisterwelt bevor. Möchte ihn der höchste Genius dazu stärken, wozu Voraussicht da ist, da ihm auch ein anderer Genius, der der Bescheidenheit, innewohnt“ – so schrieb abermals Robert Schumann, diesmal im Aufsatz „Neue Bahnen“ von 1853, einer hymnischen Lobrede auf Johannes Brahms. Wie recht er haben sollte, konnte er damals selbst nicht ahnen: Nicht nur bescheiden, sondern auch Johannes Brahms im Jahr 1875 ungemein perfektionistisch war der von ihm gepriesene neue Stern am Komponistenhimmel – und so sollten Schumann jene „wunderbaren Blicke“ schon gar nicht mehr vergönnt sein: Erst nach Schumanns Tod hörte die Öffentlichkeit erstmals, wie es klang, wenn Brahms seinen „Zauberstab“ auch auf das Feld der Sinfonie senkte… Der Grund für diese Verzögerung lässt sich denken: Es war die Ehrfurcht vor Beethoven, die auch Brahms hemmte. Der Gedanke an eine Sinfonie beschäftigte Brahms bereits seit 1855. Vorerst jedoch er- probte er seine „sinfonische Reife“ durch kleinere orchestrale Werke wie etwa die Serenade op. 11. Eine Frühfassung des 1. Satzes der späteren c-Moll-Sinfonie von 1862 verstärkte dann nur das Drängen der Freunde, endlich mit einem Beitrag zu der für „die enthusiastische Wirkung und großes Aufsehen“ (Schumann) eines Komponisten so wichtigen Gattung hervorzutreten. Doch ein Sinfonie-Projekt wollte nach Brahms’ Auffassung besonders gut vorbereitet sein. So ließ er seine Anhänger noch 14 Jahre warten, tastete sich erst über die ebenso anspruchsvolle Komposition etwa der Streichquartette oder des „Deutschen Requiems“ langsam heran, bis er 1876 schließlich seine „Erste“ vorlegen konnte. Was das Publikum der ersten Aufführungen in Karlsruhe und Mannheim zu hören bekam, war ein Werk, das durch seine aufs Finale ausgerichtete „Durch Nacht zum Licht“-Dramaturgie ebenso deutlich etwa an die 3., 5. oder 9. Sinfonie Beethovens anknüpfte (daher auch Hans von Bülows Schlagwort von „Beethovens Zehnter“) wie es sich zugleich – z. B. in der poetischen Introvertiertheit der Mittelsätze – vom Vorbild distanzierte. Schon die frühe Kritik bewunderte die kunstvollen thematischen Entwicklungen, staunte über den 4. Satz, vermisste aber eine spontane Eingängigkeit der übrigen Sätze. Tatsächlich ist die Brahmssche Sinfonie, obwohl sie sich „von der oft verschwommenen Romantik Schumanns“ durch ihre „energische, plastische Ausdrucksweise“ entfernt (Felix Weingartner), dennoch keine massenwirksame Beethovensche „Volksrede an die Menschheit“ (Adorno), sondern vertritt eher eine weitere, mehr nach 11 N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER innen sprechende, oft kammermusikalisch empfundene Gegenposition. Schicksalsträchtig ist die berühmt gewordene Einleitung zum 1. Satz, der man sich mit ihrer gegenläufigen Chromatik (eine Leitidee der gesamten Sinfonie) und dem wie ein Herzschlag pochenden Orgelpunkt der Pauke kaum entziehen kann. Der folgende Sonatensatz ist stark progressiv gestaltet: Sein 1. Thema, dem das beschleunigte Motiv aus der Einleitung vorgeschaltet ist, hat einen inneren Fortschrittsdrang und auch der Dur-Seitensatz entwickelt keine fest umrissene, in sich ruhende Melodie. Den „zärtlichen Anrufen“ von Klarinette und Horn fährt schließlich ein rhythmisch markantes, deutlich an Beethovens Fünfte erinnerndes Dreiachtelmotiv mit „leisen Schlägen an verschlossene Türen“ dazwischen und steigert sich zum „Aufruhr“ – so eine programmatische Auslegung einer zeitgenössischen Rezension. In der Durchführung mündet dieses Motiv in eine choralartige Streicherpassage (was ebenfalls an die besagte Beethovensche c-Moll-Sinfonie denken lässt!), vor der Reprise hämmert sein Rhythmus im vollen Orchester. Die nach- sinnende Coda entwickelt sich allmählich zum versöhnenden, aber noch nicht endgültig wirkenden Dur-Klang. Das warm strömende Thema des 2. Satzes ist durch seine reiche Harmonik geprägt und enthält eine kurze Anspielung auf das Hauptthema des 1. Satzes. Im Gedächtnis bleibt vor allem die gesangliche Melodie der Oboe. Den Mittelteil prägen ausdrucksvolle Steigerungen in den Streichern und Dialoge der Bläser, bevor das 1. Thema in den Bläsern – fast unbemerkt wegen der Streicherumspielungen – wiederkehrt. Die Oboen-Melodie wird diesmal von der Solovioline und dem Horn gesungen. Im Unterschied zu den Sinfonien Beethovens oder Bruckners lässt Brahms nun kein regelrechtes Scherzo folgen, sondern eher ein pastorales, schwereloses Stück im Serenadenton. Die schmeichelnde Klarinettenmelodie wird dabei sehr kammermusikalisch begleitet. Nur das wiederum ein wenig an Beethoven erinnernde Thema des Mittelteils kann sich mit seinen hartnäckigen Ton-Wiederholungen etwas wuchtiger entfalten, wird ganz am Schluss jedoch ebenfalls ins Idyllische verwandelt. „An den Wissower Klinken ist eine schöne Symphonie hängen geblieben“ – so schrieb Johannes Brahms 1876 an seinen Verleger Simrock. Seine Erste Sinfonie hatte er vor allem in den Sommerferien auf Rügen fertig gestellt. Hier Caspar David Friedrichs Zeichnung der Wissower Klinken auf Rügen (1802) 12 Tagen“ – Clara Schumann hatte in dieser Formulierung offenbar vergessen, dass Brahms ihr das Thema bereits 1868 als Gruß aus den Alpen geschickt hatte ... Nach einem leisen Posaunenchoral-Einschub mündet dieses „Alphornthema“ in das hymnische Hauptthema, das nicht zufällig Ähnlichkeiten zum Freudengesang aus Beethovens Neunter aufweist: Wie dort dient der Einzug vokaler Stilmittel – wenn auch hier nicht direkt durch einen Chor – als eine Art Erlösung von Wirrnissen. Nach formal ungewöhnlichem Verlauf (Durchführung und Reprise sind gleichsam miteinander verschmolzen) triumphiert die Coda dann im jetzt volltönenden Choral und durch typisch Beethovensche Schlussfiguren über alles Vorhergehende. Die naturhafte Melodik hat über die entwickelte Komplexität des 1. Satzes gesiegt – und für Brahms war das Eis gebrochen: von seinem großen Vorbild Beethoven hatte er sich letztlich doch befreien können. Julius Heile Die Einleitung zum 4. Satz vermittelt zunächst den Eindruck, der Komponist wisse noch nicht recht, wohin es gehen soll. Das künftige Hauptthema ist schon zu erahnen, doch die merkwürdig beschleunigten Pizzicati der Streicher haben kein echtes Ziel. Erst der Dur-Durchbruch des Hornthemas ist von großartig befreiender Wirkung „wie Frühlingsluft nach langen trüben 13 Konzertvorschau NDR SINFONIEORCHESTER D4 | Fr, 27.01.2012 | 20 Uhr Hamburg, Laeiszhalle Andrey Boreyko Dirigent Yuja Wang Klavier Sergej Rachmaninow Klavierkonzert Nr. 3 d-Moll op. 30 Peter Tschaikowsky Suite für Orchester Nr. 3 G-Dur op. 55 19 Uhr: Einführungsveranstaltung B6 | Do, 09.02.2012 | 20 Uhr A6 | So, 12.02.2012 | 11 Uhr Hamburg, Laeiszhalle Andris Nelsons Dirigent Håkan Hardenberger Trompete Antonín Dvořák Heldenlied – Sinfonische Dichtung op. 111 Rolf Martinsson „Bridge“ – Konzert für Trompete und Orchester Nr. 1 op. 47 Richard Strauss Aus Italien – Sinfonische Fantasie op. 16 C3 | Do, 23.02.2012 | 20 Uhr D5 | Fr, 24.02.2012 | 20 Uhr Hamburg, Laeiszhalle L5 | Sa, 25.02.2012 | 19.30 Uhr Lübeck, Musik- und Kongresshalle Michael Gielen Dirigent Anton Bruckner Sinfonie Nr. 8 c-Moll 23.02.2012 | 19 Uhr 24.02.2012 | 19 Uhr Einführungsveranstaltungen 09.02.2012 | 19 Uhr: Einführungsveranstaltung KAMMERKONZERT Di, 17.01.2012 | 20 Uhr Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio FLUTE MEETS PERCUSSION Jürgen Franz Flöte Thomas Schwarz Schlagzeug Jesús Porta Varela Schlagzeug Stephan Cürlis Schlagzeug Kai Bussenius Schlagzeug Boris Netsvetaev Piano Philipp Steen Kontrabass André Jolivet Suite en concert für Flöte und 4 Schlagzeuger Christopher Rouse Ku-Ka Ilimoku für Schlagzeugensemble Claude Bolling Suite für Flöte, Jazz-Piano, Schlagzeug und Kontrabass Michael Gielen Yuja Wang Andris Nelsons 14 15 Konzerttipp Oper auf Kampnagel – „The stolen smells“ NDR DAS NEUE WERK NDR DAS ALTE WERK Sa, 21.01.2012 | 20 Uhr Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio EIN ABEND FÜR FRIEDRICH HÖLDERLIN NDR Chor James Wood Dirigent Julian Prégardien Tenor Christof Hahn & Bernhard Fograscher Klavier Werke von Michael Langemann (Uraufführung) Jörn Arnecke (Uraufführung) Kaija Saariaho Wilhelm Killmayer Abo-Konzert 4 So, 26.01.2012 | 20 Uhr Hamburg, Laeiszhalle „PER L’ORCHESTRA DI DRESDA“ Concerto Köln Simone Kermes Sopran Werke von Johann Georg Pisendel Antonio Vivaldi Johann Joachim Quantz Georg Philipp Telemann NDR FAMILIENKONZERT So, 22.01.2012 | 14.30 + 16.30 Uhr Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio DER SCHNEEMANN NDR Sinfonieorchester Dave Claessen Dirigent Jens Peter Brose Erzähler Mitglieder des Knabenchors St. Nikolai Eine bezaubernde Geschichte mit Musik von Howard Blake Simone Kermes ab 6 Jahre Das Programm wird in der Reihe „Konzert statt Schule“ wiederholt. Karten im NDR Ticketshop im Levantehaus, Tel. 0180 – 1 78 79 80 (bundesweit zum Ortstarif, maximal 42 Cent pro Minute aus dem Mobilfunknetz), online unter ndrticketshop.de 16 In der Reihe „Das NDR Sinfonieorchester auf Kampnagel“ präsentiert Thomas Hengelbrock in dieser Saison erstmals Musiktheater: Der NDR hat in Koproduktion mit dem Luzerner Theater eine neue Oper bei dem britischen Komponisten, Posaunisten und Dirigenten Simon Wills (*1957) in Auftrag gegeben. Gleich nach der Premiere in Luzern erlebt das Werk in einer halbszenischen Adaption in Hamburg seine deutsche Erstaufführung. Für die Regie auf Kampnagel zeichnet – wie in Luzern – Dominique Mentha verantwortlich. Die Handlung der Oper „The stolen smells“ basiert auf einem grotesk-komischen Märchen aus dem Orient: Ein Bäcker ist mit der Liebesbeziehung seiner Tochter zu einem Poeten nicht einverstanden und bringt letzteren – um ihn irgendwie loszuwerden – als „Dieb“ von Brotduft vor Gericht. Kein Geringerer als der legendäre biblische König Salomo hat sich mit diesem Fall zu befassen – wie wird sein „Salomonisches Urteil“ diesmal wohl aussehen? Simon Wills, der seinen Kompositionsstil selbst als „harmlos semitonal“ bezeichnet, geht dabei einmal mehr seinen Weg abseits dogmatischer Vorstellungen wie neue Musik zu klingen habe: „Lieber ein Feuerwerk anrichten und einfach abfeuern als sich darum sorgen, dass das Schwarzpulver nicht nach dem empfohlenen Rezept gemischt worden sein könnte!“, ist er überzeugt. In seiner „Nocturnal Comedy“ spielen Bewegung, Tanz sowie das kleine (übrigens ohne Violinen auskommende) Orchester eine wichtige Rolle. Die musikalische Struktur bedient sich dabei bekannten Formen der Instrumentalmusik. Thomas Hengelbrock KA2a | Sa, 04.02.2012 | 20 Uhr KA2b | So, 05.02.2012 | 16 Uhr (!) Hamburg, Kampnagel, Jarrestraße 20 Thomas Hengelbrock Dirigent Dominique Mentha Regie Patrick Zielke Bass Szymon Chojnacki Bass-Bariton Marie-Luise Dressen Mezzosopran Madelaine Wibom Sopran Carlo Jung-Heyk Cho Tenor Todd Boyce Bariton Chor der Luzerner Oper Simon Wills „The stolen smells“ Nocturnal Comedy in 9 Bildern (Deutsche Erstaufführung, Auftragswerk des NDR) Koproduktion mit dem Luzerner Theater 17 N D R S I N F O N I EO RC H E S T E R Impressum Saison 2011 / 2012 Herausgegeben vom NORDDEUTSCHEN RUNDFUNK PROGRAMMDIREKTION HÖRFUNK BEREICH ORCHESTER UND CHOR Leitung: Rolf Beck Redaktion Sinfonieorchester: Achim Dobschall Redaktion des Programmheftes: Julius Heile Der Einführungstext von Julius Heile ist ein Originalbeitrag für den NDR. Fotos: Sheila Rock (S. 4) Marco Borggreve (S. 5) akg-images (S. 6) akg-images (S. 7) culture-images | Lebrecht (S. 9) IAM | akg-images (S. 11) akg-images (S. 12) Felix Broede | DG (S. 14 links) Marco Borggreve (S. 14 rechts) Jacques Lévesque (S. 15) Andreas Dommenz (S. 16) Philipp von Hessen (S. 17) NDR | Markendesign Gestaltung: Klasse 3b, Hamburg Litho: Otterbach Medien KG GmbH & Co. Druck: Nehr & Co. GmbH Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des NDR gestattet. 19