MAE1 – Mathematik: Analysis für Ingenieure 1 Dr. Christoph Kirsch Herbstsemester 2016 ZHAW Winterthur Tutorial zum Grenzwert reeller Zahlenfolgen In diesem Tutorial lernen Sie, die logische Aussage in der Definition des Grenzwerts einer reellen Zahlenfolge (Def. 27 der Vorlesung) zu verstehen und damit zu arbeiten: Definition: Die Zahl g ∈ R heisst Grenzwert oder Limes der reellen Zahlenfolge han i, wenn ∀ε > 0 ∃N ∈ N : |an − g| < ε ∀ n ≥ N. (1) Bearbeiten Sie dieses Tutorial bitte in Gruppen zu drei oder vier Personen. Diskutieren Sie untereinander Ihr Vorgehen beim Bearbeiten der einzelnen Aufgaben und versuchen Sie im Falle einer Uneinigkeit, sich gegenseitig von der richtigen Lösung zu überzeugen. Es ist ausserdem nützlich, wenn Sie in der Gruppe einen Laptop mit MATLAB haben. Teil 1 Wir analysieren die logische Aussage (1) “von innen nach aussen” und betrachten als Erstes die Ungleichung |an − g| < ε. (2) Offenbar können wir für eine gegebene Zahlenfolge han i genau dann entscheiden, ob diese Aussage wahr oder falsch ist, wenn die Zahlen n, g und ε gegeben sind. Beispiele: Wir betrachten die reelle Zahlenfolge han i mit dem Bildungsgesetz an := n1 . 1. Wir wählen n := 100, g := 0 und ε := 0.1. In diesem Fall ist die Aussage (2) wahr: 1 1 = 1 < 1 = 0.1 = ε. |an − g| = − 0 = 100 100 100 10 2. Wählen wir hingegen n := 8, g := 0 und ε := 0.1, so ist die Aussage (2) falsch: 1 1 1 1 |an − g| = − 0 = = > = 0.1 = ε. 8 8 8 10 (3) (4) Lösen Sie auf ähnliche Weise die folgenden Aufgaben: Aufgabe 1 : Geben Sie den Wahrheitswert der Aussage (2) für die reelle Zahlenfolge han i mit dem Bildungsgesetz an := 1 − n3 und für die folgenden Fälle an: a) b) c) d) e) f) g) h) i) n := 20, g := 1, ε := 0.1, n := 40, g := 1, ε := 0.1, n := 60, g := 1, ε := 0.1, n := 80, g := 1, ε := 0.03, n := 100, g := 1, ε := 0.03, n := 120, g := 1, ε := 0.03, n := 250, g := 1, ε := 0.01, n := 300, g := 1, ε := 0.01, n := 350, g := 1, ε := 0.01. Wir gewinnen eine neue Erkenntnis, wenn wir für die Zahlenfolge han i aus Aufgabe 1 und für g := 1 die Zahlen 3 3 3 f (n) := |an − g| = 1 − − 1 = − = , n ∈ N, (5) n n n gegen n ∈ N aufzeichnen (d. h. wir zeichnen den Graphen der Funktion f : N → R, f (n) := |an − g|). Damit wir in der Grafik genügend Details erkennen, wählen wir eine doppelt logarithmische Darstellung (loglog in MATLAB): 1 10 1 y = f(n) = |a - g| ǫ = 0.1 ǫ = 0.03 ǫ = 0.01 10 0 y n 10 -1 10 -2 10 -3 10 0 10 1 10 2 10 3 n Offenbar wird jeder der drei Werte ε ∈ {0.1, 0.03, 0.01} unterschritten, wenn n gross genug ist. Dafür muss n desto grösser sein, je kleiner ε ist. Eine weitere wichtige Beobachtung ist, dass eine horizontale Linie nicht mehr überschritten wird, wenn sie einmal unterschritten wurde (f ist eine streng monoton fallende Funktion). Teil 2 Damit kommen wir zur erweiterten Aussage: |an − g| < ε ∀ n ≥ N. (6) Für eine gegebene Zahlenfolge han i können wir genau dann entscheiden, ob die Aussage (6) wahr oder falsch ist, wenn g, ε und N gegeben sind. In Aussage (6) sind wir nicht mehr daran interessiert, ob die Aussage (2) für ein bestimmtes n ∈ N wahr ist, sondern ob sie (für ein gegebenes N ∈ N) für alle n ≥ N wahr ist. Beispiele: Wir betrachten die reelle Zahlenfolge han i mit dem Bildungsgesetz an := n1 . 1 und damit 1. Wir wählen g := 0, ε := 0.1 und N := 20. Sei n ≥ N = 20, dann gilt n1 ≤ N1 = 20 1 1 1 1 1 1 |an − g| = − 0 = = ≤ = < = 0.1 = ε. n n n N 20 10 (7) Dies gilt für jedes n ≥ N = 20, also ist die Aussage (6) wahr. 2. Wählen wir hingegen g := 0, ε := 0.1 und N := 5, so ist die Aussage (6) falsch, denn es gilt z. B. für n := 7 > 5 = N : 1 1 1 1 = 0.1 = ε. (8) |an − g| = − 0 = = > n n 7 10 Also ist die Ungleichung |an − g| < ε eben nicht für alle n ≥ N = 5 erfüllt, und damit ist die Aussage (6) falsch. 2 Lösen Sie auf ähnliche Weise die folgenden Aufgaben: Aufgabe 2 : Geben Sie den Wahrheitswert der Aussage (6) für die reelle Zahlenfolge han i mit dem Bildungsgesetz an := 2−n n und für die folgenden Fälle an: a) g := −1, ε := 0.01, N := 110, b) g := −1, ε := 0.01, N := 201, c) g := −1, ε := 0.01, N := 342. Wie wir in Aufgabe 2 gesehen haben, kann die Aussage (6) durchaus für mehrere Werte von N ∈ N wahr sein. Aufgabe 3 : Bestimmen Sie für die folgenden Zahlen(folgen) Werte N ∈ N, so dass die Aussage (6) wahr ist: a) han i mit Bildungsgesetz an := 1 n, g := 0, ε := 0.01, b) han i mit Bildungsgesetz an := 1 − n3 , g := 1, ε := 0.1, c) han i mit Bildungsgesetz an := 2−n n , g := −1, ε := 0.05. Hinweis: Zeichnen Sie jeweils den Graphen der Funktion f : N → R, f (n) := |an − g|, n ∈ N, in einer doppelt logarithmischen Darstellung. Teil 3 Wir erweitern die Aussage (6) noch einmal zu ∃N ∈ N : |an − g| < ε ∀ n ≥ N. (9) Für eine gegebene Zahlenfolge han i können wir genau dann entscheiden, ob die Aussage (9) wahr oder falsch ist, wenn g und ε gegeben sind. In Aussage (9) sind wir nicht mehr daran interessiert, ob die Aussage (6) für ein bestimmtes N ∈ N wahr ist, sondern ob überhaupt ein N ∈ N existiert, so dass sie wahr ist. Beispiele: Wir betrachten die reelle Zahlenfolge han i mit dem Bildungsgesetz an := n1 . 1. Wir wählen ausserdem g := 0 und ε := 0.01. Aus Aufgabe 3a) wissen wir, dass die Aussage (9) wahr ist, denn es gilt z. B. für N := 110 mit n ≥ N (⇒ n1 ≤ N1 ): 1 1 1 1 1 1 |an − g| = − 0 = = ≤ = < = 0.01 = ε. (10) n n n N 110 100 Dies gilt für jedes n ≥ N , also ist die Aussage (6) wahr für N = 110 ∈ N. Damit ist auch die Aussage (9) wahr, denn wir haben ja ein N ∈ N mit der gewünschten Eigenschaft explizit angegeben, also existiert ein solches N . Wenn die Aussage (9) wahr ist, dann ist es also relativ einfach, dies nachzuweisen, indem man ein N ∈ N mit der gewünschten Eigenschaft sucht. 2. Ist die Aussage (9) hingegen falsch, so ist es nicht mehr so einfach, dies nachzuweisen: wir müssten in diesem Fall zeigen, dass kein N ∈ N mit der gewünschten Eigenschaft existiert, und Nichtexistenz ist meistens schwieriger nachzuweisen als Existenz. Mit einer grafischen Darstellung kann man es meist relativ leicht erkennen. Wir zeichnen wieder die Graphen der Funktionen f : N → R, f (n) := |an − g| = n1 − g , n ∈ N, für verschiedene Werte von g: 3 10 0 g=0 g = 0.05 g = 0.03 ǫ = 0.01 f(n) 10 -1 10 -2 10 -3 10 -4 10 0 10 1 10 2 10 3 n Offenbar ist die Aussage (9) mit ε := 0.01 für einige Werte von g falsch, denn es gilt z. B. für g = 0.05: 1 1 |an − g| = − 0.05 = 0.05 − ≥ 0.01 = ε, ∀ n ≥ 25, (11) n n und für g = 0.03 gilt 1 1 |an − g| = − 0.03 = 0.03 − ≥ 0.01 = ε, n n ∀ n ≥ 50. (12) Für diese Werte von g und ε kann daher kein N ∈ N existieren, für das die Aussage (6) wahr wäre, und damit ist auch Aussage (9) falsch. Lösen Sie auf ähnliche Weise die folgenden Aufgaben: Aufgabe 4 : Geben Sie den Wahrheitswert der Aussage (9) an für die reelle Zahlenfolge han i mit dem Bildungsn gesetz an := 2n−1 und für die Zahlen a) g = 1/2, ε = 0.1, b) g = 5/9, ε = 0.1, c) g = 5/9, ε = 0.01. Aus den Aufgaben 4b) und c) erkennen wir, dass für ein festes g die Aussage (9) wahr oder falsch sein kann je nachdem, was der Wert von ε ist. Teil 4 Damit kommen wir zur ursprünglichen Aussage (1): ∀ε > 0 ∃N ∈ N : |an − g| < ε ∀ n ≥ N. (1) Für eine gegebene Zahlenfolge han i können wir genau dann entscheiden, ob die Aussage (1) wahr oder falsch ist, wenn g gegeben ist. In Aussage (1) sind wir nicht mehr daran interessiert, ob die Aussage (9) für ein bestimmtes ε > 0 wahr ist, sondern ob sie für alle ε > 0 wahr ist. Es darf also kein einziges ε > 0 existieren, für das die Aussage (9) falsch ist. Dies ist wiederum ein Nachweis von Nichtexistenz und damit i. A. schwierig, denn es ist ja nicht möglich, alle (überabzählbar unendlich vielen) Werte von ε > 0 durchzuprobieren. Daher führen wir den Beweis für ein beliebiges ε > 0 und versuchen, dafür explizit ein N ∈ N zu konstruieren, wie im folgenden Beispiel 1 gezeigt: 4 Beispiel: Wir betrachten die reelle Zahlenfolge han i mit dem Bildungsgesetz an := 1 n. 1. Wir wählen g := 0. Dann ist die Aussage (1) wahr: Sei ε > 0 gegeben. Es gilt 1 1 1 1 (13) |an − g| = − 0 = = < ε ⇔ n > . n n n ε Wir wählen also z. B. N := 1ε + 1 > 1ε > 0, wobei die Klammer ⌈ · ⌉ das (Auf-)Runden zur nächstgrösseren ganzen Zahl bezeichnet. Für diesen Wert von N (der von ε abhängt!) ist die Aussage (6) wahr. Damit ist auch die Aussage (9) wahr. Weil ε > 0 beliebig war, können wir ein solches N für jedes ε > 0 konstruieren, und damit ist die Aussage (9) wahr für jedes ε > 0. Also ist die Aussage (1) wahr, und g = 0 ist der Grenzwert der reellen Zahlenfolge h n1 i. 2. Wählen wir hingegen g := 0.01, dann ist die Aussage (1) falsch. Zum Beweis müssen wir nur ε > 0 klein genug wählen, so dass die Aussage (9) falsch ist. Wählen wir z. B. ε := 0.003, dann gilt 1 1 1 |an − g| = − 0.01 = 0.01 − ≥ > 0.003 = ε ∀ n ≥ 150. (14) n n 300 Für dieses ε kann also kein N ∈ N existieren, für das die Aussage (6) wahr ist, und damit ist die Aussage (9) falsch. Offenbar ist also die Aussage (9) eben nicht für alle ε > 0 wahr, und deswegen ist die Aussage (1) falsch. g = 0.01 ist also nicht der Grenzwert der reellen Zahlenfolge h n1 i. Lösen Sie auf ähnliche Weise die folgenden Aufgaben: Aufgabe 5 : Beweisen oder widerlegen Sie die folgenden Aussagen: a) g := 1 ist der Grenzwert der reellen Zahlenfolge h1 − n3 i, b) g := −1 ist der Grenzwert der reellen Zahlenfolge h 2−n n i, n i. c) g := 5/9 ist der Grenzwert der reellen Zahlenfolge h 2n−1 Schlussbemerkung Wenn Sie für eine gegebene Zahlenfolge han i eine Vermutung haben, welche Zahl g ∈ R ihr Grenzwert sein könnte, dann können Sie dies mit den aus diesem Tutorial gelernten Methoden beweisen oder widerlegen. Haben Sie hingegen keine Ahnung, was der Grenzwert der reellen Zahlenfolge sein könnte, dann kann es sehr schwierig sein, diesen exakt zu bestimmen. Besonders schwierig wird es, wenn der Grenzwert g eine komplizierte rationale oder gar irrationale Zahl ist (falls der Grenzwert eine einfache rationale Zahl ist, so kann man ihn vielleicht schätzen durch Zeichnen der Folgenglieder auf der reellen Achse). Deshalb werden wir uns in der Analysis oft damit zufrieden geben, dass eine reelle Zahlenfolge überhaupt einen Grenzwert hat, also konvergent ist (Def. 28 der Vorlesung): Definition: Eine reelle Zahlenfolge han i heisst konvergent, wenn sie einen Grenzwert g ∈ R besitzt. Andernfalls heisst die reelle Zahlenfolge han i divergent. Für Konvergenz wird lediglich die Existenz des Grenzwerts gefordert, d. h. der Wert von g ∈ R braucht nicht bekannt zu sein! Um Konvergenz oder Divergenz einer reellen Zahlenfolge nachzuweisen gibt es einige sog. Konvergenzkriterien, wie z. B. das Monotoniekriterium (Satz 9 der Vorlesung) oder das CauchyKriterium (Satz 10 der Vorlesung). 5