Kants Rechtstheorie vom Weltfrieden. Zwischen apriorischen

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Kants Rechtstheorie vom Weltfrieden.
Zwischen apriorischen Rechtsprinzipien und politischer Praxis
Dissertation
zur
Erlangung des akademischen Grades
Doktor der Philosophie
in der Philosophischen Fakultät
der Eberhard Karls Universität Tübingen
vorgelegt von
Frédéric Rimoux
aus
Wissembourg (Frankreich)
2015
Gedruckt mit Genehmigung der Philosophischen Fakultät
der Eberhard Karls Universität Tübingen
Dekan: Prof. Dr. Jürgen Leonhardt
Hauptberichterstatter: Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Otfried Höffe
Mitberichterstatter: Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Kristian Kühl
Tag der mündlichen Prüfung: 26. Juli 2012
Universitätsbibliothek Tübingen, TOBIAS-lib
Meinen Eltern in Liebe und
Dankbarkeit gewidmet
DANKSAGUNG
Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung meiner im Sommer 2012 an der
Philosophischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen eingereichten
Promotionsschrift. Eine Dissertation parallel zu meinen beruflichen Tätigkeiten zu verfassen,
war für mich eine nicht immer einfache Aufgabe. Dieses Vorhaben ist mir nur gelungen, da
ich vielerseits außerordentliche Unterstützung bekommen habe, für die ich mich auf dieser
Seite bedanken möchte.
Zunächst einmal möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Volker Gerhardt bedanken, ohne
dessen Ermutigung aus meinen früheren Arbeiten eine Dissertation zu schreiben, ich
vermutlich niemals diese Arbeit begonnen hätte. Die vorliegende Promotionsarbeit entstand
unter der wissenschaftlichen Betreuung von Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Otfried Höffe, dem
mein herzlichster Dank für seine beratende Unterstützung und seine zahlreichen anregenden
Hinweise gilt. Besonderen Dank schulde ich auch Herrn Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Kristian Kühl
für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens und die kritischen Anmerkungen zu meiner
Arbeit, welche mich zu weiteren Überlegungen veranlasst haben.
Ebenfalls bedanke ich mich bei meiner Familie und meinen Freunden, die trotz meiner
zurückgezogenen Lebensweise in den vergangenen Jahren immer viel Verständnis für mich
aufgebracht haben. Insbesondere möchte ich mich aufrichtig bei Nadezda Perunovic und Dr.
Christian Sigmund bedanken, weil sie mich in vielfältiger Weise bei dem Zustandekommen
dieser Arbeit unterstützten. Ihre Unterstützung war sehr wichtig für mich und wurde von
meiner Seite immer mit einem Gefühl tiefer Dankbarkeit wahrgenommen.
Meinem Großvater, Marcel Rimoux, bin ich unendlich dankbar für die Liebe und die
Fürsorge, die er mir all die Jahre gegeben hat. Großen und herzlichen Dank gilt vor allem
meinen Eltern, Alain und Erika Rimoux, für ihre kontinuierliche Unterstützung und
Ermutigung. Ich bin ihnen von ganzem Herzen für alles, was sie mir auf dem Weg
mitgegeben haben dankbar sowie für jegliche Unterstützung von ihrer Seite: Sei es ihre
logistische Hilfe oder für ihr Zuhören, ihren über all die Jahre anhaltenden Glauben an mich
sowie auch für die Geduld und das Verständnis, welches sie mir entgegengebracht haben.
Die größte Geduld hat jedoch meine geliebte Ehefrau, Stéphanie Rimoux, bewiesen.
Sie hat mich nicht nur bei der Korrektur des Manuskripts tatkräftig unterstützt, sondern hat
auch ausgesprochen viel Verständnis dafür aufgebracht, dass ich den größten Teil unserer
gemeinsamen freien Zeit mit meiner Doktorarbeit verbringen musste. Sie hat mir auch in
dieser wenig geruhsamen Phase stets Mut gemacht und ist gerade in den schwierigsten Zeiten
immer stark an meiner Seite gestanden. Für all dies möchte ich ihr nochmals meine tiefste
Dankbarkeit aussprechen.
Paris, in Mai 2014
Frédéric Rimoux
INHALT
ZITIERWEISE UND ABKÜRZUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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HAUPTTEIL A: KANTS VERNUNFTRECHTLICHE BEGRÜNDUNG EINER FRIEDENSFÄHIGEN
WELTORDNUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. KAPITEL: KANTS VERNUNFTBEGRÜNDUNG DES ÖFFENTLICHEN RECHTS . . . . . . . . . . . . . .
1. Der praktische Freiheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 Die doppelte Gestalt des Menschen als ein mit praktischer Vernunft begabtes
Naturwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2 Die Lehre der doppelten Gesetzgebung der praktischen Vernunft . . . . . . . . . . .
1.3 Die Konstitution des juridischen Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Der Vernunftbegriff des Rechts und die Befugnis zu zwingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Das Recht der Menschheit und die allgemeine Einteilung der Rechtspflichten . . . . .
3.1 Das angeborene Recht der Menschheit in der eigenen Person . . . . . . . . . . . . .
3.2 Kants Neuinterpretation der ulpianischen Formeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3 Der systematische Stellenwert der inneren Rechtspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Die notwendige Möglichkeit des Privatrechts in Ansehung äußerer Gegenstände . .
5. Der Beweis der Notwendigkeit des öffentlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.1 Der Naturzustand der Menschen als Vernunftidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2 Die Idee des ursprünglichen Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.3 Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. KAPITEL: DIE NOTWENDIGEN RECHTSSCHRITTE AUF DEM WEG ZUM EWIGEN FRIEDEN
1. Die Präliminarartikel: Die negativen Bedingungen der Möglichkeit des ewigen
Friedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 Systematische Einordnung der Präliminarartikel im Rahmen der Kantischen
Rechtstheorie vom Weltfrieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2 Erster Präliminarartikel: Das Verbot des geheimen Vorbehalts bei
Friedensschlüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3 Zweiter Präliminarartikel: Das Verbot des Erwerbs eines für sich
bestehenden Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.4 Dritter Präliminarartikel: Das Verbot des stehenden Heeres . . . . . . . . . . . . . . . .
1.5 Vierter Präliminarartikel: Das Verbot der Staatsschulden für äußere
Konflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.6 Fünfter Präliminarartikel: Das Verbot der gewalttätigen Einmischung in die
inneren Angelegenheiten eines anderen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.7 Sechster Präliminarartikel: Das Verbot friedensverhindernder Handlungen . .
2. Die Definitivartikel: Die positiven Rechtsbedingungen der Möglichkeit des ewigen
Friedens unter Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Erster Definitivartikel: Das Recht in den jeweiligen Staaten . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Zweiter Definitivartikel: Das Recht der Staaten im Verhältnis zueinander . . .
2.3 Dritter Definitivartikel: Das Recht des Weltbürgers jenseits des eigenen
Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4 Über das Verhältnis der Definitivartikel zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. KAPITEL: DER POLITISCHE REALITÄTSSINN DER KANTISCHEN RECHTSTHEORIE VOM
WELTFRIEDEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Die juridische Legalität als notwendige und hinreichende Bedingung der
Möglichkeit des ewigen Friedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 Die Einschränkung der juridischen Forderungen auf die Legalität der
Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2 Das Gedankenexperiment bezüglich des Volks von Teufeln . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3 Die mit Verstand begabten selbstsüchtigen Teufel und der Mechanismus der
Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Über das Böse in Kants Rechtstheorie vom Weltfrieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Kants Lehre vom radikalen Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Die durch Erfahrung bestätigte Universalität des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3 Das Böse im Verhältnis der Völker und die weiterbestehende Möglichkeit
des Friedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
HAUPTTEIL B: KANTS LEHRE VON DER POLITIK UND DAS PROBLEM DER ANWENDUNG
DER VERNUNFTPRINZIPIEN AUF DIE ERFAHRUNGSFÄLLE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. KAPITEL: ZUM VERHÄLTNIS VON MORAL, RECHT UND KLUGHEIT IN KANTS
RECHTSTHEORIE VOM WELTFRIEDEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Kants Definition der Klugheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Kants Lehre von den hypothetischen Imperativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Die Unterscheidung zwischen kategorischem und hypothetischem Imperativ .
2.2 Die Unterscheidung zwischen technischem und pragmatischem Imperativ . . .
3. Kants Ablehnung des Anspruches der Politik auf Autonomie . . . . . . . . . . . . . .
3.1 Der Anspruch der Politik auf Unabhängigkeit von Moral und Recht . . . . . . . . .
3.2 Kants Zurückweisung des Anspruches der Politik auf Autonomie . . . . . . .
4. Die geltungstheoretische Abhängigkeit der Politik von der Moral sowie dem Recht
4.1 Kants Bestimmung der Politik als ausübende Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2 Kants Gegenüberstellung von moralischer Politik und politischem
Moralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Kants Zurückweisung eines despotisierenden Moralismus in der Politik . . . . . . . . . . .
6. Die Einhaltung der Rechtspflichten als Gebot der Sittlichkeit sowie als Ratschlag
der Klugheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1 Die Einhaltung der Rechtspflichten ist möglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.2 Die Einhaltung der Rechtspflichten ist klug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. KAPITEL: ÜBER DEN SYSTEMATISCHEN STELLENWERT DER URTEILSKRAFT INNERHALB
KANTS RECHTSTHEORIE VOM WELTFRIEDEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Das Problem des unendlichen Regelregresses und der Versuch, die Urteilskraft für
Kants praktische Philosophie zu rehabilitieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 Das Problem des unendlichen Regelregresses in Kants praktischer
Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2 Das Risiko der Willkür bei der Anwendung der Vernunftprinzipien . . . . . . . . .
1.3 Kants scheinbare Abwertung der Urteilskraft und die Versuche, jene für
seine praktische Philosophie zu rehabilitieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Die Bedeutung der reinen praktischen Urteilskraft für die Beurteilung der
Prinzipien der Moralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Die Aufgabe der praktischen Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Der Widersinn der praktischen Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3 Das Naturgesetz als Typus des Sittengesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Die Bedeutung der erfahrungsgeschärften Urteilskraft bei der Anwendung der
Vernunftprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1 Das Problem der Identifikation einer moralischen Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2 Das Problem der konkreten Erfüllung der Rechtspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3 Das Problem der Abwägung einander entgegengesetzter Prinzipien . . . . . . . . .
4. Die Vereinbarkeit von absoluter Verbindlichkeit universeller Vernunftprinzipien
und individuellen Einzelfallentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1 Die fallgerechte Anwendung der Vernunftprinzipien als eine
kontextabhängige und kreative Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2 Die zwei Fallklassen möglich auftretender Anwendungsfehler . . . . . . . . . . . . . .
4.3 Die Urteilskraft als ein nicht lehrbares, jedoch durch Erfahrung zu
verbesserndes Vermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Über das Verhältnis von Philosophie und Politik bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. KAPITEL: DAS PROBLEM DER WIDERSPRUCHSFREIEN ANWENDUNG DER APRIORISCHEN
RECHTSPRINZIPIEN IN DER POLITISCHEN WIRKLICHKEIT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Das Problem der Pflichtenkollision am Beispiel Kants rechtsphilosophischer
Erörterung der Lüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 Kants Definition der Lüge: Die Unterscheidung von „Wahrheit“ und
„Wahrhaftigkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2 Kants Antwort auf Benjamin Constant in der Schrift Über ein vermeintes
Recht, aus Menschenliebe zu lügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3 Kants Argumentation zum rechtsphilosophischen Problem der Lüge in den
weiteren Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.4 Das Problem der Pflichtenkollision am Beispiel des Lügenverbotes und des
Hilfsgebotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Kants Erlaubnisgesetze der reinen Vernunft vor dem Hintergrund seiner Theorie
der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Die Widersprüchlichkeit eines Gesetzes in Bezug auf bloß erlaubte
Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Kants Bestimmung und Begründung der Erlaubnisgesetze der reinen
Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3 Kants Ablehnung von Ausnahmen von den praktischen Gesetzen . . . . . . . . . . .
2.4 Die Erlaubnisgesetze der reinen Vernunft und die Gefahr der Willkür . . . . . . .
2.5 Die Erlaubnisgesetze im Zusammenhang mit Kants Reformkonzept . . . . . . . .
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SCHLUSSFOLGERNDE BETRACHTUNG: DIE PUBLIZITÄT ALS PRÜFSTEIN MORALISCHER
POLITIK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ZITIERWEISE
Kants Schriften werden nach den Seitenzahlen der Akademie-Ausgabe zitiert. Kants Schriften
werden durch Abkürzungen angeführt, wobei die erste Zahl sich auf den Band der AkademieAusgabe bezieht und die anschließend durch Komma abgesetzte Zahl sich auf die Seitenzahl
bezieht (z. B. Frieden: VIII, 366). Im Falle der Kritik der reinen Vernunft werden zusätzlich die
Seitenzahlen der ersten (= A) oder der zweiten Auflage (= B) angegeben. Auf sonstige Literatur
wird in den Fußnoten mit Verfassername, Titel, Erscheinungsort und -jahr Bezug genommen.
Mögliche Zusätze, aber auch Auslassungen innerhalb von Zitaten werden in eckigen Klammern
hinzugefügt. Durch solche eckigen Klammern werden ebenfalls grammatische Anpassungen
gekennzeichnet.
ABKÜRZUNGEN
Anfang
Anthropologie
Aufklärung
Frieden
Gemeinspruch
GMS
Idee
KpV
KrV
KUK
Moralphilosophie
Collins
Praktische Philosophie
Powalski
Prolegomena
Reflexion
Religion
RL
Streit
Theodizee
TL
Über die Pädagogik
Verkündigung
Vermeintes Rechts
Vorarbeit
VT
Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (VIII 107-123)
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (VII 117-334)
Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (VIII 33-42)
Zum ewigen Frieden (VIII 341-386)
Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber
nicht für die Praxis (VIII 273-313)
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (IV 385-464)
Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (VIII 1531)
Kritik der praktischen Vernunft (V 1-163)
Kritik der reinen Vernunft (A: IV 1-252; B: III 1-552)
Kritik der Urteilskraft (V 165-485)
Moralphilosophie Collins (XXVIII 237-473)
Praktische Philosophie Powalski (XXVII 91-236)
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft
wird auftreten können (IV 253-384)
Reflexionen (XIX ff.)
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (VI 1-202)
Die Metaphysik der Sitten, I. Teil: Metaphysische Anfangsgründe der
Rechtslehre (VI 203-372)
Der Streit der Fakultäten (VII 1-116)
Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee
(XXIII 255-271)
Die Metaphysik der Sitten, II. Teil: Metaphysische Anfangsgründe der
Tugendlehre (VI 373-492)
Über die Pädagogik (IX 437-500)
Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden
in der Philosophie (VIII 411-422)
Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (VIII 423-430)
Handschriftlicher Nachlaß, Vorarbeiten und Nachträge (XXIII)
Von einem neuerdings erhobenen Ton in der Philosophie (VIII 387-406)
-4-
EINLEITUNG
Das Thema der vorliegenden Arbeit ist Kants Rechtstheorie vom Weltfrieden sowie
das Problem der Anwendung der apriorischen Prinzipien des Rechts auf die Gesamtheit der
Erfahrungsfälle. Die Entscheidung, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, bedarf
jedoch vorab einer sorgfältigen Begründung, da es letzten Endes keinen Mangel an Aufsätzen
und Monographien über Kants Rechtsphilosophie im Allgemeinen und seiner Friedenstheorie
im Speziellen gibt.
a) Die Rehabilitierung der Kantischen Rechtstheorie vom Weltfrieden
In den vergangenen dreißig Jahren hat Kants politische Philosophie eine
bemerkenswerte Aufmerksamkeit gefunden, welche sie in der politischen Ideengeschichte
bisher niemals im selben Ausmaß genossen hatte.1 Kants Friedenstraktat hatte zwar kurz nach
seiner Veröffentlichung europaweit eine beachtliche Rezeption erfahren, aber relativ schnell
und über einen langen Zeitraum hinweg ist jedoch seine politische Philosophie in den
Hintergrund getreten.2 Dies lässt sich aus zwei voneinander unabhängigen Gründen erklären.
Dass Kant mit seiner politischen Philosophie lange nicht dieselbe Beachtung gefunden
hat wie die Kritik der reinen Vernunft und die Kritik der praktischen Vernunft liegt zunächst
darin begründet, dass seine kleineren geschichts- und rechtsphilosophischen Schriften, wie
beispielsweise die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Über
den Gemeinspruch oder Zum ewigen Frieden, herablassend als populärere
Gelegenheitsarbeiten interpretiert worden sind. In diesem Zusammenhang sei lediglich auf die
Vorlesungen Über Kants Politische Philosophie hinzuweisen, welche von Hannah Arendt im
Jahre 1970 gehalten wurden. In diesen Vorlesungen spricht Hannah Arendt den Kantischen
politischen Schriften die „Qualität und Tiefe“3 seiner anderen Werke ab. Der ironische Ton
des philosophischen Entwurfes Zum ewigen Frieden wird zudem als Beleg dafür angeführt,
dass Kant seine bei weitem bedeutendste politische Schrift „nicht zu ernst nahm“.4
Dementsprechend sucht Hannah Arendt die Begründung der Kantischen politischen
Philosophie nicht in der praktischen Vernunft, sondern in der ästhetischen Urteilskraft und
erliegt dabei einer Fehlinterpretation.
Die Rechtslehre galt ihrerseits lange als ein misslungenes Alterswerk, von welchem
sich sogar überzeugte Kantianer enttäuscht abwandten.5 Symptomatisch für die
Geringschätzung der Rechtslehre ist, dass bis vor Kurzem in den juridischen Darstellungen
der Rechts- und Staatsphilosophie nur selten ein Kapitel bezüglich Kants Rechtslehre zu
finden war. Für die Juristen wie auch die Philosophen erschien Kant über eine lange Zeit
1
Wenn wir in Bezug auf Kant von einer „politischen Philosophie“ sprechen, dann wird dieser Ausdruck als
Oberbegriff für Kants Rechts- und Friedenstheorie einerseits sowie seiner Geschichtsphilosophie andererseits
verwendet. Die politische Philosophie Kants bezieht sich sowohl auf die Frage der Bestimmung und Begründung
der apriorischen Prinzipien des Rechts als auch auf die (weniger beachtete) Frage der Anwendung dieser
Prinzipien auf die Erfahrungsfälle. Darüber hinaus beschäftigt sich Kants politische Philosophie mit der Frage,
ob die bisherige Geschichte der Menschengattung zur Hoffnung berechtigt, trotz aller Rückschritte und Umwege
einen allmählichen Fortschritt auf dem Weg zum ewigen Frieden anzunehmen.
2
Vgl. Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt a.
M. 2001, S. 183ff.
3
Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, hrsg. v. Ronald Beiner,
München/Zürich 1985, S. 17.
4
Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, hrsg. v. Ronald Beiner,
München/Zürich 1985, S. 17.
5
Vgl. Ludwig, Bernd: Einleitung, in: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Hamburg 1998, S. XII.
-5-
hinweg als eine Randfigur der Rechtsphilosophie. Er stand dabei im Schatten von anderen
Rechtsphilosophen wie Grotius, Hobbes, Locke, Rousseau oder Hegel. Dies lässt sich im
Wesentlichen auf zweierlei Gründe zurückführen. Erstens: Kants rechtsphilosophisches
Hauptwerk, die Rechtslehre, galt lange als ein Werk von geringer philosophischer Qualität.
Exemplarisch hierfür schreibt Schopenhauer, dass die Rechtslehre eine „sonderbare
Verflechtung einander herbeiziehender Irrtümer“ sei, die sich aus seiner Sicht nur „aus Kants
Altersschwäche“6 erklären lassen. Zweitens: Ein sachlicher Grund für diese verbreitete
Sichtweise liegt bestimmt auch in der äußeren Gestalt der Rechtslehre, die viel Verwirrung
und Ratlosigkeit nach sich gezogen hat. Der Verdacht, dass es sich dabei um ein mit
nachlassenden geistigen Kräften verfasstes Alterswerk Kants handelt, bot eine einfache wie
bequeme Erklärung, welche ihrerseits eine intensivere Beschäftigung mit der nicht immer
einfachen Argumentation der Rechtslehre ersparte.
Lange Zeit vernachlässigt, erfreut sich Kants Rechts- und Friedenstheorie mittlerweile
eines weltweiten und fachübergreifenden Interesses. Selbst wenn die Rechtslehre sich
weiterhin schwerer, und auch nicht immer unberechtigter Kritik ausgesetzt sieht, hat sich die
Einsicht in ihre philosophische Qualität allmählich durchgesetzt. Es wird außerdem
argumentiert, dass die vermeintliche Unzugänglichkeit der Rechtslehre nicht dem
fortgeschrittenen Alter ihres Autors, sondern vielmehr einer verfehlten Drucklegung
verdankt.7
Es hat lange gedauert, bis Kants Rechts- und Friedenstheorie letztlich von den
Kommentatoren verstanden und übernommen wurden. Seit den 1980er Jahren nimmt die Zahl
der Monographien und Aufsätze zur Kants politischen Philosophie jedoch wieder einen
beachtlichen Platz in der Fachliteratur ein. Heute sind sogar Bezugsnahmen auf Kant sowohl
in der politischen Philosophie als auch in der Wissenschaft der internationalen Beziehungen
weitverbreitet. Dass sich Philosophen und Politikwissenschaftler in den letzten Jahrzehnten
wieder Kants politischer Philosophie intensiver zugewandt haben, ist im Wesentlichen zwei
Gründen zuzuschreiben.
Zum einen begann mit dem Erscheinen des Buches A Theory of Justice von John
Rawls im Jahre 1971 ein bis einschließlich heute anhaltender Aufschwung der politischen
Philosophie im Allgemeinen und des politischen Liberalismus im Speziellen. Diese
Renaissance der politischen Philosophie entfaltete sich unter anderem in der Debatte zwischen
Kommunitaristen und Liberalen. Während die Ersteren sich in ihrer Argumentation eher an
Aristoteles orientieren, berufen sich die Zweiten vornehmlich auf Kant.8
Zum anderen diente Kants Friedenstheorie nach dem unerwarteten Ende des OstWest-Konflikts als Bezugspunkt in der Diskussion um die Zukunft der neuen internationalen
Ordnung. Als einer der wichtigsten Vertreter eines normativen Ansatzes der internationalen
Beziehungen wurde Kant zum Gegenstand zahlreicher Diskussion bezüglich normativer
6
Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, Frankfurt a. M., 1986, S. 459f. Die These vom
verfehlten Alterswerk ist aber auch deshalb zurückzuweisen, weil ein massiver Abfall der Arbeitsproduktivität
bei Kant erst zwei Jahre nach Abschluss des Manuskripts der Rechtslehre zu verzeichnen ist. Vgl. Ludwig,
Bernd: Einleitung, in: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, hrsg. v. Bernd Ludwig, Hamburg 1998, S.
XXVII.
7
Bernd Ludwig vertritt die These, dass „der Schrift von 1797 ein auf dem Wege zur Drucklegung verderbtes
Manuskript zugrunde [lag], welches sich mittels philologischer Methoden aus dem überlieferten Text
rekonstruieren lässt“, in: Ludwig, Bernd: Einleitung, in: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre,
Hamburg 1998, S. XXIX.
8
Einen informativen Überblick über diese Fragen bietet Wolfgang Kersting in der beigefügten Einleitung „Kant
und die politische Philosophie der Gegenwart“ seiner Monographie Wohlgeordnete Freiheit. Vgl. Ders.:
Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt a. M. 1984, Paderborn 3.
Aufl. 2007, S. 13-70.
-6-
Probleme der neuen Weltordnung, wie etwa bei Fragen des Interventionsrechts9 oder der
Reform der Vereinten Nationen.10 Die Wiederentdeckung des sogenannten „KantischenTheorems“ bezüglich der Friedfertigkeit der Demokratien führte außerdem zu einer
kontroversen Debatte, welche wie keine in der Wissenschaft der internationalen Beziehungen
dermaßen große Aufmerksamkeit gefunden hat. Die ursprüngliche Behauptung, dass
Demokratien (zumindest gegeneinander) keine Kriege führen, hat bis heute eine erhebliche
Differenzierung, Ausweitung und Fortentwicklung erfahren.11
b) Schwerpunkte und Mängel der jüngeren Literatur zu Kants Rechtstheorie vom
Weltfrieden
Es wurde gesehen, dass Kants Rechts- und Friedenstheorie heute nicht mehr zu
entdecken ist. Die mangelnde Beachtung, unter welcher sie in den 1980er Jahren noch gelitten
hat, hat sich erheblich verbessert. Die Schrift Zum ewigen Frieden ist zusammen mit der
Rechtslehre aus dem Kanon der großen Werke der abendländischen politischen Philosophie
nicht mehr wegzudenken.12 Die Forschung hat beide Schriften ausgiebig diskutiert. Vor allem
um die Zeit des 200. Jahrestages des Erscheinens Kants philosophischen Entwurfes Zum
ewigen Frieden sind weltweit eine Vielzahl von Sammelbänden, Monographien und
Aufsätzen bezüglich Kants Friedenstheorie erschienen.13 In diesen zahlreichen
Veröffentlichungen wurden viele wichtige Aspekte Kants politischer Philosophie diskutiert
und ausgeleuchtet. Viele Mängel der Forschung konnten somit weitgehend behoben werden.
Dazu zählen Themen wie etwa das Kriegsrecht, der Charakter des Völkerrechts, das
9
Siehe die entsprechenden Textstellen in: Hoffmann, Stanley: Duties Beyond Borders. On the Limits and
Possibilities of Ethical International Politics, New York 1981; Rawls, John: The Law of Peoples (with The Idea
of Public Reason revisited), Cambridge (Massachusetts)/London 1999.
10
Vgl. Archibugi, Daniele: From the United Nations to Cosmopolitan Democracy, in: Cosmopolitan
Democracy: An Agenda for a New World Order, hrsg. v. Daniele Archibugi und David Held, Cambridge 1995,
S. 121-162; Albrecht, Ulrich: Kants Entwurf einer Weltfriedensordnung und die Reform der Vereinigten
Nationen, in: Friedenswarte 71, 1995, S. 195-210; Höffe, Otfried: Ausblick: die Vereinten Nationen im Lichte
Kant, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 245-272.
11
In der umfassenden fachwissenschaftlichen Literatur zur sogenannten „Theorie vom demokratischen Frieden“
sei unter anderem auf die folgenden Beiträge hingewiesen: Doyle, Michael W.: Kant, Liberal Legacies and
Foreign Affairs, Part I & II, in: Philosophy and Public Affairs 12(3-4), 1983a-b, S. 205-235 und S. 323-353;
Hasenclever, Andreas: Liberale Ansätze zum Demokratischen Frieden, in: Theorien der Internationalen
Beziehungen, hrsg. v. Siegfried Schieder und Manuela Spindler, Opladen 2003, S. 199-226; Huntley, Wade:
Kant’s Third Image: Systemic Sources of the Liberal Peace, in: International Studies Quarterly 40, 1996, S. 4576; Hurrel, Andrew: Kant and the Kantian Paradigm in International Relations, in: Review of International
Studies 16, 1990, S. 183-205; Moravcsik, Andrew: Taking Preferences Seriously: A Liberal Theory of
International Politics, in: International Organization 51:4, 1997, S. 513-553; Russett, Bruce: Why Democratic
Peace?, in: Debating the Democratic Peace, hrsg. v. Michael Brown, Sean Lynn-Jones, und Steven Miller,
Cambridge 1996, S. 82-115; Russett, Bruce / Starr, Harvey: From Democratic Peace to Kantian Peace.
Democracy and Conflict in the International System, in: Handbook of War Studies, hrsg. v. Manus Midlarsky,
Ann Arbor 2000, S. 93-128.
12
Heute könnte die Rechtslehre nur schwerlich als ein „wenig bedeutendes Werk“ abgewiesen werden, wie
beispielsweise Pierre Hassner es noch vor 50 Jahren gemacht hat. Vgl. Hassner, Pierre: Situation de la
philosophie politique chez Kant, in: Annales de philosophie politique 4, 1962, S. 78.
13
Um nur einige Sammelbände in deutscher Sprache zu nennen: Bialas, Volker/Häßler, Hans-Jürgen (Hrsg.):
200 Jahre Kants Entwurf »Zum ewigen Frieden«. Idee einer globalen Friedensordnung, Würzburg 1996; Höffe,
Otfried (Hrsg.): Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004; Kodalle, Klaus-Michael
(Hrsg.): Der Vernunftfrieden. Kants Entwurf im Widerstreit, Würzburg 1996; Lutz-Bachmann,
Matthias/Bohman, James (Hrsg.): Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen
Weltordnung. Frankfurt a. M. 1996; Merkel, Reinhard/Wittmann, Roland (Hrsg.): »Zum ewigen Frieden«.
Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, Frankfurt a. M. 1996. In französischer
Sprache ist vor allem der folgende Sammelband zu nennen: Laberge, Pierre/Lafrance, Guy/Dumas, Denis
(Hrsg.): L’Année 1795: Kant, Essais sur la Paix, Paris 1997.
-7-
Erlaubnisgesetz oder die Bedeutung der Französischen Revolution für die Kantische
Friedenstheorie.
Im deutschsprachigen Raum hat sich in diesem Zusammenhang vor allem Otfried
Höffe besondere Verdienste erworben, dessen zahlreiche Aufsätze und Monographien seit
mehr als zwanzig Jahren erheblich zur Rehabilitierung der Kantischen Rechts- und
Friedenstheorie beigetragen haben.14 Entsprechendes gilt für die grundlegenden und
umfassenden Werke von Wolfgang Kersting15 oder Reinhard Brandt16. In diesem
Zusammenhang ist ebenfalls auf die prinzipientheoretischen Beiträge von Georg Geismann
unter starker Berufung auf die älteren Schriften von Julius Ebbinghaus hinzuweisen.17 Unter
den zahlreichen Monographien, welche sich umfassend mit Kants Friedensschrift im
Speziellen auseinandersetzen, sind außerdem die Arbeiten von Georg Cavallar18 (von
historischem und rechtsphilosophischem Interesse) und von Volker Gerhardt19 (von
vornehmlich politiktheoretischem Interesse) erwähnenswert.
Trotz weiterbestehender Unterschiede bezüglich der Interpretation besonderer
Aspekten der Friedenstheorie (insbesondere bezüglich des weiterhin kontrovers diskutierten
Völkerrechts), lässt sich eine gewisse Konvergenz der Kant-Literatur feststellen. Der
Kerngedanke der Friedenstheorie lässt sich somit in seinen Grundzügen weitgehend
festhalten: Kants Rechtsphilosophie vom Weltfrieden ist das Ergebnis eines konsequenten
Versuches, die notwendigen Bedingungen gesicherter Rechtsverhältnisse zu bestimmen. Sie
setzt mit dem Naturzustand der Menschen ein, welcher den Charakter eines
Rechtsprovisoriums besitzt, da es keine präzise Bestimmung und keine Garantie für das
innere und äußere Privatrecht gibt und überhaupt geben kann. Um den gesetzlosen
Naturzustand zu überwinden, ist zunächst die Stiftung des Staates unerlässlich. Aber auch mit
der Gründung eines territorial begrenzten Systems öffentlicher Zwangsgesetze ist das
Rechtsprovisorium noch nicht vollständig abgeschafft. Der Einzelstaat bietet selbst nur ein
provisorisches Recht, da er sich mit anderen Seinesgleichen in einem gesetzlosen Zustand
befindet. Aus diesem Grund muss der Verrechtlichungsprozess auf das Verhältnis der Staaten
14
Viele der von Höffe veröffentlichten Monographien und Aufsätze beinhalten jedoch nicht im Titel den Namen
Kants, obgleich sie sich häufig seiner Rechts- und Staatsphilosophie ausführlich widmen. Unter den wichtigsten
davon sind vor allem die folgenden Monographien zu erwähnen: Höffe, Otfried: Lebenskunst und Moral. Oder:
Macht Tugend glücklich?, München 2007; Ders.: Immanuel Kant. Leben - Werk - Wirkung, München 1983, 7.
Aufl. 2007; Ders.: Politische Gerechtigkeit: Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat,
Frankfurt a. M. 2002; Ders.: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie,
Frankfurt a. M. 2001; Ders. (Hrsg.): Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004; Ders.
(Hrsg.): Immanuel Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Berlin 1999; Ders.: Kategorische
Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne, Frankfurt a. M. 1990, 3. Aufl. 1995.
15
Vgl. Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt
a. M. 1984, Paderborn 3. Aufl. 2007; Ders.: Kant. Über Recht, Paderborn 2004.
16
Vgl. Brandt, Reinhard: Immanuel Kant. Was bleibt?, Hamburg 2010, Ders. (Hrsg.): Kant, Anthropologie in
pragmatischer Hinsicht, Hamburg 2000; Ders.: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer
Hinsicht, Hamburg 1999; Ders.: Zu Kants politischer Philosophie, Stuttgart 1997; Ders.: Eigentumstheorien von
Grotius bis Kant, Stuttgart - Bad Cannstatt 1974.
17
Vgl. Ebbinghaus, Julius: Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage, in: Gesammelte
Schriften, Bd. I, Sittlichkeit und Recht. Praktische Philosophie 1929 – 1954, hrsg. v. Hariolf Oberer und Georg
Geismann, Bonn 1986, S. 1-34; Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum
Weltfrieden, Bd. 3, Würzburg 2012; Ders.: Kant und kein Ende, Studien zur Rechtsphilosophie, Bd. 2, Würzburg
2010; Ders.: Kant und kein Ende, Studien zur Moral-, und Religions- und Geschichtsphilosophie, Bd. 1,
Würzburg 2009; Ders.: World Peace: Rational Idea and Reality. On the Principles of Kant’s Political
Philosophy, in: Kant. Analysen – Probleme – Kritik, hrsg. v. Hariolf Oberer, Würzburg 1996, S. 265-319, Ders.:
Kants Rechtslehre vom Weltfrieden, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 37, 1983, S. 363-388.
18
Cavallar, Georg: Pax Kantiana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs »Zum ewigen Frieden«
(1795) von Immanuel Kant, Wien/Köln/Weimar 1992.
19
Gerhardt, Volker: Immanuel Kants Entwurf »Zum ewigen Frieden«. Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995.
-8-
untereinander (Völkerrecht) sowie auf das Verhältnis der Staaten und ihre Staatsbürger zu den
Staatsbürgern anderer Staaten (Weltbürgerrecht) ausgedehnt werden.
Es wäre jedoch verfehlt zu meinen, dass nach allen diesen Fortschritte nichts mehr
Neues in Kants politischer Philosophie zu finden wäre. Wie noch zu sehen sein wird, ist Kants
rechtsphilosophische Rehabilitierung zwar längst auf einem guten Weg angelangt, ihre
politiktheoretische Rehabilitierung muss dagegen noch weiter vollgezogen werden. Selbst
wenn die Kant-Forschung in den letzten Jahrzehnten erhebliche Fortschritte gemacht hat, sind
in der Sekundärliteratur vor allem zwei Mängel erkennbar. In vielen Texten lässt sich
feststellen, dass bei der Diskussion einzelner Aspekte das Gesamtkonzept der Kantischen
politischen Philosophie häufig aus den Augen verloren geht. Kants Rechtsphilosophie vom
Frieden wird häufig auf die Frage der innerstaatlichen Friedensordnung, das heißt auf das
Staatsrecht, reduziert.20
Insbesondere in der Wissenschaft der internationalen Beziehungen kommt Kant häufig
ziemlich verzerrt in Erscheinung. Der Blick wird dermaßen auf den ersten Definitivartikel der
Friedensschrift gerichtet, dass Kants systematische Friedenskonzeption kaum, wenn
überhaupt noch sichtbar wird. Ein näherer Blick auf die Literatur zur Friedenstheorie Kants
lässt außerdem deutlich erkennen, dass es vornehmlich philosophische und
politikwissenschaftliche Fragestellungen und Herangehensweisen gibt.21 So sind
Politikwissenschaftler vor allem an dem praktischen Nutzen und der Anwendbarkeit der
Friedensschrift interessiert. Ausgehend von Kants Definitivartikeln versuchen sie
gesetzmäßige Zusammenhänge herauszuarbeiten sowie kausale Hypothesen zu formulieren,
um diese anschließend empirisch zu testen. Die Friedensschrift wird hier weitgehend
unabhängig von den anderen Schriften Kants zur politischen Philosophie gelesen.
In Abgrenzung dazu greifen Philosophen in größerem Maße auf weitere Schriften
zurück, um dunkle Textstellen zu klären, Entwicklungen in Kants Denken aufzuzeigen und
die gedankliche Stimmigkeit systematisch zu überprüfen. In der Folge gibt es ebenfalls
voneinander weitgehend unabhängige fachspezifische Auslegungen der Kantischen
Friedenstheorie. Diese fachspezifischen Interpretationen sind an sich durchaus legitim, da
Philosophie und Politikwissenschaft nicht nur andere Methoden haben, sondern auch ein
anderes Erkenntnisinteresse verfolgen. Bedauerlicherweise kann man aber allzu häufig das
starke Abgrenzungsbedürfnis und monodisziplinäre Vorgehen der jeweiligen Fächer
feststellen.22
20
Dies gilt selbst für Wolfgang Kerstings Werk Wohlgeordnete Freiheit. In der ersten Auflage dieser
grundlegenden Darstellung von Kants Rechtsphilosophie wurde das Völker- und Weltbürgerrecht gänzlich außer
Acht gelassen. Erst in der Einleitung der Taschenbuchausgabe wird Kants Rechtstheorie vom Weltfrieden
erörtert. Vgl. Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie,
Frankfurt a. M. 1984, 3. Aufl. 2007. Siehe ebenfalls: Ders.: Kant. Über Recht, Paderborn 2004. Auch dort wird
Kants Rechtstheorie vom Weltfrieden nur am Rande behandelt (S. 149-168). Kersting widmet sich Kants
Konzeption einer weltweiten Friedensordnung in den folgenden Beiträgen: Ders.: Weltfriedensordnung und
globale Verteilungsgerechtigkeit. Kants Konzeption eines vollständigen Rechtsfriedens und die gegenwärtige
politische Philosophie der internationalen Beziehungen, in: Zum ewigen Frieden. Grundlage, Aktualität und
Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, hrsg. v. Reinhard Merkel und Roland Wittmann, Frankfurt a. M.
1996; Ders.: Globale Rechtsordnung oder weltweite Verteilungsgerechtigkeit? Über den systematischen
Grundriss einer politischen Philosophie der internationalen Beziehungen; in: Politisches Denken, Jahrbuch
1995/96, S. 197-246.
21
Vgl. Fröhlich, Manuel: Mit Kant, gegen ihn und über ihn hinaus: Die Diskussion 200 Jahre nach Erscheinen
des Entwurfs »Zum ewigen Frieden«, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 7, 1997, S. 517.
22
Nur zu selten finden politikwissenschaftliche Beiträge eine Resonanz in den philosophischen Debatten und
umgekehrt. In den zahlreichen Sammelbänden, die zum Anlass des 200. Jahrestages des Erscheinens Kants
philosophischen Entwurfes Zum ewigen Frieden veröffentlicht worden sind, kommen zum Beispiel nur zu selten
Politikwissenschaftler zum Wort. Nennenswerte Ausnahmen sind etwa: Czempiel, Ernst-Otto: Kants Theorem
und die zeitgenössische Theorie der internationalen Beziehungen, in: Frieden durch Recht. Kants Friedensidee
und das Problem einer neuen Weltordnung, hrsg. v. Matthias Lutz-Bachmann und James Bohman, Frankfurt a.
-9-
Besonders problematisch ist außerdem, dass eine vorrangig prinzipientheoretische
Lektüre der Friedensschrift Gefahr läuft, die Frage der konkreten Friedensstiftung zu
verfehlen. Derartige Interpretationsansätze, welche sich ausschließlich auf die Begründung
der Vernunftprinzipien des Rechts konzentrieren und wiederum das Problem der Anwendung
dieser Prinzipien auf die Erfahrungsfälle nicht beachten, werden der Komplexität der
Kantischen politischen Philosophie des Friedens nicht gerecht. Wenn man einmal die
Begründung der Vernunftprinzipien des Rechts untersucht hat, hat man nur den halben Weg
bis zu einer systematisch geschlossenen allgemeinen Friedenstheorie durchgelaufen: Es soll
nämlich immer noch die Frage nach der Umsetzung dieser Vernunftprinzipien in die konkrete
politische Praxis untersucht werden. Kants zufolge ist dies die Aufgabe der Politik.
c) Der vermeintliche „blinde Fleck“ des Politischen bei Kant
Wer sich dem Problem der Anwendung der Vernunftprinzipien auf die Erfahrungsfälle
widmen möchte, muss sich also mit Kants Verständnis der Politik auseinanderzusetzen.
Biographien beweisen diesbezüglich, dass politische Theorien Kant schon früh beschäftigt
haben.23 So unterschiedliche Autoren wie Hobbes, Locke, Montesquieu oder Rousseau haben
auf Kant einen wichtigen Einfluss ausgeübt. Des Weiteren verfolgte Kant mit großem
Interesse die zeitgenössischen Weltereignisse: Er begrüßte enthusiastisch die Freiheitskämpfe
der Nordamerikaner gegen die englische Unterdrückung sowie vor allem den Ausbruch der
Französischen Revolution. Im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen, die sich spätestens nach der
Terrorherrschaft der Jakobiner von den Prinzipien der Französischen Revolution abwandten,
beweisen viele Zeugnisse, dass Kant bis zum Ende ein entschlossener Republikaner blieb.
Wenn man Kants Verständnis der Politik untersuchen möchte, stößt man allerdings
schnell auf eine überraschende Schwierigkeit: Kant hat nur im sparsamen Maße direkte
Aussagen über genuin politische Fragestellungen gemacht. Es kann festgehalten werden, dass
Kant das Substantiv „Politik“ sowie das Adjektiv „politisch“ in zwei verschiedenen
Kontexten verwendet.24 Zum einen wird der Begriff der Politik in einem empirischen Sinne
verwendet, um jene Klasse von Phänomenen zu bezeichnen, bei denen es entweder um die
Machtvergrößerung nach außen oder um die Verfestigung der staatlichen Obrigkeit nach
innen geht. Zum anderen benutzt Kant den Begriff der Politik auch in einem normativen
Sinne. Abgesehen von wenigen, unbedeutenden Textstellen findet sich diese
Verwendungsweise vor allem an drei Stellen seines Werkes: Im dritten Stück der
Religionsschrift, im Anhang zur Friedensschrift sowie im Schlussteil der Lügenschrift. In der
Religionsschrift konstituiert der auf äußere Freiheit bezogene Begriff der Politik den
Kontrapunkt des auf innere Freiheit bezogenen Begriffs der Ethik. Diese Zweiteilung
entspricht der Gliederung der Metaphysik der Sitten in Rechtslehre und Tugendlehre. Im
Anhang zur Friedensschrift wird näher definiert, was unter dem Begriff der „Politik“ in einem
normativen Sinne zu verstehen ist. Dort wird Politik als „ausübende Rechtslehre” definiert.
Dies will heißen, dass sie die Rechtsbegriffe auf die Erfahrungsfälle anwenden soll. Im
Anschluss daran schreibt Kant in der Lügenschrift, dass das politische Handeln im
Wesentlichen nicht mehr als ein „Mechanism der Rechtsverwaltung“25 zu betrachten ist,
insofern der Politiker die apriorischen Prinzipien des Rechts auf die Vielfältigkeit der jeweils
M. 1996, S. 300-323; Doyle, Michael W.: Die Stimme der Völker. Politische Denker über die internationalen
Auswirkungen der Demokratie, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 2004, S.
221-244.
23
Vgl. u.a. die zum Klassiker gewordene Biographie: Vorländer, Karl: Immanuel Kant. Der Mann und das
Werk, Wiesbaden 1924, Nachdruck 2004, insbesondere Kapitel 5.4 („Kant als Politiker“).
24
Vgl. auch: Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3,
Würzburg 2012, S. 235.
25
Vermeintes Recht: VIII, 429
- 10 -
geographischen und historischen Situationen anwenden soll. Es ist Kant nicht mehr gelungen
aus seinen verstreuten politischen Ansätzen eine Theorie der Politik systematisch
auszuarbeiten, wie er das noch im Jahre 1801 dem Magister Andreas Richter berichtete, der
ihm eine solche „systematische Politik nach kritischen Grundsätzen“ in Grundzügen
vorlegte.26
An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob damit bereits alles gesagt ist. Ist Kant
Verständnis der Politik damit erschöpfend dargestellt worden? Hat sich Kant zum Problem
der Anwendung der Vernunftprinzipien auf die Erfahrungsfälle nicht weiter geäußert? Es wird
sich zeigen, dass Kant sich an zahlreichen Stellen seiner Schriften direkt und indirekt über das
politische Problem der Anwendung der Vernunftprinzipien auf die Erfahrungsfälle geäußert
hat. Des Weiteren wird sich zeigen, dass der Blick der herkömmlichen Kant-Interpretation
dermaßen auf die Begründung der apriorischen Prinzipien des Rechts gerichtet ist, so dass das
komplementäre Problem deren fallgerechter Anwendung übereilt als problemlos
vorausgesetzt wird. Es kann Volker Gerhardt zugestimmt werden, wenn er feststellt, dass
„unter dem Titel der Politik […] die akademische Zunft ausschließlich rechts- und
geschichtsphilosophische Fragen [diskutiert]. Politik ist für sie das, was den Staat betrifft, und
der interessiert nur unter dem Gesichtspunkt von Legitimation und Organisation“.27 Gerade
dies ist einer der entscheidendsten Mängel der heutigen Kant-Literatur. Der Kant-Forschung
scheint gelegentlich entgangen zu sein, dass Kant sich insbesondere in der Friedensschrift
dem politischen Problem der Anwendung der apriorischen Prinzipien des Rechts auf
Erfahrungsfälle widmet.
In der Sekundärliteratur wurde lange angenommen, dass Kant gar keinen
eigenständigen Begriff der Politik hat. Dieser Kritik zufolge macht Kant keinen Unterschied
zwischen Politik und Recht. So wirft bereits Kurt von Borries Kant vor, dass seine Definition
der Politik als ausübende Rechtslehre letztlich in einer „durchaus unpolitischen Auffassung
der Politik“28 münde. In Frankreich behauptet seinerseits Pierre Hassner nicht viel anderes:
„[I]l n’y pas de philosophie politique kantienne à proprement parler […] On pourrait presque
dire […] que la philosophie politique de Kant est une philosophie politique sans politique“.29
Hannah Arendt behauptet ihrerseits, dass es zwar „bei Kant eine Politische Philosophie gibt“,
dass er diese jedoch „im Gegensatz zu anderen Philosophen niemals geschrieben hat“.30
Ebenso kritisch schreibt Arendt’s Schüler Ernst Vollrath: „Die Praktische Philosophie Kants
ist Metaphysik der Sitten. In ihrem Rahmen hat eine Politische Philosophie als ein
eigenständiger Entwurf keinen Ort“.31 In einer späteren Veröffentlichung spricht er von einem
„außerordentlich geschrumpfte[n] Politik-Verständnis, das für Politik nichts übrig lässt“.32 In
diese philosophische Tradition reiht sich Jürgen Habermas ein, wenn er die (freilich etwas
schwächere) These vertritt, dass bei Kant „Politik grundsätzlich in Moral überführt werden
kann“.33 Dieselbe Meinung wird von Peter Koslowski vertreten, wenn er schreibt, dass der
„Politik-Begriff […] bei Kant eine erhebliche Einschränkung, sozusagen einen
26
Vgl. Briefwechsel: XII, 330ff. und 333f.
Gerhardt, Volker: Das Recht in weltbürgerlicher Absicht. Kants Zweifel am föderalen Weg zum Frieden, in:
Kant im Streit der Fakultäten, hrsg. v. Volker Gerhardt und Thomas Meyer, Berlin/New York 2005, S. 286f.
28
Borries, Kurt von: Kant als Politiker. Zur Staats- und Gesellschaftslehre des Kritizismus, Aalen 1973
(Neudruck der Ausgabe Leipzig 1928), S. 145.
29
Hassner, Pierre: Les concepts de guerre et de paix chez Kant, in: Revue française de science politique 11-3,
1961, S. 642.
30
Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, hrsg. v. Ronald Beiner,
München/Zürich 1985, S. 46.
31
Vollrath, Ernst: Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen, Würzburg 1987, S. 92.
32
Vollrath, Ernst: Was ist das Politische? Eine Theorie des Politischen und seiner Wahrnehmung, Würzburg
2003, S. 65.
33
Habermas, Jürgen: Publizität als Prinzip der Vermittlung von Politik und Moral, in: Materialen zu Kants
Rechtsphilosophie, hrsg. v. Zwi Batscha, Frankfurt a. M., 1976, S. 180 (meine Hervorhebungen).
27
- 11 -
Funktionsverlust [erfährt], weil Politik in Recht und Ökonomie überführt wird“.34 In jüngerer
Vergangenheit konnte man ebenfalls eine ähnliche Einschätzung der Kantischen politischen
Philosophie bei Georg Geismann finden. So schreibt er beispielsweise, dass man bei Kant von
einer „Theorie der Politik” lediglich als Synonym für eine „Theorie des öffentlichen Rechts”
sprechen kann.35 Alle diese Vorwürfe werden von Patrick Savidan unter dem Ausdruck des
„blinden Flecken des Politischen bei Kant“ („point aveugle du politique chez Kant“)36
zusammengefasst.
Diese bis heute weit verbreitete Deutung ist in der Literatur jedoch nicht alternativlos
geblieben. So scheint Pierre Hassner schon seine frühere Ansicht zu revidieren, wenn er in
einem späteren Aufsatz feststellt: „[T]out ce que l’analyse de la philosophie pratique
kantienne révèle vraiment ce sont des tendances à la fusion de la morale [et] de la politique;
mais le fait que ces tendances ne l’emportent pas sur la distinction des domaines n’est pas
moins intéressant que leur existence“.37 Leider geht Pierre Hassner selbst nicht auf den
Unterschied von Recht und Politik näher ein. Näheren Aufschluss über das spezifisch
politische Problem der Anwendung der apriorischen Prinzipien des Rechts auf die
Erfahrungsfälle geben etwa die verschiedenen Veröffentlichungen von Reinhard Brandt, in
welchen die Bedeutung der Temporalität in der Politik, das heißt des bewussten Umgangs mit
Zeit, hervorgehoben wird.38 Überhaupt lesenswerte Überlegungen zu Kants Reformkonzept
finden sich ebenfalls in der Dissertation von Claudia Langer.39 Ausschlaggebend sind in
diesem Zusammenhang aber vor allem die Arbeiten von Otfried Höffe, in welchen
überzeugend gezeigt wird, dass Kants rechts- und friedenstheoretische Überlegungen einen
ausgeprägten Sinn für die Realitäten der Politik aufweisen. Otfried Höffe versucht aber vor
allem zu zeigen, dass und inwiefern zur Politik auch Urteilskraft und Klugheit gehören. Eine
solche Betrachtungsweise findet letztlich ihre Zuspitzung in den Arbeiten von Ulrich
Sassenbach und vor allem von Volker Gerhardt, dem zufolge die Friedensschrift eine genuine
„Theorie der Politik“ enthält, in deren Zentrum der Begriff der ausübenden Rechtslehre
steht.40 Selbst wenn Gerhardts These nicht bis ins Detail gefolgt werden kann41, hat sie einen
interessanten Aspekt der Friedensschrift hervorgehoben, der bedauerlicherweise vielen Kant34
Koslowski, Peter: Staat und Gesellschaft bei Kant, Tübingen 1985, S. 36f.
Vgl. Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3,
Würzburg 2012, S. 235. Bereits in: Ders.: Nachlese zum Jahr des „ewigen Friedens”. Ein Versuch, Kant vor
seinen Freunden zu schützen, in: Logos 3, 1996, S. 321.
36
Savidan, Patrick: Le républicanisme de Kant, in: Kant et les kantismes dans la philosophie contemporaine
1804-2004, hrsg. v. Christian Berner und Fabien Capeillères, Villeneuve d’Ascq 2007, S. 44.
37
Hassner, Pierre: Situation de la philosophie politique chez Kant, in: Annales de philosophie politique 4, 1962,
S. 93 (meine Hervorhebungen).
38
Vgl. Brandt, Reinhard: Klugheit bei Kant, in: Klugheit, hrsg. v. Wolfgang Kersting, Weilerswist-Metternich
2005, S. 98-133; Ders.: Zu Kants politischer Philosophie, Stuttgart 1997; Ders.: Vernunftrecht und Zeit bei Kant,
in: Recht zwischen Natur und Geschichte. Le droit entre nature et histoire. Deutsch-französisches Symposion,
hrsg. v. Jean-François Kervégan und Heinz Mohnhaupt, Frankfurt a. M. 1997, S. 45-72; Ders.: Das Problem der
Erlaubnisgesetze im Spätwerk Kants, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin
1995, 2. Aufl. 2004, S. 69-86; Ders.: Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre,
in: Rechtsphilosophie der Aufklärung. Symposium Wolfenbüttel, hrsg. v. Reinhardt Brandt, Berlin – New York
1982, S. 233-285.
39
Vgl. Langer, Claudia: Reform nach Prinzipien. Untersuchungen zur politischen Theorie Immanuel Kants,
Stuttgart 1986.
40
Vgl. Gerhardt, Volker: Ausübende Rechtslehre. Kants Begriff der Politik, in: Kant in der Diskussion der
Moderne, hrsg. v. Gerhard Schönrich und Yasushi Kato, Frankfurt a. M. 1996, S. 464-488; Ders.: Eine kritische
Theorie der Politik. Über Kants Entwurf »Zum ewigen Frieden«, in: Der Vernunftfrieden. Kants Entwurf im
Widerstreit, hrsg. v. Klaus-Michael Kodalle, Würzburg 1996, S. 5-20; Ders.: Immanuel Kants Entwurf »Zum
ewigen Frieden«. Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995; Siehe auch: Sassenbach, Ulrich: Der Begriff des
Politischen bei Immanuel Kant, Würzburg 1992.
41
Vgl. Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Studien zur Rechtsphilosophie, Bd. 2, Würzburg 2010, S. 293ff.
35
- 12 -
Kommentatoren entgangen ist, nämlich dass Kant in seinem Friedensentwurf spezifisch
politische Aufgaben und Verfahren bestimmt.
Im Gegensatz zu der Deutung von Kurt von Borries, Hannah Arendt, Ernst Vollrath,
Jürgen Habermas und Georg Geismann soll im zweiten Hauptteil der vorliegenden
Dissertation gezeigt werden, dass Politik und Recht bei Kant nicht zusammenfallen. Es soll
darüber hinaus gezeigt werden, dass die Friedensschrift neben einem deskriptiv-empirisch
beschränkten Begriff der Politik als Staatskunst einen umfassenden normativ-apriorischen
Begriff der Politik als ausübende Rechtslehre enthält, welcher den spezifischen Gehalt der
Politik zu fassen versucht. Die Tatsache, dass der Begriff der Politik einen apriorischen Kern
hat, bedeutet jedoch mitnichten, dass Politik keine empirischen Elemente wie etwa die
Erfahrungserkenntnis der Menschen oder die Klugheit enthalten darf. Für Politik spielen
Klugheit und Urteilskraft eine durchaus wichtige Rolle. Die Politik ist jedoch den
erfahrungsunabhängigen Prinzipien des Rechts verpflichtet. Die hierarchische Voranstellung
der apriorischen Rechtsprinzipien darf nicht verletzt werden.
d) Das Ziel und die These der vorliegenden Dissertation
Die Entscheidung, sich Kants Rechts- und Friedenstheorie im Rahmen der
vorliegenden Arbeit zu widmen, ist auf zwei Gründe zurückzuführen. Der erste Anstoß für
diese Dissertation besteht in der Überzeugung, dass Kants Rechts- und Friedenstheorie nicht
bloß von geschichtlichem Interesse sind, sondern dass sie bis heute nicht an Aktualität
eingebüßt haben und mit guten Gründen zentrale Bedeutung in den großen Debatten der
politischen Philosophie der Gegenwart inne haben.42 Wenn Kants Friedenstheorie in
einzelnen Punkten der Aktualisierung bedarf, so ist diese stets unter Wahrung der
systematischen Konstruktion und des gesamten Gedankenzusammenhangs durchzuführen.
Dies führt zu dem zweiten Anstoß für die vorliegende Arbeit nämlich die Unzulänglichkeit
eines Teils der Kant-Literatur, die entgegen aller Belege in Kants Texten sowie der
einschlägigen Sekundärliteratur immer noch ein partielles, politisch verkürztes Verständnis
von Kants politischer Philosophie hat, indem sie sich auf das Problem der Begründung der
Vernunftprinzipien konzentriert und das komplementäre Problem der Anwendung derselben
Prinzipien auf die Erfahrungsfälle nicht vollständig, aber doch weitgehend vernachlässigt.
Die vorliegende Arbeit verfolgt ein systematisches Ziel. Es geht dabei nicht darum, die
jeweiligen Schriften Kants zur politischen Philosophie bis ins Einzelne zu referieren, sondern
es geht vielmehr darum, den Kerngehalt Kants Überlegungen möglichst klar wiederzugeben,
seine systematischen Zusammenhänge aufzuzeigen sowie letztlich problematische Abschnitte
aufzuklären. Weil Kants Rechtsphilosophie nicht mit historischem Interesse, sondern in
systematischer Absicht erörtert wird, sollen zwei Fragen erschlossen werden, welche eine jede
Rechtslehre berücksichtigen muss, wenn sie als systematisch vollständig gelten möchte: Die
Frage der Begründung der Prinzipien des Rechts einerseits und die Frage der Anwendung
dieser Prinzipien in der politischen Wirklichkeit andererseits. Der Leitfaden, welcher sich
durch diese Arbeit zieht, ist die umfassendere Grundfrage, welche Kants gesamter politischer
Philosophie zugrunde liegt, nämlich jene nach den notwendigen Bedingungen der
Möglichkeit des vernünftigen Zusammenlebens der Menschen auf Erden. Im Rahmen der
vorliegenden Dissertation soll gezeigt werden, dass Kants Antwort auf diese Frage aus
zweierlei Gründen einzigartig ist.
(i.) Kants erste epochale Leistung im Bereich der politischen Philosophie liegt darin,
dass er auf die oben angeführte Frage eine rechtsphilosophische Antwort a priori gibt. Dies
wiederum hat zweierlei zu bedeuten.
42
Eine eingehende Darstellung Kants Aktualität findet sich bei: Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants
kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt a. M. 2001, S. 15ff.
- 13 -
Der rechtsphilosophische Charakter seiner politischen Philosophie wird dadurch
gegeben, dass Frieden lediglich durch die Stiftung eines mit Hilfe öffentlicher Gesetze
endgültig gesicherten Rechtszustandes aller Menschen und aller Völker der Welt erreicht
werden kann. Der Kerngedanke der Friedensschrift ist jener einer universalen Rechtsordnung.
Aus der Erkenntnis (und nicht der bloßen Annahme), dass der Naturzustand ein Zustand
permanenter und unaufhebbarer Streitigkeit des geltenden (Vernunft-)Rechts ist, das heißt,
dass es weder eine präzise Bestimmung noch eine Garantie für das angeborene sowie
erworbene Recht gibt, folgt als Postulat der reinen praktischen Vernunft, dass die Menschen
diesen Zustand verlassen und in einen bürgerlich-gesetzlichen Zustand eintreten sollen. Nur
auf diesem Wege kann a priori gesichert werden, dass die Menschen ihre je eigene wie auch
immer definierte Zwecke unabhängig von einer anderen nötigenden Willkür verfolgen
können. Die Verwirklichung dieser Idee einer sich weltweit erstreckenden öffentlichen
Rechtsordnung erfolgt im Wesentlichen in drei Schritten: Universelle Demokratisierung,
Stiftung eines Völkerstaats als Weltrepublik, Schaffung eines Weltgastrechts.
Apriorischen Charakter erhält Kants Philosophie dadurch, dass sich die
Rechtsprinzipien aus Grundsätzen der reinen Vernunft, also notwendig und unabhängig von
jeglichen Erfahrungsbedingungen (wie etwa anthropologischen Annahmen), ergeben. Da es
im Rechtsbegriff lediglich um das wechselseitige Verhältnis der Menschen als äußerlich freie
Wesen geht, sind moralische Bewegungsgründe, inhaltliche Zwecksetzungen und materielle
Bedürfnisse irrelevant. Die Schaffung eines Zustandes des Weltfriedens hängt keinesfalls
davon ab, dass die Menschen einen sittlich-moralischen Gebrauch ihres freien Willens
machen. Kant fordert ausschließlich die von den Bewegungsgründen völlig absehende bloße
Erfüllung der Rechtspflichten, weil sich nämlich die Forderung einer moralischen Triebfeder
gegenüber anderen Menschen rechtlich gar nicht begründen lässt und die Moralität der
Gesinnung ohnehin nicht in Erscheinung tritt. Die bloße Erfüllung der Rechtspflichten ist die
notwendige und hinreichende Bedingung der Möglichkeit des ewigen Friedens. Ob die
Rechtspflichten aus Kalkül, Zwang, Selbstinteresse oder lediglich aus Pflicht erfüllt werden,
ist rechtlich ohne jede Bedeutung, da es sich phänomenal um identische Handlungen handelt.
(ii.) Damit ist jedoch nur ein (freilich ganz entscheidender) Aspekt der eigentlichen
epochalen Leistung Kants im Bereich der politischen Philosophie genannt. Darüber hinaus
darf jedoch nicht übersehen werden, dass Kant sich insbesondere in der Friedensschrift dem
Problem der Anwendung der apriorischen Prinzipien des Rechts auf die Erfahrungsfälle
widmet. Die hier aufgeworfene Frage ist jene nach dem Verhältnis von Apriorität und
Empirie oder anders ausgedrückt von Normativität und Faktizität. Das Mittelglied der
Verknüpfung und des Übergangs von den ersteren zu den letzteren sieht Kant in der Figur des
moralischen Politikers. In der Friedensschrift weist Kant die These der Unabhängigkeit der
Politik von Moral und Recht und somit eine doppelte Moral entschieden zurück. Er stellt
dagegen der Politik als ausübende Rechtslehre die Moral als theoretische Rechtslehre
begrifflich gegenüber. Moral und Politik stehen somit im Verhältnis zueinander wie die
Theorie zur Praxis. In der Folge kann es keinen Widerstreit zwischen Moral, Recht und
Politik geben. Wahre Politik soll sich der Moral und dem Recht systematisch unterwerfen.
Die Aufgabe der Politik besteht darin, zwecks der moralisch gebotenen Friedensstiftung die
apriorischen Prinzipien des Rechts in der politischen Realität zu verwirklichen.
Diese Definition der Politik öffnet einen Handlungsspielraum, welcher über das
hinausgeht, was moralisch geboten und rechtlich erzwungen werden kann. Kant ist nämlich
ein erfahrungsoffener, kontextsensibler Rechtsphilosoph, welcher der Erfahrungserkenntnis
der Menschen, der Klugheit und der erfahrungsgeschärften Urteilskraft eine gewichtige Rolle
einräumt. Die bloße Erkenntnis der erfahrungsunabhängigen Prinzipien des Rechts reicht
nicht aus, wenn Politik erfolgreich sein soll. Bei der Vermittlung dieser allgemeinen
Prinzipien des Rechts mit dem konkreten Einzelfall bedarf der Politiker ebenfalls der
- 14 -
Urteilskraft. Jene sorgt für die fallgerechte Anwendung der Prinzipien des Rechts in der
politischen Realität bzw. für die „Ausführung des Rechtsbegriffs“.43 Die Moral und das Recht
geben letztlich den Rahmen verbindlich vor, in welchem sich die Politik zu bewegen hat.
Innerhalb dieses Rahmens steht aber der Politik die Entscheidung über Mittel und Wege
völlig frei. Es gibt keine Autonomie der Politik, also keine Eigengesetzlichkeit, wohl aber eine
Eigenständigkeit.
Während die rechtsphilosophische Pointe der Friedensschrift heute immer mehr
anerkannt wird, wird diese politiktheoretische Pointe in der Kant-Forschung immer noch nicht
ausreichend wahrgenommen.44
e) Methodisches Vorgehen
Kant hat die soeben angeführten Überlegungen nicht an einer einzigen Stelle seines
Werkes zusammengefasst. Sie werden vielmehr in einer Vielzahl zumeist kleineren Schriften
ausgeführt, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven der doppelten Frage nach der
Begründung vernunftrechtlicher Prinzipien und deren Umsetzung in konkrete politische
Praxis widmen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Werke für die folgende
Arbeit in Betracht zu ziehen sind. Die hier aufgeworfene Frage ist also jene nach der
Identifikation und Selektion des zu untersuchenden Textkorpus.
Der ausgewählte Textkorpus, auf den sich die folgende Arbeit stützt, besteht zunächst
aus den kurzen moral- und rechtsphilosophischen Schriften aus den 1780er und 1790er
Jahren. Dort wendet sich Kant nicht länger primär an den kleinen Kreis seiner gelehrten
Fachkollegen, sondern richtet sich vielmehr an das größere gebildete Publikum seiner Zeit.
Nebst der leichter erfassbaren Ausdrucksweise zeigt sich dies in dem gelegentlich ironischen
und sogar polemischen Ton, den Kant häufig in diesen Schriften verwendet. Aufschlussreich
ist diesbezüglich auch, dass von den Abhandlungen, die Kant von 1784 bis 1797 geschrieben
hat, alle, mit einer Ausnahme, in der Berlinischen Monatsschrift, die als Hauptorgan der
Berliner Spätaufklärung galt45, zuerst veröffentlicht worden sind.
Zu den für uns interessante Schriften zählt zunächst die philosophische Abhandlung:
Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784). Dazu zählen ebenfalls die Aufsätze zur
Geschichtsphilosophie: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht
(1784) und Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786). Auch in dieser letzten,
weniger bekannten Abhandlung lassen sich wichtige Gedanken der Kantischen Ethik finden,
wie zum Beispiel die Auffassung vom Menschen als Selbstzweck.46 Das Gleiche gilt auch für
43
Vorarbeit: XXIII, 189
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die neuerlich erschienenen Handbücher zur
politischen Philosophie. Es zeigt sich, dass Kants Rechtstheorie vom Weltfrieden heute in nahezu sämtlichen
Werken behandelt wird. In den meisten Werken kommt dagegen der Begriff der Politik als ausübende
Rechtslehre überraschenderweise überhaupt nicht vor. Dies gilt zu Beispiel für die folgenden Werke: Becker,
Michael / Schmidt, Johannes / Zintl, Reinhard: Politische Philosophie, Stuttgart 2009; Hartmann, Martin / Offe,
Claus: Politische Theorie und Politische Philosophie: Ein Handbuch, München 2011; Marti, Urs: Studienbuch
Politische Philosophie, Stuttgart 2008. In den wenigen Werken, in welchen Kants Begriff der Politik als
ausübende Rechtslehre überhaupt erwähnt wird, geschieht dies in der Regel nur beiläufig. Vgl. Pfetsch, Frank R.
/ Kreihe, Thomas: Theoretiker der Politik: von Platon bis Habermas, Stuttgart 2003, S. 364.
45
Die von Johann Erich Biester und Friedrich Gedike herausgegebene Zeitschrift gilt als eines der wichtigsten
Presseorgane der Berliner aufgeklärten Reformbewegung. Von 1783 bis 1796 brachte sie monatlich
Fachaufsätze, Berichtsinformationen und Gedichte, u. a. von Persönlichkeiten wie Immanuel Kant, Justus
Möser, Moses Mendelssohn oder Wilhelm von Humboldt heraus. Näher dazu: Meyen, Eduard: Die Berliner
Monatsschrift von Gedike und Biester. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Journalismus, in:
Literarhistorisches Taschenbuch, hrsg. v. Robert Eduard Prutz, Hannover 1847, S. 151-222; Hellmuth, Eckhart:
Berlinische Monatsschrift, in: Lexikon der Aufklärung, hrsg. v. Werner Schneiders, München 1996, S. 62-64.
46
Vgl. Anfang: VIII, 114
44
- 15 -
den Aufsatz Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der
Philosophie (1797), in welchem sich unter anderem wichtige Gedanken zur Lüge finden
lassen. Weitere zentrale Textquellen für eine möglichst umfassende Auseinandersetzung mit
unserer Problematik können letztlich in den folgenden Schriften gefunden werden: Über den
Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793),
Zum ewigen Frieden (1795) und Der Streit der Fakultäten (1797).
Unter den von Kant vornehmlich für die Berlinische Monatsschrift verfassten kurzen
Abhandlungen sind dagegen für die hier diskutierte Problematik weniger aufschlussreich:
Was heißt: sich im Denken orientieren? (1786), Das Ende aller Dinge (1784) und Von einem
neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796). Auch die noch zu Kants
Lebzeiten veröffentlichten Vorlesungen, wie die Logik (1800), die Physische Geographie
(1802) und die Bemerkungen Über Pädagogik (1803) sind für die hier behandelte
Problemstellung wenig interessant. Das gleiche gilt für das unvollendete Nachlasswerk (das
sogenannte Opus postunum), an dem Kant in seinen letzten Lebensjahren gearbeitet hat.
Unter diesen verschiedenen Schriften nimmt die Abhandlung Zum ewigen Frieden
einen besonderen Stellenwert ein, da Kant sich dort spezifisch und am ausführlichsten dem
Problem des friedlichen Zusammenlebens der Menschen auf Erde widmet. Die Friedensschrift
ist aber zugleich die prägnanteste Darstellung Kants politischer Philosophie in ihrer
Gesamtheit. Eine umfassende und systematische Darstellung seiner verstreuten moral- und
rechtsphilosophischen Ansätze unternimmt Kant erst in der zwei Jahre später erschienenen
Metaphysik der Sitten (1797). Diese erscheint in zwei gesonderten Teilen: Die systematische
Darlegung der Rechtsphilosophie erscheint im ersten Teil, die Metaphysischen
Anfangsgründen der Rechtslehre, während der zweite Teil, die Metaphysischen
Anfangsgründen der Tugendlehre, Kants systematische Moralphilosophie enthält.
Bemerkenswert ist, dass im Gegensatz zur Rangfolge im Bereich der theoretischen
Philosophie, hier die kleineren und populäreren Schriften der umfangreicheren und
systematischen vorangehen. Die Rechtslehre kann somit ohne Zweifel als das Ergebnis einer
langjährigen, anhaltenden Beschäftigung mit rechtsphilosophischen Fragen gesehen werden.
Dass Kant mit den rechtsphilosophischen Debatten seiner Zeit sehr gut vertraut war, zeigt
ebenfalls die Tatsache, dass er zwischen 1767 und 1788 zwölf Vorlesungen über das
Naturrecht und insbesondere über das Werk des Göttinger Rechtsgelehrten Gottfried
Achenwall Elementa juris naturae gehalten hat. Erwähnenswert sind außerdem die
naturrechtlichen Stellen in den Vorlesungen nach Baumgartens praktischen Schriften.47 Dabei
soll allerdings zweierlei beachtet werden: In der Rechtslehre wird das öffentliche Recht
relativ kurz behandelt, am kürzesten noch das Völker- und Weltbürgerrecht, da diese
Thematik bereits in der Friedensschrift besonders ausführlich behandelt wurde. Wichtig ist
ebenfalls festzuhalten, dass das Problem der fallgerechten Anwendung der apriorischen
Prinzipien des Rechts auf die Erfahrungsfälle, mithin das Problem der Politik, in der
Rechtslehre weitgehend ausfällt.
Insofern Kants Rechtsphilosophie durch das allgemeine Sittengesetz mit seiner Ethik
verbunden ist, soll ebenfalls auf seine ethischen Schriften zurückgegriffen werden. Kants
Interesse für ethische Fragen geht bis in die 1760er Jahre zurück. Selbst wenn die
wesentlichen Grundsätze seiner kritischen Ethik bereits Anfang der 1780er Jahren feststehen,
wird die systematische Aufarbeitung und Darstellung dieser Grundsätze zunächst durch die
Abfassung der Kritik der reinen Vernunft verzögert.48 Erst nach dem Erscheinen der ersten
47
Vgl. insbesondere Kants Reflexionen zu Baumgartens Initia Philosophiae Practicae (XIX, 7-91)
Freilich lassen sich bereits in der Kritik der reinen Vernunft, insbesondere im abschließenden Teil der
»Transzendentale[n] Methodenlehre« (Vgl. KrV: IV, A 705 / III, B 733), und dort vor allem im zweiten
Hauptstück »Der Kanon der reinen Vernunft« (Vgl. KrV: IV, A 795 / III, B 823) sowie im dritten Hauptstück
»Die Architektonik der reinen Vernunft« (Vgl. KrV: IV, A 832 / III, B 860), die Grundsteine der Kantischen
48
- 16 -
Kritik im Jahre 1781 und ihrer Erläuterungsschrift, den Prolegomena, im Jahre 1783 konnte
sich Kant den ethischen Fragen ausführlich widmen, die ihm seit so langen Jahren
beschäftigten. Im Jahre 1785 erscheint Kants erstes Hauptwerk zur Moralphilosophie, die
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, welches die zwei Jahre später erschienene Kritik der
praktischen Vernunft in allen Grundzügen ankündigt. Als drittes wesentliches ethisches Werk
kommt letztlich für unser Anliegen der erst 1797 veröffentlichte zweite Teil der Metaphysik
der Sitten, die Tugendlehre, in Betracht.
Die vorliegende Dissertation beruht auf der Überzeugung eines weitgehend
konsistenten, systematischen Zusammenhangs des Kantischen Gedankens zum Frieden. Auf
der Grundlage des oben erwähnten Textkorpus wird versucht, die verstreuten Überlegungen
zusammenzustellen und ihre systematischen Zusammenhänge herauszuarbeiten. Dies erklärt,
dass auf den folgenden Seiten häufig zum selben Punkt auf verschiedene Schriften verwiesen
wird. Zugleich soll versucht werden, mögliche Verschiebungen oder Selbstkorrekturen zu
erkennen und zu erklären. Selbst wenn Kant darum bemüht war, seine Grundsätze rein
rational, also unabhängig von jeglichen empirischen Bedingungen aufzustellen und zu
begründen, fließen zuweilen empirische Elemente in seine Argumentation ein. Dies ist zum
Beispiel der Fall, wenn er schreibt, dass nur die ökonomisch unabhängigen Staatsbürger das
Recht auf Mitgesetzgebung haben.49 Es gehört zu den wesentlichen Aufgaben einer
gründlichen Untersuchung und Darstellung der Kantischen Rechtstheorie, auf solche
Elemente hinzuweisen, wobei allerdings zugleich darauf aufmerksam gemacht werden soll,
wenn solche Argumentationsschwächen die prinzipientheoretische Reflexion unberührt
lassen. Das schließt außerdem nicht aus, dass an anderer Stelle eine grundsätzliche Kritik an
Kant angebracht sein kann.
Weil die vorliegende Arbeit zunächst ein systematisches Ziel verfolgt, sollen
historische Erörterungen weitgehend ausgeklammert werden. Nur wenn es für ein
angemessenes Verständnis des Kantischen Gedankengangs notwendig ist, wird auf die
damaligen politischen, kulturellen oder militärischen Zusammenhänge hingewiesen. Diese
Einschränkung soll dafür sorgen, dass die innersystematische Konstruktion der
Friedenstheorie Kants und ihre Begründung nicht aus den Augen verloren gehen. Aus
demselben Grund wurde entschieden, sich gänzlich auf Kant zu konzentrieren. Damit wird
nicht übersehen, dass Autoren wie Hobbes, Rousseau und Hume maßgeblich Kant geprägt
haben. Die Konzentration auf Kants Friedenstheorie führt ebenfalls dazu, dass viele an sich
interessante Nebenthemen nicht behandelt werden. So wird beispielsweise das Privatrecht
(insbesondere das zweite und dritte Hauptstück des ersten Teils der Rechtslehre) relativ
vernachlässigt.
Bei der Interpretation der Kantischen Überlegungen wird Kant vielfach zitiert. Dies
liegt darin begründet, dass nur auf diesem Weg belegt werden kann, was Kant tatsächlich
gemeint hat. Zu Kants Vernunftprinzipien vom Weltfrieden gelangen wir nur über die
Kantischen Texte selbst. Erst auf der Grundlage einer genaueren Textanalyse, können wir
außerdem beurteilen, ob die einzelnen Auslegungen in der Sekundärliteratur als richtig oder
falsch zu betrachten sind.
f) Der Umgang mit Kants Texten
Den verschiedenen Textquellen kommt wohlgemerkt nicht dieselbe Bedeutung zu. Die
Frage, die sich vor diesem Hintergrund aufdrängt, ist jene, wie man mit den verschiedenen
Moralphilosophie finden. Siehe dazu: Höffe, Otfried: Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der
modernen Philosophie, München 2004, Kapitel 21, S. 286ff.
49
Vgl. RL: VI, 314
- 17 -
Textquellen umgehen soll. Der Leser kann sich hierfür an unterschiedlichen Kriterien
orientieren.
Ein erstes Kriterium für eine angemessene Behandlung der Kantischen Schriften ist
zunächst jenes ihrer chronologischen Erscheinung. Die noch zu Kants Lebzeiten
veröffentlichten Werke sollen somit den Vorrang vor jenen haben, die erst nach seinem Tod
veröffentlicht wurden. Im Gegensatz zu dem, was in der Sekundärliteratur gelegentlich noch
zu lesen ist, dürfen Kants spätere Werke, insbesondere die Rechtslehre, nicht unter dem
Vorwand vernachlässigt werden, dass sie die vermeintliche, nachlassende Geisteskraft ihres
Autors widerspiegeln. Es soll vielmehr davon ausgegangen werden, dass auch und vor allem
ein solches Werk besonders ernst genommen werden muss, weil es das krönende Ergebnis
einer mehr als vierzigjährigen, anhaltenden Beschäftigung mit rechtsphilosophischen Fragen
darstellt.
In der Sekundärliteratur kommt es auch gelegentlich vor, dass (selbst namenhafte)
Autoren den Vorlesungsnachschriften und den Reflexionen den Vorrang vor den
veröffentlichten Texten einräumen.50 Im Gegensatz dazu wird hier davon ausgegangen, dass
die veröffentlichten Werke wichtiger sind als die Vorlesungsnachschriften, die selbst
wichtiger sind als die losen Reflexionen.
Desweiteren wird häufig behauptet, dass man Kants kleineren, zumeist populäreren
Schriften nicht dieselbe Autorität zusprechen kann, wie seine umfassenderen,
wissenschaftlichen Werken, wie etwa den drei Kritiken oder den zwei Teilen der Metaphysik
der Sitten. Angesichts der hier diskutierten Problemstellungen wird dagegen davon
ausgegangen, dass dem Friedenstraktat und der Rechtslehre im Vergleich zu den anderen
Schriften der sachliche Vorrang gebühren sollte.
Dieses Vorgehen wirft jedoch die methodische Frage auf, wie man mit dem
handschriftlichen Nachlass sowie mit den Vorlesungsnachschriften umgehen soll. Diese Frage
kann leider hier nicht erschöpfend beantwortet werden. An dieser Stelle reicht es aus zu
bemerken, dass der Rückgriff auf diese Textquellen aus drei verschiedenen Gründen heikel
sein kann:
Ein erstes Problem, welches sich beim Umgang mit dem Nachlass stellt, besteht darin
zu wissen, wann die herangezogenen Textstellen geschrieben wurden. Diesbezüglich sind
zumeist nur vorsichtige Vermutungen möglich.
Ein weiteres Problem stellt sich für die Nachschriften aus den Vorlesungen über
Moralphilosophie, die von Kant in den späten 1770er und frühen 1780er Jahren in Königsberg
gehalten wurden. Die uns überlieferten Nachschriften wurden nämlich nicht von Kant selbst,
sondern zumeist von seinen Studenten angefertigt. Streng genommen handelt es sich dabei
nicht mehr um Primärtexte. Bereits aus diesem einfachen Grund können sie nicht allein als
Beweis für Kants Positionen herangezogen werden. Vor allem aber muss man vorsichtig mit
diesen Texten umgehen, weil Kant selbst diesen Nachschriften mit einer gewissen Distanz
gegenüber stand.51 Diesbezüglich ist außerdem zu bedauern, dass es bisher keine gründliche
und umfassende Untersuchung über das Verhältnis von den Vorlesungsnachschriften zu den
veröffentlichten Werken gibt, auf welche man sich stützen könnte.
Der handschriftliche Nachlass, welcher zum Teil aus losen Blättern besteht, die Kant
benutzte, um verschiedene Reflexionen festzulegen, enthält Gedanken, die Kant aus welchem
Grund auch immer in seinen veröffentlichen Werken letztlich nicht übernommen hat. Diese
50
Ein Beispiel für dieses bedenkliche Vorgehen mit Kants Texten liegt in Herbert J. Patons Interpretation von
Kants rechtlichem Verbot der Lüge. In einem einflussreichen Aufsatz gewährt er der von Kant in der
Moralphilosophie Collins vertretenen These eines relativen Lügenverbotes den Vorrang vor seiner These eines
absoluten Lügenverbotes im Lügenaufsatz. Vgl. Paton, Herbert J.: An alleged right to lie. A problem in Kantian
ethics, in: Kant und das Recht der Lüge, hrsg. v. Georg Geismann und Hariolf Oberer, Würzburg 1986, S. 55.
51
Vgl. der Brief von Kant an Marcus Herz am 20. Oktober 1778 (Briefe: X, 242).
- 18 -
Textquellen sind dennoch interessant, weil sie Einblicke in Möglichkeiten geben, die Kant in
Betracht gezogen hat ohne sie in seine späteren Schriften zu übernehmen. Mit Sicherheit
können jene für die Auslegung unklarer Textstellen besonders aufschlussreich sein. Die
Tatsache, dass Kant diese Reflexionen letztlich nicht in seine veröffentlichten Schriften
übernommen hat, verbietet jedoch, diese Reflexionen als entscheidenden Beweis zu Gunsten
oder zu Ungunsten einer bestimmten Auslegung zu benutzten. Dies gilt vor allem dann, wenn
die unveröffentlichten Reflexionen von anderen Textstellen aus den veröffentlichten Schriften
abweichen. Kants Reflexionen aus dem Nachlass werden also nur dann als Argument
herangezogen, wenn sie von keinen anderen, konkurrierenden Textstellen in den
veröffentlichten Werken abweichen.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass aus diesen Textquellen allein keine
sichere Erkenntnis bezüglich Kants Stellung gewonnen werden kann. Kants Reflexionen aus
dem Nachlass, insbesondere aus den sogenannten Vorarbeiten, sowie den Nachschriften
können jedoch für ein besseres Verständnis der veröffentlichten Texte hinzugezogen werden.
Sie werden somit nur benutzt, um Klarheit einiger Textstellen in Bezug auf die
veröffentlichten Werke zu gewinnen.
g) Aufriss der Untersuchung
Im Folgenden soll nun eine knappe Übersicht über die Gliederung und den Inhalt
dieser Arbeit gegeben werden. Der Aufbau der Arbeit zerfällt in zwei Haupteile.
Der erste Hauptteil (A) der folgenden Arbeit behandelt Kants vernunftrechtliche
Begründung einer friedensfähigen Weltordnung. Dabei wird sich herausstellen, dass Kants
Rechtstheorie vom Weltfrieden einen bemerkenswerten politischen Realitätssinn aufweist,
weil ihre Notwendigkeit ausnahmslos vernunftrechtlich begründet ist und ihre Möglichkeit
keinesfalls von der moralisch guten Gesinnung der Menschen abhängt.
Im ersten Kapitel (1) geht es um die Vernunftbegründung des öffentlichen Rechts.
Dieses erste Kapitel erläutert die rein rationale Grundlage von Kants Rechtsphilosophie und
folgt anschließend ihrer Ausdifferenzierung in der Lehre vom Privatrecht und vom
öffentlichen Recht. Es wird zunächst gezeigt, wie es Kant ausgehend von einem rein
rationalen Begriff der Freiheit gelingt, einen ebenso rein rationalen Begriff vom Recht
überhaupt und vom ursprünglichen Recht der Menschheit in der Person jedes einzelnen
Menschen aufzustellen und zu begründen. Anschließend wird auf Kants transzendentalphilosophische Eigentumsbegründung näher eingegangen. Die Behandlung des Privatrechts
scheint zunächst für den Zweck der vorliegenden Arbeit von zweitrangiger Bedeutung. Sie ist
aber insofern wichtig, als Kant aus dem rein rational begründeten Privatrecht die ebenso rein
rationale Notwendigkeit des öffentlichen Rechts ableitet. Hier greift Kant auf zwei
Argumentationsfiguren zurück, die für die politische Theorie der Neuzeit charakteristisch
sind, nämlich die Idee des Naturzustandes und jene des ursprünglichen Vertrages. Kant zeigt,
dass der Naturzustand der Menschen ein Zustand permanenter und unaufhebbarer
Rechtsunsicherheit ist und dass es ein Postulat der reinen praktischen Vernunft ist, diesen
Zustand zu verlassen und sich gemeinsam einer allgemeinen öffentlichen Gesetzgebung zu
unterwerfen. Das gleiche gilt im Prinzip ebenfalls für die Staaten.
Das zweite Kapitel (2) widmet sich spezifisch Kants Rechtsphilosophie vom
Weltfrieden. Es geht darum, die jeweiligen Rechtsschritte darzustellen, welche eine
friedensfähige Weltordnung möglich machen sollen. Die Ausführungen werden dabei
weitgehend der Gliederung des Kantischen philosophischen Entwurfes Zum ewigen Frieden
in Präliminar- und Definitivartikel folgen. Das zweite Kapitel besteht somit aus zwei Teilen.
In einem ersten Schritt werden die Präliminarartikel als die negativen Bedingungen der
Möglichkeit des ewigen Friedens dargestellt und diskutiert. Anschließend werden die
- 19 -
Definitivartikel als die positiven Rechtsbedingungen der Möglichkeit des ewigen Friedens
kritisch erläutert. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei dem in der Sekundärliteratur immer
noch kontrovers diskutierten zweiten Definitivartikels bezüglich des Völkerrechts gewidmet.
An dieser Stelle wird insbesondere auf die häufig formulierte Kritik eingegangen, wonach
Kant im zweiten Definitivartikel die vernunftrechtliche Ebene seiner Argumentation verlasse
und sich auf eine bloß empirische Ebene beschränkte.
Im dritten und letzten Kapitel (3) geht es um die Möglichkeit der Stiftung eines
Zustandes des Weltfriedens. Im ersten Teil soll gezeigt werden, dass für Kant die Stiftung
einer friedensfähigen Weltordnung nicht von der moralischen Gesinnung der Menschen
abhängt, sondern vielmehr von ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse. In kritischer
Auseinandersetzung mit Kants Gedankenexperiments bezüglich des Volks von Teufeln soll
gezeigt werden, dass die juridische Legalität die notwendige und zugleich hinreichende
Bedingung der Möglichkeit des ewigen Friedens ist. Im zweiten Teil wird auf die Kritik
eingegangen, dass die von Kant genannten selbstsüchtigen Teufel noch viel zu engelhafte
Züge aufweisen. Im Anschluss wird auf die weitere Kritik eingegangen, dass Kant mit seiner
Lehre vom radikalen Böse ungewollt seine Lehre vom Weltfrieden untergräbt. Es wird sich
herausstellen, dass selbst aus der Annahme eines bösen Prinzips im Menschen nicht auf die
Unmöglichkeit der Stiftung eines Zustandes des ewigen Frieden geschlossen werden kann.
Der zweite Hauptteil (B) der vorliegenden Arbeit behandelt Kants Lehre von der
Politik und das Problem der Anwendung der Vernunftprinzipien auf die Erfahrungsfälle.
Das erste Kapitel (1) wird das Verhältnis von Moral, Recht und Klugheit in Kants
Rechtstheorie vom Weltfrieden behandeln. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der
Begründung der geltungstheoretischen Abhängigkeit der Politik von der Moral und dem
Recht. Kants Bestimmung der Politik als „ausübender Rechtslehre“ hat für viele
Missverständnisse gesorgt. Auf Grundlage dieses Gedanken wurde Kant häufig vorgeworfen,
dass er ein weltfremder Rechtsphilosoph sei, welcher die Erfahrung missachte und kein
Interesse für die konkreten Probleme der Menschen zeige. Des Weiteren wurde Kant für seine
vermeintliche Abwertung der Klugheit als die tradierte pragmatische Kompetenz kritisiert.
Dieser einseitigen Auslegung wird hier entgegengehalten, dass Kant insbesondere im ersten
Anhang der Friedensschrift, um eine Vermittlung von den universalen Vernunftprinzipien mit
den einzelnen, konkreten Fällen bemüht war. Es wird sich zeigen, dass Kant auf dem
absoluten Vorrang des formalen Rechtsprinzips beharrt, aber den hypothetischen Imperativen
der Klugheit einen weit größeren Freiraum einräumt, als dies in der Sekundärliteratur häufig
angenommen wird.
Im zweiten Kapitel (2) wird der systematische Stellenwert der Urteilskraft innerhalb
Kants Rechtstheorie vom Weltfrieden erörtert. Für Kant kommt dem moralischen Politiker die
Aufgabe zu, die apriorischen Prinzipien des Rechts auf die Erfahrungsfälle anzuwenden. Der
Akzent liegt in Kants Definition der Politik ausdrücklich auf der Ausübung. Wer die Politik
als angewandte Rechtslehre bestimmt, betont ausdrücklich den Anteil der praktischen
Urteilskraft. Was den Vernunftprinzipien entspricht, ist bereits gegeben und kann selbst von
dem gemeinsten Verstand jederzeit erkannt werden. Die Tatsache, dass die
Vernunftprinzipien in abstracto von jedermann leicht erkannt werden können, lässt jedoch die
doppelte Frage unbeantwortet, auf welche Erfahrungsfälle und auf welche Art und Weise jene
in concreto angewandt werden sollen. Auf diese Problematik soll im zweiten Kapitel
ausführlich eingegangen werden. Dabei werden sowohl die Bedeutung der (reinen)
praktischen Urteilskraft für die Beurteilung der Prinzipien der Moralität als auch die
Bedeutung der erfahrungsgeschärften Urteilskraft bei der Anwendung der Vernunftprinzipien
untersucht. Es wird sich zeigen, dass die absolute Verbindlichkeit der universellen
Vernunftprinzipien sehr wohl mit individuellen Einzelfallentscheidungen vereinbar ist.
- 20 -
Im dritten Kapitel (3) soll auf das Problem der Abwägung einander entgegengesetzter
Vernunftprinzipien eingegangen werden. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei Kants
Argumentation bezüglich der Unmöglichkeit eines Widerstreits der Pflichten. Im Anschluss
daran soll der Frage nachgegangen werden, auf welche theoretischen Instrumente die
Urteilskraft zurückgreifen kann, um möglich auftretenden Prinzipienkonflikte zu vermeiden.
Als Antwort hierauf wird zunächst der Vorrang der vollkommenen Rechtspflichten vor den
unvollkommenen Tugendpflichten am Beispiel von Kants rechtsphilosophischer Erörterung
der Lüge diskutiert. Abschließend wird die Begründung der Erlaubnisgesetze der reinen
Vernunft am Beispiel des dritten Präliminarartikels untersucht. Es wird sich dabei zeigen,
dass Kant in der Friedensschrift der Politik einen Freiraum zugesteht, der selbst auf einen
vernunftrechtlichen Grund zurückgeht.
- 21 -
HAUPTTEIL A
KANTS VERNUNFTRECHTLICHE BEGRÜNDUNG
EINER FRIEDENSFÄHIGEN WELTORDNUNG
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1. KAPITEL: KANTS VERNUNFTBEGRÜNDUNG DES ÖFFENTLICHEN RECHTS
Die Grundfrage, welche Kants politischer Philosophie zugrunde liegt, ist jene nach
den Bedingungen der Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens der Menschen als
äußerlich freie Wesen in unvermeidlich raum-zeitlichen Gemeinschaften. Auf diese Frage gibt
Kant eine rechtsphilosophische Antwort a priori.52 Dies hat zweierlei zu bedeuten. Es
bedeutet einerseits, dass Frieden unter den Menschen erst und ausschließlich unter Bedingung
effektiven öffentlichen Rechts erwartet werden kann. Andererseits bedeutet es, dass Kant
seine Grundsätze rein rational entwickelt, also notwendig und unabhängig von jeglichen
Erfahrungsbedingungen. Es ist insbesondere dieser letzte Punkt, der die epochale Leistung
von Kants Friedenstheorie deutlich macht. Ehe Kants rechtsphilosophische Argumentation
Schritt für Schritt dargestellt und erläutert wird, soll einleitend noch kurz die Vorrede zur
Metaphysik der Sitten in den Blick genommen werden, weil Kant dort sein Programm einer
apriorischen Rechtslehre näher bestimmt. Dort definiert er die Rechtslehre zunächst als ein
„aus der Vernunft hervorgehendes System“, welches „man die Metaphysik des Rechts nennen
könnte“.53 Der Konjunktiv „könnte“ deutet aber gleich darauf hin, dass Kant den Ausdruck
„Metaphysik des Rechts“ für problematisch hält. Es handelt sich dabei um ein „System der
Erkenntniß a priori aus bloßen Begriffen“.54 Diese zweiteilige Definition bedarf ihrerseits
weiterer Erklärungen.
Ein „System“ bestimmt Kant als „die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter
einer Idee“.55 Ein System zeichnet sich durch eine vollständige und bestimmte Einteilung
ihrer Erkenntnis aus. Es soll aber ein „gegliedertes“ und kein „gehäuftes“ Ganzes sein.56 In
einem System sollen also die verschiedenen Teile der Erkenntnis eine geordnete Stelle im
Verhältnis zu allen anderen Teilen erhalten und kein bloßes Aggregat bilden, sondern nach
notwendigen Gesetzen zusammenhängen. Eine solche vollständige und notwendig
zusammenhängende Einteilung der Erkenntnis wird von Kant als „wahre Wissenschaft“57
bezeichnet. Auch für seine Rechtstheorie beansprucht Kant streng wissenschaftlichen
Charakter.58
Diesem Anspruch kann nur eine apriorische Rechtslehre gerecht werden. Was ist aber
unter einer solchen zu verstehen? Aus der ersten Kritik ist zu entnehmen, dass „Erkenntnisse a
priori“ derart beschaffen sind, dass sie sich gänzlich ohne Rückgriff auf Erfahrung begründen
lassen.59 Kant definiert deshalb die apriorische Rechtslehre als ein „Vernunftsystem“.60 Dass
ein Urteil a priori gilt, bedeutet jedoch nicht notwendig, dass alle Begriffe, die es enthält,
nicht empirisch sind. Was in einem apriorischen Urteil „schlechterdings von aller Erfahrung
unabhängig stattfinden“ sollte, ist nur die Verbindung, die zwischen den Begriffen des Urteils
hergestellt wird. Die apriorischen Erkenntnisse unterscheiden sich von den empirischen
anhand von zwei „Merkmal[en]“61. Gemeint sind einerseits die absolute Notwendigkeit, nach
52
Dazu siehe vor allem die prinzipientheoretischen Aufsätze von Georg Geismann. Vgl. Ders.: Kant und kein
Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3, Würzburg 2012; Ders.: World Peace: Rational
Idea and Reality. On the Principles of Kant’s Political Philosophy, in: Kant. Analysen – Probleme – Kritik, hrsg.
v. Hariolf Oberer, Würzburg 1996, S. 265-319; Ders.: Kants Rechtslehre vom Weltfrieden, in: Zeitschrift für
philosophische Forschung 37, 1983, S. 363-388.
53
RL: VI, 205
54
RL: VI, 216
55
KrV: III, 538f.
56
Vgl. KrV: III, 539
57
TL: VI, 375
58
Vgl. TL: VI, 375
59
Vgl. KrV: III, 28
60
RL: VI, 357
61
KrV: III, 28
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welcher etwas nicht anderes sein kann als es ist, und andererseits die strenge Allgemeinheit,
die „gar keine Ausnahme als möglich verstattet“.62
In der Rechtslehre führt Kant anschließend aus, dass der Begriff des Rechts zwar „ein
reiner, jedoch auf die Praxis (Anwendung auf in der Erfahrung vorkommende Fälle) gestellter
Begriff ist“.63 Der Praxisbezug ist also für den Rechtsbegriff konstitutiv. Der Rechtsbegriff
bezieht sich auf eine unendliche und daher niemals vollständig zu erblickende
Mannigfaltigkeit an möglichen Erfahrungsfällen, die sich gerade aus diesem Grund
unmöglich gänzlich systematisch einteilen lassen.64 Da der Forderung nach Systematizität
nicht vollständig Genüge getan werden kann, kann es auch keine „Metaphysik des Rechts“
bzw. kein „metaphysisches System des Rechts“ im strengen Sinne geben. Es kann „nur
Annäherung zum System, nicht dieses selbst erwartet werden“.65 Deshalb wird auch der „für
den ersten Theil der Metaphysik der Sitten allein schickliche Ausdruck sein metaphysische
Anfangsgründe der Rechtslehre“.66
Wenngleich eine Metaphysik des Rechts mit Praxisbezug nicht möglich ist, so besteht
dennoch die Möglichkeit ihrer prinzipientheoretischen Grundlegung. Im ersten Teil der
Metaphysik der Sitten beschränkt sich Kant auf das, was im Rechtsbegriff rein ist und sich
vollständig einteilen lässt. Gemeint ist die Bestimmung und Begründung jener Prinzipien des
Rechts, deren Verwirklichung das vernünftige Zusammenleben der Menschen auf Erde
ermöglichen soll. Wie in den folgenden Ausführungen ausführlich zu sehen sein wird, gelingt
es Kant diese Prinzipien vom Standpunkt reiner praktischer Vernunft, mit dem Anspruch auf
strenge Allgemeinheit, absolute Notwendigkeit und damit verbunden auf objektive Geltung
für die Praxis zu begründen.
Bereits (und vielleicht vor allem) hierin zeigt sich auch Kants tiefes Verständnis für
die komplexe Realität der Politik. Denn allein die rein rationale Begründung formaler
Rechtsprinzipien, mithin der Verzicht auf jegliche geographisch, historisch und damit auch
kulturell abhängigen Argumente, ermöglicht die große Vielfalt heterogener moralischer
Personen hinsichtlich ihres Zusammenlebens auf gemeinsame Prinzipien festzulegen.
Methodologisch hat Kant in seiner Argumentation stets darauf geachtet stringent
zwischen rein apriorischen und empirisch abhängigen Argumenten zu unterscheiden.
Entsprechend behandelt er im Haupttext der Rechtslehre lediglich das, was „zum a priori
entworfenen System gehört“, während er die Anwendung des Rechts auf besondere
Erfahrungsfälle „in zum Theil weitläuftige Anmerkungen“67 bringt. Andernfalls könnte „das,
was hier Metaphysik ist, von dem, was empirische Rechtspraxis ist, nicht wohl unterschieden
werden“.68
In den folgenden Ausführungen soll versucht werden beide Argumentationsebenen
nicht zu vermischen. Ausgehend von Kants praktischem Freiheitsbegriff (1) erörtert das
folgende Kapitel sukzessiv Kants rein rationale Begründung vom Recht überhaupt sowohl
von der Befugnis zu zwingen (2), das Privatrecht vom inneren Mein und Dein (3) sowie die
entsprechenden Rechtpflichten (5). Das Kapitel widmet sich dann dem Beweis der
notwendigen Möglichkeit des Privatrechts vom äußeren Mein und Dein (6) und schließt mit
der umstrittenen Begründung des Übergangs vom Mein und Dein im Naturzustand zu jenem
im rechtlichen Zustand (6).
62
KrV: III, 28
RL: VI, 205
64
Vgl. RL: VI, 205
65
RL: VI, 205 (meine Hervorhebung)
66
RL: VI, 205 (meine Hervorhebung)
67
RL: VI, 205f.
68
RL: VI, 206
63
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1. Der praktische Freiheitsbegriff
1.1 Die doppelte Gestalt des Menschen als ein mit praktischer Vernunft begabtes
Naturwesen
Die rechtsphilosophischen Überlegungen Kants nehmen ihren Ausgangspunkt in
einem praktischen Freiheitsbegriff. Was kann man unter einem solchen verstehen? Bei dem
Begriff der praktischen Freiheit handelt es sich um das „Vermögen durch Vorstellungen von
dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser
sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden“.69 Im unmittelbaren Anschluss daran führt
Kant folgendermaßen fort: „[D]iese Überlegungen aber von dem, was in Ansehung unseres
ganzen Zustandes begehrungswerth, d.i. gut und nützlich ist, beruhen auf der Vernunft [im
praktischen Gebrauch]“.70 Mit anderen Worten bezeichnet der praktische Freiheitsbegriff das
Vermögen des Menschen sich Vorstellungen von dem zu machen, was für ihn gut bzw.
nützlich ist und sein Handeln auf Basis dieser Vorstellungen - man spricht ebenfalls von
Zwecken bzw. Zweckvorstellungen - zu bestimmen.
Man muss sich somit zunächst einen Begriff davon machen, was für einen persönlich
gut oder nützlich ist, um schließlich sein Handeln dieser Vorstellung entsprechend
anzupassen. Dabei ist es ohne jede Bedeutung, worauf sich diese Vorstelllungen begründen.
Freiheit im gekennzeichneten Sinne kommt jedem (geistig gesunden) Menschen kraft seines
Menschseins zu. Dies will heißen, dass sie jedem Menschen ursprünglich, also mit seiner
menschlichen Natur gegeben ist. Kant definiert nämlich den Menschen als ein
vernunftbegabtes Tier (animal rationabile), das die Möglichkeit besitzt, aus sich selbst ein
vernünftiges Tier zu machen (animal rationale).71
Festzuhalten ist an dieser Definition zunächst, dass der Mensch jeweils als „Tier“
(animal), dies will heißen als Sinnenwesen, bezeichnet wird.72 Die bloßen Sinnenwesen
unterliegen den Naturgesetzen, das heißt ihre Handlungsziele werden ausschließlich,
unerlässlich und unwiderstehlich durch Triebe und Bedürfnisse bestimmt. Im Unterschied zu
den anderen Tieren ist der Mensch jedoch kein bloßes Sinnenwesen. Als Sinnenwesen
unterliegt er zwar ständig Bedürfnissen und Trieben, aber als ein mit praktischer Vernunft
begabtes Wesen kann er sich von der Nötigung der sinnlichen Antriebe befreien und sein
Handeln aufgrund von jenen eigenen, wie auch immer motivierten Zweckvorstellungen selbst
bestimmen.73 Dieses Vermögen nennt Kant die „Willkür“.74 Es handelt sich dabei, um „das
Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung
in ihm selbst, nicht in dem Objecte angetroffen wird“.75 Die Willkür ist somit „ein Vermögen
nach Belieben zu thun oder zu lassen“.76
Die Willkür, die durch reine Vernunft bestimmt werden kann, nennt Kant die „freie
Willkür“. Kant grenzt anschließend die „thierische[n] Willkür“, die nur durch sinnlichen
Antrieb (stimulus) bestimmbar ist, von der „menschliche[n] Willkür“, die zwar durch
Antriebe affiziert, aber nicht bestimmt wird. Die menschliche Willkür kann dagegen zu
69
KrV: III, A802 / III, B830 (das von Kant durch kursive Kennzeichnung hervorgehobene Wort wurde
aufgehoben)
70
KrV: III, A802 / III, B830 (das von Kant durch kursive Kennzeichnung hervorgehobene Wort wurde
aufgehoben)
71
Vgl. Anthropologie: VII, 322
72
Kant spricht ebenfalls von „Naturdingen“ oder „Naturwesen“.
73
Vgl. Anfang: VIII, 112
74
RL: VI, 213
75
RL: VI, 213
76
RL: VI, 213
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Handlungen „aus reinem Willen“77 bestimmt werden. In diesem Fall wird der innere
Bestimmungsgrund der Handlung in der praktischen Vernunft selbst angetroffen.
Die Freiheit der Willkür bezeichnet somit (negativ formuliert) „jene Unabhängigkeit
ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe“78 und (positiv formuliert) das „Vermögen der
reinen Vernunft für sich selbst praktisch zu sein“.79 Diese freie Willkür entspricht nichts
anderem als der anfänglich erwähnten Freiheit im praktischen Sinne. Dieser praktische
Freiheitsbegriff ist jedoch kein empirischer Begriff. Es handelt sich vielmehr um eine
transzendentale Idee, die als solche unabhängig von jeglichen Erfahrungsbedingungen ist. Die
Freiheit im praktischen Sinne kann nicht in einem empirischen Sinne bewiesen werden. Sie
wird von Kant in jedem Menschen vorausgesetzt.
Als ein mit praktischer Vernunft begabtes Sinnenwesen steht der Mensch
unvermeidlich vor einem doppelten Problem: Jenem der Willensfreiheit und jenem der
Handlungsfreiheit.80 Das erste Problem bezieht sich auf den Gebrauch der inneren Freiheit
(die Bestimmung der Zwecke). Es wirft die Frage auf, durch welche Zweckvorstellungen der
Mensch seinen Willen bestimmen soll. Das zweite Problem bezieht sich dagegen auf den
Gebrauch der äußeren Freiheit (das Handeln aufgrund von Zwecken). Es wirft die Frage auf,
welche Handlungen vollzogen werden sollen, um die jeweiligen Zweckvorstellungen zu
erreichen. An dieser Stelle ist es wichtig zweierlei festzuhalten.
Erstens: Die zwei zuvor erwähnten Probleme sind für Kant beide moralischer Natur in
einem weiten Sinne. Der Gegenstand von Kants Moralphilosophie ist weder auf den Gebrauch
der inneren Freiheit noch auf den Gebrauch der äußeren Freiheit begrenzt. Ihr geht es
vielmehr um die moralischen Gesetze, welche den Freiheitsgebrauch überhaupt bestimmen.81
Der oberste Grundsatz der Kantischen Moralphilosophie ist das allgemeine Sittengesetz. Je
nachdem, ob sich jenes auf die innere oder auf die äußere Freiheit bezieht, tritt es als
Tugendgesetz oder als Rechtsgesetz auf. Entsprechend gliedert sich auch Kants
Moralphilosophie in zwei unterschiedliche Zweige: Die Tugendlehre als die Lehre von den
Tugendgesetzen einerseits und die Rechtslehre als die Lehre von den Rechtsgesetzen
andererseits.
Zweitens: Der Gegenstand der Rechtslehre ist ausschließlich das Problem des äußeren
Freiheitsgebrauchs mehrere Personen, die denselben Raum einer geschlossenen Welt teilen
und somit notwendigerweise Einfluss aufeinander haben.82 Während das Problem der
Willensfreiheit ausschließlich jeden einzelnen Menschen betrifft, so schließt jenes der
Handlungsfreiheit die anderen Individuen gerade ein und kann somit lediglich unter
Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen diesen gelöst werden.
1.2 Die Lehre der doppelten Gesetzgebung der praktischen Vernunft
Das Recht darf lediglich die Übereinstimmung der menschlichen Handlungen mit den
Rechtsgesetzen erzwingen. Es kann allerdings nicht die innere Einstellung bei der Befolgung
der Gesetze erzwingen. Im hier diskutierten Zusammenhang kommt der Unterscheidung von
77
RL: VI, 213
RL: VI, 213
79
RL: VI, 213
80
Vgl. Geismann, Georg: Kant und kein Ende. Studien zur Rechtsphilosophie, Band 2, Würzburg 2010, S. 11.
Hier wird die in der Sekundärliteratur üblich verwendete Terminologie übernommen. Kant spricht gelegentlich
von Freiheit im äußeren und im inneren Gebrauche der Willkür (Vgl. etwa RL: VI, 214). Soweit mir bekannt ist,
verwendet Kant selbst den Ausdruck „Handlungsfreiheit“ nicht. Dagegen verwendet er den Ausdruck „Freiheit
des Willens“ vielfach. Vgl. u. a. Idee: VIII, 17; GMS: IV, 434, 447, 450, 457, 459, 461; KUK: V, 354; Streit:
VII, 72.
81
Diesem Punkt soll im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit noch näher nachgegangen werden.
82
Vgl. RL: VI, 230, 238
78
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Legalität und Moralität eine besondere Bedeutung zu. Es besteht diesbezüglich
Erklärungsbedarf darüber, was unter diesen Begriffen genau zu verstehen ist, und wie sie
zueinander im Verhältnis stehen.
In der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« definiert Kant die Legalität
(Gesetzmäßigkeit) als die bloße Übereinstimmung einer Handlung mit dem Pflichtgesetz,
ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben.83 Die Legalität bezieht sich, anders formuliert,
auf Handlungen, die im Einklang mit den Geboten der Vernunft sind. Kant spricht in diesem
Fall von pflichtmäßigen Handlungen. Wichtig ist dabei zu sehen, dass der Beweggrund für
diese Handlung beliebig ist. Die Legalität ist eine notwendige, jedoch keine hinreichende
Bedingung der Moralität. Jede moralische Handlung ist notwendig auch eine pflichtmäßige
Handlung. Das Umgekehrte gilt allerdings nicht: Nicht jede pflichtmäßige Handlung ist auch
eine moralische Handlung. Moralität (Sittlichkeit) bedarf einer weiteren Bedingung, „[d]enn
bei dem, was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, daß es dem sittlichen Gesetze gemäß
sei, sondern es muß auch um desselben willen geschehen“.84 Damit eine Handlung als
moralisch gilt, sollen somit zwei kumulative Bedingungen erfüllt werden: Die Moralität
fordert die Übereinstimmung der Handlung mit dem Gesetz sowie zugleich, dass die
Handlung aus Pflicht, das heißt allein aus Achtung für das Pflichtgesetz geschehe. Mit
anderen Worten kann man sagen, dass die Moralität pflichtgemäße Handlungen aus Pflicht
fordert.
Es zeigt sich sofort, dass die Legalität kein Konkurrent der Moralität ist, sondern
vielmehr ihre notwendige Bedingung darstellt. Nur wenn eine pflichtmäßige Handlung
zugleich aus Pflicht geschieht, gilt sie als moralisch. Die Moralität schließt die Legalität ein
(da die moralisch gebotene Handlung dem Gesetz gemäß sein soll), fügt jedoch als weitere
Bedingung hinzu, dass diese Handlung auch um ihrer willen geschehen soll. In diesem Sinne
kann die „Moralität als Überbieten von Legalität“85 begriffen werden. Der Gegenbegriff der
Legalität ist also nicht jener der Moralität, sondern jener der Gesetzwidrigkeit.
Gesetzeswidrigkeit meint hier die Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem
Pflichtgesetz. Der Gegenbegriff der Moralität ist wiederum nicht die Legalität, sondern die
Bösartigkeit im strengen Sinne (auch Bosheit genannt). Die Legalität als solche ist somit
weder positiv noch negativ bestimmt. Vor diesem Hintergrund kann Wolfgang Kersting nur
schwerlich zugestimmt werden, wenn er schreibt, dass die Legalität als „Gegenbegriff zu
Moralität […] eine defiziente Gestalt der inneren sittlichen Verfassung des
Handlungssubjekts“86 bezeichnet. Weil die Legalität ausschließlich die bloße
Übereinstimmung einer Handlung mit dem Pflichtgesetz bezeichnet, ist die Frage noch gar
nicht gestellt, ob die Handlung um des Gesetzes willen geschehen ist oder nicht.
Was die Legalität von der Moralität unterscheidet, ist somit nicht der Inhalt des
jeweils Gebotenen oder Verbotenen, sondern ausschließlich die handlungsbestimmende
Motivation. Wichtig ist an dieser Stelle festzuhalten, dass Legalität und Moralität sich
phänomenal gar nicht unterscheiden lassen. In Erscheinung tritt allein die Legalität der
Handlungen, niemals aber die Moralität der Gesinnung. Die Moralität der Gesinnung lässt
sich nicht mit Sicherheit feststellen, sondern lediglich erschließen.87
Ferner stellt sich die Frage, ob sich Legalität und Moralität der juridischen und
ethischen Gesetzgebung zuordnen lassen. In der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten«
83
Vgl. RL: VI, 219, 224; Vgl. auch KpV: V, 71f., 81, 118, 151
GMS: IV, 390
85
Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt a. M.
2001, S. 108.
86
Vgl. Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt
a. M. 1984, Paderborn 3. Aufl. 2007, S. 141.
87
Darauf soll im dritten Kapitel des ersten Hauptteils der vorliegenden Dissertation noch näher eingegangen
werden.
84
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folgt die bereits aus der Grundlegung und der zweiten Kritik bekannte Unterscheidung von
Legalität und Moralität unmittelbar aus der Bestimmung der juridischen und ethischen
Gesetzgebungen. Mit Kants eigenen Worten heißt es dort: „Die Gesetze der Freiheit heißen
zum Unterschiede von Naturgesetzen, moralisch. So fern sie nur auf bloße äußere
Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit gehen, heißen sie juridisch; fordern sie aber auch,
daß sie […] selbst die Bestimmungsgründe der Handlungen sein sollen, so sind sie ethisch,
und alsdann sagt man: die Übereinstimmung mit den ersteren ist die Legalität, die mit den
zweiten die Moralität der Handlung“.88 Bei übereilter Betrachtung erweckt diese Textstelle
leicht den Eindruck, dass die Legalität sich ausschließlich auf die juridische Gesetzgebung
beziehe, während die Moralität allein die ethische Gesetzgebung betreffen würde. Es würde
sich jedoch dabei um ein Missverständnis handeln. Die Unterscheidung von Legalität und
Moralität entspricht keinesfalls der Unterscheidung von juridischer und ethischer
Gesetzgebung. Wie noch zu sehen sein wird, können sich die Legalität und die Moralität
sowohl auf die Rechtspflichten als auch auf die Tugendpflichten beziehen.
Um dies verstehen zu können, muss in Erinnerung behalten werden, dass für Kant die
Rechtspflichten ein Teilbereich der ethischen Pflichten darstellen. Die juridische
Gesetzgebung macht ausschließlich äußere Handlungen zu Pflichten. Mit Kants eigenen
Worten heißt es: „Die Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung können nur äußere
Pflichten sein, weil diese Gesetzgebung nicht verlangt, daß die Idee dieser Pflicht, welche
innerlich ist, für sich selbst Bestimmungsgrund der Willkür des Handelnden sei, und, da sie
doch einer für Gesetze schicklichen Triebfeder bedarf, nur äußere mit dem Gesetze verbinden
kann“.89 Die ethische Gesetzgebung, die sich dadurch auszeichnet, dass sie nur die Idee der
Pflicht selbst als Triebfeder der Handlung zulässt, macht zwar auch, aber nicht nur innere
Handlungen zu Pflichten. Die ethische Gesetzgebung „geht auf alles, was Pflicht ist,
überhaupt“.90 Alle Pflichten gehören, weil sie Pflichten sind, mit zur Ethik. Dies bedeutet,
dass alle Rechtspflichten (als Pflichten überhaupt) auch dem Bereich der ethischen Pflichten
angehören. Man muss deshalb bei den ethischen Pflichten jene, die bloß ethische Pflichten
sind, von jenen unterscheiden, die zugleich auch Rechtspflichten sind. Die ersteren sind
direkt-ethische Pflichten, mithin Tugendpflichten. Die anderen sind nur indirekt-ethische
Pflichten, mithin Rechtspflichten.91 Die Tatsache, dass die Rechtspflichten andere
Bestimmungsgründe des Willens als allein die Achtung für das Gesetz zulassen, hat
mitnichten zu bedeuten, dass ihre Erfüllung nicht zur Ethik gehört und schlechterdings
geboten ist.
Aus der Kombination der von Kant verwendeten Begriffspaare ergibt sich das
folgende Schema:
Abbildung 1: Kants Gegenüberstellung von Legalität und Moralität
Pflichtmäßige Handlung
Pflichtmäßige Handlung aus Pflicht
Rechtspflichten
(indirekt-ethische
Pflichten)
juridische Legalität
juridische Moralität
88
RL: VI, 214 (meine Hervorhebungen)
RL: VI, 219
90
RL: VI, 219
91
Vgl. RL: VI, 219
89
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Tugendpflichten
(direkt-ethische
Pflichten)
genuin ethische Legalität
genuin ethische Moralität
Dass es eine ethische und eine juridische Moralität gibt, wird von niemandem
ernsthaft bestritten. Der moralische Wille ist ein solcher, der sich allein durch die Idee der
Pflicht selbst bestimmen lässt. Wenn man allein aus Achtung für das ethische Gesetz
pflichtmäßig handelt, dann beweist man ethische Moralität. In diesem Sinne ist Moralität
nicht spezifisch für die Ethik. Wenn man die Rechtspflichten als indirekt-ethische Pflichten
betrachtet, das will heißen, wenn man allein aus Achtung für das juridische Gesetz
pflichtmäßig handelt, dann beweist man juridische Moralität. Wenn man dagegen seine
Rechtspflicht aus irgendeinem anderen Grund erfüllt, das heißt, wenn wir zwar pflichtmäßig
aber nicht zugleich allein aus Pflicht handeln, dann kommt unserem Verhalten lediglich
juridische Legalität zu. Es liegt nahe dasselbe in Bezug auf die Tugendpflichten zu behaupten:
Wenn man eine materiale Tugendpflicht nicht allein aus Achtung für das Sittengesetz erfüllt,
dann sollte unserem Verhalten ausschließlich ethische Legalität zukommen.
Die hier vorgetragene Einteilung wurde von Kant schon früher vertreten. In der Kritik
der praktischen Vernunft, im dritten Hauptstück der Elementarlehre unter der Überschrift
»Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft«, schreibt Kant, dass es „von der
größten Wichtigkeit [ist] in allen moralischen Beurtheilungen, auf das subjective Princip aller
Maximen mit der äußersten Genauigkeit acht zu haben, damit alle Moralität der Handlung in
der Nothwendigkeit derselben aus Pflicht und aus Achtung fürs Gesetz […] gesetzt werde“.92
Es zeigt sich, dass Kant hier nachdrücklich die Achtung für das Gesetz bei allen moralischen
Beurteilungen, das will heißen sowohl für die Rechts- als auch für die Tugendpflichten,
fordert. Die oben vorgeschlagene Einteilung scheint somit plausibel zu sein.
Diese Interpretation stößt jedoch an eine besondere Schwierigkeit in Bezug auf die
ethische Legalität, denn in der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« ist ebenfalls zu
lesen, dass man von einer ethischen Gesetzgebung nur dann sprechen kann, wenn der Mensch
„eine Handlung zur Pflicht und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder macht“.93 Durch die
Verwendung des Adverbs „zugleich“ ergibt sich der Eindruck, dass für Kant die ethische
Gesetzgebung pflichtgemäße Handlung aus Pflicht fordert. Andere Triebfedern dürfen nicht
mitwirken. Sie sollen vielmehr alle abgewiesen werden, da sie dem ethischen Gesetze
zuwider sind. Damit scheint Kant jedoch die Möglichkeit einer ethischen Legalität
auszuschließen. Außerdem scheint er die ethische Gesetzgebung allein der Moralität
zuzuordnen. Kurzum: Kant scheint hier zu meinen, dass es nur eine ethische Moralität gibt,
jedoch keine ethische Legalität.
Einen möglichen Ausweg aus dieser Schwierigkeit wird von Otfried Höffe
vorgeschlagen, indem er auf die Unterscheidung von „Wohltätigkeit“ und „Wohlwollen“
aufmerksam macht.94 Wohltaten können sowohl aus Pflicht als auch aus einem anderen
beliebigen Grund erfolgen. Höffe betont dagegen, dass das Wohlwollen ein dem Willen
zugehöriges Merkmal ist. Es liegt lediglich dort vor, wo der Mensch nicht nur pflichtmäßig
für die fremde Glückseligkeit sorgt, sondern wo seine Wohltat sich zugleich allein aus dem
Willen ergibt, dass es den anderen Menschen gut ergehe. Dort, wo das Wohlwollen vorliegt,
handelt der Mensch aus Pflicht. Die ethische Gesetzgebung fordert nicht nur Wohltaten,
sondern auch, dass die Wohltaten sich allein aus dem Wohlwollen ergeben. Die ethische
Moralität beschränkt sich nicht auf das pflichtmäßige Handeln, sondern erstreckt sich
ebenfalls auf den zugrunde liegenden Willen, mithin auf das Handeln aus Pflicht. Unter
diesen Bedingungen kann es nur eine ethische Moralität geben. Wenn man sich jedoch nicht
länger allein auf den Willen konzentriert, sondern sich auf die bloßen Handlungen beschränkt,
dann zeigt sich auch eine ethische Legalität. Kants Konzentration auf den guten Willen in der
92
KpV: V, 81 (meine Hervorhebungen)
RL: VI, 219 (meine Hervorhebung)
94
Vgl. Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt
a. M. 2001, S. 115f.
93
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»Einleitung in die Metaphysik der Sitten« hat ihn davon abgehalten, die Möglichkeit der
ethischen Legalität zu betrachten. Letztere ergibt sich jedoch sowohl aus Kants prinzipiellen
Überlegungen als auch aus vereinzelten Gedanken seiner früheren Werke.
1.3 Die Konstitution des juridischen Problems
Der Gebrauch der äußeren Freiheit eines jeden Menschen stellt nur deshalb ein
juridisches Problem dar, weil die räumliche Begrenztheit der Erde dazu führt, dass die
Menschen nicht vermeiden können, in Beziehung zueinander zu treten. Kants Argumentation
impliziert also zwei grundlegende empirische Prämissen, die das Problem überhaupt erst
konstituieren, welches seine Rechts- und Friedenstheorie zu lösen versucht.
Kant greift an unterschiedlichen Stellen seiner Werke immer wieder auf die
Kugelgestalt der Erde zurück. In der Rechtslehre betont er beispielsweise, dass „der Erdboden
eine nicht gränzenlose, sondern sich selbst schließende Fläche ist“.95 Ferner im selben Text
heißt es, dass die Natur die Menschen „alle zusammen (vermöge der Kugelgestalt ihres
Aufenthalts, als globus terraqueus) in bestimmte Grenzen eingeschlossen [hat]“.96 Die
räumliche Begrenztheit der Erde hat zur Folge, dass die Menschen „nicht umhin können, in
wechselseitigen Einfluß auf einander zu geraten“.97 Kant zufolge lässt es sich für den
Menschen nicht vermeiden, mit Seinesgleichen in Beziehung zu treten. Ferner führt Kant aus,
dass die Menschen „sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch
neben einander dulden müssen“.98 Die räumliche Begrenztheit der Erde führt also dazu, dass
die Menschen unvermeidbar in Beziehung zueinander treten müssen, so dass es überhaupt erst
zu Handlungskonflikten und somit zu einem Problem des Rechts kommen kann. Wichtig ist
dabei zu sehen, dass ein Problem des Rechts sich bereits aus dem bloßen Zusammenkommen
zweier Menschen und nicht erst aus deren Zusammenleben ergibt. Das Problem des Rechts ist
somit ein vorstaatliches und sogar vorgesellschaftliches Problem. Es stellt sich unabhängig
von der Existenz des Staates und sogar des Zusammenlebens in Gesellschaft.
Dieser bescheidenden und überzeugenden Prämisse fügt Kant allerdings eine
weitergehende Prämisse hinzu, wenn er die These vertritt, dass der Mensch zum Leben in
einer Gemeinschaft bestimmt ist, in welcher er seine technischen, pragmatischen und
moralischen Anlagen überhaupt erst vollständig entfalten kann. In Kants eigenen Worten
heißt es beispielsweise: „Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft
mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu cultiviren, zu
civilisiren und zu moralisiren“.99 Ferner im selben Text spricht Kant von der
„Nothwendigkeit, ein Glied irgend einer bürgerlichen Gesellschaft zu sein“.100 Der Mensch ist
hier nicht länger aufgrund der räumlichen Begrenztheit der Erde gezwungen mit anderen
Menschen in Beziehung zu treten, sondern ist durch seine eigene Vernunft bestimmt, sich mit
anderen Menschen zu vergesellschaften.
Selbstverständlich soll das nicht bedeuten, dass Kants Argumentation ausschließlich diese
zwei empirischen Prämissen impliziert.101 Wichtig ist an dieser Stelle zu beachten, dass die
95
RL: VI, 311; Vgl. ebenfalls RL: VI, 262, 312, 352
RL: VI, 352
97
Gemeinspruch: VIII, 289
98
Frieden: VIII, 358
99
Anthropologie: VII, 324 (meine Hervorhebung)
100
Anthropologie: VII, 330
101
Otfried Höffe nennt weitere empirische Prämissen wie beispielsweise die Tatsache, „dass endliche
Vernunftwesen Leib und Leben haben, die verletzt werden können; dass es Gegenstände im Raum gibt, die man
zu Eigentumstiteln machen kann; dass man als Leib- und Lebenswesen ohne derartige Gegenstände nicht
auskommt; dass man Verträge abschließt und Geld verwendet; dass es Mann, Frau und Kinder gibt“. Siehe:
Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt a. M.
96
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Prämisse, dass der Mensch als ein mit praktischer Vernunft begabtes Wesen es nicht
vermeiden kann, in raum-zeitlicher Gemeinschaft mit Seinesgleichen in Beziehung zu treten,
ausschließlich das Problem konstituiert, welches Kant zu lösen versucht. Die empirische
Prämisse hat keine legitimatorische Kraft. Sie bestimmt lediglich das, was John Rawls im
Anschluss an David Hume die „Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit“102
(circumstances of justice) nennt. Bei der Lösung des Problems lässt Kant dagegen jegliche
empirische Bedingung, wie etwa anthropologische Annahmen, außer Acht.
2. Der Vernunftbegriff des Rechts und die Befugnis zu zwingen
Kant leitet den Begriff des Rechts unmittelbar aus jenem der Freiheit der Menschen
im Verhältnis zueinander ab. Im Gemeinspruch heißt es eindeutig und unmissverständlich:
„Der Begriff […] eines äußeren Rechts überhaupt geht gänzlich aus dem Begriffe der Freiheit
im äußeren Verhältnisse der Menschen zu einander hervor“.103 Um dies zu verstehen, muss
daran erinnert werden, dass äußere Freiheit (positiv formuliert) das Vermögen sein Handeln
aufgrund eigener Zweckvorstellungen zu bestimmen oder (negativ formuliert) die
Unabhängigkeit von der nötigenden Willkür der Anderen104 bezeichnet. Äußere Freiheit im
gekennzeichneten Sinne kann nicht als uneingeschränkt gedacht werden. Sollte sie nämlich
uneingeschränkt sein - das heißt sollte jeder lediglich nach Gutdünken handeln können -, dann
könnte der äußere Freiheitsgebrauch von jedem Menschen jederzeit mit dem äußeren
Freiheitsgebrauch jedes anderen kollidieren, so dass der jeweils gesetzte Zweck für den einen
oder den anderen in Frage gestellt wird.
Im immer möglichen Fall eines Handlungskonflikts würde aber eine uneingeschränkte
Freiheit die Möglichkeit der Unterwerfung eines beliebigen Menschen unter die Willkür eines
anderen einschließen. Dies würde aber der ursprünglichen Freiheit eines jeden Menschen
widersprechen. Aus diesem Grunde kann die äußere Freiheit überhaupt lediglich als
eingeschränkte Freiheit gedacht werden. Die Einschränkung der äußeren Freiheit eines jeden
Menschen auf die Bedingungen ihrer Übereinstimmung mit der äußeren Freiheit aller anderen
Menschen, also auf die Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit, kann wiederum nur
rechtsgesetzlich geschehen.105 Kant definiert entsprechend das Recht als den „der Inbegriff
der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem
allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“.106
Zu dieser Definition des (moralischen107) Rechtsbegriffes gelangt Kant im
grundlegenden § B der Rechtslehre durch eine dreifache Einschränkung seines
Anwendungsgebietes.
Kant beschränkt zunächst den Begriff des Rechts auf das Verhältnis des eigenen
äußeren Freiheitsgebrauchs in Bezug auf den äußeren Freiheitsgebrauch anderer Personen. Im
2001, S. 130f. Siehe ebenfalls: Ders.: Der kategorische Rechtsimperativ: „Einleitung in die Rechtslehre“, in:
Immanuel Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1999, S. 49.
102
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975, S. 150ff.
103
Gemeinspruch: VIII, 289; Vgl. auch TL: VI, 396
104
Vgl. RL: VI, 237
105
Vgl Gemeinspruch: VIII, 289f.
106
RL: VI, 230
107
Wenn Kant vom „moralische[n] Begriff“ des Rechts spricht, dann meint er keinesfalls, dass die Menschen
sich aus moralisch-rechtlicher Gesinnung an das Recht halten sollen. Dies wäre mit dem Begriff des Rechts
wiedersprüchlich, weil das Recht sich mit dem äußeren Verhalten zufrieden gibt. Was Kant im Sinne hat, ist der
rein rationale (metaphysische) Begriff des Rechts im Gegensatz zum positiven Begriff desselben, von dem
unmittelbar zuvor in der Einleitung in Bezug auf eine „bloß empirische Rechtslehre“ die Rede war. Der rein
rationale Begriff wird deshalb moralisch genannt, weil er das Kriterium von Recht und Unrecht angibt. Wer dies
übersieht, kann dem gravierenden Missverständnis unterliegen, dass Kant das Recht nicht juridisch, sondern
ethisch begründet habe.
- 31 -
Wortlaut heißt es: „Der Begriff des Rechts […] betrifft erstlich nur das äußere und zwar
praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta
aufeinander […] Einfluß haben können“.108 Die hier von Kant verwendeten Begriffe der
„Person“ und der „Handlungen als Facta“ werden in der »Einleitung in die Metaphysik der
Sitten« näher definiert. Dort ist zunächst folgendes zu lesen: „Person ist dasjenige Subject,
dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“.109 Ferner im Text bestimmt Kant die
Zurechnung (imputatio) als „das Urtheil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer
Handlung, die alsdann That (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird“.110 Eine
Person ist also ein zurechnungsfähiges Subjekt, insofern es keinen anderen Gesetzen
unterworfen ist, als denen, die es sich selbst gibt.111 Eine Person kann für ihr Tun und Lassen
zur Verantwortung gezogen werden, weil sie sich selbst dafür entschieden hat. Die Person
stellt Kant der Sache gegenüber. Es handelt sich dabei um ein Ding, welches keiner
Zurechnung fähig ist.112
Wenn Kant ferner von „Handlungen als Facta“ spricht, dann bezieht er sich auf
Handlungen insofern sie bloß als frei (mithin als selbstverursacht) betrachtet werden. Ein
Problem des Rechts ergibt sich also nur aus dem Verhältnis des äußeren Freiheitsgebrauchs
mindestens zweier Personen. Das Handeln einer moralischen Person allein stellt noch kein
Problem des Rechts. Ein solches Problem tritt erst auf, wenn es eine Pluralität von Personen
gibt, die sich durch ihre Handlungen wechselseitig beeinflussen können. Wenn es nur eine
einzige Person geben würde bzw. wenn mehrere Personen niemals im praktischen Verhältnis
zueinander geraten könnten, würde es auch kein Rechtsproblem geben. Damit werden
Handlungen im bloßen Selbstverhältnis (wie etwa der Selbstmord) aus dem Bereich des
Rechts ausgeschlossen.
Die im Anschluss an Hobbes und Rousseau entflammte anthropologische und
geschichtsphilosophische Debatte, wie (nämlich aggressiv oder friedlich) und warum (von
Natur oder infolge ihrer Vergesellschaftung) sich mehrere Personen wechselseitig
beeinflussen können, tritt hier in den Hintergrund. Entscheidend ist allein die Tatsache, dass
die Menschen sich durch ihre Handlungen überhaupt beeinflussen und sich damit gegenseitig
lädieren können.
Der Begriff des Rechts bedeutet zweitens „nicht das Verhältniß der Willkür auf den
Wunsch (folglich auch auf das bloße Bedürfniß) des Anderen, wie etwa in den Handlungen
der Wohlthätigkeit oder Hartherzigkeit, sondern lediglich auf die Willkür des Anderen“.113 Es
wurde bereits gesehen, dass die Willkür ein Vermögen nach Belieben zu tun oder zu lassen
bezeichnet. Sie unterscheidet sich vom bloßen Wunsch dadurch, dass im letzten Fall die
Handlungsfreiheit nicht mit „dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur
Hervorbringung des Objects verbunden ist“.114 Während sich also Wünsche auf Ziele richten
können, die außerhalb des Rahmens des Möglichen liegen, richtet sich die Willkür lediglich
auf Ziele, die durch bestimmte Handlungen tatsächlich erreichbar sind. Im Recht geht es
allein um das „wechselseitig[e] Verhältniß der Willkür“.115 Der mögliche Einfluss meiner
Handlungen auf die Wünsche und damit auch auf die Bedürfnisse anderer ist rechtlich ohne
jede Bedeutung. Umgekehrt hat dies zu bedeuten, dass keine Rechtsansprüche aus meinen
möglichen Wünschen und Bedürfnissen erwachsen. Die bloßen Wünsche einer Person führen
108
RL: VI, 230
RL: VI, 223
110
RL: VI, 227
111
Vgl. RL: VI, 223
112
Vgl. RL: VI, 223
113
RL: VI, 230 (meine Hervorhebungen)
114
RL: VI, 214
115
RL: VI, 230
109
- 32 -
zu keinen möglichen Handlungen und können deshalb nicht die Handlungssphäre einer
anderen Person beeinflussen oder beeinträchtigen.
Der Begriff des Rechts sieht drittens von den Zweckvorstellungen der handelnden
Personen ab. Es „kommt auch gar nicht die Materie der Willkür, d. i. der Zweck, den ein jeder
mit dem Object, was er will, zur Absicht hat, in Betrachtung […], sondern nur nach der Form
im Verhältniß der beiderseitigen Willkür, sofern sie bloß als frei betrachtet wird, und ob durch
die Handlung eines von beiden sich mit der Freiheit des andern nach einem allgemeinen
Gesetze zusammen vereinigen lasse“.116 Die Zweckvorstellungen sind rechtlich beliebig,
solange die Handlungen zur Erreichung dieser Zwecke mit der Freiheit aller anderen nach
einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen können. Das Recht fragt nicht nach der
Verträglichkeit der einzelnen Zweckvorstellungen, sondern nur nach der Verträglichkeit der
äußeren Handlungen eines jeden mit den Handlungen aller anderen nach einem allgemeinen
Gesetz.
Damit ist das „allgemeine Kriterium“ bestimmt, anhand von welchem sich Recht und
Unrecht a priori unterscheiden lassen: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren
Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen
Gesetze bestehen kann“.117 Im Umkehrschluss hat dies zu bedeuten, dass jede Handlung
unrecht ist, die nicht mit der Freiheit eines jeden nach einem allgemeinen Gesetz bestehen
kann. Damit ist auch jede Behinderung einer Handlung, die mit der Freiheit von jedermann
nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann unrecht, da diese Behinderung
unmöglich mit der Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz bestehen kann.
Es ist das allgemeine Rechtsgesetz, welches die äußere Freiheitssphäre aller Menschen
auf die Bedingungen ihrer streng allgemeinen Übereinstimmung mit der äußeren
Freiheitssphäre aller anderen einschränkt. In der Form des Gebots lautet dieses: „handle
äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach
einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“.118 Das allgemeine Rechtsgesetz ist
für Kant ein Postulat der reinen praktischen Vernunft, das mit apodiktischer Gewissheit
besagt, dass die menschliche Freiheit „in ihrer Idee darauf eingeschränkt [ist] und von andern
auch thätlich eingeschränkt werden [darf]“.119
Das allgemeine Rechtsgesetz hat seinen Ursprung im allgemeinen Sittengesetz und
somit allgemeine und objektive Gültigkeit. Es bestimmt allerdings nicht den Gebrauch der
inneren Freiheit, sondern ausschließlich jenen der äußeren Freiheit. Der Grund für die
Einhaltung des Rechtsgesetzes ist somit - juridisch gesehen - ohne Belang. Wie im dritten
Kapitel noch ausführlicher zu sehen sein wird, fordert Kant die von den Triebfedern völlig
absehende, bloße Einhaltung des Rechtsgesetzes: die juridische Legalität.120 Es ist nicht nötig
- empirisch gesehen ist es sogar nicht einmal zu erwarten -, dass die Menschen sich aus
Rechtsliebe an das Rechtsgesetz halten. Der Grund für die Einhaltung des Rechtsgesetzes
kann völlig äußerlich sein, wie beispielsweise die Angst vor dem äußeren Zwang.
Mit dem Recht überhaupt hängt die „Befugniß zu zwingen“ unmittelbar zusammen.
Kant begründet das Zwangsrecht rein rational. Das bedeutet, er greift nicht auf empirische
Bedingungen wie etwa die Bösartigkeit der menschlichen Natur zurück. Seine prägnante
Begründung lautet wie folgt: „Der Widerstand, der dem Hindernisse einer Wirkung
entgegengesetzt wird, ist eine Beförderung dieser Wirkung und stimmt mit ihr zusammen.
Nun ist alles, was unrecht ist, ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen: der
Zwang aber ist ein Hinderniß oder Widerstand, der der Freiheit geschieht. Folglich: wenn ein
116
RL: VI, 230
RL: VI, 231 (meine Hervorhebungen)
118
RL: VI, 231
119
RL: VI, 231 (meine Hervorhebung)
120
Vgl. RL: VI, 231
117
- 33 -
gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen
(d. i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines
Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammen stimmend, d.
i. recht: mithin ist mit dem Rechte zugleich eine Befugniß, den, der ihm Abbruch thut, zu
zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft“.121 Die Befugnis zu zwingen stellt
keine Einschränkung der äußeren Freiheit von jedermann dar, sondern macht die
rechtsgesetzliche äußere Freiheit in Gemeinschaft mit anderen Menschen überhaupt erst
möglich. Kant führt seine Argumentation in zwei Schritten durch. Er erbringt zunächst den
Nachweis für die Notwendigkeit des Rechts zur Anwendung von Zwang, fügt dennoch eine
einschränkende Bedingung bezüglich seiner Anwendung hinzu.
Ohne die Befugnis zu zwingen wäre die äußere Freiheit von jedermann unter einem
allgemeinen Gesetz gar nicht möglich, weil das Recht im immer möglichen Fall eines
Handlungskonflikts wirkungslos bleiben würde. Dies bedeutet, dass ohne das Recht zur
Anwendung von Zwang die Einschränkung oder sogar Aufhebung der äußeren Freiheit eines
jeden Menschen durch den unrechtmäßigen Gebrauch der äußeren Freiheit eines anderen gar
nicht verhindert werden könnte. Dies würde aber im Widerspruch zu dem unbedingten
Geltungsanspruch des Rechtsgesetzes stehen. Es lässt sich somit festhalten, dass die Befugnis
zum Zwang die notwendige Bedingung der Möglichkeit der äußeren Freiheit von jedermann
unter einem allgemeinen Gesetz ist. Sie sorgt dafür, dass das Rechtsgebot überhaupt wirksam
wird, also von jedermann eingehalten wird.
Die Befugnis zu zwingen kann dennoch nicht als uneingeschränkt betrachtet werden.
Die Ausübung von Zwang ist nur insofern legitim, als sie die unrechtmäßige Einschränkung
der äußeren Freiheit von jedermann verhindert. Weil die Verhinderung eines rechtlichen
Gebrauchs der äußeren Freiheit ein Unrecht darstellt, handelt es sich bei dem Widerstand, der
dieser unrechten Verhinderung des äußeren Freiheitsgebrauchs entgegensteht, um ein Recht.
Es handelt sich laut Otfried Höffe um einen „Gegen-Zwang“: „Der legitime Zwang ist nicht
aggressiver, sondern defensiver Natur; er greift nicht an, sondern verteidigt“.122 Der legitime
Zwang ist kein Zwang, der die äußere Freiheit vernichtet, sondern vielmehr ein der Freiheit
und Gleichheit einer jeden moralischen Person schützender wechselseitiger Zwang. Kant
definiert das strikte Recht als „die Möglichkeit eines mit jedermanns Freiheit nach
allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen wechselseitigen Zwanges“.123
Das Recht formuliert somit die „Koexistenzbedingung freier Individuen“.124
Kant kommt somit zu dem Schluss, dass der Begriff des Rechts überhaupt die
Befugnis zu zwingen enthält: „Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten also einerlei“.125 Es
sei darauf hingewiesen, dass Kant hier nicht bloß vom „Zwang“ spricht, sondern von der
„Befugnis zu zwingen“. Die Einhaltung des Rechts ist somit nicht immer auf der tatsächlichen
Anwendung von Zwang angewiesen. Aus diesem Grunde spricht Kant in Bezug auf das Recht
auch vom „Princip der Möglichkeit eines äußeren Zwanges“.126 Die Anwendung von Zwang
ist nicht notwendig für die Einhaltung des Rechts, sondern soll bloß notwendig möglich sein.
Die Menschen können sich auch aus anderen beliebigen Gründen an das Recht halten. Im
immer möglichen Konfliktfall soll aber die Anwendung von Zwang notwendig möglich sein,
121
RL: VI, 231
Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt a. M.
2001, S. 142. Vgl. Ders.: Der kategorische Rechtsimperativ: „Einleitung in die Rechtslehre“, in: Immanuel Kant.
Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1999, S. 56f.
123
RL: VI, 232
124
Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt a. M.
1984, Paderborn 3. Aufl. 2007, S. 81.
125
RL: VI, 232
126
RL: VI, 232 (meine Hervorhebung)
122
- 34 -
um an sich gültiges Recht auch gegen mögliche Widerstände wirksam zu machen. Nur die
Befugnis zu zwingen ermöglicht gültiges, aber strittiges Recht wirksam zu machen.
Wenn bei Kant zu lesen ist, dass mit dem strikten (engen) Recht (und damit auch mit
jeder strikten Rechtspflicht) die „Befugniß zu zwingen“ verbunden ist, dann ist damit
gemeint, dass das strikte Recht die Möglichkeit eines „wechselseitigen Zwanges“127 enthält.
Kant bestimmt den Begriff des Rechts auch als der „unter allgemeine Gesetze gebrachte, mit
ihm zusammenstimmende durchgängig wechselseitige und gleiche Zwang“.128 Die mit dem
Recht verbundene Befugnis zu zwingen bezieht sich somit auf das eigene (moralische)
Vermögen, andere zu verpflichten und auf das korrespondierende (moralische) Vermögen der
anderen, mich zu verpflichten.
3. Das Recht der Menschheit und die allgemeine Einteilung der Rechtspflichten
3.1 Das angeborene Recht der Menschheit in der eigenen Person
In der Rechtslehre unterscheidet Kant das Recht in angeborenes Recht und erworbenes
Recht.129 Kant spricht diesbezüglich ebenfalls vom inneren Mein und Dein (meum internum)
einerseits und vom äußeren Mein und Dein (meum externum) andererseits. Das erworbene
Recht behandelt Kant im ersten Teil der Rechtslehre unter der Überschrift »Das Privatrecht
vom äußeren Mein und Dein überhaupt«, während er auf das angeborene Recht in einem
kurzen Abschnitt in der »Einleitung in die Rechtslehre« eingeht.
Dieser Abschnitt hat für die gesamte Rechtslehre grundlegenden Charakter, da das
angeborene Recht der Geltungsgrund sowohl des erworbenen Privatrechts, als auch des
öffentlichen Rechts ist. In den Vorarbeiten zur Tugendlehre schreibt Kant, dass „das Recht
der Menschheit in unserer eigenen Person […] aller anderen Verbindlichkeit vorgeht“.130 Im
unmittelbaren Anschluss daran führt Kant aus, dass das Recht der Menschheit sogar „die
oberste Bedingung aller Pflichtgesetze [ist] weil das Subject sonst aufhören würde ein Subject
der Pflichten (Person) zu seyn und zu Sachen gezählt werden müßte“.131 Erklärungsbedürftig
ist an dieser Stelle, worin das erwähnte Recht der Menschheit genau besteht und wie Kant
dieses begründet.
Es wurde zuvor gesehen, dass die (äußere) Freiheit der Menschen im Verhältnis
zueinander ohne Widerspruch nur als gesetzlich eingeschränkte Freiheit, das will heißen, als
rechtliche Freiheit gedacht werden kann. Aus dem allgemeinen Gesetz des Rechts folgt aus
diesem Grund das Recht eines jeden Menschen auf den beliebigen Gebrauch seiner freien
Willkür, insofern (und nur insofern) dieser mit der Freiheit von allen anderen nach einem
allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann.132 Freiheit im gekennzeichneten ist das
„einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht“.133
Dieses Recht kommt also jedem Mensch zu, bloß weil er Mensch ist. Um dies zu betonen
spricht Kant vom „ursprüngliche[n]“ und vom „angeborne[n] Recht der Freiheit“, weil es
127
RL: VI, 232 (meine Hervorhebung)
RL: VI, 233 (meine Hervorhebungen)
129
Vgl. RL: VI, 237
130
Vorarbeit: XXIII, 390 (meine Hervorhebung)
131
Vorarbeit: XXIII, 390
132
Vgl. RL: VI, 237
133
RL: VI, 237. Kant spricht in der Rechtslehre ausdrücklich vom angeborenen Recht der Menschheit im
Singular. „Das angeborne Recht ist nur ein einziges“ (RL: VI, 237) heißt es dort. In Anlehnung an Kant versucht
Otfried Höffe jedoch die Pluralisierbarkeit der Menschenrechte zu beweisen. Vgl. Ders.: Ist Kants
Rechtsphilosophie noch aktuell?, in: Immanuel Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, hrsg. v.
Otfried Höffe, Berlin 1999, S. 27.
128
- 35 -
„unabhängig von allem rechtlichen Act jedermann von Natur zukommt“.134 Wie im nächsten
Kapitel noch ausführlich zu sehen sein wird, müssen alle weiteren Rechte jederzeit zunächst
erworben werden.
Das Recht der Menschheit wird von Kant ebenfalls das „innere[] Recht“135 und ferner
das „innere[] Mein und Dein“136 genannt. Weil diese Bestimmung leicht Missverständnisse
erwecken kann, mögen einige Erläuterungen dazu von Nutzen sein. Es sei zunächst darauf
hingewiesen, dass das Recht der Menschheit auf die eigene Person bezogen ist. In den
Vorarbeiten zur Rechtslehre bestimmt Kant das innere Recht als „das Recht der Menschheit
zu des Menschen eigener Person“.137 Wenn Kant von einem inneren Recht spricht, hat er
diesen Selbstbezug im Sinne.
Das Recht der Menschheit ist aber zugleich ein auf die anderen Personen bezogenes
Recht. Es bezieht sich ausschließlich auf den äußeren Freiheitsgebrauch.138 Es betrifft „nur
meine äußere Freiheit, mithin nur den Besitz meiner selbst, kein Ding außer mir“.139 Kants
Rede vom „Besitz meiner selbst“ kann nun entweder in einem bloß physischen oder in einem
rechtlichen Sinne verstanden werden. Im ersten Fall würde sich das Recht der Menschheit nur
auf die Integrität des eigenen Leibes und Leben beziehen. Entsprechend würde mich der
äußere Freiheitsgebrauch anderer Menschen dann lädieren, wenn ihre Handlungen negativ auf
meinen Körper einwirken ohne, dass ich dazu meine Zustimmung gegeben hätte (also etwa
wenn andere mich verletzen, behindern, oder festhalten). Solche Handlungen würden
Abbruch an meiner äußeren Freiheit tun und damit zugleich eine Läsion meines angeborenen
Rechts darstellen. Daraus folgt allerdings nicht, dass das Recht der Menschheit mit
körperlicher Integrität gleichzusetzen ist. Im dem von Kant verwendeten rechtlichen Sinne
bezeichnet der Ausdruck „sich selbst zu besitzen“ allgemeiner die „Qualität des Menschen
sein eigener Herr (sui iuris) zu sein“.140 Das Recht der Menschheit in der eigenen Person
bedeutet somit (positiv) ein „Recht auf Selbstbestimmung“ und (negativ) die „Abwehr von
Fremdbestimmung“.141 Es ist also das Recht seine Zwecke selbst zu bestimmen und solche
Handlungen hierfür vorzunehmen, die mit der Freiheit von allen anderen nach einem
allgemeinen Gesetz zusammen bestehen können. An dieser Stelle ist es nicht ganz ohne
Wichtigkeit festzuhalten, dass das soeben definierte Recht der Menschheit ein Recht auf
Eigenart und auf Identität einschließt.142
In Kants Rede vom „Recht der Menschheit“ ist der Begriff der Menschheit eine Idee,
in welcher der Mensch „nach der Eigenschaft seines Freiheitsvermögens, welches ganz
übersinnlich ist, also auch bloß nach seiner Menschheit, als von physischen Bestimmungen
unabhängiger Persönlichkeit (homo noumenon)“143 vorgestellt wird. Diese Idee der
Menschheit wird in jedem einzelnen Mensch verkörpert. Kants Begriff der Menschheit ist
somit ein der praktischen Philosophie und nicht der empirischen Anthropologie zugehöriger
Begriff. Der Menschheitsbegriff ist nicht der Gegenbegriff der Tierheit. Er bezeichnet nicht in
134
RL: VI, 237
RL: VI, 232
136
Vgl. RL: VI, 238
137
Vorarbeit: XXIII, 276
138
Daraus folgt, dass jeder Mensch durch den äußeren Freiheitsgebrauch der anderen hinsichtlich seines inneren
(ursprünglichen) Rechts ebenso lädiert werden kann, wie hinsichtlich seines äußeren (erworbenen) Rechts. Ein
Verstoß gegen das innere Recht verletzt aber nicht nur das Recht eines gegebenen Menschen, sondern kränkt die
Menschheit in seiner Person und damit aller anderen Menschen. Es ist Unrecht überhaupt.
139
RL: VI, 254 (meine Hervorhebungen)
140
RL: VI, 238
141
Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt a. M.
1984, Paderborn 3. Aufl. 2007, S. 161.
142
Vgl. Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt
a. M. 1984, Paderborn 3. Aufl. 2007, S. 161.
143
RL: VI, 239; Religion: VI, 26
135
- 36 -
einem bloß empirischen Sinne die Gesamtheit aller sich durch bestimmte gemeinsame
biologisch-morphologische Merkmale gekennzeichneten Mitglieder der menschlichen
Gattung. Der Menschheitsbegriff ist nicht primär in einem sinnlichen, sondern in einem
übersinnlichen Sinne zu verstehen. Gemeint ist also primär die Gesamtheit aller Menschen als
Vernunftwesen und damit einhergehend als Besitzer einer Persönlichkeit und einer Würde.
Am Ende seiner Ausführungen zum Recht der Menschheit erwähnt Kant die
„angeborne Gleichheit“, verstanden als „die Unabhängigkeit nicht zu mehrerem von Anderen
verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann“.144 Die
angeborene Gleichheit liegt „schon im Princip der angebornen Freiheit“ und ist „wirklich von
ihr nicht […] unterschieden“.145 Die angeborene Gleichheit bedeutet, dass alle möglichen
empirischen Unterschiede zwischen den Individuen rechtlich ohne Bedeutung sind. Alle
möglichen Formen von (religiösen, ethnischen, sozialen, usw.) Diskriminierungen sind damit
rechtlich ausgeschlossen. Es muss an dieser Stelle darauf aufmerksam gemacht werden, dass
das Recht der Menschheit (sowie das allgemeine Rechtsgesetz) sich nicht auf die Menschen
als Individuen, sondern auf die Menschen als Personen im zuvor definierten juridischen Sinne
bezieht. Vor diesem Hintergrund ist die Kritik, dass Kant eine individualistische Position
vertritt gänzlich zu verwerfen.146 Um Missverständnisse zu vermeiden und konzeptionelle
Klarheit zu gewinnen, wird deshalb im Folgenden stets vom Recht der Menschheit in der je
eigenen Person bzw. vom Recht der Menschheit in der Person jedes einzelnen Menschen die
Rede sein.
Abschließend zu diesem Teil könnte es noch sachdienlich sein kurz auf zwei
Kritikpunkte einzugehen, die gelegentlich zu lesen sind. Eine erste Kritik wird von Wolfgang
Kersting formuliert, wenn er bedauert, dass Kant „weder die allgemeinen Bedingungen der
Verwirklichung menschenrechtlicher Freiheit in das Konzept des Menschenrechts
[aufnimmt], noch […] auf besondere, geschichtlich erfahrene Freiheitsgefährdungen“147
reagiert. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange man in Erinnerung behält, dass Kant sich in
der Rechtslehre ein ganz anderes Ziel gesetzt hat. Auch hier hält Kant mit guten Gründen an
dem Programm eines a priori entworfenen Systems des Rechts fest, das er in der Vorrede zur
Rechtslehre bestimmt hat.
Ferner ist gelegentlich die Kritik zu lesen, dass das innere Recht kein Recht im
strengen Sinne sei. Diese Kritik scheint auf den ersten Blick von Kant selbst bestätigt zu
werden, wenn er schreibt: „Ein strictes (enges) Recht kann man also nur das völlig äußere
nennen“.148 Die Frage ist also, ob das innere Recht als ein völlig äußeres bezeichnet werden
kann. Wie das Recht überhaupt, hat auch das innere Recht nur das zum Gegenstand, „was in
Handlungen äußerlich ist“.149 Dem inneren Recht ist „nichts Ethisches beigemischt“.150 Es
fordert „keine andern Bestimmungsgründe der Willkür als bloß die äußern“ und ist alsdann
„rein und mit keinen Tugendvorschriften vermengt“.151 Damit ist zunächst gemeint, dass das
Recht der Menschheit sich nicht auf einen material bestimmten Zweck bezieht. Es bedeutet
144
RL: VI, 238
RL: VI, 238
146
Stellvertretend hierfür ist: Detjen, Joachim: Pluralismus und klassische politische Philosophie, in: Jahrbuch
für Politik 2, 1991, S. 151-189. Ein ähnliches Missverständnis ist in der schon veralteten, leider
wirkungsmächtigen Interpretation des französischen Juristen Michel Villey zu finden, wenn er schreibt: „c’est là
une manière profane d’envisager le droit, vu seulement par ses conséquences pour les intérêts de la vertu, d’un
point de vue strictement individualiste […] Kant ne voit le droit qu’en fonction et à partir de l'individu“ (Villey,
Michel: Préface à la Métaphysique des mœurs: Doctrine du droit, Paris 1993, S. 17).
147
Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt a. M.
1984, Paderborn 3. Aufl. 2007, S. 165.
148
RL: VI, 232 (meine Hervorhebungen)
149
RL: VI, 232
150
RL: VI, 232
151
RL: VI, 232
145
- 37 -
außerdem, dass das Recht der Menschheit gar nicht verlangt, dass die Idee der Pflicht
zugleich die Triebfeder der Handlungen sei. Weil das innere Recht unmittelbar bloß äußere
Handlungen fordert, erlaubt es auch keinen Spielraum hinsichtlich seiner Einhaltung. Es ist
insofern striktes Recht.
3.2 Kants Neuinterpretation der ulpianischen Formeln
Dem ursprünglichen Recht der Menschheit entsprechen jedem Mensch drei ebenfalls
kraft seiner Menschheit zukommenden Rechtspflichten. Kant bestimmt und erläutert diese
drei Rechtspflichten in wenigen kurzen Absätzen der Rechtslehre im Abschnitt unter der
Überschrift »Allgemeine Eintheilung der Rechtspflichten«. Hierfür verwendet er die drei
klassischen Formeln des römischen Juristen Ulpian: „honeste vive“, „honestas iuridica“,
„neminem laede“. Aufgrund ihrer äußersten Kürze bereitet Kants neue Lesart der ulpianischen
Formeln einige wichtige begründungstheoretische und systematische Schwierigkeiten, auf
welche nun kurz eingegangen werden soll.152
Die erste innere Rechtspflicht bestimmt Kant folgendermaßen: „Sei ein rechtlicher
Mensch (honeste vive)“. Gefordert ist hier „rechtliche Ehrbarkeit (honestas iuridica)“.153 In
der Form des Gebots lautet diese Rechtspflicht: „Mache dich anderen nicht zum bloßen
Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck“.154 Entsprechend sind alle Handlungen
unrechtmäßig, durch welche die Menschen sich zu bloßen Mitteln degradieren lassen. Der
Mensch darf sich nicht zu einer Sache machen, mit welcher andere beliebig umgehen dürfen.
Jeder Mensch soll vielmehr „im Verhältniß zu Anderen seinen Werth als den eines
Menschen“155 behaupten. Gemeint ist hier, dass jeder Mensch im Verhältnis zu anderen
Menschen sich als Urheber des eigenen Handelns, mithin als vernunftbegabtes und freies
Wesen, betrachten soll und damit verbunden sich als Träger von Rechten und Pflichten
behaupten soll. Mit anderen Worten: Jeder Mensch soll durch Aufhebung aller möglichen (u.
a. sozialen, kulturellen oder ökonomischen) Hindernisse die eigene Rechtspersönlichkeit im
Verhältnis zu anderen Menschen behaupten und bewahren.
Die zweite, nun äußere Rechtspflicht lautet: „Thue niemanden Unrecht (neminem
laede)“.156 Diese Rechtspflicht ist bloß negativ, da die Menschen dazu aufgefordert werden,
auf jede Handlung zu verzichten, welche die äußere Freiheitssphäre eines anderen
beeinträchtigen würde. Es geht also um eine Unrechtsvermeidung. Positiv formuliert, hat dies
zu bedeuten, dass der äußere Freiheitsgebrauch eines jeden Menschen derart eingeschränkt
werden soll, dass er mit der Freiheit von Jedermann nach einem allgemeinen Gesetz
zusammen bestehen kann.
Die dritte ebenfalls äußere Rechtspflicht formuliert Kant folgendermaßen: „Tritt […]
in eine Gesellschaft mit Andern, in welcher Jedem das Seine erhalten werden kann (suum
cuique tribue)“.157 Jeder Mensch steht vor einer radikalen Alternative: Entweder soll er „aus
152
Lesenswerte Überlegungen zum systematischen Stellenwert und zur Begründung der allgemeinen Einteilung
der Rechtspflichten in Kants Rechtslehre sind u.a. in den folgenden Werken zu finden: Geismann, Georg: Kant
und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3, Würzburg 2012, S. 13ff. und Ders.:
Kant und kein Ende, Studien zur Rechtsphilosophie, Bd. 2, Würzburg 2010, S. 132ff.; Höffe, Otfried:
"Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt a. M. 2001, S. 147ff.;
Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt a. M.
1984, Paderborn 3. Aufl. 2007, S. 167ff. Vgl. auch: Pinzani, Alessandro: Der systematische Stellenwert der
pseudo-ulpianischen Regeln in Kants Rechtslehre, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 59, 2005, S. 7194.
153
RL: VI, 236
154
RL: VI, 236
155
RL: VI, 236
156
RL: VI, 236
157
RL: VI, 237
- 38 -
aller Verbindung mit andern heraus gehen und alle Gesellschaft meiden“158 oder in einen
Zustand eintreten, worin „Jedermann das Seine gegen jeden Anderen gesichert sein kann“.159
Es wurde allerdings bereits gesehen, dass aufgrund der räumlichen Begrenztheit der Erde und
infolge der menschlichen Natur grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann, dass die
Menschen im konfliktträchtigen Verhältnis zueinander kommen. Aus diesem Grund reduziert
sich die eingangs erwähnte Alternative in einem einzigen seit Hobbes bekannten Gebot:
exeundum esse e statu naturali.
Am Ende seiner Erläuterungen zu den drei Rechtspflichten fügt Kant noch eine kurze
Bemerkung zu ihrem systematischen Verhältnis zueinander hinzu. Dort erklärt er, dass die
dritte (äußere) Rechtspflicht sich aus der Ableitung der zweiten (äußeren) Rechtspflicht vom
Prinzip der ersten (inneren) durch Subsumtion ergibt.160 Was ist darunter zu verstehen? Es
wurde bereits gesehen, dass die erste innere Rechtspflicht von den Menschen fordert, sich
nicht zum bloßen Mittel degradieren zu lassen, sondern sich immer als Rechtsperson zu
behaupten. Die zweite äußere Pflicht verlangt wiederum von den Menschen, dass sie sich
jeder Handlung enthalten, die mit dem Recht der anderen nicht verträglich ist. Solange es
jedoch keine Garantie dafür gibt, dass alle Menschen sich an die äußere Rechtspflicht halten
werden, kann auch nicht gesichert werden, dass die Menschen ihre innere Rechtspflicht
einhalten werden können. Aus diesem Grund ist es den Menschen geboten mit allen anderen
in einen Zustand einzutreten, in welchem die Möglichkeit der Erfüllung der ersten beiden
Rechtspflichten durch jedermann gesichert ist.161
Wichtig ist hier festzuhalten, dass für Kant die Ableitung der dritten (äußeren)
Rechtspflicht die beiden vorhergehenden (inneren und äußeren) Rechtspflichten voraussetzt.
Kant leitet also die Rechtspflicht aus dem Naturzustand herauszutreten nicht allein aus der
notwendigen Möglichkeit des äußeren Mein und Dein, sondern auch aus dem inneren Mein
und Dein. Im Unterschied zu vielen andersartigen Meinungen lässt sich bereits hier festhalten,
dass Kant eine Begründung der Notwendigkeit des bürgerlichen Zustandes leistet, die nicht
ausschließlich auf den äußeren Mein und Dein gründet.
Abschließend zum hier diskutierten Thema ist noch auf eine Entwicklung in Kants
Gedanken aufmerksam zu machen. In der Friedensschrift führte Kant noch aus, dass ich im
Naturzustand jeden anderen nötigen kann, „entweder mit mir in einen gemeinschaftlichgesetzlichen Zustand zu treten, oder aus meiner Nachbarschaft zu weichen“.162 Was in der
Friedensschrift noch in der vorsichtigen Form einer Befugnis ausgedrückt wurde (Kant
schreibt: „kann“ im Sinne von „darf“), wird in der zwei Jahre später erschienen Rechtslehre
als ein unbedingtes Vernunftgebot bestimmt („Tritt […] in eine Gesellschaft …“ und „Tritt in
einen Zustand ...“). Selbst wenn dies von Kant nicht explizit formuliert wird, darf hinzugefügt
werden, dass die dritte Rechtspflicht sich auf den gesamten Bereich des öffentlichen Rechts
bezieht. Die Forderung beschränkt sich also nicht auf das Staatsrecht, sondern erstreckt sich
ebenfalls auf das Völker- und Weltbürgerrecht.
3.3 Der systematische Stellenwert der inneren Rechtspflicht
158
RL: VI, 236
RL: VI, 237
160
Vgl. RL: VI, 236
161
Vgl. Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt
a. M. 2001, S. 157. Siehe ebenfalls: Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg
zum Weltfrieden, Bd. 3, Würzburg 2012, S. 15.
162
Frieden: VIII, 349
159
- 39 -
Es wurde zuvor darauf hingewiesen, dass Kant das Gebot „honeste vive“ ausdrücklich
als innere Rechtspflicht bezeichnet.163 Auf den ersten Blick scheint der Begriff einer inneren
Rechtspflicht ein Widerspruch zu enthalten, denn nach der Rechtslehre sind alle Pflichten
„entweder Rechtspflichten (officia iuris), d.i. solche, für welche eine äußere Gesetzgebung
möglich ist, oder Tugendpflichten (officia virtutis s. ethica), für welche eine solche nicht
möglich ist“.164 Es lässt sich aber leicht einsehen, dass die Einhaltung der Pflicht zur
rechtlichen Ehrbarkeit durch keinen äußeren Zwang möglich ist. Es scheint somit nahe zu
liegen, das Gebot „honeste vive“ den Tugendpflichten zuzuordnen.
Wie im Folgenden zu sehen sein wird, hat Kant vor der Veröffentlichung der
Rechtslehre zum Teil kontradiktorische Aussagen bezüglich der systematischen Zuordnung
der inneren Rechtspflichten und der ersten ulpianischen Formel gemacht.
Der Begriff einer inneren Rechtspflicht gegen sich selbst taucht zum ersten Mal in der
von Johann Friedrich Vigilantius abgeschriebenen Vorlesung zur Metaphysik der Sitten auf,
die Kant wahrscheinlich im Wintersemester 1793-94 gehalten hat. Dort erklärt er mit aller
wünschenswerten Deutlichkeit: „[E]s giebt Rechtspflichten oder officia stricta, zu denen man
gezwungen werden kann, ohne daß ein anderer mich zwingen kann; z.E. es ist strenge Pflicht
der Menschheit in meiner eigenen Person, daß ich über meinen Körper nicht als
Eingenthümer disponieren kann“.165 Kant erklärt, dass es Rechtspflichten sowohl „gegen
mich selbst“ als „gegen andere“ gibt. Während die ersten innere Rechtspflichten sind (officia
iuris interna), handelt es sich bei den zweiten um äußere Rechtspflichten (officia iruris
externa). Nur die äußeren Rechtspflichten sind „Zwangspflichten oder eigentliche officia
juridica“.166
Selbst wenn Kant die Rechtspflichten gegen sich selbst in der Vigilantius-Vorlesung
nicht für eigentliche Rechtspflichten hält, so räumt er ihnen doch einen hohen Stellenwert ein:
„[S]o sind die Rechtspflichten gegen sich selbst die höchsten Pflichten unter allen. Sie
betreffen das correspondirende Recht der Menschheit in seiner eigenen Person, sind daher
vollkommene Pflichten, und jede Pflichthandlung wird von dem Recht der Menschheit
unerlässlich gefordert, und ist an und für sich selbst Pflicht“.167 Ferner im Text heißt es: „Eine
jede Uebertretung ist also Verletzung des Rechts der Menschheit in seiner eigenen Person, er
macht sich also des ihm anvertrauten Besitzes seiner Person unwürdig, und wird
nichtswürdig, da die Erhaltung seines eigenen Whertes nur in der Beobachtung der Rechte
seiner Menschheit besteht: er verliert allen inneren Werth, und kann höchstens als ein
Instrument für andere, deren Sache er geworden, angesehen werden“.168
Im Unterschied zu der späteren Rechtslehre wird die innere Rechtspflicht gegen sich
selbst jedoch nicht dem ulpianischen Grundsatz „honeste vive“ zugeordnet. In
Übereinstimmung mit den herkömmlichen naturrechtlichen Deutungsmustern wird die erste
ulpianische Formel nicht zur Rechtslehre, sondern ausdrücklich zur Ethik gezählt: „Es enthält
dieser Ausdruck des Ulpians […] den ganzen Complexum der ethischen Pflichten, die er
dadurch von den rechtlichen abschneidet“.169 Bereits in einer Reflexion aus dem 1770er
Jahren hatte Kant den Grundsatz „honeste vive“ als das „ethische principium“ bezeichnet, das
„die Rechtschaffenheit (der Gesinnung)“170 verlange. Vor der Veröffentlichung der
163
Vgl. RL: VI, 237
RL: VI, 239
165
Vigilantius: XXVII, 581
166
Vigilantius: XXVII, 582
167
Vigilantius: XXVII, 604
168
Vigilantius: XXVII, 604
169
Vigilantius: XXVII, 527
170
Reflexion 7078: XIX, 243
164
- 40 -
Rechtslehre lässt sich keine Stelle finden, in welche Kant das Gebot „honeste vive“ als innere
Rechtspflicht bezeichnet und in einem Recht der Menschheit begründet hat.171
Aber auch in den späteren Vorarbeiten zur Tugendlehre verwendet Kant die drei
klassischen ulpianischen Formeln zur Kennzeichnung des grundsätzlichen Unterschieds von
Rechts- und Tugendpflichten. Dort führt er aus, dass das Gebot „honeste vive“ zu den
Tugendpflichten gehört: „Die Moral besteht aus der Rechtslehre (doctrina iusti) und der
Tugendlehre (doctrina honesti) jene heißt auch ius im allgemeinen Sinne, diese Ethica in
besondrer Bedeutung (denn sonst bedeutet auch Ethic die ganze Moral). - Wenn wir die
letztere zuerst nehmen so können wir mit Ulpian die Formel derselben so ausdrücken: honeste
vive - Die Rechtslehre enthält zwey Theile die des Privatrechts und des öffentlichen Neminem laede, sum cuique tribue also das Recht des Naturzustandes und des
bürgerlichen“.172
Interessant ist des Weiteren ein Blick auf die spätere Tugendlehre. Dort unterscheidet
Kant die Pflichten gegen sich selbst danach, ob „das Subject der Pflicht (der Mensch) sich
selbst entweder als animalisches (physisches) und zugleich moralisches, oder blos als
moralisches Wesen betrachtet“.173 Was die Pflicht des Menschen gegen sich selbst als
animalisches und zugleich moralisches Wesen betrifft, so besteht sie in der physischen
Erhaltung seiner selbst und seiner Art. Was aber die Pflicht des Menschen gegen sich selbst
bloß als moralisches Wesen betrifft, so besteht sie in der Bewahrung und Sicherung der
Würde der Menschheit in seiner Person. Kant spricht diesbezüglich von „moralische[r]
Selbsterhaltung“ bzw. von „moralische[r] Gesundheit […] des Menschen“.174 Wolfgang
Kersting bemerkt hier, dass diese zweite Art von Pflichten formal und negativ ist, und somit
die Merkmale besitzt, die den Rechtspflichten zukommen.175 Nichtsdestotrotz zählt Kant sie
ausdrücklich zu den Tugendpflichten.176 Es besteht hier Erklärungsbedarf darüber, warum
Kant die Pflicht der moralischen Selbsterhaltung in der Tugendlehre als Tugendpflicht
bezeichnet, und die Pflicht zur rechtlichen Ehrbarkeit in der Rechtslehre als Rechtspflicht.
Bei näherer Analyse zeigt sich, dass der eingangs erwähnte (scheinbare) Widerspruch
im Begriff der inneren Rechtspflicht nur dann besteht, wenn man davon ausgeht, dass der
äußere Zwang das notwendige und hinreichende Kriterium zur Bestimmung der
Rechtspflichten ist. Ohne sich dem Unterschied von Rechts- und Tugendpflichten an dieser
Stelle ausführlich widmen zu wollen177, soll hier darauf hingewiesen werden, dass für Kant
die äußerliche Erzwingbarkeit nicht das bestimmende Merkmal der Rechtspflichten darstellt.
Ohne Zweifel sind alle erzwingbaren Pflichten (äußerliche) Rechtspflichten. Dies hat
allerdings nicht zu bedeuten, dass alle Rechtspflichten erzwingbar sind. Und alle Pflichten,
die nicht erzwingbar sind, sind nicht Tugendpflichten. Dies wird von Kant angedeutet, wenn
er in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten die juridische Gesetzgebung als diejenige
definiert, die „auch äußerlich sein kann“.178 Kant hat offensichtlich dieser Einsicht nur spät
gewonnen. In den Vorarbeiten zur Rechtslehre ist zum Beispiel noch zu lesen, dass das innere
Recht „zur Ethik“ gehört, weil es nicht mit der Befugnis andere zu zwingen verbunden ist.179
Diese innere Rechtspflicht weist offensichtlich eine gewisse Eigentümlichkeit im
Vergleich zu den anderen Rechtspflichten auf. Im Unterschied sowohl zu den herkömmlichen
171
Vgl. ebenfalls: Naturrecht Feyerabend: XXVII, 1336f. und Praktische Philosophie Powalski: XXVII, 144
Vorarbeit: XXIII, 386
173
TL: VI, 420
174
TL: VI, 419
175
Vgl. Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt
a. M. 1984, Paderborn 3. Aufl. 2007, S. 170.
176
Vgl. TL: VI, 419
177
Darauf soll im letzten Kapitel des zweiten Hauptteils noch näher eingegangen werden.
178
RL: VI, 220 (meine Hervorhebungen)
179
Vgl. Vorarbeit: XXIII, 276
172
- 41 -
naturrechtlichen Deutungsmustern, als auch zu seinen früheren Erläuterungen in anderen
Werken bestimmt Kant das Ehrbarkeitsgebot als eine lediglich durch Selbstzwang zu
bewirkende innere Rechtspflicht gegen sich selbst. Kants Bestimmung der inneren
Rechtspflicht in der Rechtslehre ist somit in zweierlei Hinsicht originell.
Erstens: Die Pflicht zur rechtlichen Ehrbarkeit ist nicht den anderen Menschen,
sondern der Menschheit in der jeweils eigenen Person geschuldet. Das Gebot „honeste vive“
legt somit den Menschen eine rechtliche Verbindlichkeit gegen sich selbst auf.
Zweitens: Die Pflicht zur rechtlichen Ehrbarkeit scheint deshalb keine strikte
Rechtspflicht zu sein, da „mit jedem Recht in enger Bedeutung […] die Befugniß zu zwingen
verbunden“180 ist, die Einhaltung der inneren Rechtspflicht aber nicht äußerlich erzwungen
werden kann. Niemand kann äußerlich gezwungen werden, seine eigene Rechtspersönlichkeit
im Verhältnis zu anderen Menschen zu behaupten und zu bewahren. Die Einhaltung der
inneren Rechtspflicht kann somit lediglich durch einen (wie auch immer motivierten)
Selbstzwang bewirkt werden.181
Trotz dieser Eigentümlichkeit besitzt die innere Rechtspflicht alle Merkmale, die den
üblichen Rechtspflichten zukommen. Die Pflicht zur rechtlichen Ehrbarkeit bezieht sich
zunächst lediglich auf bloß äußere Handlungen. In den Vorarbeiten zur Tugendlehre heißt es
diesbezüglich: „Die Pflicht Maximen anzunehmen die zur allgemeinen Gesetzgebung taugen
folgt nicht aus dem Rechte Anderer sondern diese fordern nur Handlungen als officia. Auch
nicht das Recht der Menschheit in unserer Person in seine Maxime aufzunehmen denn diese
(die Menschheit) fordert nur Handlungen“.182 Auch die innere Rechtspflicht lässt keinen
Spielraum hinsichtlich ihrer Erfüllung zu. Die innere Rechtspflicht gebietet außerdem jedem
Menschen äußere Handlungen unabhängig von den Triebfedern derselben. „Das Recht der
Menschheit in unserer eigenen Person gehört […] nicht in die Tugendlehre weil sie auch nicht
verlangt daß die Idee der Pflicht gegen sich selbst zugleich die Triebfeder der Handlungen
sey“.183 Die innere Rechtspflicht fordert keinen inneren Bestimmungsgrund für die Einhaltung
der Rechtspflicht. Es zeigt sich also, dass die innere Pflicht zur rechtlichen Ehrbarkeit mit
guten Gründen als eine strenge Rechtspflicht betrachtet werden kann.184
Zusammenfassend kann mit Wolfgang Kersting festgehalten werden, dass Kants
gedankliche Entwicklung „den Weg einer Aufspaltung der juridisch-ethischen Doppelinstanz
des Rechts der Menschheit in uns und damit des komplexen Bereichs der vollkommenen
inneren Pflichten gegen sich selbst in eine juridische und eine ethische Hälfte [nimmt]: Das
Recht der Menschheit verlässt die Ethik und erweitert als Grund innerer Rechtspflichten die
Prinzipienlehre des Rechts“.185 Dabei bleibt allerdings die entscheidende Frage offen, warum
Kant diese Erweiterung der Prinzipienlehre des Rechts vornimmt und wie er sie begründet.
Näheren Aufschluss darüber erfahren wir erneut in der Metaphysik der Sitten Vigilantius. Dort
führt Kant aus, dass die innere Rechtspflicht „aus dem Begriff der Freiheit durch das Gesetz
des Widerspruchs, mithin analytisch, abgeleitet“186 wird. Darunter ist zu verstehen, dass die
180
RL: VI, 233 (meine Hervorhebung)
Ohne die nachstehenden Erläuterungen vorgreifen zu wollen, kann bereits an dieser Stelle betont werden,
dass jeder alle anderen Menschen dazu zwingen darf, die Bedingungen zu schaffen unter denen jeder prinzipiell
von den anderen nicht gehindert werden kann, seine Rechtspersönlichkeit zu behaupten und zu bewahren. Dies
ist aber nur mit dem Übergang vom Naturzustand in den bürgerlichen Zustand möglich. Mit der Pflicht zur
rechtlichen Ehrbarkeit ist somit die Befugnis verbunden, die anderen zu zwingen mit mir in einem Zustand des
öffentlichen Rechts einzutreten.
182
Vorarbeit: XXIII, 381
183
Vorarbeit: XXIII, 390
184
Vgl. Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Studien zur Rechtsphilosophie, Bd. 2, Würzburg 2010, S. 136.
185
Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt a. M.
1984, Paderborn 3. Aufl. 2007, S. 170f.
186
Vigilantius: XXVII, 587
181
- 42 -
innere Rechtspflicht sich auf Handlungen bezieht, welche eine analytische Bedingung der
Möglichkeit rechtlicher Freiheit sind. Die Behauptung und Bewahrung der eigenen
Rechtspersönlichkeit ist eine vorhergehende Bedingung dafür, dass es Rechtspersonen und
damit überhaupt Recht geben kann. Otfried Höffe bezeichnet die Pflicht zur rechtlichen
Ehrbarkeit in diesem Sinne als eine „rechtsmoralische Vor-Leistung“.187 Damit ist gemeint,
dass dort wo die Menschen sich als bloße Mittel behandeln lassen anstatt sich als Träger von
Rechten zu behaupten, es überhaupt kein Recht (weder ein angeborenes noch ein erworbenes)
geben kann. Die Einhaltung der inneren Pflicht ist somit die notwendige Vorbedingung allen
Rechts überhaupt.
Fassen wir den Gang der bisherigen Erläuterungen zusammen, dann zeigt sich, dass es
Kant gelungen ist, ausgehend von einem rein rationalen Begriff der Freiheit einen ebenso rein
rationalen Begriff des Rechts überhaupt sowie das ursprüngliche Recht der Menschheit und
die korrespondierenden Rechtspflichten zu begründen. Bevor wir uns im nächsten Abschnitt
der Begründung der notwendigen Möglichkeit des äußeren Privatrechts zuwenden, könnte
noch eine Erläuterung zu Kants allgemeiner Einteilung der Rechtspflichten von Nutzen sein.
Oberflächlich betrachtet besteht die Rechtslehre aus zwei Teilen. Gemeint sind das
Privatrecht und das öffentliche Recht. Eine nähere Betrachtung zeigt jedoch sofort, dass das
Privatrecht vom „äußeren Mein und Dein“, ein Privatrecht vom „inneren Mein und Dein“
vorausgeht. Die Rechtslehre besteht also nicht aus zwei, sondern aus drei systematischen
Teilen. Nur weil es „in Ansehung des angebornen, mithin inneren Mein und Dein keine
Rechte, sondern nur Ein Recht giebt“188, mithin wegen des äußerst ungleichen Umfangs der
drei Teile der Rechtslehre, wird der systematisch erste Teil „in die Prolegomenen
geworfen“189, nämlich in die Einleitung in die Rechtslehre.
Wenn bei Kant zu lesen ist, dass die drei klassischen ulpianischen Formeln als
„Eintheilungsprincipien des Systems der Rechtspflichten“190 dienen, dann soll jedoch nicht
verstanden werden, dass die drei Rechtspflichten die soeben genannte Dreiteilung der
Rechtslehre in Lehre vom Privatrecht des inneren Mein und Dein, vom Privatrecht des
äußeren Mein und Dein und vom öffentlichen Recht widerspiegeln.191 Dass die erste
Rechtspflicht sich auf das innere Mein und Dein, die dritte aber auf das öffentliche Recht
bezieht, ist eindeutig und wird nicht bestritten. Vorderhand könnte man davon ausgehen, dass
die zweite Rechtspflicht sich lediglich auf das Privatrecht des äußeren Mein und Dein beläuft.
In Wirklichkeit wird aber gefordert, dass die Menschen kein Unrecht schlechthin begehen.
Die zweite Rechtspflicht bezieht sich somit sowohl auf das angeborene als auch auf das
erworbene Recht.
Aus dem rein rationalen Recht der Menschheit in der Person jedes einzelnen
Menschen leitet Kant anschließend ebenso rein rational die notwendige Möglichkeit des
Privatrechts vom äußeren Mein und Dein ab. Dies zu zeigen ist das Ziel der folgenden
Ausführungen.
4. Die notwendige Möglichkeit des Privatrechts in Ansehung äußerer Gegenstände
187
Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt a. M.
2001, S. 158 und 160.
188
RL: VI, 238
189
RL: VI, 238
190
RL: VI, 237
191
Vgl. Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt
a. M. 2001, S. 155ff.
- 43 -
In der Rechtslehre führt Kant seine Argumentation bezüglich der notwendigen
Möglichkeit des Privatrechts hauptsächlich im ersten Hauptstück des ersten Teils unter der
Überschrift »Von der Art etwas Äußeres als das Seine zu haben « aus.192 Dort beginnt Kant
seiner Erläuterung mit einer Bestimmung, die für die weiteren Überlegungen grundlegend ist.
So heißt es zunächst: „Das rechtlich Meine (meum iuris) ist dasjenige, womit ich so
verbunden bin, daß der Gebrauch, den ein Anderer ohne meine Einwilligung von ihm machen
möchte, mich lädiren würde. Die subjektive Bedingung der Möglichkeit des Gebrauchs
überhaupt ist der Besitz“.193 Es kann argumentiert werden, dass die zitierte Stelle sich auf das
rechtliche Meine überhaupt bezieht, das heißt sowohl auf das (zuvor behandelte) innere Mein
und Dein als auch auf das (nun näher zu erläuternde) äußere Mein und Dein.194 Es wurde
zuvor gesehen, dass das innere Mein und Dein sich auf alles bezieht, was zu mir als
moralische Person gehört, einschließlich auf das, was mein Dasein als Person überhaupt
bedingt, nämlich mein Leib und Leben. Dass der Gebrauch, den ein Anderer ohne meine
Einwilligung von mir als Person macht, dem Rechtsgesetz widerspricht und somit ein Unrecht
darstellt, leuchtet von selbst ein und bedarf keiner weiteren Erläuterung.195
Das Gleiche gilt allerdings nicht für das äußere Mein und Dein. Ein äußerer
Gegenstand kann nämlich nur dann als das rechtliche Meine gelten, wenn ich annehmen darf,
dass der Gebrauch, den ein anderer ohne meine Einwilligung von diesem Gegenstand macht,
mich selbst dann lädieren kann, wenn ich ihm nicht physisch innehabe. Die zuvor angeführte
Definition des rechtlichen Mein würde sich also selbst widersprechen, wenn der Begriff des
Besitzes nicht in zweierlei Bedeutung zu verstehen wäre. Gemeint sind der physische
(sinnliche) Besitz einerseits und der bloß rechtliche (intelligible) Besitz andererseits.196 In der
zweiten Bedeutung handelt es sich um einen Vernunftbesitz.
192
Diesbezüglich habe ich mich insbesondere von den mittlerweile schon alten, allerdings immer noch
hilfreichen Monographien von Reinhard Brandt und Kristian Kühl belehren lassen. Vgl. Brandt, Reinhard:
Eigentumstheorien von Grotius bis Kant, Stuttgart - Bad Cannstatt 1974; Kühl, Kristian: Eigentumsordnung als
Freiheitsordnung. Zur Aktualität der Kantischen Rechts- und Eigentumslehre, Freiburg - München 1984.
Überaus lesenswerte Überlegungen zur Kants Eigentumstheorie sind ebenfalls in den einschlägigen Kapiteln der
folgenden Monographien zu lesen. Vgl. Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der
Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3, Würzburg 2012, S. 19-46; Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit.
Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt a. M. 1984, Paderborn 3. Aufl. 2007, S. 177-229.
193
RL: VI, 245
194
Wolfgang Kersting zufolge hat Kant dagegen „wohlweislich nie das rechtlich Meine als obersten eingeteilten
Begriff hinsichtlich des inneren und äußeren Meinen gebraucht. Das rechtlich Meine hat das Eigentumsfähige
überhaupt als seinen möglichen Gegenstand, bezieht sich auf das Verhältnis der Willkür zu ihren Gegenständen.
Wäre das innere Mein durch systematische Einteilung des rechtlich Meinen konstituiert, dann würde ersteres in
den Bestimmungsbereich des Eigentumsbegriffs gezogen; nichts liegt Kant aber ferner“ (Kersting, Wolfgang:
Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt a. M. 1984, Paderborn 3.
Aufl. 2007, S. 180). Dieser Argumentation ist zunächst entgegenzuhalten, dass das innere Mein von Kant nur
deshalb „in die Prolegomenen geworfen“ wird, weil seine Ausführungen zu diesem einzigen Recht deutlich
knapper ausfallen als jene zum äußeren Privatrecht und zum öffentlichen Recht (Vgl. RL: VI, 238). Selbst wenn
das innere und äußere Mein aus diesem Grund von Kant getrennt behandelt werden, nämlich einmal in der
Einleitung und einmal im ersten Teil der Rechtslehre, handelt es sich um die zwei Seiten des einen und selben
rechtlichen Mein verstanden als „das von dessen Gebrauch meine bloße Willkühr jeden andern abhält“
(Vorarbeit: XXIII, 212). Es ist allerdings Wolfgang Kersting zuzustimmen, wenn er meint, dass der Mensch
nicht „Eigentümer“ (im strengen Sinne des Wortes) seiner selbst ist. Der Mensch ist nicht befugt über sich nach
Belieben disponieren. Kant spricht zwar in Bezug auf das innere Mein auch vom „Besitz meiner selbst“ (RL: VI,
254). Er weist aber auch wiederholt darauf hin, dass der Mensch zwar sein „eigener Herr“ ist, aber eben nicht
„Eigentümer von sich selbst“, weil er der Menschheit in seiner eigenen Person verantwortlich ist. Der Mensch
kann seine ihm kraft seiner Menschheit zukommende Rechtspersönlichkeit niemals aufgeben. (Vgl.
Gemeinspruch: VIII, 293; RL: VI, 238, 270; Vorarbeit: XXIII, 358).
195
Vgl. RL: VI, 248, 250
196
Vgl. RL: VI, 245
- 44 -
Der Ausdruck des „äußeren Mein“ bezieht sich auf einen Gegenstand „außer mir“.
Dies bedeutet wiederum nicht, dass dieser Gegenstand sich „in einer anderen Stelle (positus)
im Raum oder in der Zeit“ befindet, sondern nur, dass er ein von mir als (Rechts-)Subjekt
„unterschiedener“ Gegenstand ist.197 Der intelligible Besitz abstrahiert also gänzlich von der
raum-zeitlichen Verknüpfung der besitzenden Person zu dem von ihr besessenen Gegenstand
und beschränkt sich auf eine bloß intellektuelle Beziehung zwischen denselben. Es ist somit
rechtlich ohne jede Bedeutung, dass der besessene Gegenstand sich an einem anderen Ort und
in einem anderen Zeitpunkt befindet und dass jemand anders ihn empirisch innehat. Dies
meint Kant, wenn er schreibt, dass ein intelligibler, bloß rechtlicher Besitz ein „Besitz ohne
Inhabung (detentio)“198 ist.
Um leicht auftretende Missverständnisse zu vermeiden, soll gleich darauf hingewiesen
werden, dass Kant im § 1 der Rechtslehre lediglich behauptet, dass die Möglichkeit eines
äußeren Mein den Begriff des bloß rechtlichen Besitzes voraussetzt. Damit ist allerdings die
Möglichkeit eines äußeren Mein und Dein noch nicht bewiesen worden. Die bisher noch
unbeantwortete Frage, ob ein äußeres Mein überhaupt möglich ist, wird aber dann zu Beginn
des § 2 in der Form eines rechtlichen Postulats der praktischen Vernunft gesetzt199 und durch
eine apagogische Beweisführung200 zu untermauern versucht. Seine positive Formulierung
besagt, dass es möglich ist, einen jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu
haben.201 Negativ formuliert, hat dies zu bedeuten, dass eine „Maxime, nach welcher, wenn
sie Gesetz würde, ein Gegenstand der Willkür an sich (objectiv) herrenlos (res nullius)
werden müßte, […] rechtswidrig“202 ist. Kant führt anschließend seine Argumentation
bezüglich der Rechtswidrigkeit eines objektiv herrenlosen äußeren Gegenstandes in drei
Schritten durch.
197
Vgl. RL: VI, 245
RL: VI, 246
199
Im Aufbau des ersten Hauptstücks des ersten Teils der Rechtslehre bezüglich des Privatrechts sind erhebliche
Unterschiede zwischen der Akademie-Ausgabe und der von Bernd Ludwig herausgegebenen Ausgabe im Felix
Meiner Verlag zu verzeichnen. In letzerer Ausgabe wurden z. B. Kants Ausführungen zum rechtlichen Postulat
der praktischen Vernunft inmitten des § 6 gesetzt und der § 3 ersatzlos gestrichen. Im Unterschied zu vielen
Autoren, die den Umstellungen Ludwigs folgen, soll im Folgenden weiter der Akademie-Ausgabe gefolgt
werden. Bernd Ludwig erläutert die von ihm vorgenommenen Textumstellungen in den folgenden Beiträge:
Ludwig, Bernd: Einleitung, in: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Metaphysik der Sitten. Erster
Teil, hrsg. v. Bernd Ludwig, Hamburg 1988, 2. Aufl. 1998, S. XIII-XL; Ders.: Postulat, Deduktion und
Abstraktion in Kants Lehre vom intelligiblen Besitz. Einige Reflexionen im Anschluss an den vorstehenden
Aufsatz von Y. Saito, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 82, 1996, S. 250-259; Ders.: Der Platz des
rechtlichen Postulats der praktischen Vernunft innerhalb der Paragraphen 1 – 6 der kantischen Rechtslehre, in:
Rechtsphilosophie der Aufklärung, Symposium Wolfenbüttel, hrsg. v. Reinhardt Brandt, Berlin – New York
1982, S. 218-232. Die darauf folgende systematische Debatte hat sich u. a. in den folgenden Beiträge entfaltet:
Fulda, Hans Friedrich: Erkenntnis der Art, etwas Äußeres als das Seine zu haben, in: Immanuel Kant,
Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1999; Saito, Yumi: Die Debatte
weitet sich aus – zu Bernd Ludwigs vorstehender Replik, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 82, 1996,
S. 259-265; Ders.: War die Umstellung von § 2 der Kantischen ‚Rechtslehre‘ zwingend?, in: Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie 82, 1996, S. 238-250; Tuschling, Burkhard: Das ‚rechtliche Postulat der praktischen
Vernunft‘: seine Stellung und Bedeutung in Kants ‚Rechtslehre‘, in: Kant. Analysen – Probleme – Kritik, hrsg.
v. Hariolf Oberer und Gerhard Seel, Würzburg 1988, S. 273-292.
200
Wie nun zu sehen sein wird, sucht Kant den postulierten Grundsatz von der Möglichkeit des äußeren Mein
und Dein indirekt und negativ in der Unmöglichkeit seines Gegenteils zu beweisen: Es kann kein allgemeines
Gesetz der praktischen Vernunft geben nach welchem äußere Gegenstände der Willkür für objektiv herrenlos
betrachtet werden sollen. Es sei allerdings daran erinnert, dass für Kant der apagogische Beweis „zwar
Gewißheit, aber nicht Begreiflichkeit der Wahrheit in Ansehung des Zusammenhanges mit den Gründen ihrer
Möglichkeit hervorbringen“ kann (KrV: III, 514). Er kann nur da erlaubt sein, „wo es unmöglich ist, das
Subjective unserer Vorstellungen dem Objectiven, nämlich der Erkenntniß desjenigen, was am Gegenstande ist,
unterzuschieben“ (KrV: III, 514f.).
201
Vgl. RL: VI, 246
202
RL: VI, 246
198
- 45 -
In einem ersten Schritt stellt Kant folgende Behauptung auf: Sollte der Gebrauch eines
äußeren Gegenstandes meiner Willkür rechtlich ausgeschlossen sein, das heißt mit der
Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz nicht zusammen bestehen können,
dann würde die Freiheit sich selbst des Gebrauchs ihrer Willkür in Ansehung eines
Gegenstandes derselben berauben, obgleich die Willkür formaliter im Gebrauch der Sachen
mit jedermanns äußeren Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmte.203 In einem
solchen Fall würden (physisch) brauchbare Gegenstände (rechtlich) außer aller Möglichkeit
des Gebrauchs gesetzt, das heißt in praktischer Rücksicht vernichtet und zur res nullis
gemacht. Es kann festgehalten werden, dass Kant hier den Konjunktiv, und nicht den
Indikativ verwendet. Die weiteren Ausführungen lassen jedoch keinen Zweifel daran
bestehen, dass für Kant die Willkür, formaliter, im Gebrauch der Sachen mit jedermanns
äußerer Freiheit tatsächlich zusammenstimmt. Kant erbringt allerdings nicht gleich den
Nachweis dafür, dass meine äußere Freiheit unmöglich von einer anderen Willkür im
Gebrauch der (herrenlosen) äußeren Gegenstände beeinträchtigt werden kann. Näheren
Aufschluss darüber erfahren wir erst im § 3 sowie in den Vorarbeiten zur Rechtslehre.204
Für Kant darf einzig ein Unrecht verhindert werden. Unrecht ist jede Handlung,
welche mit der äußeren Freiheit eines jeden Menschen nach einem allgemeinen Gesetz nicht
zusammen bestehen kann. Es geschieht mir aber kein Unrecht, wenn ein Anderer von einem
herrenlosen äußeren Gegenstand, in dessen Besitz ich also nicht bin, Gebrauch macht, weil
dasselbe Objekt zugleich ebenso Gegenstand der Willkür anderer ist folglich mit der Freiheit
anderer es zu gebrauchen nach allgemeinen Gesetzen gar wohl zusammenbesteht.205 Jeder ist
gleich befugt, einen herrenlosen äußeren Gegenstand zu gebrauchen. Deswegen tut die
Verhinderung meines Gebrauchs eines herrenlosen äußeren Gegenstandes durch jemanden
anderen, der diesen Gegenstand zuerst in Besitz genommen hat, zwar meiner Willkür, aber
nicht meiner Freiheit Abbruch. Solange ich einen herrenlosen äußeren Gegenstand nicht
besitze, habe ich auch kein Recht in Ansehung desselben. In der Folge geschieht mir auch
kein Unrecht, wenn dieser herrenlose Gegenstand meiner Willkür von einem anderen besitzt
wird und ich dadurch von jedem Gebrauch desselben abgehalten werde.206 Weil der Besitz
und der Gebrauch eines äußeren Gegenstandes nicht die äußere Freiheit von jedermann nach
einem allgemeinen Gesetz beeinträchtigt, also kein Unrecht darstellt, können der Besitz sowie
der Gebrauch eines äußeren Gegenstandes nicht verboten werden. Die Möglichkeit, einen
äußeren Gegenstand zu erwerben und zu gebrauchen, kann somit nicht grundsätzlich
ausgeschlossen werden.
In einem zweiten Schritt zeigt Kant, dass die Möglichkeit des Besitzes sich
ausnahmslos auf alle äußeren Gegenstände der Willkür bezieht. In Kants eigenen Worten
heißt es: „Da nun die reine praktische Vernunft keine andere als formale Gesetze des
Gebrauchs der Willkür zum Grunde legt und also von der Materie der Willkür, d. i. der
übrigen Beschaffenheit des Objects, wenn es nur ein Gegenstand der Willkür ist, abstrahirt, so
kann sie in Ansehung eines solchen Gegenstandes kein absolutes Verbot seines Gebrauchs
enthalten, weil dieses ein Widerspruch der äußeren Freiheit mit sich selbst sein würde“.207
Das allgemeine Rechtsgesetz als ein Gesetz der reinen praktischen Vernunft bestimmt die
äußere Freiheit lediglich der Form nach. Es bezieht sich keinesfalls auf die Materie der
äußeren Freiheit, das heißt im hier diskutierten Zusammenhang auf alle einzelnen, empirisch
möglichen äußeren Gegenstände der Willkür. Das allgemeine Rechtsgesetz kann lediglich
zeigen, ob es rechtmäßig oder unrechtmäßig ist, überhaupt äußere Gegenstände zu besitzen
203
Vgl. RL: VI, 246
Vgl. Vorarbeit: XXIII, 225, 324
205
Vgl. Vorarbeit: XXIII, 324
206
Vgl. Vorarbeit: XXIII, 225
207
RL: VI, 246
204
- 46 -
und zu gebrauchen. Im ersten Schritt wurde aber gezeigt, dass es grundsätzlich möglich ist,
äußere Gegenstände meiner Willkür zu besitzen und zu gebrauchen. Da die reine praktische
Vernunft von der „Beschaffenheit des Objects“ abstrahiert, gibt es keinen Grund, bestimmte
äußere Gegenstände als mögliche Gegenstände meiner Willkür auszuschließen. Für Kant
sollen also alle Gegenstände der Willkür besessen und gebraucht werden können.208
Im dritten und zugleich letzten Schritt bestimmt Kant, was genau ein äußerer
Gegenstand der Willkür ist. Es handelt sich dabei um alle von mir unterschiedene
Gegenstände, die „zu gebrauchen ich physisch in meiner Macht habe“.209 Dabei ist die Frage
ohne jede Bedeutung, ob dieser Gegenstand zusätzlich in meiner Gewalt ist oder nicht. Ein
Gegenstand ist in meiner Macht (potentia), wenn ich das physische Vermögen habe, von ihm
einen beliebigen Gebrauch zu machen. Gemeint ist also die Möglichkeit des Gebrauchs eines
äußeren Gegenstandes. Um denselben Gegenstand in meiner Gewalt (potestas) zu haben,
muss ein „Akt der Willkür“210 hinzukommen, nämlich die Ausübung des erwähnten
Vermögens.211 In den Vorarbeiten definiert Kant die äußeren Gegenstände der Willkür
ebenfalls als solche, die „ich mir zum künftigen Gebrauch vorbehalte“212 sowie als solche,
„wovon ich einen Gebrauch beabsichtigen kann“.213 Diese zukunftsgestaltende Dimension
betont Kant, wenn er in Bezug auf den intelligiblen Besitz vom „intentionellen“214,
„potentialen“215, und „virtuellen“216 Besitz spricht. In Abgrenzung dazu wird der empirische
Besitz als „potestativer“217 bezeichnet.
Kant kommt letztlich zum Schluss, dass es eine „Voraussetzung a priori der
praktischen Vernunft [ist], einen jeden Gegenstand meiner Willkür als objectiv mögliches
Mein oder Dein anzusehen und zu behandeln“.218 Negativ ausgedrückt, hat dies zu bedeuten,
dass es keine objektiv herrenlose äußere Gegenstände der Willkür geben darf. Positiv
formuliert bedeutet dies wiederum die „Uneingeschränktheit der Willkürfreiheit gegenüber
Sachen und damit die grundsätzliche Eigentumsfähigkeit aller Willkürgegenstände“.219 Es sei
an dieser Stelle hervorgehoben, dass was im § 1 der Rechtslehre lediglich als Möglichkeit
ausgeführt wurde, hier als notwendige Voraussetzung der reinen praktischen Vernunft selbst
erklärt wird.
Am Ende des § 2 führt Kant noch an, dass man dieses Postulat ein „Erlaubnißgesetz
(lex permissiva) der praktischen Vernunft“220 nennen kann. Diese Formulierung hat
mitnichten zu bedeuten, dass an sich verbotene Handlungen, durch das rechtliche Postulat der
praktischen Vernunft erlaubt werden. Im Gegensatz zu dem, was gelegentlich zu lesen ist,
208
Ohne die Möglichkeit, äußere Gegenstände rechtmäßig zu besitzen und zu gebrauchen, könnte das
angeborene Recht der Menschheit auf den allgemein gesetzlichen Gebrauch der äußeren Freiheit gar nicht
verwirklicht werden. Georg Geismann stellt zutreffend fest: „Das Recht der Menschheit in der je eigenen Person
auf den allgemein gesetzlich bestimmten Gebrauch der freien Willkür wäre buchstäblich gegenstandlos, wenn
dieses Eine (angeborene) Recht (des inneren Mein und Dein) nicht in bestimmten (erworbenen) Rechten (des
äußeren Mein und Dein) gleichsam konkret würde, so daß äußere Gegenstände meiner Willkür von mir auch
rechtmäßig gebraucht werden können“ (Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der
Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3, Würzburg 2012, S. 21).
209
RL: VI, 246
210
RL: VI, 246
211
Vgl. RL: VI, 246; Vorarbeit: XXIII, 312
212
Vorarbeit: XXIII, 291
213
Vorarbeit: XXIII, 307
214
Vorarbeit: XXIII, 282
215
Vorarbeit: XXIII, 321
216
Vorarbeit: XXIII, 326
217
Vorarbeit: XXIII, 321
218
RL: VI, 246
219
Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt a. M.
1984, Paderborn 3. Aufl. 2007, S. 193.
220
RL: VI, 247
- 47 -
wird mit dem rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft keine Einschränkung oder
Ausnahme zum allgemeinen Rechtsgesetz geschaffen.221 Kant weist vielmehr explizit darauf
hin, dass die praktische Vernunft sich mit diesem Postulat erweitert. Was ist darunter zu
verstehen?
Wie bereits gesehen wurde, enthält das Recht eine Befugnis zu zwingen. Das Recht
einen jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu besitzen enthält somit einer
korrespondierenden Befugnis (bzw. Erlaubnis), „allen andern eine Verbindlichkeit
aufzulegen, die sie sonst nicht hätten“222, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände meiner
Willkür zu enthalten, weil ich sie zuerst (und damit formaliter mit der äußeren Freiheit von
jedermann nach einer allgemeinen Gesetzgebung zusammenstimmend) in meinem Besitz
genommen habe. Die erwähnte „Erweiterung“223 besteht also darin, dass mit dem rechtlichen
Postulat der praktischen Vernunft die zunächst bloß formaliter eingeschränkte Freiheit nun
zusätzlich materialiter bestimmt wird.224 Durch diese Erweiterung bleibt die Gesetzgebung
der praktischen Vernunft nicht länger auf dem Recht einer jeden Person in Ansehung ihrer
selbst beschränkt, sondern erstreckt sich nun auch auf dem Recht derselben in Ansehung
äußerer Gegenstände der Willkür.
Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass es rechtlich möglich ist, etwas
Äußeres als das Seine zu haben. Spätestens an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Kant
im § 2 noch keinen Gebrauch von der im § 1 getroffenen Unterscheidung von sinnlichem und
intelligiblem Besitz macht. Im Folgenden soll deshalb auf die doppelte Frage eingegangen
werden, was genau unter einem solchen äußeren Mein zu verstehen ist, und wie ein solches
möglich ist.
Im § 3 stellt Kant die folgende Behauptung auf: „Im Besitze eines Gegenstandes muss
derjenige sein, der eine Sache als das Seine zu haben behaupten will“.225 Die Behauptung,
dass ein Gegenstand außer mir das Meine sei und von mir gebraucht werden kann, setzt den
Besitz dieses Gegenstand voraus, denn sonst würde mich der Gebrauch, den ein anderer ohne
meine Einwilligung davon machen würde, mich nicht lädieren können. Wenn einen
Gegenstand etwas außer mir, mit dem ich gar nicht rechtlich verbunden ist, affiziert, kann
mich dieser Gegenstand auch nicht affizieren und Unrecht tun.226
Nach den Kategorien der Relation (Substanz, Kausalität, Gemeinschaft) zwischen mir
und den äußeren Gegenständen nach Freiheitsgesetzen unterscheidet Kant anschließend die
drei einzig denkbaren Arten von äußeren Gegenständen meiner Willkür bei deren Gebrauch
sich Personen gegenseitig lädieren können. Gemeint sind: a) allen vom Rechtssubjekt
unterschiedenen, körperlichen Sachen (Substanz); b) die Willkür eines Anderen zu einer mir
zustehenden Leistung (Kausalität); c) der Zustand eines Anderen (wie Ehepartner, Kind,
221
So schreibt beispielsweise Wolfgang Kersting: „Da das Postulat zu einer Einschränkung der Willkür anderer
befugt, die aus dem Rechtsgesetz selbst nicht ableitbar ist, zu Unterlassungen verpflichtet, die nach dem
Pflichtgesetz der Handlungen nicht unter das Rechtsverbot fallen, kommt dem Vernunftpostulat durchaus die
Funktion einer Einschränkung der allgemeinen Gültigkeit des Rechtsgesetzes zu“ (Ders.: Wohlgeordnete
Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt a. M. 1984, Paderborn 3. Aufl. 2007, S. 195).
Vgl. auch Brandt, Reinhard: Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre, in: Ders.
(hrsg.): Rechtsphilosophie der Aufklärung, Berlin/New York 1982, S. 256ff. Dagegen: Geismann, Georg: Kant
und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3, Würzburg 2012, S. 23ff; Oberer,
Hariolf: Sittengesetz und Rechtsgesetze a priori, in: Kant. Analysen – Probleme – Kritik, hrsg. v. Hariolf Oberer,
Bd. III, Würzburg 1997, S. 197ff.
222
RL: VI, 247
223
RL: VI, 247
224
Vgl. Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3,
Würzburg 2012, S. 23.
225
RL: VI, 247
226
Vgl. RL: VI, 247
- 48 -
usw.) in Verhältnis auf das Subjekt (Gemeinschaft).227 Diese Dreiteilung begründet die
dreifache Unterteilung des zweiten Hauptstücks des ersten Teils der Rechtslehre in das
Sachenrecht, das persönliche Recht und das auf dingliche Art persönliche Recht. Darauf soll
allerdings nicht näher eingegangen werden. Bei der Exposition des Begriffs vom äußeren
Mein und Dein ist es für uns wichtig festzuhalten, dass ich einen von mir unterschiedenen
Gegenstand nur dann als äußeres Mein bezeichnen kann, wenn, obgleich ich nicht im
physischen Besitz desselben bin, ich dennoch in einem bloß rechtlichen Besitz desselben zu
sein behaupten darf.228
Darauf aufbauend bestimmt Kant im § 5 das äußere Mein, als den Inbegriff jeder
einzelner, von mir unterschiedener Gegenstände, in deren Gebrauch mich zu stören selbst
dann Läsion (Unrecht) wäre, wenn ich nicht im physischen Besitz derselben bin. Der Begriff
des äußeren Mein ist somit ein bloß intellektueller Besitz. Es ist kein „Besitz in der
Erscheinung (possessio phaenomenon)“, sondern ein „intelligibler Besitz (possessio
noumenon)“.229 Im § 4 hatte Kant gezeigt, dass das äußere Mein auf einem bloß rechtlichen
Besitz gründet. Im hier behandelten § 5 folgert Kant aus der im § 2 postulierten Möglichkeit,
etwas Äußeres als das Seine zu haben, dass ein intelligibler Besitz als möglich vorausgesetzt
werden muss.230
Es wurde gesehen, dass die Begründung der Möglichkeit des Besitzes für Kant
gänzlich von allen empirischen Bedingungen, das will heißen von der Tatsächlichkeit der
Inhabung, unabhängig sein muss. Kant führt hierfür den folgenden Grund an: „Alle
Rechtssätze sind Sätze a priori, denn sie sind Vernunftgesetze (dictamina rationis)“.231
Den Rechtssatz a priori in Ansehung des empirischen Besitzes zu begründen, stellt
keine besonderen Schwierigkeiten dar, da er aus diesem analytisch232 folgt. Wer ohne meine
Einwilligung von einem äußeren Gegenstand meiner Willkür, den ich physisch besitze,
affiziert, affiziert dadurch zugleich meine innere Freiheit. Derartige Handlungen sind
rechtswidrig, da sie dem „Axiom des Rechts“233 widersprechen, das heißt mit der Freiheit
eines jeden nach einem allgemeinen Gesetz nicht zusammen bestehen können. Die Frage, wie
ein äußeres Mein und Dein möglich sei, löst sich daher in diejenige auf: wie ist ein bloß
rechtlicher (intelligibler) Besitz möglich?
Um dagegen den Rechtssatz a priori in Ansehung des intelligiblen Besitzes zu
begründen, stößt man dagegen auf ersthafte Schwierigkeiten. Der intelligible Besitz
abstrahiert nämlich von allen Bedingungen des empirischen Besitzes im Raum und Zeit, und
damit von der physischen Verknüpfung zwischen dem Gegenstand und dem ihn besitzenden
Rechtssubjekt. Das rechtliche Mein ist unabhängig vom physischen Besitz, mithin von der
tatsächlichen Inhabung. Die Möglichkeit eines intelligiblen Besitzes ergibt sich nicht aus dem
Rechtsbegriff selbst. Dass der Gebrauch, den jemand wider meiner Einwilligung von einem
äußeren Gegenstand meiner Willkür, den ich physisch nicht besitze, macht, meine Freiheit
227
Vgl. RL: VI, 247, 259
RL: VI, 248
229
RL: VI, 249
230
Vgl. RL: VI, 249
231
RL: VI, 249
232
Was unter einem analytischen Satz zu verstehen ist, hatte Kant insbesondere im vierten Absatz seiner
Einleitung in der Kritik der reinen Vernunft erläutert (Vgl. KrV: IV, A 7). Für Kant sind alle Urteile, worin das
Verhältnis eines Subjekts zu einem Prädikat gedacht wird, entweder analytisch oder synthetisch. Ein Urteil ist
analytisch, wenn das Prädikat im Subjekt schon enthalten ist. Analytische Urteile werden von Kant als
Erläuterungsurteile bezeichnet, weil sie nicht unsere Erkenntnis bereichern, sondern nur das aussagen, was sich
aus den Begriffen bereits ergibt. Im Unterschied dazu ist ein Urteil synthetisch, wenn seine Bedeutung sich aus
der Erfahrung ableitet. In einem synthetischen Satz wird durch das Prädikat dem Subjekt etwas hinzugefügt.
Synthetische Urteile werden auch von Kant als Erweiterungsurteile bezeichnet, da jene unsere Erkenntnis
bereichern, weil sie mehr aussagen, als was die Begriffe hergeben. Vgl. GMS: IV, 417.
233
RL: VI, 250
228
- 49 -
affiziert und lädiert, steht nicht in seiner Maxime mit dem Rechtsgesetz im geraden
Widerspruch. Der Rechtssatz a priori in Ansehung des intelligiblen Besitzes ist somit
synthetisch. Fraglich ist vor diesem Hintergrund, wie ein solcher synthetischer (den Begriff
des empirischen Besitzes erweiternde) Satz a priori möglich ist?
Als Antwort hierauf führt Kant zunächst aus, dass die Möglichkeit eines nichtempirischen und doch rechtlichen Besitzes, mithin die Deduktion des Begriffs des bloß
rechtlichen Besitzes, auf dem rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft gründet. Seine
von der im § 2 anzutreffende abweichende Formulierung dieses Postulat lautet: „daß es
Rechtspflicht sei, gegen Andere so zu handeln, daß das Äußere (Brauchbare) auch das Seine
von irgend jemanden werden könne“.234 Demnach ist jeder rechtlich dazu verpflichtet, sich so
zu verhalten, dass es für irgendjemand möglich ist, etwas Äußeres als das Seine zu haben.
Negativ formuliert, hat dies bedeuten, dass es Rechtspflicht sei, niemanden am Besitz und
Gebrauch äußerer Gegenstände nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zu hindern. Wenn
Kant hier vom (äußeren) „Sein“ spricht, dann ist es offensichtlich, dass er den intelligiblen
Besitz im Sinne hat. Die Möglichkeit des letzteren kann nicht für sich bewiesen werden, „weil
es ein Vernunftbegriff ist, dem keine Anschauung correspondirend gegeben werden kann“.235
Die Möglichkeit des bloß rechtlichen Besitzes ist, so schreibt Kant, eine „unmittelbare Folge
aus dem gedachten Postulat“.236 Kants entscheidende Begründung hierzu ist, dass die
notwendige Bedingung eines notwendigen Rechtsgrundsatzes selber möglich sein muss.
Damit ist Deduktion des Begriffs des bloß rechtlichen Besitzes am Ende gelangt.
Unbeantwortet bleibt dagegen die weitere Frage, aus welchem Grund und auf welche
Art und Weise ein äußeres Gegenstand meiner Willkür das rechtliche Meine und nicht eben
das Seine jemanden anders erklärt werden kann. Die Art und Weise wie äußere Gegenstände
von den einzelnen Rechtssubjekten erworben werden, muss Grundsätzen unterliegen, welche
mit dem allgemeinen Rechtsgesetz und dem angeborenen Recht der Menschheit in Einklang
sein sollen. Im begrenzten Rahmen der vorliegenden Arbeit kann jedoch nicht weiter auf
diesen Punkt eingegangen werden.237 Denn wir wollten nicht Kants Eigentumstheorie an sich
und bis in jedes Detail untersuchen, sondern nur seine systematische Bedeutung für den
Übergang in den bürgerlichen Zustand.
Diesbezüglich stellt Kant im § 8 der Rechtslehre die folgende These auf: „Etwas
Äußeres als das Seine zu haben, ist nur in einem rechtlichen Zustande, unter einer öffentlichgesetzgebenden Gewalt, d. i. im bürgerlichen Zustande, möglich“.238 Mit der Behauptung,
dass etwas Äußeres das Meine sei, wird jedem eine Verbindlichkeit auferlegt, die sie sonst
nicht hätten, sich den Gegenstand meiner Willkür zu enthalten. Wenn ich also erkläre, dass
ich einen äußeren Gegenstand meiner Willkür besitze, dann erkläre ich damit zugleich, dass
alle anderen am Besitz und am Gebrauch desselben Gegenstandes ausgeschlossen sind. Ich
erkläre, dass ich als einziger diesen Gegenstand gebrauchen kann, und dass ich alle anderen
von seinem Gebrauch ausschließen kann.239 Mit dieser zunächst scheinbar anmaßenden
Behauptung ist allerdings die „Bekenntniß“ verbunden, „jedem Anderen in Ansehung des
234
RL: VI, 252
RL: VI, 252
236
RL: VI, 252
237
Kant geht auf diese Frage im zweiten Hauptstück des ersten Hauptteils unter der Überschrift »Von der Art
etwas Äußeres zu erwerben« ein. Siehe dazu: Kühl, Kristian: Von der Art, etwas Äußeres zu erwerben,
insbesondere vom Sachenrecht, in: Immanuel Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, hrsg. v.
Otfried Höffe, Berlin 1999, S. 117-133.
238
RL: VI, 255
239
Wolfgang Kersting betont zu Recht, dass mit der Behauptung, dass etwas Äußeres das Meine sei, eine
„uneinschränkbare Dispositionsbefugnis mit einer allseitig gerichteten Ausschlussbefugnis“ verbunden ist
(Ders.: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt a. M. 1984,
Paderborn 3. Aufl. 2007, S. 200).
235
- 50 -
äußeren Seinen wechselseitig zu einer gleichmäßigen Enthaltung verbunden zu sein“.240
Meine Behauptung, dass etwas Äußeres das Meine sei, lässt sich demnach nur dann
rechtfertigen, wenn ich allen Anderen das reziproke Recht zugestehe, etwas Äußeres als das
Ihrige zu erklären und ich mich dazu verpflichte, mich dieser Gegenstände zu enthalten. Das
rechtliche Meine gründet auf diese „Reciprocität der Verbindlichkeit“.241
Das erwähnte Bekenntnis reicht allerdings nicht allein aus, um sicher zu stellen, dass
jedermann das äußere Sein aller Anderen unangetastet lassen wird. Eine solche Sicherheit
kann ein „einseitige[r] Wille“ nicht leisten, weil es „der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen
Abbruch thun würde“.242 Diese Sicherheit kann also überhaupt nur ein „collectiv allgemeiner
(gemeinsamer) und machthabender Wille“243 leisten.
Kant fährt dann folgendermaßen fort: „Der Zustand aber unter einer allgemeinen
äußeren (d. i. öffentlichen) mit Macht begleiteten Gesetzgebung ist der bürgerliche. Also kann
es nur im bürgerlichen Zustande ein äußeres Mein und Dein geben“.244 Aus der im § 2
postulierten Möglichkeit einen äußeren Gegenstand als das Seine zu haben, folgt daher die
Erlaubnis eines jeden, „jeden Anderen, mit dem es zum Streit des Mein und Dein über ein
solches Object kommt, zu nöthigen, mit ihm zusammen in einer bürgerliche Verfassung zu
treten“.245 Aus der doppelten Feststellung, dass es jedem möglich sein soll, etwas Äußeres als
das Seine zu haben, und dass das rechtliche Mein nur im bürgerlichen Zustand wirklich
werden kann, ergibt sich das Recht eines jeden, jeden Anderen zum Eintritt in den
bürgerlichen Zustand zu nötigen. Dies ist Kants Begründung der Notwendigkeit des Eintritts
in den bürgerlichen Zustand aus der notwendigen Möglichkeit des äußeren Mein und Dein.
Seine vorhergehenden Erläuterungen präzisierend, führt Kant im § 9 aus, dass im
Naturzustand doch „ein wirkliches, aber nur provisorisches äußeres Mein und Dein statt
haben“246 kann. Die statutarischen Gesetze, die im bürgerlichen Zustand verabschiedet
werden, sind an das Naturrecht, mithin an den apriorischen Prinzipien des Rechts gebunden
und dürfen jenen nicht widersprechen. Aus diesem Grund bleibt selbst im bürgerlichen
Zustand das Vernunftprinzip des Rechts bestehen, wonach derjenige, „welcher nach einer
Maxime verfährt, nach der es unmöglich wird einen Gegenstand meiner Willkür als das
Meine zu haben, [mich] lädirt“.247
Der bürgerliche Zustand, der im § 8 als die notwendige Bedingung der Möglichkeit
des äußeren Mein und Dein dargestellt wurde, bestimmt Kant nun präziser als den rechtlichen
Zustand, „durch welchen jedem das Seine nur gesichert, eigentlich aber nicht ausgemacht und
bestimmt wird“.248 Mit dem Eintritt in den bürgerlichen Zustand wird das äußere Mein und
Dein rechtlich gesichert. Alle Garantie setzt aber „das Seine von jemanden (dem es gesichert
wird) schon voraus“.249 Also „muß vor der bürgerlichen Verfassung (oder von ihr abgesehen)
ein äußeres Mein und Dein als möglich angenommen werden“.250 Dieses von der bürgerlichen
Verfassung gesicherte, aber logisch und faktisch vorausliegende Mein und Dein bezeichnet
Kant als ein „provisorisch rechtlicher Besitz“.251 Im bürgerlichen Zustand wird der bloß
240
RL: VI, 255
RL: VI, 256. Die Reziprozität bedeutet wiederum, dass ich nicht verbunden bin, „das äußere Seine des
Anderen unangetastet zu lassen, wenn mich nicht jeder Andere dagegen auch sicher stellt, er werde in Ansehung
des Meinigen sich nach ebendemselben Princip verhalten“ (RL: VI, 255f.).
242
RL: VI, 256; Vgl. RL: VI, 264
243
RL: VI, 256
244
RL: VI, 256
245
RL: VI, 256
246
RL: VI, 256 (meine Hervorhebungen)
247
RL: VI, 256
248
RL: VI, 256
249
RL: VI, 256
250
RL: VI, 256
251
RL: VI, 257
241
- 51 -
provisorische Besitz von einer jedermann verbindenden, mithin allgemeinen und
machthabenden Gesetzgebung gesichert. Dieser Besitz wird alsdann zu einem
„peremtorische[n] Besitz“.252 Weil es überhaupt (also unabhängig von jeglichen
Erfahrungsbedingungen) möglich sein soll, äußere Gegenstände der Willkür zu besitzen und
zu gebrauchen, gibt es bereits vor dem Eintritt in den bürgerlichen Zustand berechtigte
Ansprüche auf den Besitz und den Gebrauch äußerer Gegenstände der Willkür.
In Abwesenheit einer allgemeinen und machthabenden Gesetzgebung können jedoch
die Besitzansprüche verschiedener Rechtssubjekte jederzeit miteinander kollidieren, ohne
dass dazu eine rechtliche Lösung gefunden werden kann. Denn der Wille eines Anderen, mir
eine Verbindlichkeit aufzulegen, von einem gewissen Besitz abzustehen, ist bloß einseitig und
kann im Naturzustand ebenso wenig allgemeine Verbindlichkeit und Notwendigkeit
beanspruchen, wie mein eigener. In Kants eigenen Worten heißt es, dass „die Willkür des
Einen mit der des Anderen […] nicht als für sich selbst als nothwendig zusammenstimmend
(mithin den Rechtsbegriffen gemäs) angenommen werden“253 kann. Aus der rechtlichen
Unmöglichkeit objektiver Herrenlosigkeit der äußeren Gegenstände einerseits und der ebenso
rechtlichen Unmöglichkeit einseitiger Rechtsdurchsetzung andererseits folgert Kant das Recht
eines jeden Rechtssubjekts allen anderen zum Eintritt in den bürgerlichen Zustand zu nötigen,
wenn (und nur wenn) er selbst dazu bereit ist, in einen solchen Zustand zu treten.
Die entscheidende systematische Bedeutung, die dem provisorischen Besitz zukommt,
soll an dieser Stelle unterstrichen werden. Es ist nämlich der provisorische Besitz, welcher
den Menschen zwingend fordert in einen bürgerlichen Zustand einzutreten, sich also einer
öffentlichen Gesetzgebung zu unterwerfen. Dies wird an späterer Stelle von Kant mit aller
wünschenswerten Deutlichkeit ausgedrückt: „Wollte man vor Eintretung in den bürgerlichen
Zustand gar keine Erwerbung, auch nicht einmal provisorisch für rechtlich erkennen, so
würde jener selbst unmöglich sein […] Es würde also, wenn es im Naturzustande auch nicht
provisorisch ein äußeres Mein und Dein gäbe, auch keine Rechtspflichten in Ansehung
desselben, mithin auch kein Gebot geben, aus jenem Zustande herauszugehen“.254
5. Der Beweis der Notwendigkeit des öffentlichen Rechts
Aufbauend auf seine Theorie vom Privatrecht zeigt Kant anschließend rein rational,
dass es im Naturzustand keine Garantie für das innere und äußere Mein und Dein geben
kann, und dass somit die Menschen die Pflicht haben, in einen bürgerlichen Zustand
einzutreten.
5.1 Der Naturzustand der Menschen als Vernunftidee
Im Folgenden soll Kants Beweis für die Notwendigkeit des Übergangs vom
natürlichen Zustand zum bürgerlichen Zustand erläutert werden. Kant hat seine Lehre vom
Naturzustand an verschiedenen Stellen seiner Werke entfaltet. Die systematische Entfaltung
seiner Gedanken zum Naturzustand findet sich allerdings im § 41, 42 und 44 der Rechtslehre,
worauf nun näher eingegangen werden muss.
Im § 41 der Rechtslehre bezeichnet Kant den Naturzustand (status naturalis) zunächst
als ein „nicht-rechtliche[r] Zustand“, in welchem es „keine austheilende Gerechtigkeit“255
gibt. Dem soeben definierten Naturzustand stellt Kant den bürgerlichen Zustand (status
civilis) gegenüber und nicht den gesellschaftlichen, weil „es in jenem zwar gar wohl
252
RL: VI, 257
Vorarbeit: XXIII, 215
254
RL: VI, 312f.
255
RL: VI, 306; Vgl. RL: VI, 312
253
- 52 -
Gesellschaft geben kann, aber nur keine bürgerliche (durch öffentliche Gesetze das Mein und
Dein sichernde)“.256 Ferner im selben Text heißt es: „[E]s kann auch im Naturzustande
rechtmäßige Gesellschaften (z.B. eheliche, väterliche, häusliche überhaupt und andere
beliebige mehr) geben, von denen kein Gesetz a priori gilt: „Du sollst in diesen Zustand
treten“, wie es wohl vom rechtlichen Zustande gesagt werden kann, daß alle Menschen die
miteinander […] in Rechtsverhältnisse kommen können, in diesen Zustand treten sollen“.257
An dieser Stelle besteht Erklärungsbedarf darüber, wie Kant die hier erwähnte Rechtspflicht
begründet, aus dem Naturzustand herauszutreten. In den folgenden Ausführungen soll gezeigt
werden, dass Kant zwei unterschiedliche Argumentationsmuster entwickelt, um die
Notwendigkeit des Übergangs vom natürlichen in den bürgerlichen Zustand zu begründen. Im
§ 42 der Rechtslehre argumentiert Kant zunächst bloß durch Bezugnahme auf die empirischen
Bedingungen der menschlichen Natur. Erst im § 44 behandelt Kant den Naturzustand als reine
Vernunftidee. Diese beiden Argumentationsmuster werden in der Sekundärliteratur selten
deutlich voneinander unterschieden, obwohl sie argumentativ nicht miteinander zu
verwechseln sind.
Der § 42 der Rechtslehre setzt mit dem „Postulat des öffentlichen Rechts“ ein. Dieses
lautet wie folgt: „[D]u sollst im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins mit
allen anderen aus jenem heraus in einen rechtlichen Zustand, d. i. den einer austheilenden
Gerechtigkeit übergehen“.258 Im Anschluss daran führt Kant aus, dass der Grund davon sich
„analytisch aus dem Begriffe des Rechts im äußeren Verhältniß im Gegensatz der Gewalt“259
ergibt. An dieser Stelle soll zweierlei bemerkt werden.
Erstens: Der § 42 steht ganz am Ende des ersten Teils der Rechtslehre bezüglich des
Privatrechts vom äußeren Mein und Dein in einem Kapitel unter der Überschrift »Übergang
von dem Mein und Dein im Naturzustande zu dem im rechtlichen Zustande überhaupt«.260
Während Kants Argumentation im § 41 noch an seine direkt vorhergehende Ausführungen
bezüglich des Privatrechts vom äußeren Mein und Dein anknüpft, erweitert er im § 42 die
Perspektive und bezieht sich dort nicht mehr nur auf das Privat des äußeren Mein und Dein,
sondern auch auf das Privatrecht des inneren Mein und Dein. Für diese Interpretation spricht
zunächst die Tatsache, dass Kant im Titel allgemein vom „Übergang von dem Mein und Dein
im Naturzustande“ und nicht speziell vom „Übergang von dem äußeren Mein und Dein im
Naturzustande“ spricht. Als weitere Hinweis für unsere Interpretation gilt, dass für Kant das
Postulat des öffentlichen Rechts sich aus dem Privatrecht im natürlichen Zustand ergibt, ohne
hier wieder zu präzisieren, ob damit das innere (angeborene) Mein und Dein, das äußere
(erworbene) Mein und Dein, oder beides gemeint ist. Letztlich darf nicht übersehen werden,
dass Kant im § 42 zwar von „Besitz“261 spricht, aber auch mit aller wünschenswerten
Deutlichkeit vom „Begriffe des Rechts im äußeren Verhältniß im Gegensatz der Gewalt“, also
vom Recht überhaupt, und anschließend noch vom „Recht der Menschen“.262
Zweitens: Kants relativ knapp gehaltene Begründung der Notwendigkeit des
Übergangs vom natürlichen im bürgerlichen Zustand ist empirisch bedingt. Im § 42 führt
Kant zunächst aus, dass niemand rechtlich verpflichtet ist, sich dem Eingriff in den Besitz
eines anderen zu enthalten, wenn dieser ihm nicht eine reziproke Enthaltsamkeit sichert.263
Kant spricht hier explizit aus, was in der Einleitung in die Rechtslehre noch implizit war,
nämlich dass die Rechtspflicht „neminem laede“ unter der Bedingung der Wechselseitigkeit
256
RL: VI, 242
RL: VI, 306
258
RL: VI, 307
259
RL: VI, 307
260
Vgl. RL: VI, 305
261
RL: VI, 307
262
RL: VI, 307
263
Vgl. RL: VI, 307
257
- 53 -
gilt. Kant fügt hinzu, dass die Menschen nicht abwarten müssen, durch die „traurige
Erfahrung“ von der „wirkliche[n] Feindseligkeit“ belehrt zu werden, um zu erkennen, dass es
im Naturzustand keine solche gegenseitige Sicherheit geben kann. Es reicht aus, dass alle
Menschen angesichts der Kenntnis, die sie jederzeit von sich selbst (durch Introspektion)
haben können, die Möglichkeit eines unrechtmäßigen Freiheitsgebrauchs erkennen. Für Kant
kann jeder Mensch in sich selbst die böse Neigung hinreichend wahrnehmen „über andere den
Meister zu spielen (die Überlegenheit des Rechts anderer nicht zu achten, wenn sie sich der
Macht oder List nach diesen überlegen fühlen)“.264 Kants anthropologisches Argument könnte
allerdings noch pointierter formuliert werden. Es zeigt sich nämlich, dass die gebotene
wechselseitige Enthaltsamkeit jedes Menschen in der äußeren Freiheitssphäre aller anderen
im nicht-rechtlichen Naturzustand angesichts der menschlichen Natur notwendig unmöglich
ist. Es kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass die Menschen sich des Eingriffs in der
äußeren Freiheit der anderen enthalten, aber diese Enthaltsamkeit kann eben nicht garantiert
werden, das heißt ein Abbruch an der eigenen Freiheit muss notwendig von allen Menschen
jederzeit als möglich betrachtet werden.265 Kant kommt somit zum entscheidenden Schluss,
dass der Mensch „zu einem Zwange gegen den befugt [ist], der ihm schon seiner Natur nach
damit [mit wirklichen Feindseligkeiten; F.R.] droht“.266 Im Naturzustand ergibt sich aus der
menschlichen Natur eine rechtliche Unsicherheit, woraus das Recht eines jeden Menschen
folgt, den anderen zum Verlassen dieses Zustands zu nötigen.267
Kant beschränkt sich allerdings nicht auf diese anthropologische Begründung. Im § 44
behandelt er den Naturzustand als reine Vernunftidee, also diesmal ohne jegliche
Bezugnahme auf die empirischen Bedingungen der menschlichen Natur.
Dort greift er auf die bereits in der Religionsschrift sich andeutende rein rechtslogische
Begründung der Notwendigkeit des Übergangs vom natürlichen Zustand zum bürgerlichen
Zustand aufgrund der unaufhebbaren rechtlichen Widersprüchlichkeit des Naturzustandes
zurück.268 Dort führt Kant aus, dass im juridischen Naturzustand „ein jeder sich selbst das
Gesetz“ gibt, dass jeder „sein eigner Richter“ ist, und dass „keine öffentliche machthabende
Autorität [vorhanden ist], die nach Gesetzen, was in vorkommenden Fällen eines jeden Pflicht
sei, rechtskräftig bestimme und jene in allgemeine Ausübung bringe“.269 Daraus folgt, dass
der juridische Naturzustand „ein Zustand des Krieges von jedermann gegen jedermann“270 ist.
In der Religionsschrift kommt Kant letztlich zum folgenden Schluss: „So wie nun ferner der
Zustand einer gesetzlosen äußeren (brutalen) Freiheit und Unabhängigkeit von
Zwangsgesetzen ein Zustand der Ungerechtigkeit und des Krieges von jedermann gegen
264
RL: VI, 307
Vgl. Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3,
Würzburg 2012, S. 54f.
266
RL: VI, 307 (meine Hervorhebung)
267
Vgl. auch Frieden: VIII, 349
268
Vgl. Religion: VI, 95ff.
269
Religion: VI, 95
270
Religion: VI, 96. In einer durch ein Sternchen abgesetzten Anmerkung kommentiert Kant Hobbes Lehre vom
Naturzustand folgendermaßen: „Hobbes' Satz: status hominum naturalis est bellum omnium in omnes, hat weiter
keinen Fehler, als daß es heißen sollte: est status belli etc.. Denn wenn man gleich nicht einräumt, daß zwischen
Menschen, die nicht unter äußern und öffentlichen Gesetzen stehen, jederzeit wirkliche Feindseligkeiten
herrschen: so ist doch der Zustand derselben (status iuridicus), d. i. das Verhältniß, in und durch welches sie der
Rechte (des Erwerbs oder der Erhaltung derselben) fähig sind, ein solcher Zustand, in welchem ein jeder selbst
Richter über das sein will, was ihm gegen andere Recht sei, aber auch für dieses keine Sicherheit von andern hat
oder ihnen giebt, als jedes seine eigene Gewalt; welches ein Kriegszustand ist, in dem jedermann wider
jedermann beständig gerüstet sein muß. Der zweite Satz desselben: exeundum esse e statu naturali, ist eine Folge
aus dem erstern: denn dieser Zustand ist eine continuirliche Läsion der Rechte aller andern durch die Anmaßung
in seiner eigenen Sache Richter zu sein und andern Menschen keine Sicherheit wegen des ihrigen zu lassen, als
bloß seine eigene Willkür“ (Religion: VI, 97).
265
- 54 -
jedermann ist, aus welchem der Mensch herausgehen soll, um in einen politisch-bürgerlichen
zu treten“.271
Im § 44 der Rechtslehre zeigt sich, dass der Naturzustand bei Kant keinesfalls als eine
bestimmte historische Periode begriffen werden kann, sondern ausschließlich als eine bloße
Idee der reinen praktischen Vernunft. Es handelt sich genauer gesagt, um das von allen
Erfahrungsbedingungen
abstrahierte,
rein
rationale
Gedankenexperiment
eines
Zusammenlebens äußerlich freier Wesen in Abwesenheit einer übergeordneten Rechtsinstanz,
welche über die immer möglichen menschlichen Handlungskonflikte verbindlich entscheiden
könnte. Der Naturzustand ist also für Kant ein Zustand der Anarchie im etymologischen Sinne
des Wortes, also im Sinne von Abwesenheit von (übergeordneter) Herrschaft. Da im
Naturzustand
keine
übergeordnete
Instanz
mit
Rechtssetzungsund
Rechtsdurchsetzungskompetenz vorhanden ist, gibt es ebenfalls keine rechtsgesetzliche
Einschränkung für den Gebrauch der äußeren Freiheit von jedermann, so dass alle Menschen
gänzlich nach Gutdünken handeln können. In seinen verschiedenen Schriften verwendet Kant
eine je nach Zusammenhang abwechslungsreiche Terminologie, um diesen Punkt zu betonen.
In der Idee spricht er von „gesetzlose[r] Freiheit“272, von „regelloser Freiheit“273 und von
„ungebundener Freiheit“.274 In derselben Abhandlung spricht er auch von „wilder Freiheit“275,
„brutale[r] Freiheit“276 oder von „barbarische[r] Freiheit“.277 In der Rechtslehre bezeichnet er
ferner den Naturzustand als ein Zustand „äußerlich gesetzloser Freiheit“.278
Entscheidend ist im diskutierten Zusammenhang, dass es unter der Bedingung der
Anarchie keine rechtliche Lösung bezüglich der stets möglichen menschlichen
Handlungskonflikte gibt (und überhaupt geben kann). Im § 44 der Rechtslehre führt Kant aus,
dass im Naturzustand das „Recht streitig (ius controversum)“ ist, weil es „kein[en]
kompetente[n] Richter“ gibt, der über die menschlichen Handlungskonflikte der Menschen
rechtskräftig entscheiden könnte. In Abwesenheit eines solchen „kompetente[n] Richter[s]“
ist jeder sein eigener Richter, das heißt jeder entscheidet für sich selbst, ob sein Gebrauch der
äußeren Freiheit rechtmäßig ist. Kant schreibt, dass jeder „seinem eigenen Kopfe folgt“ und
die Rechtmäßigkeit seiner Handlungen „nach jedes seinen Rechtsbegriffen“279 urteilt. Das
Urteil eines jeden Menschen über die Rechtmäßigkeit des eigenen Gebrauchs der äußeren
Freiheit kann aber jederzeit mit dem Urteil jedes beliebigen anderen im Widerspruch stehen.
Die gleichberechtigten Rechtsauffassungen der jeweiligen Menschen stoßen aufeinander,
ohne dass entschieden werden kann, welche Seite sich im Recht befindet. Im Naturzustand
sind somit Handlungskonflikte rechtlich prinzipiell unauflöslich.
Aus diesem Grund bezeichnet Kant den Naturzustand der Menschen als einen Zustand
einer „völligen Gesetzlosigkeit“280 und als einen „Zustand der Rechtlosigkeit (status iustitia
vacuus)“.281 Damit wird selbstverständlich nicht übersehen, dass der Naturzustand in einem
weiten Sinne bereits ein Rechtszustand ist, wenn man darunter einen Zustand des (inneren
und äußeren) Privatrechts versteht. Was Kant im Sinne hat, wenn er in Bezug auf den
Naturzustand von einem Zustand der Gesetzlosigkeit bzw. der Rechtlosigkeit spricht, ist aber,
dass der Naturzustand aufgrund des Fehlens einer übergeordneten Instanz mit
271
Religion: VI, 97
Idee: VIII, 25
273
Idee: VIII, 22, 24
274
Idee: VIII, 30
275
Idee: VIII, 22
276
Idee: VIII, 24
277
Idee: VIII, 26
278
RL: VI, 307
279
RL: VI, 312 (meine Hervorhebung)
280
Gemeinspruch: VIII, 301
281
RL: VI, 312
272
- 55 -
Rechtssetzungs- und Rechtsdurchsetzungskompetenz notwendig ein Zustand völliger
Unwirksamkeit des geltenden Rechts ist.282 Insofern Handlungskonflikte letztlich nur durch
die willkürliche Gewaltanwendung (violentia) jedes einzelnen Menschen (im Gegensatz zum
institutionalisierten, rechtsgesetzlichen Zwang) zu lösen sind, ist der Naturzustand der
Menschen ein Zustand des Krieges aller gegen alle.283 Um mögliche Missverständnisse zu
vermeiden, soll darauf hingewiesen werden, dass Kants Bezeichnung des Naturzustandes als
Kriegszustand mitnichten zu bedeuten hat, dass die Menschen im Naturzustand sich „einander
nur nach dem bloßen Maße [ihrer] Gewalt“284 begegnen. Es bedeutet lediglich, dass im
Naturzustand die menschlichen Handlungskonflikte letztlich durch militärische Gewalt
entschieden werden, so dass Krieg immer möglich oder faktisch herrscht. In diesem Sinne
stellt der Naturzustand eine permanente Läsion aller Staaten durch ihr bloßes
Nebeneinandersein dar.285 „Der Mensch aber (oder das Volk) im bloßen Naturstande […]
lädirt mich schon durch eben diesen Zustand, indem er neben mir ist, obgleich nicht thätig
(facto), doch durch die Gesetzlosigkeit seines Zustandes (statu iniusto), wodurch ich
beständig von ihm bedroht werde“.286 Kant spricht daher auch von einer durch den Zustand
vor aller Tat gegebenen Rechtsverletzung, also von einer „laesio per statum“.287
Der Naturzustand ist zwar ein Zustand der Rechtlosigkeit nicht aber der
Ungerechtigkeit (iniustus), weil es in Abwesenheit einer obersten Rechtsinstanz gar nicht
feststeht, was öffentliches Recht und Unrecht ist. Um es einfach auszudrücken: Wo kein
Recht, da kein Unrecht. Die Menschen tun sich dennoch überhaupt unrecht, indem sie in
einem Zustand sind und auch bleiben, in welchem „Niemand des Seinen wider
Gewaltthätigkeit sicher ist“288, also in welchem es keine Garantie für das innere und äußere
Mein und Dein gibt und überhaupt geben kann. Die Menschen tun sich jedoch im höchsten
Grade unrecht, wenn sie im Naturzustand bleiben, weil sie „dem Begriff des Rechts selber
alle Gültigkeit nehmen und alles der wilden Gewalt gleichsam gesetzmäßig überliefern“.289
Hier zeigt sich erneut, dass die Menschen auch durch das ursprüngliche Recht der Menschheit
zum Verlassen des natürlichen Zustandes verpflichtet sind. Die im Naturzustand unauflösbare
Unsicherheit des angeborenen und erworbenen Rechts steht nämlich im Widerspruch zum
ursprünglichen Recht der Menschheit und zur vernunftnotwendigen Möglichkeit des Besitzes
äußerer Gegenstände.
Aus der Feststellung, dass es im Naturzustand keine Garantie für den inneren und
äußeren Mein und Dein geben kann, folgt, dass die Menschen den Naturzustand verlassen und
in einen bürgerlich-gesetzlichen Zustand eintreten sollen. Wenn die Menschen nicht allen
Rechtsbegriffen entsagen wollen, sollen sie „aus dem Naturzustande […] herausgehen und
sich mit allen anderen […] dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren
Zwange zu unterwerfen, also in einen Zustand treten, darin jedem das, was für das Seine
anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt und durch hinreichende Macht (die nicht die
seinige, sondern eine äußere ist) zu Theil wird“.290 Die allgemeine Unsicherheit und damit
282
Nur mit Bezug auf die Wirksamkeit des Rechts ist der Naturzustand ein Zustand der Rechtlosigkeit. Mit
Bezug auf dessen Geltung ist es dagegen bereits ein Zustand des Privatrechts. Siehe dazu: Geismann, Georg:
Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3, Würzburg 2012, S. 17 und S.
67ff.
283
Vgl. Religion: VI, 97; RL: VI, 307; Reflexion 7646: XIX, 476; Reflexion 7936: XIX, 560; Reflexion 8076:
XIX, 603
284
RL: VI, 312 (meine Hervorhebung)
285
Vgl. Frieden: VIII, 354; RL: VI, 346
286
Frieden: VIII, 349
287
Reflexion 7647: XXIII, 211
288
Vgl. RL: VI, 307
289
Vgl. RL: VI, 307
290
RL: VI, 312
- 56 -
Strittigkeit des angeborenen und erworbenen Privatrechts sind inhärente Merkmale des
Naturzustands, die erst und ausschließlich durch den Übergang in den bürgerlichen Zustand
aufgehoben werden können. Aus diesem Grunde kommt jedem Mensch das Recht zu, jeden
anderen zur Unterwerfung unter ein allgemeines Rechtsgesetz zu zwingen. Jedermann darf
„den Anderen mit Gewalt antreiben“291 in einen rechtlichen Zustand zu treten. Jedermann hat
aber zugleich die unbedingte Rechtspflicht zu einer solchen gemeinsamen Unterwerfung, weil
erst und ausschließlich auf diesem Wege jedermanns Rechte überhaupt gesichert werden
können.
An dieser Stelle soll erneut hervorgehoben werden, dass die Notwendigkeit, den
Naturzustand zu verlassen und in einen bürgerlich-gesetzlichen Zustand einzutreten,
keinesfalls aus der Erfahrung abgeleitet ist, sondern rein a priori in der Vernunftidee des
Naturzustandes liegt. Kants Argumentation abstrahiert von jeglichen empirischen Elementen
und basiert ausschließlich auf Rechtsgründen. Kants zuvor erwähnte anthropologische
Aussagen bezüglich der menschlichen Natur sind hier ohne jede Bedeutung. Die von Kant
erwähnte allgemeine Unsicherheit und damit Strittigkeit des Rechts sind nicht empirisch
bedingt, sondern a priori (sogar vor jeglicher Handlung) gegeben. Selbst unter der Annahme,
dass alle Menschen gutartig und rechtliebend wären, könnte in einem solchen Zustand
niemand jemals sicher sein „aus jedes seinem eigenen Recht zu thun, was ihm recht und gut
dünkt, und hierin von der Meinung des Anderen nicht abzuhängen“.292 Es ist Kant gelungen,
zu zeigen, dass „bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden [ist], vereinzelte
Menschen, Völker und Staaten, niemals vor Gewalttätigkeit gegeneinander sicher sein
können“.293 Selbst bei Annahme einer moralisch-rechtlich guten Gesinnung der Menschen
können Handlungskonflikte nicht ausgeschlossen werden und sind in Abwesenheit einer
übergeordneten Rechtsinstanz rechtlich unauflösbar.
Wie bereits gesehen wurde stellt Kant dem Naturzustand den bürgerlichen Zustand
gegenüber. Im § 41 der Rechtslehre definiert Kant den bürgerlichen Zustand als „dasjenige
Verhältniß der Menschen unter einander, welches die Bedingungen enthält, unter den allein
jeder seines Rechts theilhaftig werden kann“.294 Den bürgerlichen Zustand nennt Kant
gelegentlich auch „rechtlich-bürgerlicher (politischer) Zustand“295, „bürgerlich-gesetzlichen
Zustand“296 oder „öffentlich gesetzliche[n] Zustand“.297
Mit dem Prädikat „gesetzlich“ meint Kant, dass Rechtsregeln existieren, welche das
Zusammenleben äußerlich freier Wesen in Gemeinschaft regeln, weil ihre Einhaltung durch
eine übergeordnete Rechtsinstanz garantiert ist. Die Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung
liegt also nicht mehr bei den einzelnen Menschen, sondern beim Staat. Im bürgerlichen
Zustand wird das Recht durch eine öffentliche (distributive) Gerechtigkeit bestimmt und
durch eine dieses Recht ausübende Gewalt für alle gleich gesichert. Mit dem Prädikat
„öffentlich“ wird wiederum hervorgehoben, dass diese Rechtsregeln, insofern sie den
Gebrauch der äußeren Freiheit betreffen, notwendig als öffentliche, das heißt als nicht-private
Regeln gedacht werden müssen. Sie erfordern somit eine allgemeine Bekanntmachung und
Absicherung.298 Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass der bürgerliche Zustand
sich anhand von zwei Merkmalen bestimmen und begrifflich vom Naturzustand abgrenzen
lässt: Gemeint ist die öffentliche Bestimmung und Sicherung des geltenden Rechts durch eine
mit Macht begleitete allgemeine äußere Gesetzgebung.
291
RL: VI, 312
RL: VI, 312; Vgl. ebenfalls: Religion: VI, 95ff.; RL: VI, 349; Frieden: VIII, 355
293
RL: VI, 312
294
RL: VI, 307
295
Religion: VI, 95
296
Frieden: VIII, 349, 355
297
RL: VI, 312
298
Vgl. RL: VI, 306, 311
292
- 57 -
Abschließend zu diesem Teil kann noch eine wichtige begriffliche Unterscheidung
von Nutzen sein. Kant schreibt nämlich, dass man den Naturzustand, den des Privatrechts,
und den bürgerlichen Zustand aber den des öffentlichen Rechts nennen kann.299 Damit greift
er auf die in der Einleitung in der Rechtslehre getroffene Unterscheidung des Naturrechts im
natürlichen und bürgerlichen Recht zurück.300 Dort ist zu entnehmen, dass das erste das
Privatrecht, das zweite das öffentliche Recht genannt wird. Im § 42 der Rechtslehre fügt Kant
jedoch eine wichtige Präzisierung hinzu. Der bürgerliche Zustand „enthält nicht mehr oder
andere Pflichten der Menschen unter sich, als in jenem [dem Naturzustand; FRX] gedacht
werden können; die Materie des Privatrechts ist eben dieselbe in beiden“.301 Der Naturzustand
ist somit ein Zustand des bloßen Privatrechts302, das heißt ein Zustand des bereits geltenden,
wenn nicht notwendig wirksamen Privatrechts. Der bürgerliche Zustand ist dagegen ein
Zustand des gesetzlich bestimmten und durch hinreichende Macht gesicherten Privatrechts.
Die Verfassung eines bürgerlichen Staates kann für Kant nicht beliebig sein, sondern
muss durch ein strenges allgemeines Gesetz bestimmt werden, da die Verfassung das
friedliche Zusammenleben der Menschen als äußerlich freie Wesen garantieren soll. An
dieser Stelle greift Kant auf die Idee des ursprünglichen Vertrages zurück.
5.2 Die Idee des ursprünglichen Vertrages
Wie bereits angeführt wurde, bezeichnet die äußere Freiheit das Vermögen, sein
Handeln aufgrund von je eigenen Zwecken selbst, also unabhängig von eines Anderen
nötigender Willkür, zu bestimmen. Wenn man nun das allgemeine Rechtsgesetz als die
Einschränkung der äußeren Freiheit auf die Bedingungen ihrer allgemeinen gesetzlichen
Übereinstimmung mit jedermanns Freiheit versteht, dann ergibt sich daraus notwendigerweise
die Idee des ursprünglichen Vertrages.303 Die gesetzliche Einschränkung der äußeren
Freiheitssphäre eines jeden Menschen kann nämlich nicht widerspruchsfrei von einer fremden
Willkür bestimmt werden, da dies zugleich die ebenso gesetzliche Aufhebung der eigenen
Freiheit bedeuten würde. Aus diesem Grunde kann die gesetzliche Einschränkung der äußeren
Freiheitssphäre eines jeden Menschen ausschließlich als eine freiwillige Selbsteinschränkung
gedacht werden. Weil eine äußere Nötigung nicht widerspruchsfrei gedacht werden kann,
bleibt nur noch die Selbstnötigung übrig.
Was den Menschen zur Einhaltung des Rechtsgesetzes - das heißt zur Einschränkung
der eigenen äußeren Freiheit auf die Bedingungen ihrer allgemeinen Übereinstimmung mit
der Freiheit von jedermann - veranlasst, ist nichts anderes als die praktische Vernunft. Die im
Naturzustand unauflösbare Unsicherheit des inneren und äußeren Privatrechts kann nämlich
vernünftigerweise nicht gewollt werden. Die Menschen sind somit kategorisch aufgefordert
den rechtlosen Naturzustand zu verlassen und in einen bürgerlichen Zustand einzutreten, was
konkret nicht anderes zu bedeuten hat, als ein Staat (civitas) zu konstituieren. Es handelt sich
dabei um eine a priori aus der reinen praktischen Vernunft gebotenen und sich rechtslogisch
aus dem ursprünglichen Vertrag ergebenden „Vereinigung einer Menge von Menschen unter
Rechtsgesetzen“.304 Der Eintritt in einen bürgerlichen Zustand, das heißt die Unterwerfung
299
Vgl. RL: VI, 307
Vgl. RL: VI, 242
301
RL: VI, 307
302
Vgl. Frieden: VIII, 385
303
Kant spricht vom „ursprünglichen Vertrag“ (Gemeinspruch: VIII, 295, 302; RL: VI, 266, 340), vom
„gesellschaftlichen Vertrag“ (RL: VI, 340), vom „contractus originarius“ (Gemeinspruch: VIII, 297) und vom
„pactum sociale“ (Gemeinspruch: VIII, 289, 297) bedeutungsgleich, um jeweils den rechtslogischen Ursprung
und Vernunftprinzip der Beurteilung einer jeden bürgerlichen Gesellschaft zu bezeichnen.
304
RL: VI, 313. Es sei hier darauf hingewiesen, dass für Kant die Begriffe des „Staates (civitas)“ und der
„bürgerlichen Gesellschaft (societas civilis)“ gleichbedeutend sind. Vgl. etwa RL: VI, 314
300
- 58 -
unter ein allgemeines Rechtsgesetz, bedeutet nicht, dass die Menschen ihre Freiheit aufgeben:
„Der Act, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat constituirt […] ist der ursprüngliche
Contract, nach welchem alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie
als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i. des Volks als Staat betrachtet (universi), sofort
wieder aufzunehmen, und man kann nicht sagen: der Staat, der Mensch im Staate habe einen
Theil seiner angebornen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert, sondern er hat die wilde,
gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen
Abhängigkeit, d. i. in einem rechtlichen Zustande, unvermindert wieder zu finden, weil diese
Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt“.305 Im ursprünglichen
Vertrag geht das Wollen aller einzelnen Menschen in einem einzigen kollektiven Wollen
zusammen. In der Rechtslehre spricht Kant deshalb vom „vereinigten Willen des Volkes“.306
Dieser Wille besteht ausschließlich in der Überwindung des Naturzustandes und im
korrespondierenden Eintritt in einen bürgerlich-gesetzlichen Zustand, in welchem das innere
und äußere Privatrecht gesetzlich bestimmt und gesichert werden. Es geht darum den
„Rechtsbegriffe Effect zu verschaffen“307, also Wirksamkeit zu verschaffen.
Kant betont wiederholt, dass der ursprüngliche Vertrag keinesfalls als eine historische
Beschreibung der Staatserrichtung begriffen werden kann. Der ursprüngliche Vertrag ist nicht
der „Geschichtsgrund“308, sondern das von aller Erfahrung abstrahierende
„Vernunftprincip“309 von Herrschaft.310 In Kants eigenen Worten heißt es zunächst
unmissverständlich: „Allein dieser Vertrag […] ist keinesweges als ein Factum
vorauszusetzen nöthig (ja als ein solches gar nicht möglich)“.311 Kant führt anschließend aus,
dass der ursprüngliche Vertrag „eine bloße Idee der Vernunft [ist], die aber ihre unbezweifelte
(praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so
gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können, und
jeden Unterthan, so fern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen
mit zusammen gestimmt habe. Denn das ist der Probirstein der Rechtmäßigkeit eines jeden
öffentlichen Gesetzes“.312 Ferner führt Kant im Text letztlich aus, dass der ursprüngliche
Vertrag lediglich ein „Vernunftprincip der Beurtheilung aller öffentlichen rechtlichen
Verfassung überhaupt“313 ist. Er ist also ein regulatives Prinzip, das heißt ein Maßstab, an
welchem jedermann seine Absichten und Handlungen überprüfen und ausrichten soll.314 Der
ursprüngliche Vertrag gilt als Maßstab für das positive Recht, das heißt er bestimmt sowohl
für den Politiker als auch für den Bürger was rechtlich erlaubt oder unerlaubt sein soll.
Die Glückseligkeit der Menschheit kann dagegen nicht zum Grundsatz politischen
Handelns gemacht werden. Dies liegt darin begründet, dass der Begriff der Glückseligkeit
kontingent ist. Das bedeutet, dass zu einem gegebenen Zeitpunkt außer für mich selbst gar
nicht feststeht, was der Glückseligkeit überhaupt entspricht. Im Gemeinspruch schreibt Kant
folgendes dazu: „In Ansehung [der Glückseligkeit] kann gar kein allgemeingültiger Grundsatz
305
RL: VI, 315f. (meine Hervorhebungen)
RL: VI, 313
307
Frieden: VIII, 378
308
RL: VI, 319
309
RL: VI, 319
310
An dieser Stelle soll ebenfalls darauf aufmerksam gemacht werden, dass auch der „vereinigte Wille des
Volkes“ kein empirisches Faktum ist. Wie Kant zu seiner Zeit selber feststellen konnte, können
Missverständnisse bezüglich der Begriffe des ursprünglichen Vertrags und des vereinigten Willens des Volkes also die Vermischung von normativer und empirischer Ebene - in der Anwendung leicht zu dem schlimmsten
Despotismus führen. Vgl. Gemeinspruch: VIII, 302. Dazu siehe: Höffe, Otfried: Immanuel Kant. Leben - Werk Wirkung, München 1983, 7. Aufl. 2007, S. 229f.
311
Gemeinspruch: VIII, 297
312
Gemeinspruch: VIII, 297
313
Gemeinspruch: VIII, 302
314
Vgl. Sassenbach, Ulrich: Der Begriff des Politischen bei Immanuel Kant, Würzburg 1992, S. 55ff.
306
- 59 -
für Gesetze gegeben werden. Denn sowohl die Zeitumstände, als auch der sehr einander
widerstreitende und dabei immer veränderliche Wahn, worin jemand seine Glückseligkeit
setzt (worin er sie aber setzen soll, kann ihm niemand vorschreiben), macht alle feste
Grundsätze unmöglich und zum Princip der Gesetzgebung für sich allein untauglich“.315 Wer
dennoch die Glückseligkeit als Zweck des politischen Handelns erhebt und willkürlich, also
subjektiv bestimmt, worin diese besteht, verletzt (juridisch gesehen) die Rechtspflicht und
handelt (politisch gesehen) unklug. Es ist weder rechtlich erlaubt, noch politisch klug die
Glückseligkeit zu einem politischen Zweck zu erklären. Bezüglich des letzten Punkts merkt
Kant an: „Der Souverän will das Volk nach seinen Begriffen glücklich machen und wird
Despot; das Volk will sich den allgemeinen menschlichen Anspruch auf eigene Glückseligkeit
nicht nehmen lassen und wird Rebell“.316
Das Streben nach Glückseligkeit muss also dem jeweiligen Menschen überlassen
werden: „Niemand kann mich zwingen auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer
Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege
suchen, welcher ihm selbst gut dünkt“.317 Die Aufgabe des Staates besteht lediglich darin, die
Rechtsbedingungen zu schaffen, unter denen der einzelne Mensch seine eigene Glückseligkeit
verwirklichen kann. Solange es kein Recht gibt, werden die Menschen jedoch niemals ihre
Zwecke unabhängig von der nötigenden Willkür anderer verfolgen können. Die Bedingung
dafür, dass die Menschen überhaupt ihre je eigenen wie auch immer motivierten Zwecke
verfolgen können, liegt in der Existenz eines bürgerlich-gesetzlichen Zustandes. Kant
formuliert dies wie folgt: „[D]as öffentliche Heil, welches zuerst in Betrachtung zu ziehen
steht, ist gerade diejenige gesetzliche Verfassung, die jedem seine Freiheit durch Gesetze
sichert: wobei es ihm unbenommen bleibt, seine Glückseligkeit auf jedem Wege, welcher ihm
der beste dünkt, zu suchen, wenn er nur nicht jener allgemeinen gesetzmäßigen Freiheit,
mithin dem Rechte anderer Mitunterthanen Abbruch thut“.318
Es wurde zuvor gesehen, dass die Existenzberechtigung und somit zugleich der Zweck
des Staates in der allgemein-gesetzlichen Bestimmung und Sicherung der äußeren Freiheit
von jedermann bestehen. Die Gewährleistung der Sicherheit des Rechts entspricht dem
Gemeinwohl, welches für jeden Gesetzgeber die „ewige Norm“319 darstellen soll.
Entsprechend ist das politische Handeln auch am Gebot der Erhaltung dieser öffentlichrechtlichen Form der Gemeinschaft, also am Gebot der Staatserhaltung, auszurichten. Der
Rückfall in den Naturzustand soll schlechtweg vermieden werden, weil „irgend eine
rechtliche, obzwar nur in geringem Grade rechtmäßige, Verfassung besser ist als gar
keine“.320 Um Missverständnisse im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit zu vermeiden,
soll bereits an dieser Stelle betont werden, dass der Staat kein Selbstzweck, sondern ein
bloßes Mittel zum Zweck ist. Zu Recht spricht Otfried Höffe in diesem Zusammenhang von
einer „sekundären“ bzw. „subsidiären Institution“.321 Der Staat ist letztlich die notwendige
institutionelle Garantie des Rechts der Menschheit in der je eigenen Person sowie der daraus
gegründeten privaten Rechte.
5.3 Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit?
315
Gemeinspruch: VIII, 298
Gemeinspruch: VIII, 302
317
Gemeinspruch: VIII, 290
318
Gemeinspruch: VIII, 298 (meine Hervorhebung); Vgl. RL: VI, 318
319
Streit: VII, 91
320
Frieden: VIII, 373
321
Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt a. M.
2001, S. 25.
316
- 60 -
Dem Staat kommt die Aufgabe zu, für die äußere Freiheit von jedermann unter einem
allgemeinen Gesetz zu sorgen. Es geht ihm nicht darum, für den Nutzen oder für die
Wohlfahrt der einzelnen Bürger (und auch nicht für eine Mehrheit derselben) zu sorgen.
Damit werde nahe gelegt, dass es im Kantischen Staatsrecht keinen Platz für andere staatliche
Leistungen wie etwa eine Sozialpolitik gäbe. In der Sekundärliteratur bleibt es jedoch bis
heute umstritten, ob und inwiefern Kants Staatsrechts mit einer Sozialpolitik vereinbar ist.
Wie weiter unten zu sehen ist, liegt eine besondere Schwierigkeit darin, dass Kants direkten
Ausführungen zu dieser Thematik spärlich sind und außerdem manchmal als unklar und
schwankend angesehen werden können.
Es kann zunächst festgehalten werden, dass Kant im Abschnitt B der »Einleitung in
die Rechtslehre« ausdrücklich „den Handlungen der Wohltätigkeit oder Hartherzigkeit“ dem
Begriff des Rechts entzieht.322 Nur in der Tugendlehre erklärt Kant, dass die physische
Wohlfahrt und das moralische Wohlsein zur fremden Glückseligkeit gehören, und dass jene
zu befördern für uns ein objektiver Zweck sei, der zugleich auch Pflicht ist.323 Die Wohlfahrt
anderer (und somit auch die Wohlhabenheit der Bevölkerung) zu befördern, ist somit keine
vollkommene Rechtspflicht, sondern bloß eine unvollkommene Tugendflicht.324
Des Weiteren kann festgehalten werden, dass Kant die paternalistische Herrschaft
durch den absolutistischen Staat des 17. und 18. Jahrhunderts entschieden zurückweist. Im
Gemeinspruch beispielsweise heißt es unmissverständlich: „Eine Regierung, die auf dem
Princip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre,
d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Unterthanen als unmündige
Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich
bloß passiv zu verhalten genöthigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem
Urtheile des Staatsoberhaupts und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu
erwarten: ist der größte denkbare Despotismus“.325 Fraglich ist hier, ob diese Kritik am
staatlichen Paternalismus einer Ablehnung jeder Sozialpolitik gleichkommt. Manches spricht
dafür, dass die Antwort auf diese Frage negativ ausfällt. Was Kant mit seiner
Paternalismuskritik im Sinne hat, ist eine Politik, die auf ein vormundschaftliches Verhältnis
zwischen Regierung und Staatsbürger gründet. Eine derartige Politik mündet
notwendigerweise im blanken Despotismus, weil die Regierung „das Volk nach seinen
Begriffen glücklich machen“326 will und somit die staatsbürgerliche Freiheit der Untertanen
missachtet. Eine solche Politik unterscheidet sich jedoch grundsätzlich von einer
Fürsorgepolitik, welche sich selbst in den Dienst der Freiheit stellt, indem sie die
ökonomischen und sozialen Voraussetzungen des äußeren Freiheitsgebrauchs überhaupt erst
schafft.
Eine derartige Begründung eines „freiheitsfunktionale[n] Sozialstaates“327 darf
allerdings nicht mit der Argumentation verwechselt werden, die Kant in der »Allgemeine[n]
Anmerkung C« der Rechtslehre entwickelt. Dort führt Kant aus, dass dem Staatsoberhaupt ein
indirektes Recht zukommt, die Bevölkerung mit Abgaben zu ihrer Erhaltung zu belasten.
Diese Abgaben sollen der Finanzierung von „Armenwesen“, „Findelhäusern“,
„Witwenhäusern“ und „Hospitälern“ dienen.328 Diese Behauptung scheint zunächst Kants
Definition des allgemeinen Prinzips des Rechts im Abschnitt C der »Einleitung in die
322
Vgl. RL: VI, 230
Vgl. TL: VI, 393f.
324
Auf diese Unterscheidung soll im dritten Kapitel des zweiten Hauptteils noch näher eingegangen werden.
325
Gemeinspruch: VIII, 290f.
326
Gemeinspruch: VIII, 302
327
Vgl. Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt
a. M. 2001, S. 133ff.
328
Vgl. RL: VI, 326
323
- 61 -
Rechtslehre« zu widersprechen. Es besteht also Erklärungsbedarf darüber, wie Kant dieses
indirekte Recht begründet.
Kants Begründung dazu lautet: „Der allgemeine Volkswille hat sich […] zu einer
Gesellschaft vereinigt, welche sich immerwährend erhalten soll, und zu dem Ende sich der
inneren Staatsgewalt unterworfen, um die Glieder dieser Gesellschaft, die es selbst nicht
vermögen, zu erhalten“.329 Die Gesellschaft, die sich hier immerwährend erhalten soll, ist die
bürgerliche Gesellschaft (societas civilis). Die Regierung ist somit berechtigt (wohlgemerkt:
nicht juridisch verpflichtet), eine „zu ihrem Dasein nöthige Vorsorge des gemeinen
Wesens“330 zu leisten. Es geht nicht darum, das Volk wider seinen Willen glücklich zu
machen, sondern lediglich dafür zu sorgen, dass es als gemeines Wesen weiterhin existieren
kann. Es soll hier daran erinnert werden, dass für Kant die größte soziale Ungleichheit mit
rechtlicher Gleichheit vereinbar ist.331 Die soziale Ungleichheit wird erst dann ein Problem
des Rechts, wenn Armut und Elend ein solches Ausmaß erreichen, dass sie die dauerhafte
Erhaltung der bestehenden Rechtsordnung ernsthaft gefährden. Die Regierung ist befugt eine
Sozialpolitik zu betreiben, nicht etwa weil die Staatsbürger ein individuelles Erhaltungsrecht
haben, sondern nur weil die durch Armut und Elend hervorgerufene Instabilität den
dauerhaften Bestand der bürgerlichen Gesellschaft (und das damit bereits erreichte Maß an
Rechtssicherheit und somit an Freiheit) gefährden könnte.332 Die Armutsbekämpfung ist kein
Zweck, sondern bloß ein Mittel zur Existenzsicherung der bestehenden bürgerlichen
Gesellschaft.
Diese Sozialpolitik kann „durch Belastung des Eigenthums der Staatsbürger, oder
ihres Handelsverkehrs, oder durch errichtete Fonds und deren Zinsen“333 geschehen. Gemeint
sind also nicht bloß freiwillige Beiträge, sondern „gesetzliche Auflage[n]“334, also
zwangsmäßige Beiträge, weil hier von einem Recht des Staats gegen das Volk die Rede ist
und mit dem Recht die Befugnis zu zwingen unmittelbar zusammen hängt. Kant betont jedoch
einschränkend, dass die Regierung beachten soll, dass die Gewährleistung existenzsichernder
Versorgungseinrichtungen nicht missbraucht wird. So schreibt er, dass man nicht „das
Armsein zum Erwerbmittel für faule Menschen machen“ darf, weil dies ein „ungerechte
Belästigung des Volks durch die Regierung“335 wäre. Kants restriktives Verständnis legitimer
Sozialpolitik zeigt sich ebenfalls in der Verwendung des Superlativs: Der Staat ist berechtigt
jene Armen zu versorgen, die von selbst nicht fähig sind, ihre „nothwendigsten“ (anstatt
„notwendigen“) Naturbedürfnissen zu erfüllen.336
Es hat sich gezeigt, dass Kant in der Rechtslehre keine Begründung individueller
Sozialrechte geleistet hat. Die weitere Frage, ob sich ein solches Sozialrecht ausgehend von
Kants Vernunftprinzipien begründen lässt, wird in der Sekundärliteratur weiter diskutiert.337
Eine eingehendere Berücksichtigung dieser Diskussion würde allerdings den Rahmen dieser
Arbeit sprengen und wird deshalb unterlassen.
329
RL: VI, 326
RL: VI, 326
331
Vgl. Gemeinspruch: VIII, 291
332
Vgl. Gemeinspruch: VIII, 298
333
RL: VI, 326
334
RL: VI, 326
335
RL: VI, 326
336
Vgl. RL: VI, 326
337
Dazu siehe u.a.: Ebbinghaus, Julius: Sozialismus der Wohlfahrt und Sozialismus des Rechts, in: Gesammelte
Schriften, Bd. I, Sittlichkeit und Recht, hrsg. v. Hariolf Oberer und Georg Geismann, Bonn 1986, S. 231-264;
Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt a. M.
2001, S. 132-137; Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie,
Frankfurt a. M. 1984, Paderborn 3. Aufl. 2007, S. 42-59; Kühl, Kristian: Eigentumsordnung als
Freiheitsordnung. Zur Aktualität der Kantischen Rechts- und Eigentumslehre, Freiburg München 1984, S. 264ff.
330
- 62 -
In diesem ersten Kapitel wurde gezeigt, dass es Kant gelungen ist, die Notwendigkeit
des öffentlichen Rechts rein rational zu begründen. Damit wäre Kant am Ende seines
rechtsphilosophischen Beweisgangs angelangt, und es wäre nur noch die inhaltliche
Bestimmung des öffentlichen Rechts erforderlich, wenn es lediglich eine einzige
Gemeinschaft freier Menschen, das heißt nur einen einzigen Staat, auf der Erde geben würde.
Empirisch kann dennoch festgestellt werden, dass eine Pluralität von Staaten über die gesamte
Erdoberfläche verteilt ist. Aus diesem Grunde stellt sich die anfangs erwähnte Frage erneut,
jedoch auf einer höheren Ebene. Gemeint ist die Frage nach den Bedingungen der
Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens einer Pluralität von voneinander unabhängigen,
staatlich organisierten Gemeinschaften freier Menschen. Kants Argumentation bei der
Beantwortung dieser Frage soll nun im zweiten Kapitel näher erläutert werden.
- 63 -
2. KAPITEL: DIE NOTWENDIGEN RECHTSSCHRITTE AUF DEM WEG ZUM EWIGEN FRIEDEN
Im ersten Kapitel wurde gezeigt, dass Frieden zwischen den Menschen erst und
ausschließlich unter Bedingung effektiven öffentlichen Rechts erwartet werden kann. Es ist
daher eine unbedingte Rechtspflicht, den rechtlosen Naturzustand zu verlassen, um in einen
bürgerlich-gesetzlichen Zustand einzutreten, in welchem die angeborenen und erworbenen
Rechte von jedermann gesetzlich bestimmt und mit hinreichender Macht gesichert werden. Im
folgenden Kapitel soll nun gezeigt werden, dass dasselbe im Prinzip ebenfalls für die Staaten
gilt.338
Auch sie befinden sich in ihren äußeren Beziehungen „(wie gesetzlose Wilde) von
Natur in einem nicht-rechtlichen Zustande“.339 Dies liegt darin begründet, dass es über die
einzelnen Staaten keine Rechtsinstanz mit Zwangsgewalt gibt, welche die zwischenstaatlichen
Konflikte rechtsverbindlich lösen könnte. In dem modernen Sprachgebrauch des Fachgebiets
der Internationalen Beziehungen würde man sagen, dass die Struktur des internationalen
Systems anarchisch ist. Der Naturzustand der Staaten zueinander ist - genau wie der
Naturzustand der Menschen – ein „Zustand der Rechtlosigkeit (status iustitia vacuus)“340 im
Sinne permanenter Unsicherheit und möglicher Unwirksamkeit des geltenden Privatrechts.
Unter dieser Bedingung können nämlich die zwischenstaatlichen Konflikte letztlich
nur durch Gewalt gelöst werden. Es kommt zwar nicht immer zum wirklichen Krieg, aber es
herrscht eine immerwährende Hostilität, die jederzeit zu eskalieren droht, und welche in
militärischen Gewalttätigkeiten enden kann. Ein solcher Zustand ist ein Zustand des virtuellen
oder faktischen Krieges aller gegen alle, also ein Zustand, in welchem das Recht des
Stärkeren herrscht. Kant bezeichnet der Naturzustand als einen „Kriegszustand“ im Sinne
einer permanenten Läsion aller Staaten durch ihr bloßes Nebeneinandersein.341 Des Weiteren
spricht er von einer „laesio per statum“342, das heißt von einer durch den Zustand selbst, also
vor aller Tat gegebenen Rechtsverletzung aller Staaten.
Ein derartiger Zustand ist im höchsten Grade unrecht, weil es keine Garantie für das
angeborene Recht der Menschheit sowie für die erworbenen Rechte gibt und überhaupt geben
kann. Es folgt somit als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft, dass die Staaten den
rechtlosen Zustand verlassen sollen, und dass sie gemeinsam einen rechtlichen Zustand des
Weltfriedens stiften sollen. Das Gebot des exeundum e statu naturali gilt somit nicht nur für
die Menschen sondern auch für die Staaten.343 Die vernunftgebotene Überwindung des
rechtlosen Naturzustandes erfolgt im Wesentlichen in drei Schritten: Zunächst durch die
Stiftung einer republikanischen Verfassung in den einzelnen Staaten, anschließend durch die
Stiftung einer Rechtsordnung zwischen den Staaten, und letztlich durch die Schaffung des
Weltbürgerrechts.
Besonders hervorgehoben sei an dieser Stelle der Umstand, dass Kant als erster und
einziger politischer Philosoph der frühen Neuzeit das Staatsrecht um ein Völkerrecht und
Weltbürgerrecht erweitert hat. Bis dahin hatten sich Philosophen von Hobbes, über Locke bis
Rousseau in ihren Haupttexten nahezu ausschließlich der Rechtsordnung in den einzelnen
Staaten gewidmet. Kants dreistufiger Verrechtlichungsprozess berechtigt dagegen zum ersten
338
Kants gesamter Gedankengang wird in einer äußerst prägnanten Form im § 54 der Rechtslehre dargestellt.
Wie noch ausführlicher zu sehen sein wird, ist die Argumentation dabei zum Teil an anderen Voraussetzungen
gebunden, die entsprechend auch anderen Folgen mit sich bringen.
339
RL: VI, 344
340
RL: VI, 312
341
Vgl. Frieden: VIII, 354; RL: VI, 346
342
Reflexion 7647: XXIII, 211
343
Vgl. Religion: VI, 97; RL: VI, 307, 312
- 64 -
Mal in der politischen Ideengeschichte von einer „Theorie des vollständigen
Rechtsfriedens“344 bzw. von einer „umfassende[n] Friedenstheorie“345 zu sprechen.
Im folgenden Kapitel soll nun ausführlich auf die Frage eingegangen werden, welche
Schritte Kant für die Stiftung einer sich weltweit erstreckenden Rechtsordnung für notwendig
aufzeigt, und wie er jene begründet. Dieses Thema ist in der Sekundärliteratur zwar schon
vielfach interpretiert worden, aber es soll erneut darauf eingegangen werden, um manche
Missverständnisse von Kants apriorischer Rechtstheorie aus dem Weg zu räumen und jene auf
ihre wenig beachtete Umsetzung hin zu erläutern.
Die weiteren Ausführungen orientieren sich dabei weitgehend an Kants Gliederung
der Friedensschrift in Präliminar- und Definitivartikel und bestehen entsprechend aus zwei
Teilen. In einem ersten Schritt werden die Präliminarartikel als die negativen Bedingungen
der Möglichkeit des ewigen Friedens dargestellt und diskutiert (1). Anschließend werden die
Definitivartikel als die positiven Rechtsbedingungen der Möglichkeit des ewigen Friedens
kritisch erläutert (2). Bei Bedarf werden allerdings zusätzliche Textstellen, insbesondere aus
dem zweiten und dritten Teil der Schrift Über den Gemeinspruch sowie aus dem zweiten Teil
der Rechtslehre, herangezogen.
1. Die Präliminarartikel: Die negativen Bedingungen der Möglichkeit des ewigen
Friedens
1.1 Systematische Einordnung der Präliminarartikel im Rahmen der Kantischen
Rechtstheorie vom Weltfrieden
Bevor die einzelnen Forderungen dargestellt und erläutert werden können, ist es
erforderlich, die Präliminarartikel im Rahmen der Kantischen Friedenstheorie richtig
einzuordnen.
Ehe sich dem Inhalt der Friedensschrift ausführlicher gewidmet wird, muss darauf
aufmerksam gemacht werden, dass Kant sich bezüglich der Form der Friedensschrift an den
völkerrechtlichen Friedensverträgen des 17. und 18. Jahrhunderts orientiert hat. Zu jener
Epoche ging dem Abschluss eines definitiven Friedensvertrags zwischen Staaten zuweilen ein
Präliminarvertrag voraus, in welchem sich die Konfliktparteien über die Bedingungen der
Beendigung der Gewalttätigkeiten und des Abschlusses des zukünftigen Friedensvertrages
einigten.346 Nach diesem Muster hat Kant seine Friedensschrift ausgearbeitet. Sie besteht
entsprechend aus sechs Präliminarartikeln, drei Definitivartikeln, einem zweiteiligen Zusatz
sowie aus einem zweiteiligen Anhang. Dabei heben die Präliminarartikel die negativen
Bedingungen der Möglichkeit des ewigen Friedens unter den Staaten hervor. Die
Definitivartikel wiederum heben die positiven (Rechts-)Bedingungen der Möglichkeit des
ewigen Friedens zwischen Staaten hervor. Der Zusatz behandelt seinerseits die Garantie des
ewigen Friedens. Der zweite Teil dieses Zusatzes unter der Überschrift »Geheimer Artikel
zum ewigen Frieden« war nicht in der ersten Auflage vorhanden, sondern wurde in der
344
Kersting, Wolfgang: Weltfriedensordnung und globale Verteilungsgerechtigkeit. Kants Konzeption eines
vollständigen Rechtsfriedens und die gegenwärtige politische Philosophie der internationalen Beziehungen, in:
Zum ewigen Frieden. Grundlage, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, hrsg. v. Reinhard
Merkel und Roland Wittmann, Frankfurt a. M. 1996, S. 175 (meine Hervorhebung).
345
Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt a. M.
2001, S. 163 (meine Hervorhebung).
346
Vgl. Saner, Hans: Die negativen Bedingungen des Friedens, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg.
v. Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 44.
- 65 -
zweiten Auflage von 1796 von Kant hinzugefügt.347 Zuletzt behandelt der Anhang das
geltungstheoretische Verhältnis von Moral, Recht und Politik.
Manches spricht dafür, dass Kant mit dieser einzigartigen Gestaltung nicht nur einen
ironischen Abstand gegenüber der diplomatischen Praxis seiner Zeit einnimmt, wie es in der
Sekundärliteratur gelegentlich zu lesen ist.348 Die Gestaltung der Friedensschrift in Form
eines Vertragswerks hat außerdem einen prinzipientheoretischen Grund: Die vertragsförmige
Gestaltung der Friedensschrift entspricht der Idee des allgemeinen, ursprünglichen Vertrages,
den die Staaten miteinander abschließen sollen, um den rechtlosen Naturzustand zu verlassen.
Der ursprüngliche Vertrag der Staaten ist keinesfalls als ein empirischer Vertrag zu verstehen,
welchen die Staaten tatsächlich zu schließen haben. Es handelt sich vielmehr, um einen
Vernunftvertrag, das heißt, um eine bloße Idee der reinen praktischen Vernunft. Er dient als
Maßstab und Grundlage für jeden Vertrag, insbesondere für alle möglichen Friedensverträge
zwischen Staaten. Zu Recht führt Georg Geismann an, dass der ursprüngliche Vertrag „nicht
einmal als abschließbar gedacht werden [kann], so als ob durch den Abschluß erst das in dem
Vertrag formulierte Recht geschaffen würde. Vielmehr enthält er die Norm und
Legitimationsgrundlage für jeden Vertrag, durch den positives öffentliches Recht geschaffen
werden soll“.349 An dieser Stelle lässt sich der Gegenstand der Friedensschrift genauer
festhalten. Es geht nicht darum, konkrete Vorschläge zur Lösung eines bestimmten Krieges zu
machen. Ihr Gegenstand ist vielmehr der Übergang vom Naturzustand zum bürgerlichen
Zustand, mithin vom Kriegszustand zum Friedenszustand. Vor diesem Hintergrund ist es
selbstverständlich, weshalb Kant die Friedensschrift als einen philosophischen Entwurf (in
Abgrenzung zu einem positiv-rechtlichen Entwurf) bezeichnet.
Über einen langen Zeitraum hinweg wurde den Präliminarartikeln in der KantForschung ausgesprochen wenig Aufmerksamkeit geschenkt.350 Erst in jüngerer
Vergangenheit wurden jene wieder intensiver diskutiert.351 Dieses mangelnde Interesse ist im
Wesentlichen auf zweierlei Gründe zurückzuführen.352 Es wurde zunächst häufig davon
ausgegangen, dass Kants Forderungen, zu sehr an die damaligen politischen und militärischen
347
Vgl. Klemme, Heiner F.: Einleitung, in: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt
aber nicht für die Praxis / Zum ewigen Frieden, hrsg. v. Heiner Klemme, Hamburg 1992, S. XXXVII.
348
Siehe beispielsweise: Goyard-Fabre, Simone: Les articles préliminaires, in: L’année 1795. Kant. Essai sur la
paix, hrsg. v. Pierre Laberge, Guy Lafrance und Denis Dumas, Paris 1997, S. 43.
349
Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3, Würzburg
2012, S. 181. Vgl. Ders.: Kants Rechtslehre vom Weltfrieden, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 37,
1983, S. 369.
350
Kurt von Borries zum Beispiel behandelt die Präliminarartikel nicht. Er scheint sie sogar zu übersehen, wenn
er schreibt, dass man sich bezüglich Kants Friedenstheorie keine allzu großen Erwartungen machen darf, „da
Kant natürlich seinen rein formalen Gesichtspunkt nicht aufzugeben vermag“. Vgl. Borries, Kurt von: Kant als
Politiker. Zur Staats- und Gesellschaftslehre des Kritizismus, Aalen 1973 (Neudruck der Ausgabe Leipzig 1928),
S. 203. Eine ähnliche Sichtweise ist später noch bei Karl Jasper zu beklagen, wenn er schreibt, dass „Kant keine
sofort in die Praxis umzusetzenden Vorschläge in der konkreten Situation seiner Zeit macht“. Vgl. Jasper, Karl:
Kants »Zum ewigen Frieden«. Wiederabgedruckt, in: Ders.: Aneignung und Polemik, hrsg. v. Hans Saner,
München 1968, S. 124.
351
Siehe vor allem: Cavallar, Georg: Pax Kantiana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs »Zum
ewigen Frieden« (1795) von Immanuel Kant, Wien/Köln/Weimar 1992, S. 100-132; Geismann, Georg: Kants
Rechtslehre vom Weltfrieden, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 37, 1983, S. 368-373; Gerhardt,
Volker: Immanuel Kants Entwurf »Zum ewigen Frieden«. Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995, S. 41-73;
Hennigfeld, Jochen: Der Friede als philosophisches Problem. Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“, in:
Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 8, 1983, S. 24-28. Erwähnenswert sind außerdem die zwei folgenden
Beiträge, die sich mit den Präliminarartikeln im Speziellen auseinandersetzen: Goyard-Fabre, Simone: Les
articles préliminaires, in: L’année 1795. Kant. Essai sur la paix, hrsg. v. Pierre Laberge, Guy Lafrance und Denis
Dumas, Paris 1997, S. 41-59; Saner, Hans: Die negativen Bedingungen des Friedens, in: Immanuel Kant. Zum
ewigen Frieden, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 43-67.
352
Vgl. Hennigfeld, Jochen: Der Friede als philosophisches Problem. Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“, in:
Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 8, 1983, S. 24.
- 66 -
Zusammenhänge gebunden seien, um für die zeitgenössische Weltordnung überhaupt noch
relevant sein zu können. Ihr philosophischer Gehalt wurde außerdem von vielen
Kommentatoren für äußerst gering eingeschätzt. Wie auf den folgenden Seiten zu sehen sein
wird, greifen beide Auffassungen zu kurz.
Mit Sicherheit betritt Kant im ersten Abschnitt der Friedensschrift kein Neuland. Dort
greift er auf Gedanken zurück, die teilweise bereits Jahrzehnte zuvor von Autoren wie
Grotius, Pufendorf oder Abbé de Saint-Pierre dargelegt wurden. Diesbezüglich soll zweierlei
bemerkt werden. Erstens: Selbst wenn die inhaltlichen Bestimmungen der Präliminarartikeln
nicht gänzlich neu sind, so ist Kants Originalität jedoch größer, als in der Literatur häufig
angenommen wird.353 Zweitens: Aus rechtsphilosophischer Perspektive ist nicht die Frage
entscheidend, ob Kants inhaltliche Forderungen neu sind oder nicht, sondern allein wie jene
begründet werden. Nicht die Originalität der Präliminarartikel, sondern deren Begründung
wird uns hier interessieren.
Damit fangen allerdings bereits die ersten Schwierigkeiten an. Als erste Annäherung
an dieses Problem kann Hans Saners Auffassung herangezogen werden, nach welcher eine
Auseinandersetzung mit den Präliminarartikeln aus zweierlei Gründen unentbehrlich ist:
„[S]ystematisch gesehen bilden sie den negativen Teil von Kants Philosophie des Friedens,
und pragmatisch gesehen greifen nur sie konkret in den politischen Alltag ein“.354 Dies hat
zweierlei zu bedeuten.
Es bedeutet einerseits, dass die sechs Präliminarartikel die negativen Bedingungen der
Möglichkeit des ewigen Friedens unter Staaten bestimmen. In der abschließenden Anmerkung
zum ersten Abschnitt der Friedensschrift führt Kants aus, dass alle sechs Präliminarartikeln
„lauter Verbotgesetze (leges prohibitivae)“355 sind, die bestimmte kriegsverursachende oder
friedensverhindernde staatliche Handlungen untersagen. Kant beansprucht für die
Präliminarartikel absolute Notwendigkeit. Er führt nämlich aus, dass alle sechs
Präliminarartikeln objektive Verbotsgesetze sind, die als solche für jeden politischen
Entscheidungsträger ohne Ausnahme verbindlich sind.356 Die Präliminarartikel bestimmen die
notwendigen Bedingungen, unter denen der Abschluss eines definitiven Friedensvertrages
überhaupt erst möglich ist.357 Dieser lässt sich erst auf der Grundlage der drei Definitivartikel
erreichen, welche die positiven Rechtsbedingungen der Möglichkeit des ewigen Friedens
hervorheben.
Wenn die Präliminarartikel die objektive praktische Notwendigkeit gewisser
Handlungen ausdrücken, dann kann deren Begründung nicht bloß auf Erfahrung beruhen. Der
unbedingte Geltungsanspruch der Präliminarartikel wird allerdings in der Sekundärliteratur
teilweise bestritten, da Kant jene nicht vernunftrechtlich, sondern bloß pragmatisch begründen
würde. So behauptet beispielsweise Karl Jaspers, dass aus den sechs Präliminarartikeln
lediglich drei einen „dauernden und schlechthin verbindlichen Sinn“ haben (nämlich die
Artikel Nr. 1, 5 und 6), während die anderen lediglich „zeitbedingt“ sind und deshalb keine
besondere Aufmerksamkeit verdienen.358 In jüngerer Vergangenheit ist auch bei Hans Saner
353
Dies zeigt Simone Goyard-Fabre. Vgl. Ders.: Les articles préliminaires, in: L’année 1795. Kant. Essai sur la
paix, hrsg. v. Pierre Laberge, Guy Lafrance und Denis Dumas, Paris 1997, S. 41-59.
354
Saner, Hans: Die negativen Bedingungen des Friedens, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. v.
Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 48 (meine Hervorhebung).
355
Frieden: VIII, 347
356
Vgl. Frieden: VIII, 347
357
In diesem Punkt stimmen Georg Cavallar und Georg Geismann überein. Vgl. Cavallar, Georg: Pax Kantiana.
Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs »Zum ewigen Frieden« (1795) von Immanuel Kant,
Wien/Köln/Weimar 1992, S. 103; Geismann, Georg: Kants Rechtslehre vom Weltfrieden, in: Zeitschrift für
philosophische Forschung 37, 1983, S. 369.
358
Jasper, Karl: Kants »Zum ewigen Frieden«. Wiederabgedruckt, in: Ders.: Aneignung und Polemik, hrsg. v.
Hans Saner, München 1968, S. 205.
- 67 -
zu lesen, dass die Präliminarartikel „nicht als rechtsanalytische Herleitungen entstanden
[sind], sondern als Einsprüche der Vernunft gegen die vorherrschende politische Praxis“.359
Wolfgang Kersting schreibt seinerseits, dass die Präliminarartikel „als unerlässliche
Voraussetzungen eines rechtlich befestigten Friedens empirisch ausweisbar sind“.360 Heiner F.
Klemme kommt somit zu dem Schluss, dass nichts dagegen spricht, die Präliminarartikel im
Lichte neuer Erfahrungen zu modifizieren bzw. zu ergänzen, ohne daß das Projekt der […]
Schrift von vornherein als gescheitert einzustufen wäre“.361 Wie sind diese verschiedenen
Stellungnahmen zu bewerten? Ist es tatsächlich so, dass die Präliminarartikel sich bloß auf
Erfahrung stützen und somit (im Gegensatz zu dem, was von Kant behauptet wird) keine
allgemeine und objektive Notwendigkeit haben können? Kurzum: Welchen Geltungsmodus
haben die Präliminarartikel?
Auf den folgenden Seiten wird sich zeigen, dass Kants Begründung der
Präliminarartikeln zwar teilweise pragmatisch ist, jedoch vor allem vernunftrechtlich ist.362
Die vernunftrechtliche Begründung der Präliminarartikeln kann leicht übersehen werden, weil
Kant sich in der Friedensschrift nur in ausgesprochen knapper Form darauf eingeht. Eine
umfassendere und vor allem systematischere Darstellung seiner dort nur kurz vorgetragenen
rechtslogischen Argumentation unternimmt Kant erst in der späteren Rechtslehre.
Die pragmatische Begründung der Präliminarartikeln ist dagegen unübersehbar. Die
im Titel der Präliminarartikel enthaltenen Forderungen greifen ganz konkret in die politische
Realität ein. Sie verbieten konkrete und spezifische Handlungen oder Institutionen. Eine
Lektüre der Friedensschrift, die sich ausschließlich auf die Definitivartikel beschränken
würde, läuft somit Gefahr, die konkrete Frage der Friedensstiftung zu verfehlen. Was sich
Kant in den Präliminarartikel vornimmt ist also, eine inhaltliche Bestimmung, Spezifizierung
und Konkretisierung seiner abstrakten Vernunftprinzipien angesichts der Weltlage, die er
damals vor den Augen hatte. Die zugrunde liegenden Vernunftprinzipien sind also von deren
historisch kontingenten Umsetzungs- und Konkretisierungsvorschlägen zu unterscheiden. Nur
letztere sollen an die heutigen weltpolitischen Bedingungen angepasst werden.
Vor diesem Hintergrund ergibt es sich, dass die konkreten Forderungen der
Präliminarartikel zeitbedingt sind und an die heutigen Verhältnisse problemlos angepasst
werden können, solange (und nur solange) die den jeweiligen inhaltlichen Forderungen
zugrunde liegenden vernunftrechtlichen und somit zeitlosen Begründungen davon unberührt
bleiben. Der Tatsache, dass die Präliminarartikel unter anderem mit Blick auf die
militärischen und politischen Zusammenhänge des späten 18. Jahrhunderts formuliert wurden,
darf nicht zu große Bedeutung beigemessen werden. Die gegenwärtige Weltpolitik ist nämlich
trotz maßgeblicher politischer, wirtschaftlicher, technischer und nicht zuletzt kultureller
Veränderungen immer noch teilweise von jenen Problemen bestimmt, die in den
Präliminarartikeln erörtert werden.
Besonders auffallend und ein wenig irritierend an der Lektüre des ersten Abschnittes
der Friedensschrift ist, dass Kant die Präliminarartikel argumentativ nur wenig miteinander
verknüpft. Es gibt für sie also keine systematische Einordnung - ausgenommen die
359
Saner, Hans: Die negativen Bedingungen des Friedens, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. v.
Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 49.
360
Kersting, Wolfgang: Weltfriedensordnung und globale Verteilungsgerechtigkeit. Kants Konzeption eines
vollständigen Rechtsfriedens und die gegenwärtige politische Philosophie der internationalen Beziehungen, in:
Zum ewigen Frieden. Grundlage, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, hrsg. v. Reinhard
Merkel und Roland Wittmann, Frankfurt a. M. 1996, S. 175.
361
Klemme, Heiner F.: Einleitung, in: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber
nicht für die Praxis / Zum ewigen Frieden, Hamburg 1992, S. XXXVII.
362
Vgl. Hennigfeld, Jochen: Der Friede als philosophisches Problem. Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“, in:
Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 8, 1983, S. 24.
- 68 -
nachträgliche Unterscheidung zwischen leges strictae und leges latae.363 Einen Versuch der
rechtsphilosophischen Systematisierung hat bekanntlich Georg Geismann unternommen.364
Dieser Versuch stößt jedoch rasch an eine Grenze. Im Gegensatz zu Kants Einteilung des
öffentlichen Rechts in den Definitivartikeln ist die Einteilung der verschiedenen Forderungen
in den Präliminarartikel nicht systematisch aus einem gemeinsamen Vernunftprinzip
abgeleitet, welches dieser Einteilung Notwendigkeit und Vollständigkeit verleihen würde. In
den folgenden Ausführungen werden wir uns deshalb an die von Kant selbst gewählte
Reihenfolge der Präliminarartikel halten.
1.2 Erster Präliminarartikel:
Friedensschlüssen
Das
Verbot
des
geheimen
Vorbehalts
bei
Als erste von sechs negativen Bedingungen der Möglichkeit des ewigen Friedens unter
den Staaten nennt Kant im ersten Präliminarartikel: „Es soll kein Friedensschluß für einen
solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege
gemacht worden“.365 Der erste Präliminarartikel hat Grundlagencharakter für die gesamte
Abhandlung, weil dort definiert wird, was unter dem Begriff des Friedens überhaupt zu
verstehen ist.
Gleich im ersten Satz der Erläuterungen heißt es, dass Frieden im eigentlichen Sinne
des Wortes mehr als ein „bloßer Waffenstillstand“ oder ein „Aufschub der
Feindseligkeiten“366 sei. Für Kant bedeutet Frieden nichts anderes als das „Ende aller
Hostilitäten“.367 Bei einem Waffenstillstand ändert sich grundsätzlich nichts am Verhältnis
der Staaten untereinander. Die Probleme, welche einmal zum Krieg führten, sind nicht gelöst,
sondern werden nur aufgeschoben. Es handelt sich, um eine bloß vorübergehende Einstellung
der Feindseligkeiten zwischen mindestens zwei Staaten. Es kann nicht ausgeschlossen
werden, dass bei erster Gelegenheit der einmal besiegte Staat einen neuen Krieg auslösen
wird, um seine Rechte zurückzugewinnen. So dauerhaft und stabil er auch sein mag, kann ein
Waffenstillstand also nicht als Frieden gelten. Die Befriedung der zwischenstaatlichen
Verhältnisse durch eine Hegemonialmacht oder eine Gleichgewichtpolitik wird somit von
Kant als bloße Waffenstillstände zurückgewiesen.368 Nimmt man Kants Definition des
Friedens ernst, so zeigt sich, dass die bisherige Menschheitsgeschichte eine ununterbrochene
Abfolge von Kriegen mit mehr oder minder langen Zeiten der Waffenruhe war. Es herrschte
eine andauernde Hostilität im Verhältnis der Staaten zueinander. Die Friedensschlüsse der
Vergangenheit waren zumeist der Erschöpfung einer der Kriegsparteien zuzuschreiben, so
dass sie eine jederzeitige Fortsetzung des Krieges in sich bargen.369
Das Aufhören der Feindseligkeiten, das heißt der faktischen äußeren Gewalttätigkeiten
zwischen zwei oder mehreren Staaten, ist zwar eine notwendige, dennoch keine hinreichende
Bedingung der Möglichkeit des Friedens. Frieden erfordert darüber hinaus das Ende aller
363
Vgl. Frieden: VIII, 347. Darauf soll im zweiten Hauptteil der vorliegenden Dissertation noch näher
eingegangen werden.
364
Vgl. Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3,
Würzburg 2012, S. 181; Ders.: Geismann, Georg: Kants Rechtslehre vom Weltfrieden, in: Zeitschrift für
philosophische Forschung 37, 1983, S. 369.
365
Frieden: VIII, 343
366
Frieden: VIII, 343
367
Frieden: VIII, 343
368
Kant lehnt jede Gleichgewichtspolitik auf ironische Weise ab: „[E]in daurender allgemeiner Friede, durch die
so genannte Balance der Mächte in Europa ist, wie Swifts Haus, welches von einem Baumeister so vollkommen
nach allen Gesetzen des Gleichgewichts erbauet war, daß, als sich ein Sperling drauf setzte, es so fort einfiel, ein
bloßes Hirngespinst“ (Gemeinspruch: VIII, 312f.).
369
Vgl. Saner, Hans: Die negativen Bedingungen des Friedens, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg.
v. Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 50.
- 69 -
Hostilitäten. Der Begriff „Hostilität“ bezieht sich auf die Absicht der Staaten und bezeichnet
die Kriegsbereitschaft eines Staates, die dem tatsächlichen Ausbruch der Feindseligkeiten
vorangeht.370 Gefordert ist hier also der bedingungslose Wille aller Staaten, dem Krieg ein
tatsächliches Ende zu setzten. Solange eine immerwährende Hostilität zwischen den Staaten
herrscht, das will heißen, solange zumindest ein Staat kriegsgeneigt ist, wird die Gefahr eines
Ausbruches der Feindseligkeiten stets vorhanden sein. Die elementare Voraussetzung des
Friedens besteht letztlich darin, dass er von allen Seiten ohne irgendeinen Vorbehalt, also
aufrichtig und beharrlich gewollt sein muss. In diesem Zusammenhang ist Volker Gerhardt
zuzustimmen, dass „die Einrichtung eines rechtsverbindlichen äußeren Zustands [...] von der
inneren Einstellung der handelnden Personen nicht zu trennen“ ist.371 Es sollte lediglich
hinzugefügt werden, dass das Motiv für den notwendigen Friedenswillen der Staaten rechtlich
ohne jede Bedeutung ist. Ob er auf moralischen Vorgaben, pazifistischen
Grundüberzeugungen oder lediglich auf einem rationalen Selbstinteresse gründet, ist rechtlich
ohne Belang.
Vor diesem Hintergrund lässt sich leichter verstehen, was Kant im Sinne hat, wenn er
erklärt, dass der Ausdruck „ewiger Frieden“ ein schon verdächtiger Pleonasmus sei.372 Dieser
Ausdruck setzt nämlich voraus, dass es auch einen Frieden auf Zeit geben könnte. Ein
Friedensschluss, der aufgrund des Willens der Vertragspartner zeitlich begrenzt wäre, wäre
nichts als ein bloßer Waffenstillstand. Nach dem Willen der unterzeichnenden Staaten soll der
Friedensschluss notwendigerweise ohne zeitliche Einschränkung gelten. Der ewige Frieden ist
also nicht als ein zeitloses oder übergeschichtliches Phänomen zu begreifen. Der Ausdruck
enthält auch keine theologische Konnotation. Er bezieht sich lediglich auf den vorbehaltlosen
Friedenswillen der Vertragspartner, der ohne zeitliche Einschränkung gelten soll.373
Wenn der Friedenswille der Einzelstaaten wirklich vorbehaltlos ist, dann sollen alle
möglichen Gründe zum künftigen Krieg mit dem Abschluss des Friedensvertrages für null
und nichtig betrachtet werden. In Wortlaut Kant heißt es: „Die vorhandene […] Ursachen
zum künftigen Kriege sind durch den Friedenschluß insgesammt vernichtet“.374 Der
Abschluss eines Friedensvertrages leitet eine neue Ära der Verhältnisse der unterzeichnenden
Staaten untereinander ein. Zu Recht spricht Hans Saner in diesem Zusammenhang vom
„epochalen Charakter“375 des Friedensvertrages. Mit dem Abschluss des Friedensvertrages
scheidet der Krieg als Mittel der Politik aus. Wenn die Menschen wirklich ernsthaft Frieden
wollen, weil sie beispielsweise erkannt haben, dass es keine anderen Möglichkeiten gibt,
wenn weitere menschliche wie auch materielle Verluste vermieden werden sollen, werden sie
370
In der Rechtslehre schreibt Kant ausdrücklich, dass die „erste Aggression“ von der „ersten Hostilität“ zu
unterscheiden sei (RL: VI, 346). Diese begriffliche Unterscheidung wird in den verschiedenen französischen
Übersetzungen der Friedensschrift zumeist übersehen. Dort werden die Begriffe „Feindseligkeit“ und
„Hostilität“ beide mit dem Substantiv „hostilité“ übersetzt (siehe etwa die Übersetzung von Jean-François Poirier
und Françoise Proust oder jene von Max Marcuzzi).
371
Gerhardt, Volker: Immanuel Kants Entwurf »Zum ewigen Frieden«. Eine Theorie der Politik, Darmstadt
1995, S. 42.
372
Vgl. Frieden: VIII, 343
373
Vgl. Höffe, Otfried: Einleitung: Der Friede – ein vernachlässigtes Ideal, in: Immanuel Kant. Zum ewigen
Frieden, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 6.
374
Frieden: VIII, 343 Dieselbe Argumentation ist ebenfalls in der folgenden Reflexion Kants zu lesen: „Ein
Friede muß jederzeit als ewige Aufhebung alles Rechtsstreits aus Gründen, die Gegenwärtig existiren, angesehen
werden; denn sonst ist die Suspension der Feindseelichkeiten nur ein armistitium, wo man sich noch immer
Gründe zu künftigen Feindseeligkeiten vorsetzlich aufbehält. Also setzt ein jeder Friede voraus, daß alle
Ansprüche, die bis auf den Zeitpunct ein Staat auf den andern haben konnte und die zu Feindseeligkeiten Anlas
geben könnten, abgethan und für Null erklärt sind. Mithin macht der Friede einen neuen Abschnitt zwischen
zwey Staaten, über den hinaus zurük nichts hervorgesucht werden darf, was nicht als abgemacht betrachtet
würde“ (Reflexion 7837: XIX, 530).
375
Saner, Hans: Die negativen Bedingungen des Friedens, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. v.
Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 51.
- 70 -
ihre Konflikte mit den anderen Staaten auf einem friedlichen Weg zu lösen versuchen. Der
Abschluss des Friedensvertrages bedeutet die Aufhebung aller denkbaren Kriegsgründe
zwischen den Staaten. Die bedingungslose, wechselseitige Anerkennung des Satus quo ist
somit eine notwendige Bedingung der Möglichkeit des Abschlusses eines definitiven
Friedensvertrages.376 Der Friedensvertrag darf ungelöste Probleme nicht in die Zukunft
verschieben. Dies bedeutet durchaus nicht, wie Hans Saner schreibt, dass dies eine
„Friedhofsruhe“377 wäre. Eine Änderung des Status quo bleibt weiterhin möglich, darf
allerdings nur auf dem friedlichen Weg geschehen.
Im letzten Teil des ersten Präliminarartikels verwirft Kant die Mentalität des
Vorbehalts (reservatio mentalis). Die Geschichte darf nicht bei der erstbesten Gelegenheit,
wie etwa bei einer Machtverschiebung, zum Auffinden neuer oder alter Kriegsgründe
verwendet werden. Derartige „Jesuitencasuistik“ wäre, so schreibt Kant, unter der „Würde der
Regenten“ sowie unter der „Würde eines Ministers“.378 Kant lehnt geheime Vorbehalte bei
dem Abschluss eines Friedensvertrages deshalb ab, weil eine solche Mentalität bereits die
Keime des nächsten Krieges in sich birgt und das wechselseitige Vertrauen in die Absichten
des anderen - ohne den es keinen Frieden geben kann - zerstört.
1.3 Zweiter Präliminarartikel: Das Verbot des Erwerbs eines für sich bestehenden
Staates
Im zweiten Präliminarartikel stellt Kant folgendes Verbot auf: „Es soll kein für sich
bestehender Staat (klein oder groß, das gilt hier gleichviel) von einem andern Staate durch
Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung, erworben werden können“.379 Mit Sicherheit handelt
es sich hier um einen bislang zu wenig beachteten Artikel, der eine nähere Betrachtung
verdient. Das mangelnde Interesse für diesen Artikel liegt vermutlich darin begründet, dass
die im Titel enthaltene Forderung zu sehr an die politischen Zusammenhänge zur Zeit Kants
gebunden zu sein scheint, um heute überhaupt noch relevant sein zu können. Seit dem Ende
der absolutistischen Monarchien in Europa oder spätestens seit dem Ende der Kolonialpolitik
der europäischen Mächte ist es in der Tat kaum noch zu erwarten, dass ein Staat von einem
anderen vererbt, getauscht oder verschenkt wird. Gleichermaßen scheint es heute so gut wie
ausgeschlossen zu sein, dass „Staaten einander heirathen“.380 Dass die inhaltliche Forderung
beträchtlich an Aktualität eingebüßt hat, lässt sich kaum bestreiten. Die dem Verbot zugrunde
liegende rechtsphilosophische Begründung bleibt dagegen davon wiederum schlechthin
unberührt. In den Erläuterungen gibt Kant nämlich eine erste, für die weiteren Erläuterungen
entscheidende Definition des Staatsbegriffs.
In äußerster Kürze heißt es zunächst: „Ein Staat ist nämlich nicht (wie etwa der Boden,
auf dem er seinen Sitz hat) eine Habe (patrimonium). Er ist eine Gesellschaft von Menschen,
über die Niemand anders, als er selbst zu gebieten und zu disponiren hat“.381 Im direkt
anschließenden Satz führt Kant aus, dass der Staat eine „moralische[] Person“382 ist. Diese
äußerst gedrängte Definition des Staates bedarf der weiteren Erläuterung. Im ersten Kapitel
wurde bereits gesehen, dass eine moralische Person ein Rechtssubjekt ist, welches keinen
376
Vgl. Cavallar, Georg: Pax Kantiana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs »Zum ewigen
Frieden« (1795) von Immanuel Kant, Wien/Köln/Weimar 1992, S. 105; Georg Geismann: Kants Rechtslehre
vom Weltfrieden, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 37, 1983, S. 370.
377
Saner, Hans: Die negativen Bedingungen des Friedens, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. v.
Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 51.
378
Frieden: VIII, 344
379
Frieden: VIII, 344
380
Frieden: VIII, 344
381
Frieden: VIII, 344
382
Frieden: VIII, 344; Vgl. RL: VI, 343
- 71 -
anderen Gesetzen unterworfen ist, als denen, die es sich selbst (entweder allein, oder
wenigstens zugleich mit anderen) gibt.383 Dass der Mensch, als ein mit praktischer Vernunft
begabtes Wesen, eine moralische Person ist, versteht sich von selbst. Erklärungsbedürftig ist
dagegen, warum Kant ebenfalls den Staat als eine moralische Person bezeichnet. In seiner
Begründung greift Kant auf die Idee des ursprünglichen Vertrages zurück. Im zweiten
Abschnitt des Gemeinspruch heißt es, dass der ursprüngliche Vertrag (der Idee nach) eine
Vielzahl freier Menschen in einem Staatsvolk vereinigt. Der Staat ist also nichts anderes als
eine Gemeinschaft freier Menschen, die sich gemäß der Idee des ursprünglichen Vertrags
zusammengeschlossen haben, das heißt, die sich gemeinsam einer allgemeinen Gesetzgebung
unterworfen haben. Die Idee des ursprünglichen Vertrages ist, so schreibt Kant, eine bloße
Idee der Vernunft, welche jedoch praktische Realität hat. Sie verpflichtet nämlich den
Gesetzgeber, die öffentlichen Gesetze so zu geben, als hätten sie aus dem vereinigten Willen
des ganzen Volks entspringen können.384 Unter dieser Bedingung kann die Gesetzgebung als
Ausdruck des durch den ursprünglichen Vertrag vereinigten Willens aller Staatsbürger
betrachtet werden. In den Vorarbeiten zur Rechtslehre definiert Kant den Staat entsprechend
als „ein Volk das sich selbst beherrscht“.385
Weil jeder Staatsbürger als Mensch zugleich eine moralische Person ist, ist der Staat
als Ausdruck und Verkörperung dieses vereinigten Willens ebenfalls eine moralische Person.
Als solche genießt der Staat ähnliche Grundrechte wie der Mensch. Gemeint ist hier
vornehmlich die Autonomie, das heißt, das Recht „sich selbst nach Freiheitsgesetzen“386 zu
bilden und zu erhalten. Der Staat ist ein mit Autonomie ausgestattetes Gebilde, das will
heißen, ein Gebilde, das über sich selbst entscheidet. Dies setzt selbstverständlich die
Unabhängigkeit von der Willkür der anderen Staaten voraus. Dieses Recht gilt in gleicher
Weise für alle Staaten, also unabhängig von der Größe der Bevölkerung, der militärischen
Stärke oder irgendeiner anderen empirischen Bedingung.387 Der Staat darf also nicht zu einer
Sache gemacht werden. Er ist keine Habe, also kein Objekt, sondern ein Subjekt des
Völkerrechts. Der Erwerb eines Staates durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung würde
die moralische Persönlichkeit des Staates - und damit auch jener der Menschen, die den Staat
konstituieren - völlig aufheben. Das Recht eines Volkes (als Staat) über sich selbst zu
entscheiden würde man heute als Souveränität bezeichnen.388
Das Verbot eines jeden Staates wie eine Habe zu behandeln, gilt notwendig auch für
seine Bürger. Kant schreibt diesbezüglich: „Auch die Verdingung der Truppen eines Staats an
einen andern gegen einen nicht gemeinschaftlichen Feind ist dahin zu zählen; denn die
Unterthanen werden dabei als nach Belieben zu handhabende Sachen gebraucht und
verbraucht“.389 Das Staatsvolk im Allgemeinen darf nicht wie eine Sache aufgefasst und
behandelt werden, weil dies in Widerspruch zu der moralischen Persönlichkeit eines jeden
Untertanen als Mensch stehen würde. Darauf soll im anschließenden Abschnitt bezüglich des
dritten Präliminarartikel noch näher eingegangen werden. Festzuhalten ist bereits an dieser
Stelle, dass für Kant kein Machthaber nach Belieben über das Staatsvolk verfügen darf. In der
durch ein Sternchen von den eigentlichen Erläuterungen abgesetzten Anmerkung führt Kant
aus, dass es der Staat sei, welcher einen Regenten erwirbt und nicht umgekehrt. Damit hebt
383
Vgl. RL: VI, 223
Vgl. Gemeinspruch: VIII, 297
385
Vorarbeit: XXIII, 347
386
RL: VI, 318
387
Vgl. Frieden: VIII, 344
388
Kant selbst spricht selten von „Souveränität“ aber deutlich häufiger von „Souverän“. Diese beiden Begriffe
werden jedoch von Kant lediglich in Bezug auf das Staatsrecht verwendet und werden dabei generell jeweils als
Synonyme für „Herrschergewalt“ und „Staatsoberhaupt“ verwendet. Vgl. RL: VI, 313, 317, 319, 321, 323, 328,
334, 337f., 340f., 345; Frieden: VIII, 383.
389
Frieden: VIII, 344
384
- 72 -
Kant hervor, dass die Souveränität des Staates nicht beim Regenten, sondern beim Volk liegt,
das sich seinen Regenten auswählt.
1.4 Dritter Präliminarartikel: Das Verbot des stehenden Heeres
Im dritten Präliminarartikel fordert Kant die vollständige Auflösung der Institution des
stehenden Heeres. Dies heißt im Wortlaut: „Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der
Zeit ganz aufhören“.390 Es besteht hier zunächst Erklärungsbedarf darüber, was Kant genau
unter „stehenden Heeren“ versteht. Der Militärhistoriker Gerhard Papke verweist auf die
Existenz vielfältiger Typen stehender Heere.391 Das einzige allgemein verbindliche Merkmal
zur Definition der miles perpetuus sieht er in ihrer Dauereinrichtung. Dies legt die Vermutung
nahe, dass Kant alle auf Dauer aufgestellte und bewaffnete Armeen im Sinne hat. Seine
Forderung richtet sich somit sowohl an das Söldnerheer als auch an das Berufsheer.392 Zur
Begründung der Forderung bezüglich der Abschaffung der stehenden Heere führt Kant zwei
Argumente an.
Das erste Argument beschreibt die kriegsverursachende Eigendynamik des
Wettrüstens, welche sich zwangsläufig aus der bloßen Existenz des stehenden Heeres
herausbildet. Kant führt seine Argumentation in vier Etappen durch.
Der Ausgangspunkt seiner Argumentation lautet: Stehende Heere „bedrohen andere
Staaten unaufhörlich mit Krieg durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen“.393
Durch die Existenz eines ständig in Waffen gehaltenen Heeres erhöht sich die Kriegsfähigkeit
und Kriegsbereitschaft aller Staaten im internationalen System. Das stehende Heer ermöglicht
nämlich dem Staat jederzeit sich gegen äußere Bedrohungen zu bewahren und ggf. andere
Staaten anzugreifen. Es wird zu einer unablässigen Bedrohung für alle Staaten, da kein Staat
sich sicher sein kann, dass das Heer eines anderen nicht gegen ihn ausgerichtet wird.
Stehende Heere „reizen [die Staaten] an, sich einander in Menge der Gerüsteten, die
keine Grenzen kennt, zu übertreffen“.394 Im Naturzustand scheint es für jeden Staat
folgerichtig zu sein, seine angrenzenden Staaten zumindest als potenzielle Feinde zu
betrachten und dementsprechend mit ihnen umzugehen. Jeder Staat hat ein fundamentales
Interesse daran, durch die Vergrößerung seines stehenden Heers sich in die Lage zu versetzen,
jederzeit mögliche Feinde zu besiegen. Da allerdings jeder Machtzuwachs eines einzelnen
Staates eine Gefahr für die anderen Staaten darstellt, werden sich letztere ebenfalls zur
Gegenrüstung veranlasst sehen. Infolgedessen wird eine Rüstungsspirale ausgelöst, welche
nach Kant (der Idee nach) keine Grenzen kennt.
Kant argumentiert anschließend, dass „durch die darauf verwandten Kosten der Friede
endlich noch drückender wird als ein kurzer Krieg“.395 Der eben skizzierte Rüstungswettlauf
ist nämlich für alle Staaten mit erheblichen Kosten verbunden. Die Eigendynamik der
Rüstung, obwohl sie abstrakt gesehen keine Grenze kennt, stößt in der Realität an die Grenzen
der Kapazitäten der jeweiligen Staaten. Diese Aufrüstung wird daher erst dann unterbrochen,
390
Frieden: VIII, 345
Papke, Gerhard: Von der Miliz zum Stehenden Heer. Wehrwesen im Absolutismus, in: Deutsche
Militärgesichte in sechs Bänden 1648-1939, hrsg. v. militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 1, Abschnitt I,
München 1983, S. 155ff.
392
Das Söldnerheer besteht meist aus fremden Truppen, welche von einem Staat bezahlt sind, um seine
sicherheitspolitischen Ziele zu verfolgen. Das Berufsheer besteht dagegen aus professionellen Soldaten, welche
sich zur Verteidigung ihres eigenen Landes für eine gegebene Zeit engagiert haben. Eine Einführung in die
Militär- und Kriegsgeschichte findet sich bei: Nowosadtko, Jutta: Krieg, Gewalt und Ordnung. Einführung in die
Militärgeschichte, Tübingen 2002.
393
Frieden: VIII, 345
394
Frieden: VIII, 345
395
Frieden: VIII, 345
391
- 73 -
wenn die Kosten der Aufrüstung für einen Staat schließlich die geschätzten Kosten eines
kurzen Krieges überschreiten.
Kant kommt letztlich zu dem Schluss, dass das stehende Heer, aufgrund der mit ihm
verbundenen Kosten, „selbst Ursache von Angriffskriegen“396 wird. Aus präskriptiver Sicht
lässt sich folgerichtig schließen, dass erst eine allgemeine Abrüstung die Grundlage für einen
dauerhaften Frieden bilden kann.
Wichtig ist hier festzuhalten, dass die bloße Existenz des stehenden Heeres,
unabhängig von den realen Zwecken der politischen Entscheidungsträger im
zwischenstaatlichen Naturzustand kriegsverursachend wirkt. Die Frage, ob die Aufstellung
eines stehenden Heers ursprünglich Expansionsbestrebungen oder Verteidigungszwecken
zugrunde liegt, spielt hier keine Rolle. Im Naturzustand der Staaten im Verhältnis zueinander
stellt das stehende Heer ein ständiges Bedrohungselement dar, welches allein zum Ausbruch
eines Krieges führen kann. Diese Argumentation stellt wahrscheinlich die „erste moderne
strukturelle Beschreibung der prinzipiell unbegrenzten Aufrüstung und ihrer
Eigendynamik“397 dar. Sie wurde erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von John
Herz als „Sicherheitsdilemma“ definiert.398
Neben diesem strukturbezogenen Argument führt Kant ein moralisch begründetes
Argument an, welches sich implizit auf die Formel der Menschheit als Zweck an sich selbst
bezieht. Die Selbst-Zweck-Formel des kategorischen Imperativs wird im zweiten Abschnitt
der Grundlegung folgendermaßen formuliert: „[H]andle so, dass du die Menschheit, sowohl
in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals
bloß als Mittel brauchtest“.399 Kant leitet diese Formel aus seiner Bestimmung des Menschen
als Person, welche im Gegensatz zu einer Sache über einen absoluten Wert verfügt und also
als Zweck an sich selbst existiert. Aus diesem Grunde darf er nie bloß als Mittel benutzt
werden. Wer aber Menschen in Sold nimmt, um zu töten oder sie töten zu lassen, macht
nämlich von ihnen Gebrauch als „bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines
Andern (des Staats)“.400 Diese Instrumentalisierung der Menschen im Krieg steht im
Widerspruch zu „dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person“.401 Für Kant ist die
Institution des stehenden Heeres somit moralisch verwerflich und ihre Abschaffung unbedingt
geboten.
396
Frieden: VIII, 345
Saner, Hans: Die negativen Bedingungen des Friedens, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. v.
Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 62.
398
Vgl. Herz, John H.: Idealist Internationalism and the Security Dilemma, in: World Politics 2, 1950, S. 157180. In diesem einflussreichen Artikel definiert John Herz das Sicherheitsdilemma folgendermaßen: „Groups or
individuals living in [an anarchic society; F. R.] must be, and usually are, concerned about their security from
being attacked, subjected, dominated, or annihilated by other groups and individuals. Striving to attain security
from such attack, they are driven to acquire more and more power in order to escape the impact of the power of
others. This, in turn, renders the others more insecure and compels them to prepare for the worst. Since none can
ever feel entirely secure in such a world of competing units, power competition ensues, and the vicious circle of
security and accumulation is on” (Herz 1950, S. 157). Festzuhalten ist an Herz’ Erklärungsansatz des
Sicherheitsproblems, dass er wie Kant auf keine Annahmen über die menschliche Natur beruht. Für Herz gilt:
„Whether man is by nature peaceful and cooperative, or domineering and aggressive is not the question“ (Herz
1950, S. 157). Wie bei Kant ist das Sicherheitsdilemma ein strukturelles Problem. In der realistischen
Denkschule der Internationalen Beziehungen ist das Sicherheitsdilemma der wichtigste Interaktionsmechanismus
der internationalen Beziehungen und das zentrale Hindernis für den zwischenstaatlichen Frieden. Weitere
Beiträge der realistischen Denkschule zum Sicherheitsdilemma finden sich in: Jervis, Robert: Cooperation under
the security dilemma, in: World Politics 30, 1978, S. 167- 214; Grieco, Joseph M.: Anarchy and the limits of
cooperation: a realist critique of the newest liberal institutionalism, in: International Organization 42, 1988, S.
485-506; Glasner, Charles L.: The Security Dilemma Revisited, in: World Politics 50, 1997, S. 171-201.
399
Vgl. GMS: IV, 429
400
Frieden: VIII, 345
401
Frieden: VIII, 345
397
- 74 -
Kant setzt sich jedoch nicht nur für die Abschaffung der stehenden Heere ein. Er
plädiert ebenfalls für eine „freiwillig[] periodisch vorgenommene[] Übung der Staatsbürger in
Waffen“.402 Gemeint ist hier eine Milizarmee. Dass diese Bezeichnung in Zum ewigen
Frieden nie vorkommt, lässt sich wahrscheinlich dadurch erklären, dass Friedrich Wilhelm I.
das Wort „Miliz“ nach 1733 verbieten ließ.403 Kants „Staatsbürger in Waffen“ lassen sich
anhand von drei Merkmalen näher bestimmen und konzeptuell vom stehenden Heer
abgrenzen. Das erste Merkmal besteht darin, dass die Teilnahme an der Milizarmee
ausschließlich auf der freiwilligen Entscheidung eines jeden Staatsbürgers beruht. Das Recht
des Menschen in der je eigenen Person auf den rechtsgesetzlichen Gebrauch seiner äußeren
Freiheit setzt nämlich voraus, dass kein Mensch zum Wehrdienst ohne seine Zustimmung
einberufen werden darf. Das zweite Merkmal der Milizarmee ist deren rein defensiver
Charakter. Der defensive Charakter ist dadurch gesichert, dass die Milizarmee aus mit
Verstand ausgestatteten Staatsbürgern besteht, welche (solange sie nicht angegriffen werden)
nicht gewillt sein können Krieg zu führen, weil sie die direkten Kosten dafür zu tragen
haben.404 Die friedensfördernde Wirkung der Milizarmee wird schließlich durch ihr drittes
und letztes Merkmal verstärkt: Im Gegensatz zum stehenden Heer ist die Milizarmee nicht
ständig in Waffen gehalten. Kant spricht in diesem Zusammenhang von „periodischen“
Übungen der Staatsbürger. Nach außen bewirkt dies eine Entschärfung (freilich nicht:
Aufhebung) des Sicherheitsdilemmas, da eine Milizarmee nicht ständig kampfbereit ist, und
übrigens kaum in der Lage wäre Angriffskriege zu führen.
1.5 Vierter Präliminarartikel: Das Verbot der Staatsschulden für äußere Konflikte
Im vierten Präliminarartikel stellt Kant die folgende Forderung auf: „Es sollen keine
Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel gemacht werden“.405 Der vierte Artikel
knüpft unmittelbar an den dritten an. Am Ende seiner Erläuterungen zum stehenden Heer
wendet sich Kant gegen die „Anhäufung eines Schatzes“406, das will heißen, gegen die
Anhäufung von unverhältnismäßigen, finanziellen Reserven, welche jederzeit zu militärischen
Zwecken benutzt werden können. Kant begründet dieses Verbot mit dem Argument, dass von
der Anhäufung eines Schatzes tendenziell dieselbe Kriegsgefahr ausgeht wie von den
stehenden Heeren. Diesbezüglich schreibt er, dass „unter den drei Mächten, der Heeresmacht,
der Bundesmacht und der Geldmacht, die letztere wohl das zuverlässigste Kriegswergzeug“407
ist. Heute würde man sagen, dass die Geldmacht eine hoch fungible Macht ist. Sie versetzt
einen Staat nämlich in die Lage jederzeit mühelos seine eigenen militärischen Kapazitäten
auszubauen (wie etwa durch den Kauf neuer Rüstungen und fremder Truppen), Verbündete
finanziell zu unterstützen, Allianzen zu bilden oder Gegnerstaaten zu bestechen. Im rechtlosen
Naturzustand kann kein Staat sich sicher sein, dass die Geldmacht eines anderen Staates nicht
gegen ihn ausgerichtet wird. Aus diesem Grunde wird die Vergrößerung der finanziellen
Macht eines Staates von allen anderen Staaten als eine unablässige „Bedrohung mit Krieg“
angesehen, welche diese wiederum zu „zuvorkommenden Angriffen“408 nötigen kann.
Dieselbe Argumentation hatte Kant bereits im Gemeinspruch ausgeführt: „Denn da die
fortrückende Cultur der Staaten mit dem zugleich wachsenden Hange, sich auf Kosten der
402
Frieden: VIII, 345
Vgl. Schmidt, Hans: Staat und Armee im Zeitalter des „miles perpetuus“, in: Staatsverfassung und
Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit, hrsg. v. Johannes Kunisch, Berlin 1986, S.
217.
404
Vgl. Frieden: VIII, 351
405
Frieden: VIII, 345
406
Frieden: VIII, 345
407
Frieden: VIII, 345
408
Frieden: VIII, 345
403
- 75 -
Andern durch List oder Gewalt zu vergrößern, die Kriege vervielfältigen und durch immer
(bei bleibender Löhnung) vermehrte, auf stehendem Fuß und in Disciplin erhaltene, mit stets
zahlreicheren Kriegsinstrumenten versehene Heere immer höhere Kosten verursachen muß;
indeß die Preise aller Bedürfnisse fortdaurend wachsen, ohne daß ein ihnen proportionirter
fortschreitender Zuwachs der sie vorstellenden Metalle gehofft werden kann; kein Frieden
auch so lange dauert, daß das Ersparniß während demselben dem Kostenaufwand für den
nächsten Krieg gleich käme, wowider die Erfindung der Staatsschulden zwar ein sinnreiches,
aber sich selbst zuletzt vernichtendes Hülfsmittel ist“.409
Der vierte Präliminarartikel betrachtet die gleiche Problematik aus einem anderen
Blickwinkel. Denn der Aufbau der finanziellen Macht eines Staats muss nicht notwendig
durch jahrelange Ersparnisse angehäuft werden, sondern kann leicht durch den Rückgriff auf
Kredite geschehen. Das Kreditsystem ist als solches nicht untersagt. Gegen Ausleihen „zum
Behuf der Landesökonomie (der Wegebesserung, neuer Ansiedelungen, Anschaffung der
Magazine für besorgliche Mißwachsjahre u.s.w.)“410 lässt sich Kant zufolge nichts
einwenden. Der Staat kann nämlich die finanziellen Mittel benutzen, um wichtige Aufbauund Infrastrukturmaßnahmen zu finanzieren, welche mittelfristig die Leistungsfähigkeit der
gesamten Wirtschaft steigern werden, und also Mittel erwirtschaften, welche wiederum eine
Rückzahlung mit Zinsen ermöglichen werden.411 Das zuvor Erwähnte gilt jedoch nicht für
Militärausleihen. Für Kant führen diese finanziellen Mittel zum Aufbau der eigenen
militärischen Kapazitäten unausweichlich in den Staatsbankrott.412 Kant bietet hierfür keine
explizite Begründung. Es liegt aber nahe, dass für ihn militärische Ausleihen eine
Ressourcenverschwendung darstellen, weil sie nicht zur wirtschaftlichen Entwicklung des
Staates beitragen. Weil aber das internationale Kreditsystem vielfach ökonomische
Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Staaten erzeugt, würde der Bankrott eines einzelnen
Staates ebenfalls mehreren anderen Staaten Schaden zufügen, obwohl diese unverschuldet
sind. Dies würde aber eine Verletzung ihrer Rechte darstellen.
Für Kant sind aber Kredite zum militärischen Zweck nicht nur deshalb verwerflich,
weil sie unproduktiv sind und (ihrer Logik nach) zum Staatsbankrott führen. Sie sind schon
deshalb verwerflich, weil sie aufgrund einer nie zuvor vorhandenen Leichtigkeit zum Krieg
verleiten.413 Die Leichtigkeit Geld anzusammeln, um Krieg zu führen, ist eine offene Tür für
alle möglichen Missbräuche. Während es Jahre dauern kann, um einen Kriegsschatz
anzuhäufen, können alle Staaten schnell und relativ mühelos durch Kredite einen „Schatz zum
Kriegführen“414 erlangen. Mit diesem System können außerdem die Kosten eines Krieges
teilweise auf die nächsten Generationen übertragen werden. Das internationale Kreditsystem
steht also dem ewigen Frieden deswegen entgegen, weil die Entscheidung zum Krieg für die
Staatsoberhäupter leichter und schneller fällt. Der Leichtigkeit des Krieges entspricht übrigens
der Neigung der Machthabenden und scheint der menschlichen Natur eingeartet zu sein.415
Wenn der Friedenswille der Staaten wirklich bedingungslos ist, dann sollen sie auf die
Erhöhung ihrer Kriegskapazitäten durch das Mittel der Verschuldung verzichten. Diese
Forderung entspricht keiner anderen als jener der Abrüstung.
409
Gemeinspruch: VIII, 311
Frieden: VIII, 345
411
Vgl. Gerhardt, Volker: Immanuel Kants Entwurf »Zum ewigen Frieden«. Eine Theorie der Politik, Darmstadt
1995, S. 60.
412
Vgl. Frieden: VIII, 346
413
Vgl. Frieden: VIII, 345
414
Frieden: VIII, 345
415
Vgl. Frieden: VIII, 345
410
- 76 -
1.6 Fünfter Präliminarartikel: Das Verbot der gewalttätigen Einmischung in die inneren
Angelegenheiten eines anderen Staates
Die im fünften Präliminarartikel enthaltene Forderung heißt: „Kein Staat soll sich in
die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewaltthätig einmischen“.416 Kants
rechtsphilosophische Begründung dieser Forderung lässt sich in drei Argumentationsschritte
einteilen, in welchen die Problematik der militärischen Einmischung aus einer jeweils anderen
Rechtsperspektive behandelt wird. Zuerst wird diese Problematik aus der Perspektive des
allgemeinen Rechtsgesetzes, anschließend aus jener des Staatsrechts und schließlich aus jener
des Völkerrechts erörtert.
In einem ersten Schritt stellt Kant die Behauptung auf, dass, selbst wenn der
Verfassung und Regierung eines Staates keine Rechtsgrundsätze zugrundeliegen, die anderen
Staaten dennoch nicht dazu berechtigt sind, sich in die inneren Angelegenheiten dieses Staates
gewaltsam einzumischen. Kant benennt hierfür den folgenden Grund: „[D]as böse Beispiel,
was eine freie Person der andern giebt, [ist] keine Läsion derselben“.417 Kant nimmt implizit
auf das allgemeine Rechtsgesetz Bezug.418 Eine „Läsion“ ist nämlich eine Verletzung der
Rechte anderer, oder, in Kants eigenen Worten, ein „Abbruch an meiner Freiheit, die mit der
Freiheit von Jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“.419 Das
schlechte Beispiel, welches ein Staat durch seine Gesetzlosigkeit anderen bietet, stellt aber
keine Verletzung des Rechts anderer Staaten dar. Die Art und Weise wie ein Staat seine
inneren Angelegenheiten regiert, kann nämlich unmöglich eine Einschränkung der Freiheit
eines anderen Staates nach einem allgemeinen Gesetz darstellen. Für Kant darf die Ausübung
von Zwang einzig nur ein Unrecht (also eine tatsächliche Läsion) verhindern oder
zurückfordern. Eine Handlung, die niemand lädiert und somit in Übereinstimmung mit der
äußeren Freiheit einer jeden moralischen Person nach einem allgemeinen Gesetz steht, darf
nicht mit Zwang verhindert werden. Aus diesem Grund sind militärische, das heißt nötigende
Interventionen in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates schlechterdings
verboten.
In einem zweiten Schritt greift Kant auf die im zweiten Präliminarartikel angeführte
Definition des Staates zurück. Dort heißt es, dass der Staat eine Gesellschaft von Menschen
ist, über die niemand anders als er selbst zu gebieten und zu disponieren hat.420 Der Staat darf,
als eine moralische Person, nicht zum völkerrechtlichen Objekt gemacht werden, sondern soll
von den anderen Staaten immer als selbstgesetzgebend betrachtet und behandelt werden.
Dieses Selbstbestimmungsrecht gilt, so schreibt Kant, selbst dann, wenn ein Staat „sich durch
innere Veruneinigung in zwei Theile spaltete“.421
Die moralische Persönlichkeit eines jeden Staates verbietet eine Einmischung äußerer
Mächte in die inneren Angelegenheiten, solange der Staat als solches noch existiert. Solange
es sich um einen innerstaatlichen Konflikt handelt, das will heißen, solange der Bürgerkrieg
offensichtlich noch nicht gänzlich in Anarchie - im etymologischen Sinne - umgeschlagen ist,
ist eine gewaltsame Intervention äußerer Mächte verboten, weil es sich dabei um eine
Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines freien (mithin souveränen), wenn auch
fragilen Staates handeln würde. Solange es sich um einen innerstaatlichen Konflikt handelt,
416
Frieden: VIII, 346
Frieden: VIII, 346
418
Vgl. RL: VI, 231
419
RL: VI, 249
420
Vgl. Frieden: VIII, 344
421
Frieden: VIII, 346
417
- 77 -
das heißt solange es einen Staat gibt und somit keine Anarchie vorliegt, wäre jede
gewalttätige Einmischung ein „Skandal“.422
Wenn ein Staat sich aber im Zuge eines Bürgerkrieges aufgelöst hat und an seiner
Stelle zwei neue Gebilde entstanden sind, von denen jede den Anspruch auf das gesamte
Gebiet des ehemals einheitlichen Staats erhebt, so dass letztlich ein Zustand der Anarchie
vorliegt, dann wäre ein „Beistand“ an eine der zwei Seiten nicht länger als Einmischung in die
inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates zu betrachten, sondern als berechtigte
Hilfeleistung zu einem neuen, wenn auch nicht notwendig institutionell gefestigten
Völkerrechtssubjekt in einem äußeren Krieg gegen einen anderen. Diese Argumentation stellt
also keinesfalls, wie häufig zu lesen ist, eine „Einschränkung“, und erst recht keine
„Ausnahme“423 des Einmischungsverbots dar, sondern eine konsequente und differenzierte
Anwendung auf ein besonders heikles Problem der internationalen Politik.
In einem dritten Schritt argumentiert Kant, dass die Intervention eines Staates in die
inneren Angelegenheiten eines anderen, ohne vorangegangene Läsion, nicht nur die
Völkerrechtspersönlichkeit dieses bestimmten Staates aufheben würde, sondern zugleich auch
die „Autonomie aller Staaten unsicher machen“424 würde. Jeder Staat hat eine rechtliche
Verfassung, welche die Bedingungen der Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens einer
Vielzahl freier Menschen schafft. Diese Verfassung ist ausschließlich die Sache der
jeweiligen Staaten als moralische Personen. Die Intervention eines Staates, als gewaltsamer
Eingriff in die inneren Angelegenheiten eines anderen, ohne vorherige Läsion, wäre somit
eine Verletzung der Selbstbestimmung dieses Staates und somit die Aufhebung seiner
Völkerrechtspersönlichkeit. Eine derartige Intervention enthält außerdem in sich die
Möglichkeit die Völkerrechtspersönlichkeit aller anderen Staaten jederzeit nach Belieben
aufheben zu können. Diese Möglichkeit steht aber im Widerspruch zur Idee des
ursprünglichen Friedensvertrages autonomer Staaten und ist aus diesem Grunde rechtlich
ausgeschlossen.
Kant fasst seine Argumente für das Interventionsverbot in einer äußerst gedrängten
Form zusammen. Es kann festgehalten werden, dass viele Fragen wie etwa die Problematik
militärischer Interventionen in Bürgerkriegen von Kant nicht oder nur unzureichend
beantwortet werden.425 Fraglich ist beispielsweise: Wie lässt sich in der Praxis der Übergang
von einem Zustand des Bürgerkrieges in einen der Anarchie feststellen? Wer stellt überhaupt
fest, dass es sich um Anarchie handelt? Unter welchen Bedingungen darf ein Teil eines
ehemaligen Staats als selbständiges Völkerrechtssubjekt anerkannt werden? Diese Fragen
lassen dem politischen Handelnden einen gewissen Interpretationsspielraum und erfordern
vom Politiker eine „durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft“.426 Auf diese Problematik soll
im zweiten Hauptteil der vorliegenden Arbeit noch ausführlich eingegangen werden.
Es darf hier auch nicht übersehen werden, dass Kant damals offenbar nicht an Massenund Völkermorde gedacht hat. Man kann vermuten, dass er eher das republikanische
Frankreich vor Augen hatte, welches in der Pillnitzer Deklaration aus dem Jahre 1791 mit
einer militärischen Intervention von dem Habsburger Kaiser Leopold II und König Friedrich
Wilhelm II von Preußen bedroht wurde. Wichtig ist allerdings, dass Kant diesem
zeitgenössischen Hintergrund in seiner Argumentation unbeachtet lässt und sein striktes
Interventionsverbot ausnahmslos vernunftrechtlich begründet. Mit Blick auf die seit den
422
Frieden: VIII, 346
Siehe beispielsweise: Saner, Hans: Die negativen Bedingungen des Friedens, in: Immanuel Kant. Zum
ewigen Frieden, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 57.
424
Frieden: VIII, 346 (meine Hervorhebung)
425
Vgl. Gerhardt, Volker: Immanuel Kants Entwurf »Zum ewigen Frieden«. Eine Theorie der Politik, Darmstadt
1995, S. 64.
426
GMS: IV, 389
423
- 78 -
1990er Jahren neu entflammte Debatte um die „humanitäre Intervention“ und das „Recht auf
Einmischung“427 lässt sich aus Kantischer Perspektive folgendes sagen: Für Kant ist eine
militärische Intervention im zwischenstaatlichen Naturzustand dann zulässig, wenn die
Verhältnisse innerhalb eines Staates eine Läsion anderer Staaten bedeuten. Eine militärische
Intervention, ohne vorangegangene Läsion, ist dagegen für Kant einzig im Falle eines
Staatszerfalles berechtigt, also in einer Situation, in welcher von Einmischung in innere
Angelegenheiten gar nicht mehr gesprochen werden kann. Damit wird insbesondere jedes
Recht zur militärischen Intervention in anderen Staaten zum Zweck der Einführung einer
republikanischen Verfassung abgelehnt: Kein Staat darf einen anderen zur Übernahme einer
bestimmen Verfassung nötigen. Im Streit der Fakultäten schreibt Kant diesbezüglich, dass
„ein Volk von anderen Mächten nicht gehindert werden [darf], sich eine bürgerliche
Verfassung zu geben, wie sie ihm selbst gut zu sein dünkt“.428
Wichtig ist letztlich festzuhalten, dass lediglich gewalttätige Einmischungen verboten
sind. Damit werden alle weiteren gewaltfreien Formen der Einflussnahme von Kant
stillschweigend akzeptiert. Dazu gehört selbstverständlich in erster Linie die öffentliche
Kritik. Ob und inwiefern wirtschaftliche Sanktionen ebenfalls zu den gewaltfreien
Interventionen zu zählen sind, kann lediglich von Fall zu Fall beurteilt werden.429 Was Kant
fordert ist nicht die blinde Billigung anderer Regierung, also ihre zustimmende Beurteilung
(Akzeptanz), sondern lediglich deren Duldung, mithin deren neutrales Gewährenlassen
(Toleranz).
1.7 Sechster Präliminarartikel: Das Verbot friedensverhindernder Handlungen
Im sechsten Präliminarartikel stellt Kant die folgende Forderung auf: „Es soll sich kein
Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das
wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen: als da sind,
Anstellung der Meuchelmörder (percussores), Giftmischer (venefici), Brechung der
Kapitulation, Anstiftung des Verrats (perduellio) in dem bekriegten Staat etc“.430 Es wurde
bereits gesehen, dass Kant an unterschiedlichen Stellen seiner Werke klar gemacht hat, dass
der Naturzustand der Staaten im Verhältnis zueinander ein Zustand der Rechtlosigkeit ist, das
heißt ein Zustand permanenter Unsicherheit und damit Streitigkeit des geltenden Rechts ist.
Dies gilt nicht zuletzt, wenn die Staaten ihre Streitigkeiten mit militärischer Gewalt austragen,
wenn also faktisch Krieg herrscht. Krieg ist nämlich die Negierung und Aufhebung allen
bürgerlichen Rechts. Da, wo das bürgerliche Recht herrscht, darf es keinen Krieg geben
(bürgerliche Zustand), und da, wo es Krieg gibt, herrscht kein bürgerliches Recht
(Naturzustand).
427
Eine einführende Diskussion findet sich bei: Hinsch, Wilfried: Kant, die humanitäre Intervention und der
moralische Exzeptionalismus, in: Kant im Streit der Fakultäten, Berlin/New York 2005, hrsg. v. Volker
Gerhardt, S. 205-228. Siehe auch die folgenden Sammelbände: Brunkhorst, Hauke (Hrsg.): Einmischung
erwünscht? Menschenrechte und bewaffnete Intervention, Frankfurt a. M. 1998; Debiel, Tobias/ Nuscheler,
Franz (Hrsg.): Der neue Interventionismus. Humanitäre Einmischung zwischen Anspruch und Wirklichkeit,
Bonn 1996; Hoffmann, Stanley (Hrsg.): The Ethics and Politics of Humanitarian Intervention, Notre-Dame
1996; Matthies, Volker (Hrsg.): Frieden durch Einmischung?, Bonn 1993.
428
Streit: VII, 85. Vgl. auch: RL: VI, 344; Vorarbeit: XXIII, 188, 352. Dass Kant im Streit der Fakultät die
militärische Intervention der Koalitionsmächte in Frankreich für völkerrechtwidrig erklärt, liegt nicht darin
begründet, dass Frankreich ein republikanischer Staat war während die Koalition aus despotischen Staaten
bestand, sondern ist lediglich darauf zurückzuführen, dass es sich bei Frankreich um einen freien, mithin
souveränen Staat handelt.
429
Eine systematische Diskussion über Strategien, Methoden und Instrumente friedlicher Intervention findet sich
in: Czempiel, Ernst-Otto: Friedensstrategien. Eine systematische Darstellung aussenpolitischer Theorien von
Machiavelli bis Madariaga, Opladen/Wiesbaden, 1998.
430
Frieden: VIII, 346
- 79 -
Die Abwesenheit eines bürgerlichen bzw. öffentlichen Rechts bedeutet jedoch nicht,
dass die Staaten berechtigt sind, alles zu machen, was sie wollen. Für Kant gibt es nämlich
selbst im Kriegszustand ein für alle Staaten gültiges Völkerrecht, nämlich das Kriegsrecht.
Letzteres gründet im Postulat der reinen praktischen Vernunft, welches besagt, dass die
Staaten den Naturzustand unbedingt verlassen sollen, um in einen sich weltweit
erstreckenden, öffentlich-rechtlichen Zustand einzutreten. Entsprechend verpflichtet das
Kriegsrecht die Staaten, Kriege nur so zu beginnen (Recht zum Krieg), so zu führen (Recht im
Krieg) und so zu beenden (Recht nach dem Krieg), dass es immer noch möglich bleibt, aus
dem Naturzustand herauszutreten.431
Der sechste Präliminarartikel in Zum ewigen Frieden entspricht dem § 57 der
Rechtslehre, welcher das Recht im Krieg behandelt. Er findet seine Ergänzung in § 56 und §
58 der Rechtslehre, die wiederum das Recht zum Krieg sowie das Recht nach dem Krieg
behandeln. Im Folgenden soll der sechste Präliminarartikel im Zusammenhang mit den
entsprechenden Textstellen aus der Rechtslehre systematisch erläutert und diskutiert
werden.432
a) Das Recht zum Krieg
Gleich im ersten Satz des § 56 der Rechtslehre, die das Recht zum Krieg behandelt,
führt Kant folgendes aus: „Im natürlichen Zustande der Staaten ist das Recht zum Kriege […]
die erlaubte Art, wodurch ein Staat sein Recht gegen einen anderen Staat verfolgt, […] weil es
durch einen Prozeß (als durch den allein die Zwistigkeiten im rechtlichen Zustande
ausgeglichen werden) in jenem Zustande nicht geschehen kann“.433 Die Bezeichnung des
Rechts zum Krieg als die „erlaubte Art“, durch welche die Staaten im Naturzustand ihre
Rechte verfolgen können, kann leicht missverstanden werden und bedarf weiterer
Erläuterungen.
Es sei gleich darauf hingewiesen, dass mit der Formulierung „erlaubte Art“ kein
bedingungsloses Recht zum Krieg eingeräumt wird. Das Recht zum Krieg stellt mitnichten
eine Erlaubnis der Kriegsführung zur Erlangung irgendwelcher außenpolitischer Ziele dar.
Selbst im rechtlosen Naturzustand ist das Auslösen eines Krieges (sei es durch tatsächliche
oder bloß angedrohte Gewalt), um den anderen Staaten den eigenen Willen aufzuzwingen,
schlechterdings verboten, weil die Maxime, die einer derartigen Handlung zugrunde liegt,
nicht zu einem allgemeinen Gesetz taugt.434 Die Anerkennung eines Rechts zum Krieg (aus
welchem Grund auch immer) würde nämlich die Idee einer sich weltweit erstreckenden
Rechtsordnung autonomer Staaten a priori unmöglich machen. Damit sind auch alle
denkbaren Begründungsversuche eines gerechten Krieges ausgeschlossen. Es sei ebenfalls
daran erinnert, dass Krieg selbst dann rechtlich ausgeschlossen ist, wenn es darum geht, ein
Volk von einer despotischen Herrschaft zu befreien und zur Stiftung einer republikanischen
Verfassung zu verhelfen. Selbst der „Krieg wider dem Krieg“ – nach dem Motto: „einmal für
allemal ungerecht zu sein, um nachher die Gerechtigkeit desto sicherer zu gründen und
431
Vgl. Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3,
Würzburg 2012, S. 188; Ders.: Geismann, Georg: Kants Rechtslehre vom Weltfrieden, in: Zeitschrift für
philosophische Forschung 37, 1983, S. 372.
432
Vgl. ebenfalls: Reflexionen 7816-7839: XIX, 524ff.; 8061-8073: XIX, 598ff.
433
RL: VI, 346
434
Hariolf Oberer definiert die Tauglichkeit zu einem allgemeinen Gesetz anhand von vier Kriterien:
„schlechthinnige Universalität, absolute, ausnahmslose Notwendigkeit für alle Fälle des Gesetzes,
Notwendigkeit für Freiheit (Autonomie, Selbstzweckhaftigkeit), interne und externe Widerspruchsfreiheit“. Vgl.
Oberer, Hariolf: Sittengesetz und Rechtsgesetze a priori, in: Kant. Analysen - Probleme - Kritik, hrsg. v. Hariolf
Oberer, Bd. III, Würzburg 1997, S. 174.
- 80 -
aufblühen zu machen“435 – ist unrechtmäßig. Abgesehen von der Verteidigung des eigenen
Rechts kann es bei Kant gar kein Rechtsgrund zum Krieg geben. Es gilt vielmehr, dass „die
Vernunft vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab den Krieg als
Rechtsgang schlechterdings verdammt, den Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren
Pflicht macht“.436 Erklärungsbedürftig ist an dieser Stelle, was Kant dann unter der „erlaubten
Art“ versteht.
Im Naturzustand verfügen die Staaten - analog zu den einzelnen Menschen - über
bestimmte Rechte, die zwar gültig, jedoch (mangels einer obersten Zwangsgewalt) im
Streitfall nicht wirksam sind. Das Recht zum Krieg besteht dann lediglich darin, dass im
Naturzustand jeder Staat im Streit mit anderen Seinesgleichen sein Recht letztlich durch
eigene Gewalt zu bewahren suchen kann. In der Friedensschrift schreibt Kant, dass der Krieg
lediglich das „traurige Nothmittel im Naturzustande ist (wo kein Gerichtshof vorhanden ist,
der rechtskräftig urtheilen könnte), durch Gewalt sein Recht zu behaupten“.437 Erst mit der
Schaffung eines Völkerbundes mit Richtergewalt und anschließender Schaffung eines
Völkerstaats können die Staaten „ihre Streitigkeiten auf civile Art, gleichsam durch einen
Proceß“, und „nicht auf barbarische (nach Art der Wilden), nämlich durch Krieg“438
entscheiden. Der Krieg hat also nur deshalb eine Berechtigung, weil im Naturzustand keine
oberste Rechtsinstanz des friedlichen Konfliktaustrags vorhanden ist, welche die Rechte der
jeweiligen Staaten bewahren könnte. Das Recht zum Krieg „hat solche Ursachen an dem
Feinde zum Grunde, welche in einem allgemeinen Staatenbunde notwendig verboten werden
würden“.439 In Abwesenheit einer überstaatlichen Zwangsgewalt kann jeder Staat sein eigenes
Recht letztlich (also nach Erschöpfung aller anderen Möglichkeiten des Konfliktaustrags) nur
mit militärischer Gewalt bewahren. Unter dieser Bedingung ist Krieg erlaubt, weil jedes
Recht mit einer Befugnis zu zwingen verbunden ist. Da ein Eingriff in die Rechte einer
anderen moralischen Person ein Unrecht darstellt, ist der gewalttätige Widerstand, der diesem
Eingriff entgegensteht, rechtmäßig. Der Ausgang des Krieges schafft dann „Recht“ wie ein
Gottesurteil.440
Kant erkennt ein bedingtes Recht zum Krieg sowohl im Frieden als auch in der
Rechtslehre. In der Rechtslehre ergänzt Kant jedoch seine frühere Argumentation, indem er
darauf hinweist, dass ein Staat im Naturzustand nicht nur dann zum Krieg berechtigt ist, wenn
eine „thätige[] Verletzung“ seiner Rechte vorliegt, sondern bereits wenn eine unmittelbare
„Bedrohung“ vorliegt.441 Daraus ergibt sich ein „Recht des Zuvorkommens (ius
praeventionis)“.442 Für Kant sind somit mindermächtige Staaten dazu berechtigt sich gegen
„die zuerst vorgenommene Zurüstung“ sowie gegen die „fürchterlich (durch
Ländererwerbung) anwachsende Macht (potentia tremenda)“ eines anderen Staates präventiv
zu sichern.443 Selbst wenn Kant dies nicht explizit schreibt, darf man annehmen, dass eine
offensichtliche und unverzügliche Bedrohung der eigenen Rechte vorliegen muss, welche
nahe legt, dass der mindermächtige Staat seine Rechte überhaupt nicht verteidigen könnte,
wenn er länger warten würde.444
435
RL: VI, 353
Frieden: VIII, 356
437
Frieden: VIII, 346 (meine Hervorhebung)
438
RL: VI, 351
439
Reflexion 8061: XIX, 598
440
Vgl. Frieden: VIII, 346
441
Vgl. RL: VI, 346
442
RL: VI, 346
443
Vgl. RL: VI, 346; Kants frühere Ansicht findet sich in: Frieden: VIII, 384
444
Im Falle einer Reaktion auf eine Lädierung würde es sich um einen Verteidigungskrieg handeln. Im Falle
einer Reaktion auf eine Bedrohung würde es sich um einen Präventivkrieg handeln. Weil auch ein präventiver
Angriff Verteidigungsziele haben kann, lässt sich Kants Begründung des Rechts zum Krieg schwerlich mit dem
436
- 81 -
Aufgrund des Fehlens einer unabhängigen, überstaatlichen Rechtsinstanz, die den
Rechtsstreit „auf civile Art, gleichsam durch einen Proceß […] entscheiden“445 könnte,
können einzig nur die betroffenen Staaten entscheiden, ob eine Verletzung des eigenen Rechts
vorliegt. Die Bewertung der Handlung eines anderen Staates als Verletzung oder Bedrohung
des eigenen Rechts kann also im zwischenstaatlichen Naturzustand nicht anders als bloß
subjektiv sein. Das Rechtsurteil eines jeden Staates kann allerdings jederzeit mit dem
Rechtsurteil jedes anderen Staates kollidieren, ohne dass es möglich ist objektiv zu
bestimmen, wer sich im Recht oder im Unrecht befindet. Vor diesem Hintergrund lässt sich
verstehen, warum für Kant ein Staat zum Krieg berechtigt ist, wenn er sich von einem anderen
Staat lädiert glaubt.446 Dies impliziert keinesfalls, dass die Staaten beliebig ein Recht zum
Krieg beanspruchen können. Vor ihrem Gewissen sind die Staatsoberhäupter strikt dazu
verpflichtet, Kriege nur dann zu führen, um sich gegen eine vorangehende bzw. unmittelbar
vorstehende Läsion zu wehren. Im Verhältnis der Staaten zueinander bedeutet dies jedoch,
dass jeder Staat im Naturzustand frei (souverän) über sein Recht zum Krieg urteilen kann.
Abschließend zu diesem Teil sei noch darauf hingewiesen, dass die Wertschätzung des
Krieges, die Kant an verschiedenen Stellen seines Werkes laut machen lässt447, nichts an
seiner absoluten Ablehnung des Krieges als rechtmäßiges Mittel der Politik ändern. Die
geschichtsphilosophische These, dass der Krieg einen entscheidenden Beitrag zur
Kulturentwicklung des menschlichen Geschlechts geleistet hat, und langfristig auf dessen
höheren Zweck des ewigen Friedens auf Erde führe, ist von der rechtsphilosophischen These
der Unrechtmäßigkeit des Krieges ebenso unterschieden, wie miteinander verträglich. In den
Vorarbeiten zur Friedensschrift heißt es: „Die Ordnung der Natur will daß vor dem Recht die
Gewalt und der Zwang vorhergehe denn ohne diesen würden Menschen selbst nicht einmal
dahin gebracht werden können sich zum Gesetzgeben zu vereinigen. – Aber die Ordnung der
Vernunft will daß nachher das Gesetz die Freyheit regulire und in Form bringe“.448
b) Das Recht im Krieg
Das Recht im Krieg, welches nach Kant ebenfalls Teil des Völkerrechts ist, bringt die
meisten Schwierigkeiten mit sich. Vom Recht im Krieg zu sprechen heißt nämlich, sich ein
Gesetz im gesetzlosen Zustand zu denken.449 Der Krieg bedeutet die Aufhebung des Rechts.
Im Zustand des Krieges entscheidet allein die Gewalt über „Recht“ und „Unrecht“: Wer
militärisch überlegen ist und den Krieg gewinnt, setzt das Faustrecht durch.
Nichtsdestoweniger lehnt Kant das Prinzip inter arma silent leges ab, nach welchem im Krieg
alle Gesetze außer Kraft gesetzt werden.450 Kant widmet sich dem schwierigen Problem des
Rechts im Krieg im sechsten Präliminarartikel des Friedenstraktats sowie im § 57 der
Rechtslehre. Das Recht im Krieg legt den Konfliktparteien die unbedingte Pflicht auf - wenn
es schon einmal zu einem Krieg gekommen ist - sich ausschließlich solcher Mittel der
Kriegsführung zu bedienen sowie solche Kriegszwecke zu setzten, welche den Abschluss und
die Einhaltung eines Friedensvertrages nicht von vornherein (also notwendig) unmöglich
machen würden. Das Recht im Krieg verpflichtet die Staaten den Krieg lediglich „nach
solchen Grundsätzen zu führen, nach welchen es immer noch möglich bleibt, aus jenem
gegensätzlichen Begriffspaar des erlaubten „Verteidigungskrieges“ und des verbotenen „Angriffskrieges“
zusammenfassen.
445
RL: VI, 351
446
Vgl. RL: VI, 346
447
Vgl. Idee: VIII, 24ff.; Anfang: VIII, 120f.; Frieden: VIII, 365, 367; Anthropologie: VII, 330
448
Vorarbeit: XXIII, 169
449
Vgl. RL: VI, 346
450
Vgl. RL: VI, 347
- 82 -
Naturzustande der Staaten (im äußeren Verhältnis gegen einander) herauszugehen, und in
einen rechtlichen zu treten“.451
Schlechterdings unerlaubt sind jene Kriegsmittel, welche „das wechselseitige Zutrauen
im künftigen Frieden unmöglich machen müssen“.452 Gemeint sind hier beispielsweise:
Meuchelmord, Giftmischerei, Brechung der Kapitulation, Anstiftung zum Verrat, Spionage,
Verbreitung falscher Nachrichten, Plünderung des Volkes und Heckenschützen.453 Diese
„ehrlose[n] Stratagemen“454 vernichten das wechselseitige Vertrauen in „die Denkungsart des
Feindes“.455 Dieses Vertrauen ist aber eine notwendige Bedingung der Möglichkeit des
Abschlusses eines Friedensvertrages, weil im Naturzustand keine oberste Rechtsinstanz
vorhanden ist, welche für die Einhaltung der vereinbarten Verpflichtungen rechtskräftig
sorgen könnte. Ein Mindestmaß an Vertrauen und Zuverlässigkeit unter den Staaten muss
selbst inmitten des Krieges übrig bleiben. Dies setzt voraus, dass diese sich inmitten der
Kriegsführung weiterhin gegenseitig als moralische Personen betrachten. Die oben zitierten
Mittel der Kriegsführung sind außerdem deshalb verboten, weil sie sich bis in den
Friedenszustand (gemeint ist hier der Waffenstillstand) auswirken und die Staaten erneut in
den Krieg führen. Im Wortlaut Kants heißt es, dass diese niederträchtigen Kriegsmittel „sich
nicht lange innerhalb der Grenze des Krieges halten […], sondern auch in den
Friedenszustand übergehen, und so die Absicht desselben gänzlich vernichten“.456 Weil im
zwischenstaatlichen Naturzustand die Möglichkeit eines Ausbruches des Krieges stets
vorhanden ist, und weil die Staaten den Zustand des Krieges unbedingt verlassen sollen, um
letztlich in einen bürgerlichen Zustand einzutreten, muss selbst inmitten des Krieges die
Möglichkeit eines zukünftigen Friedens immer weiter bestehen. Der Krieg soll also nach
solchen Grundsätzen geführt werden, die den Übergang vom natürlichen in den bürgerlichen
Zustand ermöglichen.
Weil der Krieg lediglich ein „traurige[s] Nothmittel im Naturzustande“457 ist, anhand
von welchem die Staaten ihr Recht suchen, darf er weder absolut noch ewig sein. Aus diesem
Grund müssen seine Zwecke ebenfalls eingegrenzt werden. Diese notwendige Eingrenzung
der Kriegszwecke gilt gleichermaßen für alle Staaten, selbst also für jene, die in ihren Rechten
von einem anderen Staat verletzt wurden, und also prinzipiell ein Recht zum Krieg haben. Der
Ausrottungskrieg (bellum internecinum) ist schlechterdings unerlaubt, weil sein Ziel lediglich
in der bloßen Vernichtung aller Untertanen eines anderen Staates liegt, was aber unmittelbar
dem Recht der Menschheit in der Person jedes einzelnen Menschen widerspricht. Für Kant ist
grundsätzlich nur diejenige Gewaltanwendung im Krieg erlaubt, die „mit der Erhaltung des
menschlichen Geschlechts zusammen bestehen kann“.458 Der Bestrafungskrieg (bellum
punitivum) ist wiederum unerlaubt, weil alle Staaten gleichermaßen über die
Völkerrechtspersönlichkeit verfügen und also „zwischen ihnen kein Verhältniß eines Obern
zu einem Untergebenen statt findet“.459 Da die Staaten eine Völkerrechtspersönlichkeit haben,
stehen sie per definitionem unter keiner obersten, öffentlich-rechtlichen Zwangsgewalt, die
über ihre Streitigkeiten rechtsverbindlich entscheiden könnte. Schließlich verbietet die
Rechtslehre den Unterjochungskrieg (bellum subiugatorium), mit der Begründung, dass er
„eine moralische Vertilgung eines Staates“460 darstellen würde.
451
RL: VI, 347
Frieden: VIII, 346 (meine Hervorhebung)
453
Vgl. Frieden: VIII, 346; RL: VI, 346
454
Frieden: VIII, 346
455
Frieden: VIII, 346
456
Frieden: VIII, 347
457
Frieden: VIII, 346 (meine Hervorhebung)
458
Reflexion 8067: XIX, 600
459
Frieden: VIII, 347
460
RL: VI, 347
452
- 83 -
c) Das Recht nach dem Krieg
Das Recht nach dem Krieg besteht darin, dass der Sieger unilateral die Bedingungen
stellt, unter welchen der Friedensvertrag abgeschlossen werden soll, „und zwar nicht gemäß
irgend einem vorzuschützenden Recht […] sondern […] sich stützend auf seine Gewalt“.461
Man muss sich darüber im Klaren sein, dass Kant hier den Begriff des Rechts nicht im Sinne
von Gerechtigkeit versteht. Gemeint ist lediglich, dass der Sieger sein eigenes, also notwendig
subjektives Rechtsurteil gegen den Willen der anderen durchsetzt. Das Recht nach dem Krieg
ist im Grunde nichts anderes als das Recht des Stärkeren. Kant hebt hier die Willkür aller
Abkommen hervor, welche als Ergebnis eines Krieges (also einer äußerlichen Nötigung)
zustande gekommen sind. Diese sind nicht mit dem Friedensvertrag zu verwechseln, welche
die Staaten nach der Idee des allgemeinen, ursprünglichen Vertrages zusammenschließen
sollen.
Weil Gewalt und Recht sich wechselseitig ausschließen, soll der Sieger die
Völkerrechtspersönlichkeit
des
Besiegten
respektieren.
Die
Aufhebung
der
Völkerrechtspersönlichkeit eines besiegten Staates würde die Stiftung einer sich weltweit
erstreckenden Rechtsgemeinschaft autonomer Staaten in ihrer Möglichkeit a priori aufheben.
Dies bedeutet konkret, dass die Siegermacht darauf verzichten muss, den besiegten Staat und
sein Volk als eine Habe, das heißt als eigenes Mein und Dein zu behandeln. Weil es unter
Bedingungen internationaler Anarchie keine öffentliche Gerechtigkeit gibt, kann es keine
Verurteilung oder Bestrafung des besiegten Staates geben. Die Siegermacht kann aus
demselben Grund keinen Anspruch „auf Erstattung der Kriegskosten“462 erheben. Dies würde
bedeuten, dass sein Krieg ungerecht war.463 Das Recht nach dem Krieg stellt außerdem die
Pflicht zur „Auswechslung der Gefangenen, ohne auf Gleichheit der Zahl zu sehen“.464 Dies
liegt darin begründet, dass die Untertanen des jeweils einen Staates nicht die Habe des
anderen sein dürfen. Alle Bewohner des besiegten Staates behalten ihre „staatsbürgerliche
Freiheit“.465
Die Präliminarartikel sind notwendige, jedoch keine hinreichenden Bedingungen der
Möglichkeit des ewigen Friedens unter den Staaten. Ihre Einhaltung ermöglicht einen Zustand
vorläufiger Kriegsabwesenheit. Die Präliminarartikel schaffen somit lediglich die
Bedingungen, unter denen der Abschluss eines Definitivvertrags überhaupt erst möglich ist.466
Welche Forderungen der Definitivvertrag enthält und wie Kant jene begründet, soll im
folgenden Abschnitt näher gezeigt werden.
2. Die Definitivartikel: Die positiven Rechtsbedingungen der Möglichkeit des ewigen
Friedens unter Staaten
Im Gegensatz zum ersten Abschnitt der Friedensschrift hat Kant dem zweiten
Abschnitt seiner Abhandlung, in welchem die Definitivartikel zum ewigen Frieden formuliert
werden, eine kurze Einleitung hinzugefügt. Diese verdient besondere Aufmerksamkeit, weil
dort die innersystematische Konstruktion des Friedensentwurfes hervorgehoben wird. Kant
461
RL: VI, 348
RL: VI, 348
463
Vgl. RL: VI, 348
464
RL: VI, 348
465
RL: VI, 348
466
Es ist Georg Geismann zuzustimmen, wenn er schreibt, dass die Präliminarartiel lediglich die Grundlage für
die „Ermöglichung“ eines Zustandes des Weltfriedens bilden, während die Definitivartikel die Grundlage für
dessen „Verwirklichung“ sind. Vgl. Ders.: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum
Weltfrieden, Bd. 3, Würzburg 2012, S. 180.
462
- 84 -
führt zunächst aus, dass die Menschen sich von Natur aus in einem Zustand des Krieges
befinden, „d.i. wenn gleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch
immerwährende Bedrohung mit denselben“.467 Die Gründe hierfür sind bereits ausführlich
erläutert worden. Festzuhalten ist hier nur folgendes: Weil es keine von Natur aus gegebene
Harmonie gibt, soll der Zustand des Friedens zuerst „gestiftet“ werden. Dies hat wiederum zu
bedeuten, dass der Frieden in der Macht der Menschen liegt. Er muss aber aktiv gewollt und
durch beständige Anstrengung hergestellt werden. In den drei Definitivartikeln hält Kant die
notwendigen Rechtsschritte für die Realisierung der Möglichkeit des Friedens fest.
Die drei Definitivartikel heben die positiven Rechtsbedingungen der Möglichkeit des
ewigen Friedens hervor. In der durch ein Sternchen abgesetzten Anmerkung führt Kant aus,
dass allen drei Definitivartikeln das Postulat des öffentlichen Rechts zugrunde liegt. Dieses
lautet: „Alle Menschen, die auf einander wechselseitig einfließen können, müssen zu irgend
einer bürgerlichen Verfassung gehören“.468 Alle Menschen müssen sich in irgendeinem das
provisorische Recht sichernden Zustand befinden. Die drei Definitivartikel beziehen sich auf
die drei denkbaren Varianten einer bürgerlichen Verfassung: „Alle rechtliche Verfassung […]
ist, was die Personen betrifft, die darin stehen, 1) die nach dem Staatsbürgerrecht der
Menschen in einem Volke (ius civitatis), 2) nach dem Völkerrecht der Staaten in Verhältniß
gegen einander (ius gentium), 3) die nach dem Weltbürgerrecht, so fern Menschen und
Staaten, in äußerem auf einander einfließendem Verhältniß stehend, als Bürger eines
allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind (ius cosmopoliticum)“.469 Kant übernimmt
dieselbe Einteilung im Zweiten Teil der Rechtslehre, dessen drei Abschnitte wie folgt heißen:
»Das Staatsrecht«, »Das Völkerrecht« und »Das Weltbürgerrecht«.
Diese Dreiteilung ist erwartungsgemäß von Kant nicht willkürlich gewählt worden,
sondern ergibt sich notwendigerweise aus der Idee des ewigen Friedens. In § 44 der
Rechtslehre schreibt Kant, dass es a priori in der Vernunftidee des Naturzustandes liege,
„daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen,
Völker und Staaten, niemals vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher sein können, und
zwar aus jedes seinem eigenen Recht zu thun, was ihm recht und gut dünkt, und hierin von
der Meinung des Anderen nicht abzuhängen“.470 Das Prinzip des Rechts ist somit in allen drei
denkbaren Rechtsbeziehungen zu verwirklichen. Der Naturzustand der Menschen ist
prinzipiell ein Zustand permanenter Unsicherheit des Rechts. Um diese grundsätzliche
konfliktträchtige Rechtsunsicherheit ein für allemal zu beseitigen, soll sich eine begrenzte
Gemeinschaft von Menschen einer allgemeinen Gesetzgebung unterwerfen, also einen Staat
errichten. Solange sich aber die Staaten in ihren äußeren Verhältnissen zueinander im
Naturzustand befinden, bleibt die Rechtsunsicherheit weiterhin bestehen. Dies liegt darin
begründet, dass selbst wenn die Menschen in ihren jeweiligen Staaten gesicherte Rechte
haben, sie vor den Eingriffen anderer Staaten nie sicher sein können. Die einmal erreichte
innerstaatliche Rechtssicherheit kann nämlich jederzeit durch zwischenstaatliche Kriege
verloren gehen. Aus diesem Grund darf der Rechtszustand nicht auf das Verhältnis der
Menschen in den einzelnen Staaten beschränkt bleiben (Staatsrecht), sondern soll sich
ebenfalls auf das Verhältnis der Staaten zueinander (Völkerrecht) sowie auf das Verhältnis
der Staaten zu den Bürgern anderer Staaten und auf das Verhältnis von Bürgern verschiedener
Staaten (Weltbürgerrecht) erstrecken.
In der Rechtslehre führt Kants aus, dass „wenn unter diesen drei möglichen Formen
des rechtlichen Zustandes es nur einer an dem die äußere Freiheit durch Gesetze
einschränkenden Princip fehlt, das Gebäude aller übrigen unvermeidlich untergraben werden
467
Frieden: VIII, 349
Frieden: VIII, 349
469
Frieden: VIII, 349
470
RL: VI, 312 (meine Hervorhebungen)
468
- 85 -
und endlich einstürzen muß“.471 Erst in der Einheit des öffentlichen Rechts, das heißt in der
Einheit von Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht, ist ein wirklich universeller Frieden
möglich.
2.1 Erster Definitivartikel: Das Recht in den jeweiligen Staaten
Für Kant nimmt die Stiftung eines Zustandes des Weltfriedens ihren Ausgangspunkt in
der inneren Ausgestaltung der einzelnen Staaten, also im Staatsrecht. Als erste von drei
positiven Rechtsbedingungen der Möglichkeit des ewigen Friedens unter Staaten nennt Kant
entsprechend im ersten Definitivartikel: „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll
republikanisch sein“.472 Kants Gedankengang bei der Begründung dieser Forderungen lässt
sich in drei Schritte einteilen.
Im ersten Teil führt Kant ein staatsrechtliches Argument zugunsten seiner These an.
Dort heißt es, dass die republikanische Verfassung die einzige ist, welche der Idee des
ursprünglichen Vertrages gemäß ist. Im zweiten Teil führt Kant wiederum ein
völkerrechtliches Argument an. Dort stellt er die zentrale These auf, dass die republikanische
Verfassung die einzige ist, welche zum ewigen Frieden führen kann. Der hier zugrunde
liegende Gedanke ist, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der Herrschaftsform
eines Staates und seinem Verhältnis zu den anderen Staaten gibt. Im dritten und letzten Teil
unterscheidet Kant zwischen Herrschaftsform und Regierungsart.
a) Die apriorischen Prinzipien der republikanischen Verfassung
Es besteht zunächst Erklärungsbedarf darüber, was genau unter dem Begriff einer
republikanischen Verfassung zu verstehen ist. Auf diese Frage gibt Kant gleich zu Beginn des
ersten Definitivartikels eine Antwort. Dort heißt es: „Die erstlich nach Principien der Freiheit
der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen); zweitens nach Grundsätzen der Abhängigkeit
aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Unterthanen); und drittens, die nach
dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfassung […] ist die
republikanische“.473 Wie die Rezeptionsgeschichte des Definitivartikels zeigt, bedarf diese
äußerst prägnante und inhaltsreiche Definition der republikanischen Verfassung weiterer
Erläuterungen und Begründungen.
Ihr Verständnis fällt allerdings nicht leichter, wenn man sie im Zusammenhang mit
anderen Textstellen liest. Im Gemeinspruch474 und - mit wenigen Abweichungen - in der
Rechtslehre475 zählt Kant nämlich die drei folgenden Prinzipien einer jeden republikanischen
Verfassung auf: Freiheit als Mensch, Gleichheit als Untertan, Selbständigkeit als Bürger. Im
Gegensatz zu den Ausführungen in der Friedensschrift enthält diese Einteilung nicht das
Prinzip der Abhängigkeit, sondern jenes der Selbständigkeit. Dieser Abweichung wurde in der
Sekundärliteratur kaum Aufmerksamkeit geschenkt, bedarf aber ebenfalls der Erklärung.476
471
RL: VI, 311
Frieden: VIII, 349
473
Frieden: VIII, 349f. (meine Hervorhebungen)
474
Vgl. Gemeinspruch: VIII, 290ff.
475
Vgl. RL: VI, 314
476
Georg Cavallar zum Beispiel bemerkt diese Abweichungen, geht aber nicht wirklich auf sie ein. Vgl.
Cavallar, Georg: Pax Kantiana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs »Zum ewigen Frieden«
(1795) von Immanuel Kant, Wien/Köln/Weimar 1992, S. 143. Diesen Abweichungen widmen sich dagegen vor
allem Volker Gerhardt und Jochen Hennigfeld. Vgl. Gerhardt, Volker: Immanuel Kants Entwurf »Zum ewigen
Frieden«. Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995, S. 85-87; Hennigfeld, Jochen: Der Friede als
philosophisches Problem. Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 8,
1983, S. 29.
472
- 86 -
Anhand der folgenden Ausführungen soll zunächst versucht werden, Kants Bestimmung der
republikanischen Verfassung in der Friedensschrift zu erläutern, um anschließend auf die
zuvor angedeuteten Abweichungen ausführlicher einzugehen.
Aus der schematischen Darstellung der Prinzipien der republikanischen Verfassung,
die Kant in den verschiedenen Schriften anführt, ergibt sich das folgende Bild:
Abbildung 2: Die Prinzipien der republikanischen Verfassung in den verschiedenen Schriften
Gemeinspruch
Freiheit als Menschen
Gleichheit als Untertan
Selbständigkeit als Bürger
Zum ewigen Frieden
Freiheit als Menschen
Abhängigkeit als Untertan
Gleichheit als Staatsbürger
Rechtslehre
gesetzliche Freiheit
bürgerliche Gleichheit
bürgerliche Selbständigkeit
Das erste Prinzip der republikanischen Verfassung ist jenes der rechtlichen Freiheit
aller Individuen im Staat als Menschen. Im ersten Kapitel wurde bereits gesehen, dass für
Kant die Freiheit das einzige angeborene Recht der Menschheit in der je eigenen Person ist.
Es handelt sich dabei um nichts anderes als das Vermögen sein Handeln aufgrund eigener
Zweckvorstellungen selbst zu bestimmen. Es wurde aber auch gesehen, dass in Gemeinschaft
mit anderen Menschen die Freiheit widerspruchsfrei lediglich als rechtsgesetzlich
eingeschränkte Freiheit gedacht werden kann. Die notwendige Einschränkung der äußeren
Freiheit eines jeden Menschen kann jedoch nicht ohne Widerspruch von einem anderen
aufgezwungen werden, weil dies die Unabhängigkeit jedes Menschen von der Willkür anderer
missachten würde. Die Einschränkung der äußeren Freiheit eines jeden Menschen auf die
Bedingungen ihrer Übereinstimmung mit der äußeren Freiheit von jedermann kann also nur
durch die Unterwerfung unter eine allgemeine, das heißt notwendigerweise mich selbst
einschließende Gesetzgebung infrage kommen. Nur auf diesem Weg geht die eigene äußere
Freiheit nicht verloren, weil ihre Einschränkung aus dem eigenen gesetzgebenden Willen
entspringt. Die Unterwerfung unter eine allgemeine Gesetzgebung verletzt somit nicht meine
eigene Freiheit, sondern macht sie zuallererst rechtlich sicher.
Das Prinzip der Freiheit fordert somit die Mitgesetzgebung eines jeden Menschen. Nur
wenn die Gesetze aus der Freiheit der Menschen entspringen können, sind sie mit dem Recht
der Menschheit in Übereinstimmung. Wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist, dann sind die
Gesetze unrechtsmäßig. In der Rechtslehre heißt es dazu, dass der Staatsbürger „im Staat
immer als mitgesetzgebendes Glied betrachtet werden muß“.477 An dieser Stelle soll auf ein
möglicherweise auftretendes Missverständnis hingewiesen werden. Kant schreibt nämlich,
dass die gesetzliche Freiheit darin besteht, „keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu
welchem [man] seine Beistimmung gegeben hat“.478 Dies hat mitnichten zu bedeuten, dass
die Staatsbürger allen einzelnen positiven Gesetzen (dem Inhalt nach) zustimmen müssen.
Gefragt ist lediglich die Zustimmungsmöglichkeit der Staatsbürger (der Form nach), was
wiederum lediglich zu bedeuten hat, dass die Staatsbürger nicht von vornherein an der
inhaltlichen Bestimmung der positiven Gesetze ausgeschlossen werden dürfen. Gefragt ist
also (positiv formuliert) ein Recht auf Mitgesetzgebung und (negativ formuliert) die
Unabhängigkeit von einer fremden Willkür in Bezug auf die Gesetzgebung. Für Kant besteht
die gesetzliche Freiheit vielmehr darin, keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem
man seine Zustimmung hätte geben können.479 Im hier diskutierten Zusammenhang weist
477
RL: VI, 345
RL: VI, 314 (meine Hervorhebung)
479
Vgl. Frieden: VIII, 350
478
- 87 -
Otfried Höffe zu Recht darauf hin, dass Kants „legitimatorische[r] Individualismus […] die
Zustimmungswürdigkeit, nicht die tatsächliche Zustimmungen jedes Betroffenen fordert“.480
Als zweites Prinzip benennt Kant in der Friedensschrift die Abhängigkeit aller
Individuen als Untertanen von einer einzigen allgemeinen Gesetzgebung. In der
Sekundärliteratur wird generell davon ausgegangen, dass Kant hier die Gleichheit aller
Staatsmitglieder vor der Gesetzgebung hervorhebt.481 Für diese Auslegung spricht die
Tatsache, dass Kant sowohl im Gemeinspruch als auch in der Rechtslehre die Gleichheit als
zweites Prinzip der republikanischen Verfassung anführt und sie im Gemeinspruch explizit
auf den Untertan bezieht. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass Kant hier von
„Abhängigkeit“ und nicht von „Gleichheit“ spricht. Die Gleichheit wird in der Friedensschrift
erst als drittes Prinzip erwähnt. Sie bezieht sich dabei nicht auf das Individuum als Untertan,
sondern als Staatsbürger. Aus diesem Grund wird hier eine andere Erklärungsmöglichkeit
vorgezogen. Was Kant unter dem Grundsatz der Abhängigkeit versteht, ist die strikte Bindung
aller Untertanen an die geltende Gesetzgebung des eigenen Staates. Dies setzt
selbstverständlich auch Gleichheit voraus. Hervorgehoben wird aber die absolute und
allgemeine Gültigkeit der öffentlichen Gesetzgebung. Das bedeutet, dass alle Untertanen
überall und unter allen Umständen den öffentlichen Gesetzen unterworfen sind. Für die
Einhaltung der öffentlichen Gesetze sorgt die staatliche Zwangsgewalt. Die öffentlichen
Gesetze sind somit Zwangsgesetze.482 Ohne den Zwangscharakter der öffentlichen Gesetze
könnte jeder gänzlich nach Gutdünken handeln, was das Zusammenleben äußerlich freier
Wesen in Gemeinschaft unmöglich machen würde. Das friedliche Zusammenleben wird
zuallererst durch die Zwangsgesetze ermöglicht. Diese haben somit nicht nur regulativen,
sondern auch konstitutiven Charakter. Kant spricht deshalb von „Abhängigkeit“, weil ohne
Zwangsgesetze die Menschen gar nicht zusammen in Gemeinschaft leben könnten.
Als drittes und zugleich letztes Prinzip benennt Kant die Gleichheit der Individuen im
Staat als Staatsbürger desselben. Der Begriff der Gleichheit bezeichnet hier die
Wechselseitigkeit rechtlicher Verpflichtungen. Alle Mitglieder des Staates sind
gleichermaßen den öffentlichen Gesetzen unterworfen. Empirisch gesehen sind zwar alle
Individuen verschieden, aber rechtlich sind sie alle gleich. Dies bedeutet, dass sie alle über
dieselben Rechte und Pflichten verfügen. Rechtlich sind weder negative noch positive
Diskriminierungen unter den Staatsbürgern zugelassen.483 Jeder hat dieselbe
Zugangsmöglichkeit zu den rechtlichen und gesellschaftlichen Positionen und jeder hat in
gleicher Weise die Möglichkeit äußere Gegenstände der Willkür als das Seine zu erwerben.
Um Missverständnisse zu vermeiden, soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass das
Prinzip der Gleichheit sich ausschließlich auf die rechtlichen Verhältnisse der Individuen
untereinander bezieht. Es verlangt somit nicht die Abschaffung möglicher sozioökonomischer
Disparitäten.484
Die republikanische Verfassung sichert die rechtliche Freiheit der Individuen im Staat,
da diese an der Gestaltung der öffentlichen Gesetzgebung gleichermaßen mitwirken dürfen
und von dieser gemeinsamen Gesetzgebung gleichermaßen abhängig sind. Sie ist somit die
einzige Verfassung, welche der Idee des ursprünglichen Vertrages gemäß ist. Dies bedeutet,
480
Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt a. M.
2001, S. 210f.
481
Siehe beispielsweise: Cavallar, Georg: Pax Kantiana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs
»Zum ewigen Frieden« (1795) von Immanuel Kant, Wien/Köln/Weimar 1992, S. 146; Geismann, Georg: Kant
und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3, Würzburg 2012, S. 91 und schon
Ders.: Kants Rechtslehre vom Weltfrieden, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 37, 1983, S. 377.
482
Vgl. Religion: VI, 95
483
Vgl. Gemeinspruch: VIII, 292
484
Vgl. Kersting, Wolfgang: Kant über Recht, Paderborn 2004, S.127f.
- 88 -
dass sie die einzige Verfassung ist, welche mit dem angeborenen Recht der Menschheit in der
je eigenen Person in Übereinstimmung steht.
Das zuvor Geschriebene bezieht sich auf Kants Einteilung in der Friedensschrift. An
anderen Stellen seiner Werke, nämlich im Gemeinspruch und in der Rechtslehre, zählt Kant
jedoch andere Prinzipien auf. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, worin diese
Unterschiede genau bestehen und wie sie erklärt werden können.
Es kann zunächst festgehalten werden, dass die Bestimmung des ersten Prinzips
(Freiheit als Mensch) in allen drei Werken weitgehend deckungsgleich ist. Die Bestimmung
des dritten Prinzips in der Friedensschrift (Gleichheit als Staatsbürger) entspricht auch
weitgehend den Ausführungen des zweiten Prinzips (Gleichheit als Untertan) im
Gemeinspruch und in der Rechtslehre. Dabei wird nicht übersehen, dass Kant das Prinzip der
Gleichheit einmal auf den Staatsbürger und einmal auf den Untertan bezieht. Festzuhalten ist
allerdings, dass Kant in der Anmerkung zum zweiten Definitivartikel den Ausdruck „das
Recht der Gleichheit aller Staatsbürger, als Unterthanen“485 verwendet. Damit betont Kant,
dass in der republikanischen Verfassung jeder Staatsbürger zugleich auch Untertan ist.
Im Gegensatz zu dem, was in dem Friedenstraktat steht, nennt Kant sowohl im
Gemeinspruch als auch in der Rechtslehre das Prinzip der Selbständigkeit des Staatsbürgers
als zweites Element der republikanischen Verfassung. Es besteht hier Erklärungsbedarf
darüber, was Kant unter dem Begriff der Selbständigkeit versteht. Es wurde zuvor gesehen,
dass das Prinzip der gesetzlichen Freiheit darin besteht, nur solchen Gesetzen unterworfen zu
sein, zu welchen man seine Zustimmung hätte geben können, und damit das Recht auf
Mitgesetzgebung. Nur setzt dieses Recht auf Mitgesetzgebung auch die Fähigkeit zur
Mitgesetzgebung voraus. Die Fähigkeit zur Mitgesetzgebung bestimmt Kant wiederum in der
erwähnten Selbstständigkeit; verstanden als die Unabhängigkeit vom Willen der anderen.486
Jeder Bürger, der seine Zustimmung unabhängig vom Willen der anderen erteilen kann, ist
zur Mitgesetzgebung fähig. Die Gewährung eines Rechts auf Mitgesetzgebung an jemandem,
der vom Willen der anderen abhängig ist, würde im Widerspruch zum Grundsatz der
rechtlichen Gleichheit aller stehen. Wenn man ein Recht auf Mitgesetzgebung an einem
Staatsbürger gewähren würde, der vom Willen eines anderen abhängig wäre, dann würde man
demjenigen, von dessen Willen dieser Staatsbürger abhängig ist zwei Stimmen anerkennen.
Nur wenn man unabhängig vom Willen eines anderen handeln kann, darf man an der
Gesetzgebung mitwirken.
Die hier vertretene prinzipientheoretische Argumentation ist durchaus konsistent und
überzeugt. Dasselbe lässt sich allerdings nicht in Bezug auf dessen Anwendung auf die
Erfahrung sagen. Gemeint ist Kants Kriterium zur Unterscheidung zwischen aktiven und
passiven Staatsbürgern. Als aktive Staatsbürger gelten lediglich jene Personen, die im
gesellschaftlichen Leben selbstständig sind. Für Kant haben nur sozio-ökonomisch
unabhängige Staatsbürger das Recht auf Mitgesetzgebung. Als passive Staatsbürger
bezeichnet Kant wiederum ausdrücklich die Angestellten, Dienstboten, Unmündigen, Frauen
und „überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betrieb, sondern nach der Verfügung
Anderer (außer der des Staats), genöthigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu
erhalten“.487 Die passiven Staatsbürger genießen als Staatsbürger, also genauso wie die
aktiven Staatsbürger, den Schutz der öffentlichen Gesetze (Kant spricht von
„Schutzgenossen“488). Sie dürfen jedoch nicht zu deren Gestaltung (sei es mittelbar oder
unmittelbar) mitwirken.489 Während Kants Unterscheidung sich etwa in Bezug auf
485
Frieden: VIII, 350
Vgl. RL: VI, 314
487
RL: VI, 314 (meine Hervorhebungen)
488
Gemeinspruch: VIII, 294
489
Vgl. Gemeinspruch: VIII, 294
486
- 89 -
Minderjährige und geistig Schwerbehinderte vielleicht rechtfertigen lässt, ist der von Kant
angenommene Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen der sozio-ökonomischen
Stellung und dem Wahlverhalten problematisch. Es darf nämlich bezweifelt werden, dass die
sozial und ökonomisch Abhängigen nicht eine andere Wahl treffen können als diejenige von
dem sie abhängig sind. Kant macht hier offensichtlich eine falsche Anwendung des Prinzips
der Selbständigkeit auf die Erfahrungsfälle.
Otfried Höffe stellt diesbezüglich fest, dass Kant in der Friedensschrift demokratischer
als in der Rechtslehre und dem Gemeinspruch ist.490 Erklärungsbedürftig ist, wie diese
Abweichung erklärt werden kann. Man könnte diese Abweichung, wie Jochen Hennigfeld
vorschlägt, als Beleg dafür sehen, dass Kant bei der Fassung dieses dritten Prinzips unsicher
war.491 Damit wird allerdings noch nichts erklärt. Einen plausiblen Grund für diese
Abweichung wird von Hajo Schmidt vorgeschlagen. Er geht nämlich davon aus, dass Kant in
der Friedensschrift das Prinzip der Selbständigkeit durch jenes der Gleichheit ersetzt hat, weil
er sich dessen bewusst war, dass sein Argument bezüglich der tendenziellen Kriegsabneigung
der Staatsbürger nicht in gleicher Weise für „reiche wie für arme Länder, für saturierte wie für
solche Bürger [gilt], die nichts zu verlieren haben“.492 Die Einführung des Prinzips der
Abhängigkeit an der Stelle jenes der Selbständigkeit sollte Kants Argument bezüglich der
Friedfertigkeit der Republik untermauern, weil die passiven Staatsbürger im Falle eines
Krieges tatsächlich nicht im selben Ausmaß etwas zu verlieren haben wie die aktiven
Staatsbürger. Die zuvor festgestellten Unterschiede zwischen den verschiedenen Werken
Kants würden somit bloß auf einer jeweils unterschiedlichen Aufgabenstellung beruhen. Es
darf in der Tat nicht übersehen werden, dass die systematische Stelle des zweiten
Definitivartikels in Zum ewigen Frieden sich von den zwei anderen Textstellen in der
Rechtslehre und im Gemeinspruch unterscheidet. Unbestritten ist, dass alle drei das
Staatsrecht behandeln. Im Unterschied zu den zwei letztgenannten Textstellen ist aber der
erste Definitivartikel ein integrativer Teil eines Entwurfes zum ewigen Frieden unter den
Staaten. Der erste Definitivartikel behandelt nicht die Frage der vernunftrechtlichen inneren
Gestaltung des Staates an sich, sondern diese Frage spezifisch mit Blick auf den ewigen
Friedens unter den Staaten.
Dies alles deutet darauf hin, dass Kant die Unterscheidung zwischen passiven und
aktiven Staatsbürgern in der Friedensschrift zwar ganz ausgeklammert hat, jedoch nicht
aufgegeben hat. Zusammenfassend zu diesem Teil und unter Berücksichtigung dessen, was
Kant im Gemeinspruch und in der Rechtslehre schreibt, kann gesagt werden, dass für Kant die
republikanische Verfassung auf insgesamt vier Prinzipien beruht: Die rechtliche Freiheit der
Menschen, ihre Gleichheit vor dem Gesetz, ihre Selbstständigkeit sowie ihre Abhängigkeit
vor der staatlichen Gesetzgebung.
b) Die republikanische Verfassung als friedensfunktionale Verfassung
Im zweiten Absatz des ersten Definitivartikels zum ewigen Frieden stellt Kant die
berühmte, aber auch umstrittene These auf, dass die republikanische Verfassung, die einzige
sei, welche zum ewigen Frieden hinführen könne. Im Wortlaut Kants heißt es: „Nun hat aber
die republikanische Verfassung außer der Lauterkeit ihres Ursprungs, aus dem reinen Quell
des Rechtsbegriffs entsprungen zu sein, noch die Aussicht in die gewünschte Folge, nämlich
490
Vgl. Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt
a. M. 2001, S. 211.
491
Vgl. Hennigfeld, Jochen: Der Friede als philosophisches Problem. Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“, in:
Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 8, 1983, S. 29.
492
Schmidt, Hajo: Durch Reform zu Republik und Frieden? Zur politischen Philosophie Immanuel Kants, in:
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 71, 1985, S. 301.
- 90 -
den ewigen Frieden“.493 In diesem Sinne ist die republikanische Verfassung die einzige
sowohl innerlich als auch äußerlich vollkommene Staatsverfassung.494 Kant fügt also dem
staatsrechtlichen Argument, wonach die republikanische Verfassung, die einzige mit der
äußeren Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz in Übereinstimmung
stehende bürgerliche Verfassung ist, ein völkerrechtliches Argument hinzu, wonach die
republikanische Verfassung auch der Stiftung eines Friedenszustands dient.
Im späteren Streit der Fakultäten ändert Kant nichts an seiner früheren These. Dort
erklärt er, „daß diejenige Verfassung eines Volks allein an sich rechtlich und moralisch gut
sei, welche ihrer Natur nach so beschaffen ist, den Angriffskrieg nach Grundsätzen zu meiden,
welche keine andere als die republicanische Verfassung, wenigstens der Idee nach, sein
kann“.495 Im weiteren Verlauf desselben Texts führt Kant aus, dass die republikanische
Verfassung die einzige ist, welche „den Krieg, den Zerstörer alles Guten, entfernt zu
halten“496 vermag. Es gilt deshalb, „zu einer Verfassung hinzustreben, welche nicht
kriegssüchtig sein kann, nämlich der republicanischen“.497 Hier stellt sich die Frage, warum
die republikanische Verfassung (der Idee nach) nicht kriegssüchtig sein kann.
In der Friedensschrift nennt er hierfür den folgenden Grund: „Wenn (wie es in dieser
Verfassung nicht anders sein kann) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um
zu beschließen, ob Krieg sein solle, oder nicht, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle
Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten (als da sind: selbst zu fechten; die
Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich
läßt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaße des Übels endlich noch eine, den Frieden
selbst verbitternde, nie (wegen naher immer neuer Kriege) zu tilgende Schuldenlast selbst zu
übernehmen), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen“.498
Dieses Argument hatte Kant bereits im Gemeinspruch ähnlich formuliert. Dort führt
Kant aus, dass die Stiftung eines Zustandes des Weltfriedens damit anfängt, dass „ein jeder
Staat in seinem Inneren so organisirt werde, daß nicht das Staatsoberhaupt, dem der Krieg
(weil er ihn auf eines Andern, nämlich des Volks, Kosten führt) eigentlich nichts kostet,
sondern das Volk, dem er selbst kostet, die entscheidende Stimme habe, ob Krieg sein solle
oder nicht (wozu freilich die Realisirung jener Idee des ursprünglichen Vertrags nothwendig
vorausgesetzt werden muß)“.499
Kants Argumentation impliziert die Prämisse, dass die Staatsbürger (gemeint sind
nicht alle Untertanen, sondern nur die aktiven Staatsbürger) in einem republikanisch
verfassten Staat selbst, sei es direkt oder durch ihre Repräsentanten vermittelt über Krieg und
Frieden entscheiden können.500 Weil jedoch der Staatsbürger erstens ein mit Verstand
ausgestattetes Wesen ist und zweitens die direkten sowie indirekten Kosten des Krieges (sei
es als Soldat oder als Steuerzahler) zu tragen hat, wird er sich tendenziell (Kant schreibt: „sich
sehr bedenken werden“501) gegen den Krieg entscheiden. Aus diesem Grunde werden
493
Frieden: VIII, 351
Vgl. Idee: VIII, 27
495
Streit: VII, 85f. (meine Hervorhebung)
496
Streit: VII, 91
497
Streit: VII, 88
498
Frieden: VIII, 351
499
Gemeinspruch: VIII, 311
500
In § 55 der Rechtslehre führt Kant aus, dass der Staatsbürger „zum Kriegführen nicht allein überhaupt,
sondern auch zu jeder besondern Kriegserklärung, vermittelst seiner Repräsentanten, seine freie Beistimmung
geben muß“ (meine Hervorhebung). Die Staatsbürger haben somit ein Recht, über ihre Repräsentanten
vermittelt, ihre Zustimmung zu jeder Kriegserklärung zu geben oder zu verweigern.
501
Frieden: VIII, 351
494
- 91 -
republikanisch verfasste Staaten tendenziell nicht gewillt sein Kriege zu führen - zumindest
solange sie nicht angegriffen werden.502
Für das Verständnis der hier diskutierten These ist es unbedingt erforderlich auf das
Attribut „tendenziell“ zu bestehen. An den oben angeführten Zitaten ist nämlich festzuhalten,
dass Kant im Gemeinspruch und in der Friedensschrift seiner These der Friedfertigkeit
republikanisch verfasster Staaten eine durchaus mäßige oder vorsichtige Fassung gibt. Kant
schreibt lediglich, dass die Bürger „sich sehr bedenken werden“503 einen Krieg zu beginnen.
Ferner führt er im Text aus, dass eine Republik „zum ewigen Frieden geneigt sein muß“.504
Im Gegensatz zu dem, was seit Friedrich von Gentz und G. W. F. Hegel immer wieder zu
lesen ist505, behauptet Kant also keinesfalls, dass die republikanisch verfassten Staaten
niemals Kriege führen werden, und dass es somit letztendlich keine Kriege mehr geben wird,
sobald alle Staaten eine republikanische Verfassung haben. Kurt von Borries zum Beispiel
übersieht dies, wenn er Kants Gedanken folgendermaßen zu wiedergeben glaubt: „Die Kriege
werden aus der Welt verschwinden, wenn die Völker vorher um ihre Zustimmung gefragt
werden müssen“. Mit dem historischen Abstand zu Kant glaubt Borries behaupten zu können,
dass Kants Aussage bezüglich der Friedensfertigkeit der republikanisch verfassten Staaten ein
„Trugschluss“, ein „Irrtum“ und eine „Illusion“ sei, die sich lediglich aus der „unhistorischen
Denkweise“ des 18. Jahrhunderts erklären lasse.506 Ähnliche Missverständnisse finden sich
heute noch in der gegenwärtigen Debatte um die im Anschluss an Kant entwickelte Theorie
des demokratischen Friedens.507
Es wird Kant etwas vorgeworfen, was er an keiner Stelle behauptet hat. Es wird hier
nicht übersehen, dass im späteren Streit der Fakultäten Kant folgendes erklärt: „Die Idee
einer mit dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Constitution […]
entfernt allen Krieg“.508 Wichtig ist allerdings festzuhalten, dass hier lediglich von der
respublica noumenon die Rede ist. In Bezug auf die respublica phaenomenon benutzt Kant im
weiteren Verlauf des Textes eine deutlich abgeschwächte Formulierung. Er schreibt nämlich
nur, dass die republikanische Verfassung sich „zur besten unter allen [qualifiziert], um den
Krieg, den Zerstörer alles Guten, entfernt zu halten“.509 Kant erwartet tatsächlich, dass die
Stiftung einer republikanischen Verfassung in den einzelnen Staaten friedensförderliche
Auswirkungen hat. Die republikanische Verfassung, so friedensförderlich sie auch sein mag,
502
Diese auch als „Kants - Theorem“ bezeichnete These ist Ausgangspunkt für die gegenwärtig in der
Wissenschaft der internationalen Beziehungen heftig debattierte These der Friedfertigkeit der Demokratien
untereinander. Den entscheidenden Anstoß hierfür haben die zwei Beiträge von Michael Doyle geleistet. Vgl.
Doyle, Michael W.: Kant, Liberal Legacies and Foreign Affairs, Part I, in: Philosophy and Public Affairs 12(3),
1983a, S. 205-235 und Ders.: Kant, Liberal Legacies and Foreign Affairs, Part II, in: Philosophy and Public
Affairs 12(4), 1983b, S. 323-353. Vgl. Ders.: Die Stimme der Völker. Politische Denker über die internationalen
Auswirkungen der Demokratie, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1995, 2.
Aufl. 2004, S. 221-243. Vgl. ebenfalls: Czempiel, Ernst-Otto: Kants Theorem und die zeitgenössische Theorie
der internationalen Beziehungen, in: Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen
Weltordnung, hrsg. v. Matthias Lutz-Bachmann und James Bohman, Frankfurt a. M. 1996, S. 300-323. Im
letzten Abschnitt dieses Kapitels soll noch näher darauf eingegangen werden.
503
Frieden: VIII, 351 (meine Hervorhebung)
504
Frieden: VIII, 356 (meine Hervorhebung)
505
Vgl. Raumer, Kurt von: Ewiger Friede, Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, München
1953, Kapitel 6 „Kant und Gentz. Vom idealistischen zum realistischen Friedensgedanken“, S. 151ff.
506
Vgl. Borries, Kurt von: Kant als Politiker. Zur Staats- und Gesellschaftslehre des Kritizismus, Aalen 1973
(Neudruck der Ausgabe Leipzig 1928), S. 218ff.
507
Um nur einen Beispiel unter vielen zu nennen, ist bei Marc Schattenmann folgendes zu lesen: „[D]as
prinzipielle und unwiderlegbare Argument lautet: Wenn alle Staaten reine Republiken wären, gäbe es keinen
(Angriffs-)Krieg mehr“ (Schattenmann, Marc: Wohlgeordnete Welt. Immanuel Kants politische Philosophie in
ihren systematischen Grundzügen, München 2006, S. 229).
508
Streit: VII, 90f. (meine Hervorhebung)
509
Streit: VII, 90f.
- 92 -
ist jedoch allein keine Garantie für den Frieden. Mit Kants eigenen Worten könnte man
sagen, dass es a priori in der Vernunftidee des Naturzustandes liegt, dass bevor ein öffentlich
gesetzlicher Zustand errichtet worden ist, kein Staat (gäbe es auch nur Republiken) niemals
vor den Gewalttätigkeiten eines anderen sicher sein könnte.510 Bei der republikanischen
Verfassung handelt es sich somit um eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung des
Friedens.
Grundsätzlich verhält es sich in einem despotischen Staat anders, das will heißen in
einem Staat, in welchem ein Einzelner regiert. Da das Staatsoberhaupt als Staatsbesitzer von
den Lasten des Krieges nicht direkt betroffen wäre, zeigt er nicht dieselbe Kriegsabneigung
wie die Staatsbürger. In einem despotischen Staat ist die Kriegserklärung „die
unbedenklichste Sache von der Welt […], weil das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern
Staatseigenthümer ist, an seinen Tafeln, Jagden, Lustschlössern, Hoffesten u. d. gl. durch den
Krieg nicht das Mindeste einbüßt, diesen also wie eine Art von Lustpartie aus unbedeutenden
Ursachen beschließen […] kann“.511 Kant zufolge ist es somit zu erwarten, dass despotisch
verfasste Staaten häufiger Kriege führen werden, als republikanisch verfasste Staaten.
Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass Kriege ihren Ursprung letztlich in der
Fürstenwillkür haben.512
Kant argumentiert hier völlig pragmatisch. Die Kriegsaversion der Staatsbürger beruht
nicht auf moralischen Vorgaben, sondern auf rationalen Kosten-Nutzen-Kalkülen. Die mit
dem Krieg einhergehenden Kosten führen dazu, dass die Staatsbürger nicht gewillt sein
können einem so unsicheren Unternehmen wie dem Krieg zuzustimmen. Genauso wie
republikanisch verfasste Staaten Angriffskriege aufgrund des oben genannten rationalen
Kosten-Nutzen-Kalküls der Staatsbürger unterlassen werden, tragen sie allerdings zugleich
zur größeren Bereitschaft der Staatsbürger bei, ihr Land gegen Angriffe zu verteidigen.513
Wichtig ist an dieser Stelle festzuhalten, dass Frieden allein schon durch das „aufgeklärte
Selbstinteresse“514 der Bürger zu erwarten ist. In Kants eigenen Worten heißt es: „[S]o sehen
sich Staaten (freilich nicht eben durch Triebfedern der Moralität) gedrungen, den edlen
Frieden zu befördern“.515
Abschließend zu diesem Teil ist auf die Unzulänglichkeit vieler vornehmlich sozialund politikwissenschaftlicher Beiträge zu verweisen, welche Kants Rechtsphilosophie vom
Weltfrieden auf die Demokratiefrage reduzieren und das Zustandekommen des Weltfriedens
aus der - gegebenenfalls militärisch erzwungenen - Verbreitung republikanischer
Herrschaftsform erwarten. Gegen eine derartige These lassen sich aus Kantischer Sicht drei
Einwände geltend machen.
Erstens: In Kants staatsrechtlichem Gedanken steht die Idee der staatlichen
Souveränität im Mittelpunkt. Im Zusammenhang mit dem fünften Präliminarartikel wurde
gezeigt, dass es für Kant keine gewaltsame Intervention in die Verfassung und Regierung
eines anderen Staates geben darf.
Zweitens: Wie bereits angeführt wurde, ist eine republikanische Verfassung keine
Garantie für den Frieden, sondern verringert die Wahrscheinlichkeit des Kriegsausbruches.
510
Vgl. RL: VI, 312
Frieden: VIII, 351; Vgl. Gemeinspruch: VIII, 311; RL: VI, 345
512
Eine weitere von Kant identifizierte Kriegsursache liegt, wie bereits gezeigt wurde, im Sicherheitsdilemma.
513
Im Streit der Fakultät schreibt Kant diesbezüglich: „Durch Geldbelohnungen konnten die Gegner der
Revolutionirenden zu dem Eifer und der Seelengröße nicht gespannt werden, den der bloße Rechtsbegriff in
ihnen hervorbrachte, und selbst der Ehrbegriff des alten kriegerischen Adels […] verschwand vor den Waffen
derer, welche das Recht des Volks, wozu sie gehörten, ins Auge gefaßt hatten“ (Streit: VII, 86).
514
Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt a. M.
2001, S. 214.
515
Frieden: VIII, 368 (meine Hervorhebungen)
511
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Drittens: Die Reduzierung der Kantischen Rechtsphilosophie vom Weltfrieden auf die
Demokratiefrage übersieht die Systematik der Friedensschrift. Für Kant kann Frieden erst in
der Einheit von Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht wahrhaft gegeben sein. Selbst wenn alle
Staaten eine republikanische Verfassung hätten, würde dies noch keine ausreichende Garantie
für den Frieden sein, weil diese republikanischen Staaten sich weiterhin im rechtlosen
zwischenstaatlichen Naturzustand befinden würden. Dieser Zustand ist ein Zustand
permanenter Unsicherheit und Strittigkeit des Rechts und somit ein Zustand des Krieges
(nämlich unabhängig von der inneren Verfasstheit der Staaten). Aus diesem Grund bedarf es
als weitere Bedingungen der Möglichkeit des Friedens notwendigerweise einer
völkerrechtlichen Regelung.
c) Herrschaftsform und Regierungsart
Im Fortgang des ersten Definitivartikels zum ewigen Frieden führt Kant zwei weitere
Bestimmungen ein, nämlich die Herrschaftsform und die Regierungsart, ohne diese
miteinander sowie diese mit den zuvor angeführten apriorischen Prinzipen der
republikanischen Verfassung in einen systematischen Zusammenhang zu bringen.
Festzuhalten ist, dass Kants Konzeption der Republik neben den vernunftrechtlichen
Komponenten, also den zuvor angeführten apriorischen Prinzipien der republikanischen
Verfassung, auch eine empirisch-institutionalistische Komponente enthält. Diese bleibt
allerdings ziemlich undeutlich, da Kant seiner Verfassungslehre eine äußerst gedrängte
Fassung gibt und viele Gesichtspunkte zu wenig spezifiziert.516
Kant unterscheidet zwischen „Form der Beherrschung (forma imperii)“ und „Form der
Regierung (forma regiminis)“.517 In einer etwas modernisierten Formulierung würde man von
Herrschaftsform und Regierungsart sprechen. Es wird sich nun zeigen, dass Kants
Verfassungslehre quantitative und qualitative Einteilungskriterien kombiniert. Die
Herrschaftsformen werden nämlich „nach dem Unterschiede der Personen, welche die oberste
Staatsgewalt inne haben“518 in Autokratie (Herrschaft von einem), Aristokratie (Herrschaft
von einigen) und Demokratie (Herrschaft von allen) eingeteilt. Die Regierungsart wiederum
wird, je nachdem, ob sie der Idee des allgemeinen Vertrages gemäß ist oder nicht, in
republikanisch oder despotisch eingeteilt.
Für Kant ist nicht die Zahl der Personen, welche die Staatsgewalt ausüben,
entscheidend. Die republikanische Regierungsart verlangt nach keiner besonderen
Herrschaftsform. In den Vorarbeiten zur Friedensschrift schreibt Kant, dass in „allen drey
Staatsformen […] die Regierungsform republicanisch seyn“519 kann. Ferner im Text heißt es,
dass der Unterschied der Herrschaftsform „in Ansehung des Zwecks der gesetzlichen
Verfassung nicht wesentlich ist“.520 Die These, dass die republikanische Regierungsart
prinzipiell bei allen Herrschaftsformen möglich ist, ist zuletzt auch mit aller wünschenswerten
Deutlichkeit in der folgenden Reflexion zu finden: „Ein absoluter Monarch kann doch auf
republicanische Art regieren, ohne in seiner Stärke einzubüßen“.521 Es kann somit Wolfgang
Kersting zugestimmt werden, wenn er schreibt, dass Kant die quantitative Trichotomie der
Herrschaftsformen wertindifferent auffasst.522 Dementsprechend ist dem Volk „an der
516
Vgl. Kersting, Wolfgang: „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“, in:
Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 103.
517
Frieden: VIII, 352; Vgl. Vorarbeit: XXIII, 165
518
Frieden: VIII, 352
519
Vorarbeit: XXIII, 159
520
Vorarbeit: XXIII, 161f.
521
Reflexion 8077: XIX, 610
522
Vgl. Kersting, Wolfgang: „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“, in:
Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 99; Vgl. Cavallar,
- 94 -
Regierungsart […] ohne alle Vergleichung mehr gelegen, als an der Staatsform“.523 Dies hat
allerdings nicht zu bedeuten, dass die Herrschaftsform (als Mittel) ohne Bedeutung für die
republikanische Regierungsart (als Zweck) ist.
Kant führt aus, dass sowohl die Autokratie als auch die Aristokratie republikanisch
regiert sein können, fügt jedoch hinzu, dass die Demokratie notwendigerweise auf den
Despotismus hinaus läuft. In Kants eigenen Worten heißt es: „Unter den drei Staatsformen ist
die der Demokratie, im eigentlichen Verstande des Worts, nothwendig ein Despotism, weil sie
eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wider Einen (der also nicht
mit einstimmt), mithin Alle, die doch nicht Alle sind, beschließen; welches ein Widerspruch
des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist“.524 Wichtig ist hier zu sehen,
dass Kant die Demokratie im etymologischen Sinne des Wortes als die direkte Herrschaft
aller Bürger im Staat über sich selbst ohne Gewaltenteilung versteht. In den Vorarbeiten zur
Friedensschrift definiert Kant die Demokratie ganz in diesem Sinne als die „nichtrepräsentative Volksmacht“.525 Kant lehnt die Demokratie als despotisch ab, weil in ihr
Gesetzgeber (Legislative) und Vollstrecker der Gesetze (Exekutive) zusammenfallen. Unter
einer derartigen Verfassung wäre die Möglichkeit stets gegeben, dass sich die Masse gegen
den Willen Einzelner richtet und diese schlicht überstimmt, was aber ein Widerspruch des
allgemeinen Willens (verstanden als der Wille aller) wäre. Kant lehnt also nicht das Prinzip
der Volksherrschaft als solche ab, sondern lediglich die besondere Gestaltung dieser
Herrschaft. In den Vorarbeiten zum ewigen Frieden bezeichnet Kant diese besondere
Gestaltung der Volksherrschaft als die „bloße Demokratie“.526
Die Pointe der Unterscheidung von Herrschaftsform und Regierungsart liegt darin,
dass auch Autokratien und Aristokratien „dem Geiste eines repräsentativen Systems gemäße
Regierungsart“527 annehmen können. Im Streit der Fakultäten bestätigt Kant seine frühere
Ansicht, wenn er schreibt, dass auch Autokratien (und Aristokratien) „republicanisch, d. h. im
Geiste des Republicanism und nach einer Analogie mitdemselben regieren [können]“.528
Wenn bei Kant zu lesen, dass die Staatsoberhäupter „autokratisch herrschen und dabei
doch republicanisch regieren“529 können, wird kein Verzicht auf das angestrebte Ziel, mithin
die Schaffung einer „wahre[n] Republik“ (respublica noumenon), impliziert. Zur Regierung
im Geist des ursprünglichen Vertrags gehört die „Verbindlichkeit der constituirenden Gewalt,
die Regierungsart [ihr] angemessen zu machen und so sie, wenn es nicht auf einmal
geschehen kann, allmählich und continuirlich dahin zu verändern, dass sie mit der einzig
rechtsmässigen Verfassung, nämlich der einer reinen Republik, ihrer Wirkung nach
zusammenstimme“.530 Die autokratisch und aristokratisch verfassten Staaten sollen sich also
durch langsame und unablässige Reformen allmählich einer republikanischen Verfassung
annähern. Zu Recht schreibt Wolfgang Kersting: „Nicht auf die Ablösung der überkommenen
Herrschaftsformen ist Kants vernunftrechtlicher Konstitutionalismus aus, sondern auf deren
innere Verwandlung durch Republikanisierung“.531 Dies hat wiederum zu bedeuten, dass die
friedensfördernde Wirkungen der republikanischen Verfassung nicht von einer bestimmten
Georg: Pax Kantiana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs »Zum ewigen Frieden« (1795) von
Immanuel Kant, Wien/Köln/Weimar 1992, S. 143.
523
Frieden: VIII, 353
524
Frieden: VIII, 352
525
Vorarbeit: XXIII, 161
526
Vorarbeit: XXIII,166 (meine Hervorhebung)
527
Frieden: VIII, 352
528
Streit: VII, 87
529
Streit: VII, 87
530
RL: VI, 340
531
Kersting, Wolfgang: „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“, in: Immanuel
Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 104.
- 95 -
Herrschaftsform abhängt. Der Weg zum ewigen Frieden beginnt nicht erst dann, wenn alle
Staaten tatsächlich über eine republikanische Verfassung verfügen. Der erste Schritt auf
diesem Weg wäre schon, dass die Staaten zumindest wie Republiken regiert werden.532 Was
das Verhältnis der Staaten zueinander betrifft, so könnte dies bereits eine Entschärfung des
Sicherheitsdilemmas bewirken.
Die republikanische Verfassung zeichnet sich durch drei verbindliche Merkmale aus:
Die Gewaltenteilung, die Souveränität des Volkes und die Repräsentation des allgemeinen
Volkswillens.
Die Gewaltenteilung ist eine notwendige Bedingung einer republikanischen
Verfassung. Entsprechend definiert Kant der Republikanismus als „das Staatsprincip der
Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden“.533 In der
Friedensschrift betont Kant, dass die Exekutive von der Legislative strikt getrennt sein muss.
Diese Auffassung präzisierend schreibt Kant in der Rechtslehre, dass jeder Staat insgesamt
drei Gewalten enthält. Der allgemeine vereinigte Volkswille kommt „in dreifacher Person
(trias politica)“534, mithin in drei spezifischen Staatsgewalten zum Ausdruck. Zu der
Legislativen (Kant schreibt: „Herrschergewalt (Souveränität)“535) als gesetzgebende Gewalt in
der Person des Gesetzgebers und der Exekutiven als die vollziehende Gewalt in der Person des
Regierenden kommt nun die Judikative als rechtsprechende Gewalt in der Person des Richters
hinzu.536 In einer republikanischen Verfassung sind Legislative, Exekutive und Judikative
strikt getrennt. Hier stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die drei Gewalten zueinander
stehen. Kants Gedankengang bei der Beantwortung dieser Frage lässt sich in zwei Schritten
nachvollziehen
Erstens: Kant schreibt, dass alle drei Gewalten im Staat einander „beigeordnet“537 sind
und sich zur Vollständigkeit der Staatsverfassung ergänzen. Jede Gewalt hat eine spezifische
und komplementäre Funktion im Staat zu erfüllen. Dies bedeutet wiederum, dass die drei
Staatsgewalten nicht ineinander aufgehen dürfen. Erst beim Nebeneinanderbestehen dieser
drei Staatsgewalten kann vom Staat, also vom bürgerlichen Zustand im strengen Sinn
gesprochen werden.
Zweitens: Alle drei Gewalten sind aber auch einander „untergeordnet“, was zur Folge
hat, dass „eine nicht zugleich die Function der anderen, der sie zur Hand geht, usurpiren
kann“.538 Zwar haben alle drei Gewalten „ihr eigenes Princip“539, aber die vollziehende und
rechtssprechende Gewalt sind der gesetzgebenden Gewalt untergeordnet, insofern dem Willen
der zwei ersteren durch den Willen der letzteren bedingt ist. Sowohl die vollziehende Gewalt
als auch die rechtssprechende sind an die Gesetze verbindlich gebunden, welche ihr von der
oberen Staatsgewalt gegeben sind.
Erst wenn die Staatsgewalten sowohl einander beigeordnet als auch untergeordnet sind
wird „jedem Unterthanen sein Recht“540 erteilt. In Abgrenzung dazu zeichnet sich der
Despotismus dadurch aus, dass der Exekutive zugleich die rechtssprechende und/oder
gesetzgebende Gewalt zukommt. Eine solche Verfassung würde nach dem despotischen
Prinzip handeln, der „eigenmächtigen Vollziehung des Staats von Gesetzen, die er selbst
532
Vgl. Langer, Claudia: Reform nach Prinzipien. Untersuchungen zur politischen Theorie Immanuel Kants,
Stuttgart 1986, S. 118f.
533
Frieden: VIII, 352
534
RL: VI, 313
535
Frieden: VIII, 352
536
Vgl. RL: VI, 313
537
Vgl. RL: VI, 313
538
RL: VI, 316
539
RL: VI, 316
540
RL: VI, 316
- 96 -
gegeben hat, mithin der öffentliche Wille, sofern er von dem Regenten als sein Privatwille
gehandhabt wird“.541
Nun soll auf das zweite Merkmal der republikanischen Verfassung kurz eingegangen
werden. Gemeint ist die Volkssouveränität. Es wurde bereits gesehen, dass die gesetzgebende
Gewalt (der Idee nach) nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen kann.542 Nach dem
heutigen Sprachgebrauch würde man sagen, dass die Souveränität im Volkswillen gegründet
ist. Unter dieser Bedingung werden (der Idee nach) notwendigerweise gerechte Gesetze
verabschiedet. Weil die gesetzgebende Gewalt vom vereinigten Volkswillen ausgeübt wird,
kann diese „schlechterdings niemand unrecht thun“.543 Kant benennt hierfür den folgenden
Grund: „Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen Anderen verfügt, immer möglich, daß er
ihm dadurch unrecht thue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti
non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille Aller, so fern ein
jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein
vereinigte Volkswille gesetzgebend sein“.544 In einer republikanischen Verfassung wirken alle
(aktiven) Staatsbürger gleichermaßen an der Gesetzgebung mit und sind zudem
gleichermaßen von dieser abhängig. Daraus folgt, dass alles, was jeder über die anderen
beschließt, zugleich über sich selbst beschließt. Nach dem Prinzip volenti non fit iniuria kann
eine Entscheidung nicht ungerecht sein, zu welcher die von ihr Betroffenen freiwillig ihre
Zustimmung gegeben haben. Aus diesem Grunde müssen die Gesetze einer republikanischen
Verfassung notwendigerweise gerecht sein.545
Von den drei Gewalten schreibt Kant, sie seien „Würden“ und „als wesentliche aus der
Idee eines Staats überhaupt zur Gründung desselben (Constitution) nothwendig hervorgehend,
Staatswürden“.546 Die Würde des Gesetzgebers besteht darin, dass sein Willen „untadelig
(irreprehensibel)“547 ist. Diese Untadeligkeit bezieht sich lediglich auf die Legislative, und
erstreckt sich keinesfalls auch auf die Exekutive und Judikative. Die vollziehende und
rechtsprechende Gewalt stehen unter den ihnen von der Legislative vorgegebenen Gesetzen
und sind verbunden danach zu handeln, das heißt sie sollen jene Gesetze auf die
Erfahrungsfälle anwenden. Dabei verfügen sie in ihrer Ausübung „etwas gegen einen
Anderen“, so dass es „immer möglich ist“, dass sie diesem Anderen unrecht tun.548 Die
541
Frieden: VIII, 352
Vgl. RL: VI, 313
543
RL: VI, 313
544
RL: VI, 313 f.
545
Wolfgang Kersting hebt hervor, dass Kant einen „prozeduralen Gerechtigkeitsbegriff“ lehrt. Im Anschluss
daran schreibt er: „Nicht die Übereinstimmung mit materialen Gerechtigkeitsnormen qualifiziert ein Gesetz als
gerechtes, sondern die Art und Weise seiner Entstehung: Die Gerechtigkeit eines Gesetzes wird durch das
Verfahren seiner Genese garantiert“ (Kersting, Wolfgang: Kant über Recht, Paderborn 2004, S. 133). Dies würde
sicherlich der Fall sein, wenn die Menschen immer von sich aus vernünftig handeln würden. Dies ist aber
empirisch nicht zu erwarten. Wenn die Souveränität im Volkswillen gegründet ist, dann werden der Idee nach
gerechte Gesetze verabschiedet. Dies hat allerdings nicht zu bedeuten, dass alle verabschiedeten Gesetze dann
auch tatsächlich gerecht sind. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass das Vernunftrecht die „unwandelbaren
Principien“ (RL: VI, 229) gibt, nach dessen Muster das „positive (statutarische) Recht“, mithin „was aus dem
Willen eines Gesetzgebers hervorgeht“ (RL: VI, 237) sich orientieren soll. Nur wenn das positive Recht in
Übereinstimmung mit dem Vernunftrecht steht, kann wahrhaft von Recht gesprochen werden. Wenn das positive
Recht gegen das Vernunftrecht verstößt, kann er nicht als Recht betrachtet werden. Es ist daher Georg Geismann
zuzustimmen, wenn er schreibt, dass „[n]icht die demokratische Genese, sondern allein die Form der
Tauglichkeit zu einem allgemeinen Gesetz für die Einschränkung der äußeren Freiheit von jedermann und also
die Übereinstimmung mit der Idee des allgemeinen Willens […] die Rechtmäßigkeit eines positiven Gesetzes
[garantier]“ (Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3,
Würzburg 2012, S. 122).
546
RL: VI, 315
547
RL: VI, 316
548
Vgl. Reflexion 7725: XIX, 500; 7781: XIX, 515; 7791: XIX, 518; 7941: XIX, 561
542
- 97 -
Exekutive und die Judikative sind genötigt, dem Gesetz gemäß zu urteilen, so dass sie unrecht
tun können. Die Würde der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt besteht somit nicht in
der Untadeligkeit, sondern im Falle der Exekutive in der Unwiderstehlichkeit des
Ausführungsvermögens des Oberbefehlshabers (summi rectoris) und im Falle der Judikative
in der Unabänderlichkeit des Rechtsspruchs des obersten Richters (supremi iudicis).549
Da die gesetzgebende Gewalt dem vereinigten Willen des Volks zukommt, kann sie
gar keine physische Person, sondern nur eine moralische Person (das vereinigte Volk selbst)
sein. Aber auch die beiden anderen Gewalten können nicht einer einzelnen physischen Person
zukommen, wenn sie ihre je eigene Funktion erfüllen sollen. Weil die vollziehende und die
rechtssprechende Gewalt unter den Gesetzen stehen, dürfen der Regierer und der Richter nicht
mit dem Gesetzgeber ein und dieselbe Person sein. Die drei Gewalten können nicht in einer
und derselben physischen Person vereinigt gedacht werden. Diese Gewalten sollen also drei
verschiedenen moralischen Personen zukommen. Diese Forderung bestätigt, was den Leser
bereits aus der Religionsschrift bekannt war, nämlich dass die dreifache Qualität des
Oberhaupts „in einem juridisch-bürgerlichen Staate nothwendig unter drei verschiedenen
Subjecten verteheilt sein müßte“.550 Kurzum: Die drei Gewalten sollen jeweils voneinander
getrennt sein.
Das dritte Merkmal der republikanischen Verfassung ist die Repräsentation des
allgemeinen Volkswillens. Die drei Gewalten im Staat, in denen der allgemein vereinigte
Volkswille zum Ausdruck kommt, sind „eine reine Idee von einem Staatsoberhaupt, welche
objective praktische Realität hat“.551 Ferner im Text heißt es, dass dieses Staatsoberhaupt (der
Souverän) „ein (das gesamte Volk vorstellendes) Gedankending“552 ist. Um dieser Idee des
vereinigten Volks Wirklichkeit zu verschaffen, bedarf es einer physischen Person, welche die
„höchste Staatsgewalt vorstellt“.553 Nachdem die apriorischen Prinzipien der
republikanischen Verfassung bestimmt wurden, geht es nun um dessen empirische
Konkretisierung. Es wurde bereits gesehen, dass je nach der Zahl der physischen Personen,
welche die oberste Staatsgewalt haben, die Staatsform autokratisch, aristokratisch oder
demokratisch ist. Hinzu kommt, dass je nach der Art und Weise, „wie der Staat von seiner
Machtvolkommenheit Gebrauch macht“554, d. i. der Freiheit und Gleichheit angemessen
handelt, ergibt sich eine republikanische oder eine despotische Regierung.
Für Kant ist die republikanische Verfassung notwendigerweise als repräsentatives
System konstituiert. Was Kant unter dem Begriff der Repräsentation versteht, ist allerdings
nicht immer leicht zu verstehen und bedarf einer kurzen Erläuterung.555 Ein „repräsentatives
System“556 bezeichnet ein System, in welchem der allgemein vereinigte Wille in jeder Art von
Ausübung staatlicher Gewalt repräsentiert wird. Bereits hier lässt sich feststellen, dass sich
bei Kant die Begriffe der Republik und der Repräsentation aufeinander beziehen. In der
Rechtslehre schreibt Kant diesbezüglich: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts
anders sein als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle
Staatsbürger vereinigt […] ihre Rechte zu besorgen“.557 Kants zufolge kann man nämlich nur
dann von einem repräsentativen System sprechen, wenn die Regierungsart republikanisch ist,
das heißt wenn sie „auf dem Geist des allgemeinen Volkswillen“ und nicht auf „irgend einem
549
Vgl. RL: VI, 316
Religion: VI, 140
551
RL: VI, 338
552
RL: VI, 338
553
RL: VI, 338
554
Frieden: VIII, 352
555
Einen erhellenden Beitrag hierzu findet man bei: Joung, Ho-Won: Volkssouveränität, Repräsentation und
Republik: Eine Studie zur politischen Philosophie Immanuel Kants, Würzburg 2006.
556
Vgl. Frieden: VIII, 352f.; 166; RL: VI, 341; Vorarbeit: XXIII, 161
557
RL: VI, 341
550
- 98 -
Privatwillen gegründet ist“.558 Der Begriff der Repräsentation, wie jener der Republik, bezieht
sich somit auf den Gegensatz von Privatwillkür und Volkswillen.559 In der Republik als
repräsentativem System gründet die Herrschaft im allgemein vereinigten Volkswillen. Das
Staatsoberhaupt kann „nur durch den Gesammtwillen des Volks über das Volk, aber nicht
über den Gesamtwillen selbst, der der Urgrund aller öffentlichen Verträge ist, disponiren“.560
Gerade das Gegenteil gilt in Bezug auf den Despotismus.
Es kann aber auch festgehalten werden, dass Kants Begriff der Repräsentation
unmittelbar auf den Begriff der Gewaltenteilung hinweist. So heißt es in der Friedensschrift:
„Alle Regierungsform nämlich, die nicht repräsentativ ist, ist eigentlich eine Unform, weil der
Gesetzgeber in einer und derselben Person zugleich Vollstrecker seines Willens […] sein
kann“.561 Einzig eine repräsentative Verfassung mit Gewaltenteilung bietet nämlich Schutz
davor, dass die Mehrheit sich gegen den Willen Einzelner richtet und diese schlicht
überstimmt. Nur die repräsentative Verfassung mit Gewaltenteilung sichert die Freiheit der
Menschen und ihre Gleichheit als Staatsbürger vor dem Recht. Entscheidend ist somit nicht
die Frage, ob das Volk die Herrschaft direkt oder indirekt ausübt. Wichtig ist erstens, dass das
Volk überhaupt gesetzgebend ist (sei es direkt, wie etwa für Entscheidungen über Krieg und
Frieden562, oder indirekt vermittelt durch seine Repräsentanten) und zweitens, dass die
Exekutive an den Willen des Volks gebunden ist, indem sie von der Legislativen (vom Volks
selbst gewählt oder ihm repräsentierend) bestellt wird und von ihr entlassen werden kann.563
Zusammenfassend zu diesem Teil kann gesagt werden, dass eine angemessene
Verwirklichung der apriorischen Prinzipien der republikanischen Verfassung sich in einer
Demokratie mit Repräsentationssystem und Gewaltenteilung findet. In den Vorarbeiten zum
ewigen Frieden spricht Kant seinerseits von einer „demokratische[n] Verfassung in einem
repräsentativen System“.564 Kant fordert somit eine repräsentative Herrschaftsform mit
strikter Trennung von Exekutive und Legislative. Die genaue Gestaltung der Republik sowie
ihrer verschiedenen Institutionen bleibt bei Kant für individuelle Unterschiede weitgehend
offen. Gemeint sind hier zum Beispiel die Fragen des Wahlsystems und der
Kompetenzverteilung. Kant räumt somit dem Politiker bei der genauen Institutionalisierung
der Republik einen erheblichen Freiraum ein. Die Konzentration der Kantischen Staatslehre
auf die Grundprinzipien ist insofern konsequent, als sie versichert, dass sich die
Vernunftprinzipien auf die Vielzahl der empirischen (also geographischen sowie historischen
und damit auch kulturellen) Bedingungen anwenden lassen. Wenn man die
prinzipientheoretisch nicht zu rechtfertigende Einteilung in aktive und passive Staatsbürger
beiseitelässt565, so zeigt sich, dass Kants Konzeption weitgehend jener der modernen
Demokratie entspricht.
d) Kants Theorem im Lichte der zeitgenössischen Theorien des demokratischen Friedens
Auf die Frage, ob republikanisch verfasste Staaten tatsächlich friedfertiger sind als
autokratisch verfasste Staaten, soll heute eine differenzierte Antwort gegeben werden. Die
zahlreichen historisch-statistischen Untersuchungen kommen nämlich zu einem
spannungsreichen Doppelbefund. Auf der Analyseebene der Interaktion zwischen zwei
558
Vorarbeit: XXIII, 161
Vgl. Cavallar, Georg: Pax Kantiana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs »Zum ewigen
Frieden« (1795) von Immanuel Kant, Wien/Köln/Weimar 1992, S. 148.
560
RL: VI, 342
561
Frieden: VIII, 352
562
Siehe: Gemeinspruch: VIII, 311; Frieden: VIII, 351; Streit: VII, 90; Reflexion 8077: XXIII, 606f.
563
Vgl. RL: VI, 317; Vorarbeit: XXIII, 433; Reflexion 7971 und 7972: XIX, 567; Reflexion 8046: XIX, 591
564
Vorarbeit: XXIII, 166
565
Dies hat Kersting überzeugend bewiesen: Vgl. Kersting, Wolfgang: Kant über Recht, Paderborn 2004, S. 133.
559
- 99 -
Staaten (dyadische Analyseebene) kommen diese Studien zu dem robusten Ergebnis, dass
Demokratien seit 1816 fast keine Kriege mehr gegeneinander geführt haben. Sie haben einen
sogenannten „Separatfrieden“ (separate peace) geschlossen.
Auf der Analyseebene des Außenverhaltens der einzelnen Staaten (monadische
Analyseebene) kommen wiederum die meisten Untersuchungen zu dem viel diskutierten
Ergebnis, dass demokratisch verfasste Staaten nicht per se friedfertiger als nicht-demokratisch
verfasste Staaten sind. Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass demokratisch verfassten
Staaten ähnlich häufig in militärische Kriege verwickelt sind wie nicht-demokratisch verfasste
Staaten, und außerdem spezifische Formen militärischer Interventionen entwickelt haben.
Letztlich widersprechen die empirischen Befunde auf der systemischen Analyseebene,
das heißt auf der Ebene des internationalen Staatensystems, der ursprünglichen Hoffnung,
dass je mehr Demokratien es im internationalen System gibt, desto friedlicher die
internationalen Beziehungen sein werden. Es zeigt sich dagegen, dass die Anzahl von
Demokratien im internationalen System keinen signifikanten Einfluss auf die Gewalttätigkeit
der internationalen Beziehungen hat, und dass Regimewandel sogar die Konfliktneigung im
internationalen System kurzfristig erhöht.
Über Kants Begründung der tendenziellen Friedfertigkeit der Demokratien aus den
Nutzenerwägungen der Staatsbürger hinausgehend liegen heute mehrere Erklärungsansätze
vor, die das Außenverhalten der Demokratien auf die monadische und dyadische
Analyseebene anhand von weitgehend ähnlichen Argumenten zu erklären versuchen. Gemeint
sind hier zum Beispiel die normativen Einstellungen der Staatsbürger und ihre Präferenz für
gewaltfreie Konfliktlösungen, die gewalthemmende Wirkung zwischendemokratischer
Institutionen,
die
Schwerfälligkeit
und
Transparenz
der
demokratischen
Entscheidungsprozesse oder die Einbettung in internationale Interdependenzstrukturen. Ohne
sich diesen verschiedenen Ansätzen länger widmen zu wollen, muss jedoch festgehalten
werden, dass in der umfangreichen politikwissenschaftlichen Debatte zur Theorie des
demokratischen Friedens es heute immer noch weitgehend offen bleibt, warum die
Demokratien in Verhältnis zueinander sich friedlich verhalten, während sie sich gegenüber
nicht-demokratisch verfassten Staaten anders verhalten. Mit anderen Worten: Aus welchen
Kausalmechanismen kann der Frieden zwischen Demokratien erklärt werden, wenn sie
gegenüber Autokratien nicht funktionieren?
Ein möglicher Ausweg aus dieser Schwierigkeit wurde von Harald Müller gezeigt. Er
argumentiert überzeugend, dass die bisherigen Theorien des demokratischen Friedens (in
ihren verschiedenen Varianten) unterspezifiziert sind, weil ein und dieselbe identifizierte
erklärende Variable des demokratischen Außenverhaltens häufig sowohl kriegsfördernd als
auch kriegshemmend wirksam sein kann.566 Im Rahmen der vorliegenden Dissertation kann
nicht näher auf diesen Erklärungsansatz sowie auf die daraus folgende Debatte näher
eingegangen werden. Interessant ist für uns lediglich die Frage, ob Kants These der
tendenziellen Friedfertigkeit demokratisch verfasster Staaten überhaupt noch haltbar ist.
Diesbezüglich ist zunächst auf eine methodologische Schwierigkeit hinzuweisen. Es
ist nämlich fraglich, ob und inwiefern man problemlos Kants apriorischen Entwurf der
republikanischen Verfassung mit den empirischen Verfassungen in den einzelnen Staaten
identifizieren kann.567 Abgesehen von diesem methodologischen Problem muss eingesehen
566
Vgl. Müller, Harald: Demokratien im Krieg – Antinomien des demokratischen Friedens, in: Demokratien im
Krieg, hrsg. v. Christine Schweitzer, Björn Aust und Peter Schlotter, Baden-Baden, S. 35-52. Siehe ebenfalls:
Geis, Anna/Müller, Harald/Wagner, Wolfgang (Hrsg.): Schattenseiten des Demokratischen Friedens. Zur Kritik
einer Theorie liberaler Außen- und Sicherheitspolitik, Frankfurt a. M. 2007.
567
Vgl. Cavallar, Georg: Kantian perspectives on democratic peace: alternatives to Doyle, in: Review of
International Studies 27, 2011, S. 229-248; Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der
Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3, Würzburg 2012, S. 196; Thiele, Ulrich: Demokratischer Pazifismus. Aktuelle
- 100 -
werden, dass das Argument bezüglich der Kosten des Krieges ambivalent ist. Gute Gründe
sprechen zum Beispiel dafür, dass die gegenwärtige (Re-)Privatisierung von Sicherheit und
die sogenannte Revolution der militärischen Angelegenheiten (revolution of military affairs)
in der öffentlichen Wahrnehmung wohlhabender Demokratien zu einer veränderten
Einschätzung der Kosten und Gewinne des Krieges führen: Ein leicht zu gewinnender und
wahrscheinlich sehr kurzer Krieg kann Zustimmung seitens der Staatsbürger finden. Kants
Begründung der Kriegsabneigung der Demokratien aus den Kosten des Krieges für die
Staatsbürger kann also nur begrenzt überzeugen. Es kann allerdings argumentiert werden,
dass Kant die Möglichkeit einer bürgerlichen Zustimmung für den Krieg eingesehen hat,
insofern er ausdrücklich betont, dass die Republiken nur tendenziell kriegsabgeneigt sind.
Aus heutiger politikwissenschaftlicher Sicht liefert noch keine Theorie eine deutliche
Antwort auf die Frage, warum Demokratien aufgrund der Kosten des Krieges keine Kriege
gegeneinander führen. Sollten Demokratien wirklich Kosten und Gewinne für ihre Teilnahme
an einem Krieg abwägen, würde dies bedeuten, dass bei einer ausreichenden Reduzierung der
Kosten, ein Krieg zwischen Demokratien denkbar wäre. Die Grundfrage, welche sich vor
diesem Hintergrund aufdrängt ist jene, ob das Kosten-Argument ausreicht, um das friedliche
Verhältnis der Staaten untereinander zu erklären, oder ob andere Faktoren berücksichtigt
werden müssen. Anders formuliert: Wenn die demokratische Verfassung des Staates
(aufgrund des Kosten-Arguments) notwendig, jedoch nicht hinreichend für ein friedliches
Außenverhalten ist, dann stellt sich die Frage, welche andere Faktoren hierfür verantwortlich
sind.
Um solche Fragen zu beantworten, kann Kants Argumentation im zweiten
Definitivartikel der Friedensschrift richtungsweisend sein.
2.2 Zweiter Definitivartikel: Das Recht der Staaten im Verhältnis zueinander
Die Errichtung einer republikanischen Verfassung in den einzelnen Staaten stellt noch
keine Garantie für den Frieden zwischen ihnen dar. Die Überwindung des zwischenstaatlichen
Naturzustandes bedarf darüber hinaus der Stiftung einer Rechtsordnung zwischen den Staaten.
Es geht also hier um das Problem der Errichtung „eines gesetzmäßigen äußeren
Staatenverhältnisses“.568 Die Forderung des zweiten Definitivartikels lautet entsprechend:
„Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein“.569 Im Folgenden
soll versucht werden den Kerngehalt und die Begründung dieses Artikels systematisch
darzustellen und zu erläutern. Dabei soll zugleich ausführlich auf die wichtigsten
Schwierigkeiten und Kontroversen eingegangen werden, die in der Sekundärliteratur zu
finden sind.
Um Missverständnisse im weiteren Verlauf der Diskussion zu vermeiden und
konzeptionelle Klarheit zu gewinnen, soll vorab zwei kurze terminologische Bemerkung
gemacht werden.
Erstens: Im Friedenstraktat verwendet Kant das Substantiv „Völker“ zumeist im Sinne
von „Staaten“. Dieses Substantiv sowie seine Derivate „Völkerrecht“, „Völkerbund“ und
„Völkerstaat“ beziehen sich somit keinesfalls auf ethnische, kulturelle oder sprachliche
Menschengruppen, sondern ausschließlich auf staatlich organisierte Gemeinschaften. Dabei
ist die Frage ohne Belang, ob diese Gemeinschaften ethnisch, kulturell oder sprachlich
homogen sind. Kant ist sich dieser terminologischen Zweideutigkeit durchaus bewusst. Gleich
zu Beginn des zweiten Definitivartikels weist er darauf hin, dass das Völkerrecht sich auf
Interpretationen des ersten Definitivartikels der Kantischen Friedensschrift, in: Kant-Studien 99, 2008, S. 180199.
568
Idee: VIII, 24
569
Frieden: VIII, 354
- 101 -
„Völker als Staaten“570 bezieht. Im § 53 der Rechtslehre schreibt er, dass der Terminus
„Völkerrecht“ (der dem lateinischen ius gentium wörtlich entspricht) nicht ganz richtig sei,
weil es dabei nicht um das Recht der Völker geht, sondern um jenes der Staaten im Verhältnis
zueinander. Es wäre somit angemessener vom „Staatenrecht (ius publicum civitatum)“571 zu
sprechen.
Zweitens: Das Völkerrecht bestimmt die Bedingungen der Möglichkeit des friedlichen
Zusammenlebens „freier Staaten“572, im Sinne von rechtlich voneinander unabhängigen
Staaten, in notwendigem Verhältnis zueinander. Die Forderung des zweiten Definitivartikels
ist also so zu verstehen: Das Völkerrecht soll auf einem „Föderalismus souveräner Staaten“
und nicht „auf einem Föderalismus republikanischer Staaten“ gegründet sein. Der Artikel
fordert an keiner Stelle, dass die Staaten „Republiken“ im Sinne des ersten Definitivartikels
sein sollen. Die Mitgliedschaft zum geforderten Föderalismus ist keinesfalls von einer
besonderen Herrschaftsform abhängig. Sie ist nicht auf republikanisch verfasste Staaten
beschränkt.
a) Die Analogie zwischen einzelnen Menschen und Staaten
Kants völkerrechtliche Überlegungen nehmen ihren Ausgangspunkt in einer Analogie
zwischen den einzelnen Menschen und den Staaten. Dies lässt sich an drei Stellen festhalten.
Im Gemeinspruch heißt es ausdrücklich, dass es zur Überwindung des Naturzustandes „kein
anderes Mittel [gibt], als ein auf öffentliche mit Macht begleitete Gesetze, denen sich jeder
Staat unterwerfen müßte, gegründetes Völkerrecht (nach der Analogie eines bürgerlichen
oder Staatsrechts einzelner Menschen) möglich“.573 Das gleiche Argument findet sich dann in
der Friedensschrift: „Für Staaten im Verhältnisse unter einander kann es nach der Vernunft
keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält,
herauszukommen, als daß sie, eben so wie einzelne Menschen ihre wilde (gesetzlose) Freiheit
aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen (freilich immer
wachsenden) Völkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde,
bilden“.574 Zuletzt ist in der Rechtslehre folgendes zu lesen: „Da der Naturzustand der Völker,
eben so wohl als einzelner Menschen, ein Zustand ist, aus dem man herausgehen soll, um in
einen gesetzlichen zu treten: so ist, vor dieser Ereignis, alles Recht der Völker […] bloß
provisorisch, und kann nur in einem allgemeinen Staatenverein (analogisch mit dem, wodurch
ein Volk Staat wird) peremtorisch geltend und ein wahrer Friedenszustand werden“.575
Eine Analogie definiert Kant allgemein als eine quantitative oder qualitative
Gleichheit von Verhältnissen. Analogie als ursprünglich mathematischer Terminus für
bestimmte Zahlenverhältnisse bezeichnet in der Philosophie die Gleichheit von zwei
qualitativen Verhältnissen. In der dritten Kritik definiert Kant die Analogie in qualitativer
Bedeutung als „die Identität des Verhältnisses zwischen Gründen und Folgen (Ursachen und
Wirkungen), sofern sie ungeachtet der specifischen Verschiedenheit der Dinge, oder
derjenigen Eigenschaften an sich, welche den Grund von ähnlichen Folgen enthalten (d. i.
außer diesem Verhältnisse betrachtet), Statt findet“.576 Wenn Kant von Analogie spricht, dann
meint er also „nicht eine vollkommene Ähnlichkeit zweier Dinge“, sondern „eine
570
Frieden: VIII, 354
RL: VI, 343
572
Vgl. Frieden: VIII, 354; RL: VI, 344
573
Gemeinspruch: VIII, 312 (meine Hervorhebung)
574
Frieden: VIII, 357 (meine Hervorhebung)
575
RL: VI, 350 (meine Hervorhebungen; die von Kant durch kursive Kennzeichnung hervorgehobenen Wörter
wurden aufgehoben)
576
KUK: V, 464
571
- 102 -
vollkommene Ähnlichkeit zweier Verhältnisse zwischen ganz unähnlichen Dingen“.577
Obwohl die einzelnen Menschen und die Staaten unterschiedlicher Natur sind, sind beide
moralische Personen. Diese besondere Ähnlichkeit erlaubt es einem schließlich von Analogie
zwischen einzelnen Menschen und Staaten zu sprechen. Was für die einzelnen Menschen gilt,
gilt somit im Prinzip entsprechend auch für die Staaten.
Kants Argumentation lässt in allen drei zuvor zitierten Textstellen nur wenig
Interpretationsspielraum zu. Es wird deutlich, dass für Kant die Analogie zwischen den
Menschen und den Staaten in zweierlei Hinsicht zutrifft, nämlich einmal im Hinblick auf den
jeweils zu verlassenden Naturzustand und einmal im Hinblick auf den zu stiftenden
bürgerlichen Zustand. Für Kant befinden sich ursprünglich sowohl die einzelnen Menschen
als auch die Staaten im juridischen Naturzustand, mithin im „Zustand einer gesetzlosen
äußeren (brutalen) Freiheit und Unabhängigkeit von Zwangsgesetzen“.578 In Abwesenheit
einer öffentlichen Gesetzgebung und einer diese Gesetzgebung durchsetzenden Zwangsgewalt
ist der Naturzustand der Menschen genau wie jener der Staaten ein Zustand beständiger und
unauflösbarer Unsicherheit und damit Strittigkeit des Rechts. Es folgt somit als ein Postulat
der reinen praktischen Vernunft, dass die Staaten ebenso wie die Menschen den juridischen
Naturzustand verlassen sollen, um in einen bürgerlichen Zustand einzutreten, in welchem
jedermanns Recht nach einem allgemeinen Gesetz gleich gesichert wird.579
Analog zu den einzelnen Menschen haben somit die Staaten die Pflicht miteinander
einen öffentlichen Rechtszustand zu stiften. Weil für die einzelnen Menschen und für die
Staaten dasselbe Gebot der Vernunft gilt, lässt sich die Rechtsordnung zwischen den Staaten
auf die gleiche Weise wie jene im Inneren der Staaten begründen. Die Wiederholung des
ursprünglichen Vertrages auf Ebene der Staaten führt zu demselben Ergebnis. Wie der
Naturzustand der Menschen durch die Stiftung des Staates (civitas) überwunden wird, so soll
auch der Naturzustand der Staaten zueinander durch die Stiftung eines Völkerstaates (civitas
gentium) überwunden werden. Es steht fest, dass Kant den Völkerstaat für die einzige
rechtliche Möglichkeit ansieht, den zwischenstaatlichen Naturzustand zu überwinden und den
Krieg endgültig zu verbannen.
Vor diesem Hintergrund scheint Kants Schlussbetrachtungen im zweiten
Definitivartikel besonders irritierend: „Da sie [die Staaten; F.R.] dieses [der Völkerstaat; F.R.]
aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig ist, in
hypothesi verwerfen, so kann an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht
alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden,
bestehenden, und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtscheuenden,
feindseligen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs“.580 Diese
577
Prolegomena: IV, 357
Religion: VI, 97
579
Spätestens an dieser Stelle soll Jürgen Habermas widersprochen werden, wenn er schreibt, dass Kant die
„Wünschbarkeit“ des Friedens „mit den Übeln jener Art von Krieg, den die Fürsten Europas damals mit Hilfe
ihres Söldnerheere führten“ begründet (Vgl. Habermas, Jürgen: Kants Idee des ewigen Friedens – aus dem
historischen Abstand von zweihundert Jahren, in: Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem
einer neuen Weltordnung, hrsg. v. Matthias Lutz-Bachmann und James Bohman, Frankfurt a. M. 1996, S. 8). Es
geht nämlich bei Kant nicht um die pragmatische Wünschbarkeit der Friedensstiftung, sondern um ihre
praktische Notwendigkeit. Dies hat wiederum zu bedeuten, dass das Ausmaß des Schreckens, die die jeweiligen
historischen Kriege hinterlassen, den vernunftrechtlichen Beweis der Notwendigkeit aus dem Naturzustand
herauszutreten schlechterdings unberührt lassen. Die Behauptung zum Beispiel, dass die moderne Kriegführung
mehr Übel nach sich zieht als die Kabinettskriege des 17. und 18. Jahrhunderts mag den Frieden vielleicht heute
noch wünschenswerter machen als je zuvor. Es ändert allerdings nichts an der Erkenntnis, dass heute wie zu
Kants Zeiten die Staaten den rechtslosen Naturzustand verlassen und in einen bürgerlich-gesetzlichen Zustand
eintreten sollen, weil einzig auf diesem Weg ihre angeborenen und erworbenen Rechte nach einem allgemeinen
Gesetz gesichert werden können.
580
Frieden: VIII, 357
578
- 103 -
Textstelle wird in der Sekundärliteratur nahezu einhellig für grundsätzlich ambivalent,
inkonsistent oder sogar widersprüchlich gehalten.581 Sie wird zumeist so verstanden, als ob
Kant dort behaupten würde, dass die Idee des Völkerstaates in der Theorie (in thesi) zwar
richtig sei, jedoch für die politische Praxis (in hypothesi) nicht taugen würde. Es wird davon
ausgegangen, dass Kant den vernunftnotwendigen Weltstaat ablehnt und aus pragmatischen
Gründen (nämlich aufgrund des fehlenden Wollens der Staaten) für die Stiftung eines
Friedensbundes plädiert. Kant habe sich, so verschiedene Kommentatoren, durch
pragmatische Argumente von seinem Begründungszusammenhang abbringen lassen und
übersehe gänzlich, dass aus seinen eigenen vernunftrechtlichen Prämissen die Stiftung eines
mit Zwangsgewalt ausgestatteten Weltstaats notwendig folgen müsste.582
Auf den folgenden Seiten soll gezeigt werden, dass diese Auslegung nicht gänzlich
überzeugt. In Anlehnung an die Arbeiten von Georg Geismann, Völker Gerhard und Pauline
Kleingeld583 soll hier die These vertreten werden, dass Kant den Völkerbund und den
Völkerstaat keinesfalls als sich gegenseitig ausschließende Alternativen begreift. Kants These
ist weder „Völkerbund, nicht Weltrepublik“ noch „Weltrepublik, nicht Völkerbund“, sondern
vielmehr „erst Völkerbund und dann Weltrepublik“. In äußerster Kürze kann Kants These
folgendermaßen zusammengefasst werden: Da eine Beschränkung der einzelstaatlichen
Souveränität mit Gewalt rechtlich nicht durchzusetzen ist, tritt an der Stelle des
vernunftnotwendigen Völkerstaates („wenn nicht alles verloren werden soll“584) zunächst der
Völkerbund als sein negatives Surrogats ein. Der Völkerbund ist bloß der vorläufige Ersatz
der Idee eines Völkerstaates, welcher stets das angestrebte Ziel bleibt. Am Anfang des
581
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit siehe: Carson, Thomas: Perpetual Peace: What Kant Should Have Said,
in: Social Theory and Practice 14, 1988, S. 173-214; Cheneval, Francis: Das Problem der supranationalen
Zwangsgewalt am Beispiel Kants, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 83, 1997, S. 175-192; Habermas,
Jürgen: Kants Idee des ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von zweihundert Jahren, in: Frieden
durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung, hrsg. v. Matthias Lutz-Bachmann
und James Bohman, Frankfurt a. M. 1996, S. 7-24; Höffe, Otfried: Völkerbund oder Weltrepublik?, in:
Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 109-132; Ders.:
Fédération de peuples ou république universelle?, in: L’Année 1795: Kant, Essais sur la Paix, hrsg. v. Pierre
Laberge, Guy Lafrance und Denis Dumas, Paris 1997, S. 140-159; Kersting, Wolfgang: Globale Rechtsordnung
oder weltweite Verteilungsgerechtigkeit? Über den systematischen Grundriß einer politischen Philosophie der
internationalen Beziehungen; in: Politisches Denken. Jahrbuch 1995/96, S. 197-246; Lutz-Bachmann, Matthias:
Kants Friedensidee und das rechtsphilosophische Konzept einer Republik, in: Frieden durch Recht. Kants
Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung, hrsg. v. Matthias Lutz-Bachmann und James Bohman,
Frankfurt a. M. 1996, S. 25-44; Seel, Gerhard: « Mais il y aurait là contradiction ». Une nouvelle lecture du
deuxième article définitif, in: L’Année 1795: Kant, Essais sur la Paix, hrsg. v. Pierre Laberge, Guy Lafrance und
Denis Dumas, Paris 1997, S. 160-182.
582
Diese Interpretation wird selbst von einem Autor wie Wolfgang Kersting vertreten, wenn er schreibt, dass
„der weltberühmte Experte der Furcht [gemeint ist Thomas Hobbes; F.R.] den Philosophen der unerschrockenen
praktischen Vernunft so sehr eingeschüchtert [hat], dass dieser vor den Implikationen seiner allgemeinen Theorie
zurückgescheut ist“ (Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und
Staatsphilosophie, Frankfurt a. M. 1984, Paderborn 3. Aufl. 2007, S. 76). Andere Autoren haben sich dieser
Interpretation angeschlossen. So schreibt zum Beispiel Marc Schattenmann, dass Kant „offenbar vor dem
Gedanken einer Weltrepublik zurück[schreckt]“ (Schattenmann, Marc: Wohlgeordnete Welt. Immanuel Kants
politische Philosophie in ihren systematischen Grundzügen, München 2006, S. 242). Gerhard Seel spricht
seinerseits von einem „faule[n] Kompromiß zwischen Vernunftgebot und Menschenwille“ (Seel, Gerhard: Darin
wäre aber ein Widerspruch. Der zweite Definitivartikel zum ewigen Frieden neu gelesen, in: Kant. Analysen –
Probleme – Kritik, hrsg. v. Hariolf Oberer, Bd. III, Würzburg 1997, S. 332).
583
Vgl. Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3,
Würzburg 2012, S. 210ff.; Ders.: World Peace: Rational Idea and Reality. On the Principles of Kant’s Political
Philosophy, in: Kant. Analysen - Probleme - Kritik, hrsg. v. Hariolf Oberer, Würzburg 1996, S. 265-319;
Gerhardt, Volker: Immanuel Kants Entwurf ‚Zum ewigen Frieden’: eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995, S.
91-102; Kleingeld, Pauline: Kants Argumente für den Völkerbund, in: Recht-Geschichte-Religion. Kants
Bedeutung für die Gegenwart, hrsg. v. Herta Nagl-Docakal und Rudolf Langthaler, Berlin 2004, S. 99-111.
584
Frieden: VIII, 357
- 104 -
Rechtswegs zum Weltfrieden steht zunächst ein lockerer Völkerbund, während am Ende
dieses Wegs die Weltrepublik steht. Dass Kant zunächst für die Stiftung eines Völkerbundes
plädiert, ist nicht allein pragmatisch begründet, sondern ergibt sich aus Gründen, die im
Rahmen seines rechtsphilosophischen Gedanken durchaus konsistent sind. Um dies zu zeigen,
sollen die folgenden Erläuterungen weitgehend Kants Argumentationsweg in der
Friedensschrift und in der Rechtslehre folgen.
b) Der Begriff des Völkerstaates und die Voraussetzungen des Völkerrechts
Kants Ausführungen gleich zu Beginn des zweiten Definitivartikels verdienen
ausführlich zitiert zu werden: „Völker, als Staaten, können wie einzelne Menschen beurteilt
werden, die sich in ihrem Naturzustande […] schon durch ihr Nebeneinandersein lädiren, und
deren jeder um seiner Sicherheit willen von dem andern fordern kann und soll, mit ihm in eine
der bürgerlichen ähnliche Verfassung zu treten, wo jedem sein Recht gesichert werden kann.
Die wäre ein Völkerbund, der aber gleichwohl kein Völkerstaat sein müßte. Darin aber wäre
ein Widerspruch: weil ein jeder Staat das Verhältniß eines Oberen (Gesetzgebenden) zu
einem Unteren (Gehorchenden, nämlich dem Volk) enthält, viele Völker aber in einem Staate
nur ein Volk ausmachen würden, welches (da wir hier das Recht der Völker gegen einander
zu erwägen haben, so fern sie so viel verschiedene Staaten ausmachen und nicht in einem
Staat zusammenschmelzen sollen) der Voraussetzung widerspricht“.585
Wie die Rezeptionsgeschichte dieser wenigen Sätze zeigt, bedürfen sie dringend
weiterer Erläuterungen. In der Sekundärliteratur wird nämlich häufig angenommen, dass der
Satzteil „Darin aber wäre ein Widerspruch“ sich auf eine begriffliche Inkonsistenz der Idee
des Völkerstaates beziehe. Dieser Auslegung zufolge ist der Begriff des Staates für Kant
untrennbar mit jenem der Souveränität verbunden. Die einzelstaatliche Souveränität wäre
grundsätzlich unantastbar und unaufhebbar. Dies bedeutet, dass ein nicht-souveräner oder ein
nicht-ganz-souveräner Staat ein sachleerer Begriff wäre. Die Stiftung eines Völkerstaates
würde aber die Aufhebung der einzelstaatlichen Souveränität und die bloße Subsumierung
aller Staaten unter einen einzigen Weltstaat bedeuten. Aus diesem Grund, so wird behauptet,
hält Kant die Idee des Völkerstaates für widersprüchlich.
Daran anknüpfend wird Kant vorgeworfen, dass er die Möglichkeit einer partiellen
Übertragung der hoheitlichen Kompetenzen der einzelnen Staaten auf föderaler Ebene des
Völkerstaates völlig übersehen habe. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, kann eine
derartige Auslegung nicht gänzlich befriedigend sein. Es wird dagegen die These vertreten,
dass Kant innerhalb eines Begriffsrahmens argumentiert, welcher die Existenz voneinander
unterschiedlicher Staaten voraussetzt und also die Existenz einer Weltrepublik ausschließt.
Damit ist eine föderale Weltrepublik an sich nicht ausgeschlossen. Nur innerhalb des
gewählten Begriffsrahmens ist sie nach dem Prinzip der Widerspruchsfreiheit ausgeschlossen.
Um Kants Argumentation im zweiten Definitivartikel nachvollziehen zu können, muss
stets in Erinnerung behalten werden, dass Kant sich hier ausschließlich mit dem Völkerrecht
auseinandersetzt.586 Im Titel des Artikels heißt es unmissverständlich: „Das Völkerrecht soll
…“. Wie bereits angeführt wurde, bezieht sich das Völkerrecht auf das Verhältnis souveräner,
also rechtlich unabhängiger Staaten im Verhältnis zueinander. Es impliziert also die Prämisse,
dass es eine Pluralität von Staaten gibt, die jeweils Richter in eigenen Angelegenheiten sind.
Kant drückt dies wie folgt aus: „Die Idee des Völkerrechts setzt die Absonderung vieler von
585
Frieden: VIII, 354
Für das Verständnis der hier diskutierten These ist es unbedingt erforderlich auf das stets übersehene Adverb
„hier“ aufmerksam zu machen: „Da wir hier das Recht der Völker gegen einander zu erwägen haben“ (Frieden:
VIII, 354).
586
- 105 -
einander unabhängiger benachbarter Staaten voraus“.587 Sollte es nicht eine Vielzahl
souveräner Staaten geben, die unvermeidlich und jederzeit in Verhältnis zueinander kommen
könnten, würde es auch kein Problem des Völkerrechts geben.
Vor diesem Hintergrund lässt sich nun die Frage leicht beantworten, worauf sich der
von Kant angedeutete „Widerspruch“ bezieht. Dieser bezieht sich keinesfalls auf die
(angebliche) Inkonsistenz der Idee des Völkerstaates. Der Widerspruch liegt vielmehr
zwischen dem Begriff des Völkerstaats und den Voraussetzungen des Völkerrechts. Weil das
Völkerrecht per definitionem eine Vielzahl souveräner Staaten voraussetzt, der Völkerstaat
dagegen per definitionem dem Zusammenschluss der einzelnen souveränen Staaten und ihrer
Unterwerfung unter eine überstaatliche Zwangsgewalt entspricht, kann das Völkerrecht
widerspruchsfrei nur die Form eines Völkerbundes annehmen. Im Rahmen völkerrechtlicher
Erörterungen gibt es keinen Platz für die Idee eines Völkerstaates, da diese Idee der
Voraussetzung des Völkerrechts widerspricht.
Diese These wird durch Kants Ausführungen in seinen Vorarbeiten zum ewigen
Frieden bekräftigt: „Diese Sicherheit kan nach dem Völkerrecht von einer Vereinigung nach
Bürgerlichen Gesetzen mithin der Unterwerfung unter eine über Staaten herrschende obere
Gewalt (eines größern Staatskörpers) nicht erwartet werden denn das ist dem Begriffe des
Völkerrechts zuwieder und setzt demnach eine Vereinigung des Willens aller zu dieser
Absicht voraus die aber frey seyn und bleiben muß. Eine solche Verbindung ist eine
Bundesgenossenschaft (Föderalism)“.588
Entscheidend ist hier festzuhalten, dass Kant die Idee des Völkerstaates als solche
keinesfalls zurückweist. Von einer grundsätzlichen Zurückweisung der Idee einer
überstaatlichen Zwangsgewalt kann hier schlechthin nicht die Rede sein. Diese Idee hat
lediglich keinen Platz im Rahmen der hier angestrebten völkerrechtlichen Diskussion. Sie
gehört zu jenem Teil des Rechts, welchen Kant selbst als „Völkerstaatsrecht“589 bezeichnet.
c) Kants Konzeption staatlicher Souveränität
Als Argument für die Stiftung eines Völkerbundes führt Kant aus, dass „jeder Staat
seine Majestät […] gerade darin [setzt], gar keinem äußeren gesetzlichen Zwange
unterworfen zu sein“.590 Ferner führt Kant im Text aus, dass die Staaten den Völkerstaat
„nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen“.591 Wie zuvor angeführt wurde,
wird diese Begründung in der Sekundärliteratur zumeist für inkonsistent oder sogar
widersprüchlich angenommen. Es wird allerseits behauptet, dass Kant hier die normative
Ebene seiner Argumentation verlasse und auf das empirisch Gewollte der Staaten
zurückgreife. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass auch diese Auslegung einer näheren
Analyse des Textes nicht standhält, und dass Kant sich keinesfalls für einen Mittelweg
zwischen Pflicht und Gewolltem ausspricht.
Kant stellt zunächst als ein historisches Faktum fest, dass die einzelnen Staaten und
deren Staatsoberhäupter nicht auf ihre Souveränität verzichten möchten. Dies hat zur Folge,
dass sie faktisch darauf beharren in einem Zustand zu bleiben (nämlich dem rechtlosen
Naturzustand), welchen sie verpflichtet sind zu verlassen. Die Tatsache, dass die Staaten
keinen Völkerstaat wollen liegt darin begründet, dass dies die Aufhebung ihrer Souveränität
zur Folge haben würde. Es gibt also einen Gegensatz zwischen dem, was die Vernunft
gebietet (die Stiftung eines Völkerstaates) und dem, was die Staaten offensichtlich wollen (die
587
Frieden: VIII, 367; Vgl. auch Vorarbeit: XXIII, 171
Vorarbeit: XXIII, 168
589
RL: VI, 311
590
Frieden: VIII, 354
591
Frieden: VIII, 357 (meine Hervorhebung)
588
- 106 -
Bewahrung ihrer Souveränität). Kurzum: Die Staaten wollen faktisch nicht, was sie wollen
sollen. Dies hat jedoch nicht notwendig zu bedeuten, dass Kant in Empirismus verfällt.
Festzuhalten ist zunächst, dass der oben skizzierte empirische Sachverhalt lediglich das
völkerrechtliche Problem bildet, welches Kant insbesondere im hier diskutierten zweiten
Definitivartikel zu lösen versucht. Es handelt sich um die zuvor angeführten Voraussetzungen
des Völkerrechts. Am Ausgangspunkt Kants völkerrechtlicher Überlegungen findet sich die
historische, also empirische Feststellung des Nebeneinanderseins einer Vielfalt souveräner
Staaten.
Wie bereits mehrmals erläutert wurde, sollen die Staaten aus Vernunftgründen den
Naturzustand verlassen und einen Völkerstaat stiften. Wichtig ist hier zu sehen, dass der
Naturzustand der Menschen und jener der Staaten nicht völlig gleich ist, so dass „von Staaten
nach dem Völkerrecht nicht eben das gelten kann, was von Menschen im gesetzlosen
Zustande nach dem Naturrecht gilt“.592 Gemeint ist hier die Tatsache, dass die Staaten „als
Staaten innerlich schon eine rechtliche Verfassung haben und also dem Zwange anderer, sie
nach ihren Rechtsbegriffen unter eine erweiterte gesetzliche Verfassung zu bringen,
entwachsen sind“.593 Die von Kant angezeigte Analogie zwischen einzelnen Menschen und
Staaten ist somit eine bloß unvollständige Analogie. Für Kant besteht ein grundsätzlicher
Unterschied zwischen dem juridischen Naturzustand der Menschen und jenem der Staaten.
Dieser Unterschied führt dazu, dass die jeweils vernunftnotwendige Überwindung des
Naturzustandes auch nicht auf genau demselben Weg geschehen kann. Von Natur aus
befinden sich die Individuen miteinander in einem rechtlosen Zustand, in welchem sie über
nichts anderes als ihre zügellose Freiheit verfügen. Erst mit dem Eintritt in den bürgerlichen
Zustand, das heißt erst mit der Gründung eines Staates, kann vom Recht im strengen Sinne die
Rede sein. Dies rechtfertigt, dass die Menschen dazu gezwungen werden dürfen ihre rechtlose
Freiheit zugunsten der rechtgesetzlichen Freiheit aufzugeben.
Das Gesagte trifft jedoch nicht für die Staaten zu. Zwar befinden sich die Staaten von
Natur aus ebenfalls im rechtlosen Naturzustand, aber lediglich äußerlich, das heißt in ihrem
Verhältnis zu den anderen Staaten. Innerlich haben sie wiederum eine bürgerliche Verfassung
und befinden sich somit bereits in einem Zustand des Rechts. Zu Recht weist Georg
Geismann darauf hin, dass „es sich bei den einzelnen Staaten – im Unterschied zu den
einzelnen Individuen – um einheitliche juridische Gebilde handelt, die in sich bereits einen
öffentlich-rechtlichen Zustand darstellen, – gleichsam um Inseln des (mehr oder weniger
gesicherten) Rechtsfriedens innerhalb des Weltnaturzustandes“.594 In Abgrenzung zu den
Menschen reicht es also nicht, dass die Staaten ihre gesetzlose Freiheit aufgeben. Sie haben
außerdem die Rechtspflicht dafür zu sorgen, dass sie dabei das innere erreichte Maß an
Rechtssicherheit bezüglich des Gebrauchs der äußeren Freiheit der Untertanen nicht
beeinträchtigen. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass es sowohl für die
Individuen als auch für die Staaten eine Rechtspflicht ist den Naturzustand zu verlassen, um
in einen bürgerlich-gesetzlichen Zustand einzutreten, aber eben nicht auf dieselbe Art und
Weise.
Kein Staat darf einen anderen mit Gewalt zum Zusammenschluss zu einem
Völkerstaat nötigen, da dies die rechtliche Unabhängigkeit eines jeden Staates (als
Gemeinschaft freier Wesen) von einer anderen nötigenden Willkür verletzten würde. Alle
völkerrechtlichen Schritte auf dem Weg zum ewigen Frieden sollen also die einzelstaatliche
Souveränität beachten. Die Stiftung eines Zustandes des Weltfriedens muss gänzlich auf
592
Frieden: VIII, 355 (meine Hervorhebung)
Frieden: VIII, 355f.
594
Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3, Würzburg
2012, S. 175 (meine Hervorhebung). Vgl. Ders.: Kants Rechtslehre vom Weltfrieden, in: Zeitschrift für
philosophische Forschung 37, 1983, S. 367.
593
- 107 -
Mittel der Gewalt verzichten. Die Tatsache, dass das Verlassen des Naturzustandes unbedingt
geboten ist, ändert nichts daran. Es sind also keine pragmatischen, sondern lediglich
vernunftrechtlichen Gründe, die Kant dazu veranlassen zunächst die Stiftung eines
Völkerbundes zu fördern.
Weil Verstöße gegen die einzelstaatliche Souveränität schlechterdings unerlaubt sind,
kann die Stiftung eines Zustandes des Weltfriedens rechtlich lediglich auf einer freiwilligen
Basis geschehen.595 Die einzige rechtliche Möglichkeit um zu einem Zustand des
Weltfriedens zu gelangen, ist das wechselseitige Übereinkommen. Kant plädiert somit für
einen „Vertrag der Völker unter sich“.596 An einer anderen Stelle heißt es diesbezüglich: Der
„status iuridicus muß aus irgend einem Vertrage hervorgehen, der nicht eben (gleich dem,
woraus ein Staat entspringt,) auf Zwangsgesetze gegründet sein darf, sondern allenfalls auch
der einer fortwährend-freien Association sein kann“.597 Also ist die föderative Vereinigung
der Staaten der „einzige mit der Freiheit derselben vereinbare rechtliche Zustand“.598
d) Die notwendigen Rechtsschritte auf dem Weg zum ewigen Frieden unter Staaten
Auf den kommenden Seiten wird sich zeigen, dass die Stiftung eines Zustandes des
Weltfriedens als ein fortschreitender Rechtsprozess zu verstehen ist. In den Definitivartikeln
fordert Kant keine Maßnahmen, die man gänzlich und auf einmal umsetzen sollte (und
könnte), um gleich einen Zustand des ewigen Friedens unter Staaten zu erreichen. Kant
plädiert vielmehr für eine kontinuierliche Annäherung eines sich weltweit erstreckenden
Friedenszustandes. Kant interessiert sich nicht so sehr für den Zustand des ewigen Friedens,
als vielmehr für den Weg zu ihm. Diese prozessuale Dimension lässt sich bereits im Titel der
Friedensschrift festhalten: Zum ewigen Frieden. Dieser Titel ist jedoch mehrdeutig. Nicht
selten wird der Titel „Zum ewigen Frieden“ fälschlicherweise als „Vom ewigen Frieden“
verstanden. Der Titel der Friedensschrift bedeutet nichts anderes als: Entwurf der
Vernunftprinzipien des Rechts, welche zum ewigen Frieden führen.
Der zweite Definitivartikel hebt die notwendigen Rechtsschritte auf dem Weg zum
ewigen Frieden unter Staaten im Speziellen hervor. Die Durchführung der dort vorgelegten
völkerrechtlichen Schritte hat zur Folge, dass die zwischenstaatlichen Beziehungen dem
bürgerlichen Zustand immer ähnlicher werden. Wie im Folgenden gezeigt wird, ist die
Stiftung eines Völkerbundes der erste Schritt auf dem Weg zum ewigen Frieden. Der letzte
und entscheidende Schritt besteht in der Stiftung eines Völkerstaates. Mit dem
Zustandekommen des Völkerstaates sind aber die Verhältnisse zwischen den lediglich noch
innerlich souveränen Staaten nicht länger Gegenstand des Völkerrechts, sondern des
Staatenstaatsrechts.
An dieser Stelle können zwei terminologische Bemerkungen von Nutzen sein. Es sei
erstens darauf aufmerksam gemacht, dass Kant in seinen verschiedenen Schriften eine
abwechslungsreiche Terminologie verwendet. In der Idee zu einer allgemeinen Geschichte
595
Bereits im Gemeinspruch ist die Rede vom „Vorschlag zu einem allgemeinen Völkerstaat, unter dessen
Gewalt sich alle einzelne Staaten freiwillig bequemen sollen“ (Gemeinspruch: VIII, 312f., meine
Hervorhebung). Vgl. ebenfalls: Reflexion 8065: XIX, 599. Hier ist eine wichtige Entwicklung in Kants
Gedanken zu verzeichnen. In den 1770er Jahren war Kant offensichtlich noch einer anderen Meinung: „Der
Satz: exeundum est e statu naturali bedeutet: Man kann ieden zwingen mit uns oder unserer republic in statum
civilem zu treten. Daher der Krieg in dieser Absicht allein gerecht ist“ (Reflexion 7735: XIX, 503).
596
Frieden: VIII, 356
597
Frieden: VIII, 383
598
Frieden: VIII, 385
- 108 -
und in der Rechtslehre verwendet Kant den Begriff „foedus Amphictyonum“.599 Im
Gemeinspruch spricht Kant wiederum von einem „rechtliche[n] Zustand der Föderation nach
einem gemeinschaftlich verabredeten Völkerrecht“.600 In der Friedensschrift spricht er vom
„Friedensbund (foedus pacificum)“.601 In der Rechtslehre spricht Kant ebenfalls von
„Genossenschaft (Föderalität)“602, von „Verbündung“603, von „wechselseitiger Verbindung
(Bundsgenossenschaft) mehrerer Staaten“604 oder auch von „Congreß“.605 Alle diese Begriffe
bezeichnen ein und dieselbe Idee mit jeweils unterschiedlichen Akzentsetzungen je nachdem,
ob die Zwecke oder die innere Ausgestaltung des Völkerbundes hervorgehoben werden.
Zweitens – und wichtiger – ist die Tatsache, dass Kant den Begriff des
„Völkerbundes“ in zwei Sinne verwendet, nämlich einerseits zur Bezeichnung eines „Bundes“
mit allgemeiner Gesetzgebung und oberster Zwangsgewalt sowie andererseits zur
Bezeichnung eines „Bundes“ ohne allgemeine Gesetzgebung und oberste Zwangsgewalt. Als
Beispiel für den ersten Fall können zwei Stellen angeführt werden. In der Idee spricht sich
Kant für einen „großen Völkerbunde“ aus, in welchem „jeder, auch der kleinste Staat seine
Sicherheit und Rechte […] von einer vereinigten Macht und von der Entscheidung nach
Gesetzen des vereinigten Willens erwarten könnte“.606 Kant meint nichts anderes, wenn er in
der Religionsschrift von einem „Völkerbund als Weltrepublik“607 spricht. Im Unterschied
dazu schreibt Kant in der späteren Friedensschrift von einem „Völkerbund, der aber
gleichwohl kein Völkerstaat sein müßte“.608 In der Rechtslehre spricht Kant wiederum von
einem „Völkerbund“, welcher „keine souveräne Gewalt (wie in einer bürgerlichen
Verfassung), sondern nur eine Genossenschaft (Föderalität) enthalten müsse“.609 Im
Folgenden werden wir durchgängig vom Völkerbund in diesem späteren, bescheidenen Sinne
zur Bezeichnung eines „Bundes“ ohne allgemeine Gesetzgebung und oberste Zwangsgewalt
sprechen.
Es besteht zunächst Erklärungsbedarf darüber, was Kant genau unter dem Begriff des
Völkerbundes versteht und wie er sich vom Völkerstaat unterscheiden lässt. Es wird sich
dabei zeigen, dass sich der Völkerbund insbesondere durch zwei Merkmale auszeichnet:
Der Völkerbund hat für Kant ausschließlich eine kriegsabwehrende Funktion. In
Abgrenzung zu einem bloßen Friedensvertrag (pactum pacis) besteht sein Ziel nicht darin
einem besonderen Krieg ein Ende zu setzen, sondern vielmehr den Rückfall in den Zustand
wirklichen Krieges überhaupt abzuwehren.610 Das einzige Ziel der Stiftung des Völkerbundes
besteht darin, die Staaten „unter einander und zusammen gegen andere Staaten […] im
Frieden zu erhalten“.611 Er soll lediglich für die „Erhaltung und Sicherung der Freiheit eines
Staats, für sich selbst und zugleich anderer verbündeten Staaten“612 sorgen. In den
Vorarbeiten zum ewigen Frieden ist zu lesen, dass die Funktion des Friedenbundes „blos
599
Vgl. Idee: VIII, 24; RL: VI, 344; Die Amphictyonen waren Verbände hellenistischer Staaten, welche zumeist
defensiven Charakter hatten. Vgl. Pinzani, Alessandro: Das Völkerrecht §§ 53-61, in: Immanuel Kant,
Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1999, S. 239.
600
Gemeinspruch: VIII, 311
601
Frieden: VIII, 356
602
RL: VI, 344
603
RL: VI, 344
604
RL: VI, 349
605
RL: VI, 351
606
Idee: VIII, 24 (meine Hervorhebungen)
607
Religion: VI, 34
608
Frieden: VIII, 354
609
RL: VI, 344
610
Vgl. Frieden: VIII, 356; RL: VI, 344
611
Frieden: VIII, 383
612
Frieden: VIII, 356
- 109 -
negativ“613 ist. Kant betont ausdrücklich, dass der Völkerbund keine Expansionsbestrebungen
haben soll. Für die Mitgliedstaaten handelt es sich darum, „sich gegen alle äußere oder innere
etwanige Angriffe gemeinschaftlich zu vertheidigen; nicht ein Bund zum Angreifen und
innerer Vergrößerung“.614 Desweiteren darf der Völkerbund die Freiheit seiner
Mitgliedstaaten keinesfalls beeinträchtigen. Er darf sich „nicht in die einheimische[n]
Mißhelligkeiten“ derselben mischen, sondern nur sie „gegen Angriffe der äußeren“615
schützen. Heute würde man von einem Bündnis der kollektiven Sicherheit sprechen. Es zielt
darauf ab einerseits den Frieden zwischen den Mitgliedstaaten des Völkerbundes
aufrechtzuerhalten sowie andererseits ihre gemeinsame Sicherheit gegen andere Staaten zu
gewährleisten. Es handelt sich somit um einen Nichtangriffspakt zwischen den
Vertragspartnern und ein Defensivbündnis gegenüber Drittstaaten. Der Völkerbund beruht auf
der freiwilligen Solidarität der Vertragspartner und verfügt über keine eigenen militärischen
Kapazitäten. Nur die einzelnen Staaten verfügen über militärische Kräfte und zwar über die
von Kant im dritten Präliminarartikel geforderten defensiven Milizarmeen.
Der von Kant geforderte Völkerbund ist als eine lose Verbindung äußerlich freier,
mithin souveräner Staaten zu verstehen, der zunächst nicht über eine bloße horizontale
Verhaltenskoordination hinausgeht. Dies hat zweierlei zu bedeuten. Erstens: Der Völkerbund
ist eine auf Dauer gestellte Einrichtung, welche jedoch zu jedem Zeitpunkt auflösbar ist. In
der Rechtslehre schreibt Kant, dass der Völkerbund „nur eine willkürliche, zu aller Zeit
auflösliche Zusammentretung verschiedener Staaten“ ist, und „nicht eine solche Verbindung,
welche (so wie die der amerikanischen Staaten) auf einer Staatsverfassung gegründet, und
daher unauflöslich ist“.616 Beitritt und kontinuierliches Engagement in den Völkerbund
können nur freiwillig geschehen. Zweitens: Es gibt weder öffentlich-rechtliche Gesetze noch
eine oberste Zwangsgewalt.617 Die Souveränität liegt gänzlich in den Einzelstaaten. Es gibt
jedoch bereits eine gewisse Institutionalisierung der Verhältnisse der Staaten untereinander.
Die Konflikte der Vertragspartner werden nicht weiterhin auf dem militärischen, sondern nun
auf dem zivilen Weg (das will heißen durch Schlichtungsverfahren, Verhandlungen,
Tauschgeschäfte usw.) beigelegt.618 Mit der Stiftung des Völkerbundes treten also die Staaten
in einen „rechtlichen“ (oder genauer formuliert: völkerrechtlichen) Zustand ein.619 Im
Gemeinspruch spricht Kant ebenfalls von einem „rechtliche[n] Zustand der Föderation nach
einem gemeinschaftlich verabredeten Völkerrecht“.620 Die Staaten befinden sich also nicht
länger im bloßen natürlichen Zustand, jedoch (auch noch) nicht in einem bürgerlichen
Zustand. Kant spricht deshalb von einer „bürgerlichen ähnliche[n] Verfassung“.621 Der
völkerrechtliche Zustand ist, um es anders zu formulieren, „einen dem rechtlichen sich
annähernden Zustand“.622
Der völkerrechtliche Zustand wird dem bürgerlichen Zustand schrittweise immer
ähnlicher. Nach der Stiftung des Friedensbundes könnte ein weiterer (rechtmäßig ebenfalls
nur freiwillig möglicher) Schritt auf dem Weg zum ewigen Frieden in der Einsetzung eines
gemeinsamen Richters ohne Zwangsgewalt bestehen. In der Rechtslehre erwähnt Kant das
Beispiel der Minister europäischer Staaten der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die sich
„ganz Europa als einen einzigen föderirten Staat dachten, den sie in jener ihren öffentlichen
613
Vorarbeit: XXIII, 168
RL: VI, 349
615
RL: VI, 344
616
RL: VI, 351
617
Vgl. Frieden: VIII, 355
618
Vgl. RL: VI, 351
619
Vgl. Frieden: VIII, 311, 383, 385
620
Gemeinspruch: VIII, 311
621
Frieden: VIII, 354 (meine Hervorhebung)
622
RL: VI, 344 (meine Hervorhebung)
614
- 110 -
Streitigkeiten gleichsam als Schiedsrichter annahmen“.623 Selbst mit der Stiftung eines
Völkerbundes und eines gemeinsamen Richters wäre der Naturzustand noch nicht komplett
überwunden. Von einem „allgemeine[n] und machthabende[n] Völkerrecht“624 kann noch
nicht die Rede sein. Hierfür fehlt noch eine oberste Zwangsgewalt, die zur Durchsetzung des
Rechts fähig wäre. Der völkerrechtliche Zustand ist somit nur ein transitorischer Zustand
zwischen dem bloßen Naturzustand und dem bürgerlichen Zustand.
Mit der Stiftung eines Völkerbundes hat sich der Zustand, in welchem sich die
Vertragspartner befinden, juridisch verändert. Im rechtlosen Naturzustand können sich die
Staaten wechselseitig kein Unrecht tun, weil es gar nicht feststeht, was genau dem Recht und
dem Unrecht entspricht. Mit der Stiftung eines Friedensbundes und der daraus resultierenden
Institutionalisierung der zwischenstaatlichen Verhältnisse ist es dagegen möglich festzulegen,
ob ein Staat sich (beispielsweise bei einem Vertragsbruch) im Recht befindet oder nicht. Im
völkerrechtlichen Zustand bleibt jeder Staat sein eigener Richter. Dies bedeutet wiederum,
dass der völkerrechtliche Frieden in letzter Konsequenz von dem subjektiven Rechtsurteil
(Kant spricht seinerseits von „eigener rechtlichen Beurtheilung“625) der jeweiligen Staaten
abhängt. Im völkerrechtlichen Zustand, also in Abwesenheit eines unabhängigen Richters, ist
es den Staaten überlassen, über die Rechtmäßigkeit eigenen und fremden Verhaltens zu
urteilen. Selbst bei allgemeiner Einigkeit über das geltende Recht und bei ebenso allgemeiner
Bereitschaft sich an dieses Recht zu halten, kann es jedoch jederzeit zu einem Streit kommen,
ob in einer gegebenen Situation ein Rechtsverstoß vorliegt. In Abwesenheit eines obersten
Schiedsrichters können nur die Staaten selbst über die Rechtmäßigkeit ihres eigenen
Verhaltens beurteilen.
Unter dieser Bedingung kann es noch keine endgültige Garantie für die Sicherheit des
Rechts eines jeden Staates geben. Im völkerrechtlichen Zustand ist das (angeborene und
erworbene) Recht eines jeden Staates zwar ein gültiges, jedoch im Streitfall (aufgrund des
Fehlens einer übergeordneten Rechtsinstanz) unwirksames Recht. Mit Kants eigenen Worten
heißt dies, dass das Recht der Staaten bloß provisorischen Charakter hat. Erst mit dem
vollständigen Übergang in den bürgerlichen Zustand, also mit der Stiftung eines Weltstaates,
wird das Recht der Staaten peremtorisch. Mit der Stiftung des Völkerbundes ist der ewige
Frieden im strengen Sinne noch nicht gegeben. Es handelt sich vielmehr um die
völkerrechtliche Minimalbedingung, um den Kriegsausbruch möglichst zu verhindern.626 Der
Völkerbund soll „den Verfall in den Zustand des wirklichen Krieges“627 unter seine
Mitgliedstaaten abwehren.628
Weil der Abschluss eines derartigen Völkerbundes keinen Eingriff in die Souveränität
der Staaten darstellt, gibt es keinen Grund ihn abzulehnen. Es gilt also: Wer diesen
Völkerbund nicht will, will keinen Frieden. Zu Recht weist Georg Geismann darauf hin, dass
die Stiftung eines Völkerbundes das einzige Mittel ist, durch welches „bei Wahrung der
staatlichen Souveränität dennoch wenigstens ein erster Schritt auf dem Weg zum globalen
Rechtszustand gemacht ist“.629 So rückt das Ziel des dauerhaften Friedens unter strikter
Wahrung der einzelstaatlichen Souveränität historisch näher.
623
RL: VI, 350 (meine Hervorhebung)
Religion: VI, 123
625
Idee: VIII, 24 (meine Hervorhebungen)
626
Georg Geismann schreibt hier zu Recht, dass die Schaffung eines Völkerbundes lediglich eine „Bändigung“,
nicht aber eine „grundsätzliche Aufhebung“ des Naturzustandes als Kriegszustand bedeutet (Ders.: Kant und
kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3, Würzburg 2012, S. 202)
627
RL: VI, 344
628
Vgl. Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3,
Würzburg 2012, S. 202.
629
Geismann, Georg: Kants Rechtslehre vom Weltfrieden, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 37, 1983,
S. 381.
624
- 111 -
Erst mit dem letzten, für die Schaffung eines Zustandes des Weltfriedens
notwendigen, jedoch rechtlich nur freiwillig möglichen Schritt, treten die Staaten in den
bürgerlichen Zustand ein. Gemeint ist hier die Stiftung eines Weltstaates. Bevor Kants
Vorstellung des Völkerstaates dargestellt wird, soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass
Kant in seinen verschiedenen Schriften eine abwechslungsreiche Terminologie verwendet, um
den Völkerstaat zu bezeichnen. In der Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte spricht
Kant vom „weltbürgerlichen Zustand der öffentlichen Staatssicherheit“.630 Im Gemeinspruch
heißt es „allgemeinen Völkerstaat“631 und „weltbürgerliches gemeines Wesen unter einem
Oberhaupt“.632 In der Friedensschrift spricht Kant ebenfalls vom „allgemeinen
Menschenstaat“.633 In der Rechtslehre heißt es „allgemeinen Staatenverein“634,
„Völkerstaat“635 und „permanenten Staatencongreß“.636 Im Folgenden soll durchgängig der
Terminus „Völkerstaat“ verwendet werden.
Dass Kant die Stiftung einer überstaatlichen Zwangsgewalt für die einzige rechtliche
Möglichkeit ansieht den zwischenstaatlichen Naturzustand zu überwinden und den Krieg
endgültig zu verbannen, wurde bereits gesehen. Hier muss nur noch der Frage nachgegangen
werden, wie der Völkerstaat gestaltet werden soll. Kants Antwort auf diese Frage fällt relativ
kurz aus, da die genaue Gestaltung des Völkerstaates nicht das Anliegen der Philosophen ist
und deshalb den Politikern und Juristen überlassen wird. Es kann allerdings zweierlei
festgehalten werden:
Erstens: Festzuhalten ist zunächst, dass Kant sich den Völkerstaat keinesfalls als einen
sich weltweit erstreckenden Einheitsstaat vorstellt. Diesbezüglich schreibt er im zweiten
Definitivartikel eindeutig und unmissverständlich, dass die Staaten „nicht in einem Staat
zusammenschmelzen sollen“.637 Ferner im selben Text führt er aus, dass der völkerrechtliche
Zustand obgleich er an sich ein Zustand des Krieges ist, so ist er doch „nach der Vernunftidee,
besser als die Zusammenschmelzung derselben, durch eine die andere überwachsende und in
eine Universalmonarchie übergehende Macht“.638 Ferner spricht sich Kant gegen den „Grab
der allgemeinen Alleinherrschaft“639 aus. Kant führt mehrere durchaus plausible empirische
Argumente gegen den einheitlichen Weltstaat aus.640 Zum Beispiel, dass „die Gesetze mit
dem vergrößerten Umfange der Regierung immer mehr an ihrem Nachdruck einbüßen, und
ein seelenloser Despotism, nachdem er die Keime des Guten ausgerottet hat, zuletzt doch in
Anarchie verfällt“.641 Der einheitliche Weltstaat ist deshalb zurückzuwerfen, weil „bei gar zu
großer Ausdehnung eines solchen Völkerstaats über weite Landstriche, die Regierung
desselben, mithin auch die Beschützung eines jeden Gliedes endlich unmöglich werden
muß“642, was wiederum einen Kriegszustand herbeiführen soll. Wichtig ist hier festzuhalten,
dass Kant die Idee einer bloßen und vollständigen Aufhebung der einzelnen Staaten und ihre
Subsumierung (Kant schreibt: „Zusammenschmelzung“) unter einen einheitlichen Weltstaat
(Kant schreibt: „Universalmonarchie“643) entschieden zurückweist. Diese besondere Art der
Weltregierung läuft Gefahr die angeborenen und erworbenen Rechte jedermanns zu verletzen
630
Idee: VIII, 26
Gemeinspruch: VIII, 312, 313
632
Gemeinspruch: VIII, 311
633
Frieden: VIII, 349
634
RL: VI, 350
635
RL: VI, 350
636
RL: VI, 350
637
Frieden: VIII, 354 (meine Hervorhebung)
638
Frieden: VIII, 367 (meine Hervorhebung)
639
Religion: VI, 34; Vgl. Gemeinspruch: VIII, 311
640
Vgl. Religion: VI, 34; Frieden: VIII, 367; RL: VI, 350
641
Frieden: VIII, 367
642
RL: VI, 350
643
Vgl. Religion: VI, 34; Frieden: VIII, 367; Vorarbeit: XXIII, 171
631
- 112 -
und zu einem „seelenlose[n] Despotism“644 zu führen. Der erreichte Frieden wäre somit ein
„Kirchhofe der Freiheit“.645
Zweitens: Es sei hier erneut darauf aufmerksam gemacht, dass Kant beständig von
„freien Staaten“, nicht von „Republiken“ spricht.646 Mit dem Adjektiv „frei“ bezeichnet Kant
die äußere Freiheit eines jeden Staates im Verhältnis zu den anderen. Dabei ist die Frage
rechtlich ohne Belang, ob die Staaten eine republikanische Verfassung haben oder nicht. Man
darf die Autonomie eines Staates nach innen von seiner Autonomie nach außen nicht
miteinander verwechseln.647 Die steht in keinem Widerspruch mit der Feststellung, dass für
Kant die Stiftung des Völkerstaates zwischen republikanisch verfassten Staaten leichter zu
realisieren wäre: „Der Völkerbund ist keine allgemeine Monarchie. Denn alsdenn wären die
cives nicht völker, welches doch hier Gefordert wird. Ein solcher Bund wäre aber schwer
möglich, wenn die Staaten nicht jeder für sich ein Freystaat wäre“.648
Kants Zurückweisung der Universalmonarchie bedeutet jedoch keinesfalls eine
prinzipielle Ablehnung einer überstaatlichen Rechtsautorität. In der Schrift Idee zu einer
allgemeinen Geschichte plädiert Kant für die Gründung einer weltweiten
„Staatenverbindung“, die über eine eigene Zwangsgewalt verfügen sollte.649 In der
Friedensschrift spricht sich Kant für die Stiftung eines Völkerstaates als Weltrepublik aus.650
Unter diesem Begriff ist eine weltweite Bundesrepublik freier, aber äußerlich nicht länger
souveräner Gemeinschaften zu verstehen, wobei von Staaten in einem strengen Sinne nicht
mehr die Rede sein kann. Im Unterschied zum Völkerbund gibt es im Völkerstaat sowohl
öffentlich-rechtliche Gesetze als auch eine oberste (also überstaatliche) Zwangsgewalt, die für
die Einhaltung der öffentlichen Gesetze sorgt. Mit dem (rechtlich lediglich freiwillig
möglichen) Beitritt zum Völkerstaat verzichten die Staaten auf ihre äußere Souveränität und
treten in den bürgerlichen Zustand ein. Die Staaten hören nicht auf als jeweils besondere
Gemeinschaften von Menschen zu existieren, verfügen somit letztlich noch über ihre innere
Souveränität. Im föderalen Völkerstaat behalten die einzelnen Staaten ihre je eigene
staatsrechtliche und damit auch kulturelle Identität und Eigenart.
Zu welchem genauen Zeitpunkt, mit welcher Geschwindigkeit und durch welche
Maßnahmen der Weg zum vernunftgebotenen Weltstaat eingeschlagen werden kann, hängt
von den politischen Umständen ab. Es steht allerdings fest, dass die von Kant skizzierten
Rechtsschritte auf dem Weg zum ewigen Frieden dem Politiker einen beachtlichen Spielraum
lässt, um die Annäherung auch unter den existierenden Anwendungsbedingungen ins Werk zu
setzen. Der angestrebte Völkerstaat muss zum Beispiel nicht von Anfang an alle Staaten der
Welt umfassen. Kants dynamisches Verständnis der Stiftung eines bürgerlichen Zustandes
zeigt sich in der Friedensschrift, wo Kant von einem „sich immer ausbreitenden“ und „immer
wachsenden“ Völkerstaat, ausspricht der „zuletzt alle Völker der Erde befassen“651 soll. Es
reicht völlig aus, wenn der Völkerstaat anfänglich nur „einige[] Staaten“652 vereinigt und sich
dann allmählich auf die ganze Welt erstreckt. Der Beitritt in diesen Völkerstaat soll „jedem
644
Für eine Diskussion Kants Argumentation gegen einen einheitlichen Völkerstaat siehe: Kyora, Stefan: Kants
Argumente für einen schwachen Völkerbund heute, in: 200 Jahre Kants Entwurf »Zum ewigen Frieden«. Idee
einer globalen Friedensordnung, hrsg. v. Volker Bialas und Hans-Jürgen Häßler, Würzburg 1996, S. 96-107;
Kleingeld, Pauline: Approaching Perpetual Peace: Kant’s Defence of a League of States and His Ideal of a
World Federation, in: The European Journal of Philosophy 12, 2004, S. 304-325.
645
Frieden: VIII, 367
646
Vgl. Frieden: VIII, 343, 348, 354ff.
647
Für den ersten Fall siehe etwa: RL: VI, 318. Für den zweiten dagegen: Frieden: VIII, 346
648
Reflexion 8056: XIX, 596f.
649
Vgl. Idee: VIII, 26
650
Vgl. Frieden: VIII, 357
651
Frieden: VIII, 357 (meine Hervorhebung)
652
RL: VI, 350
- 113 -
benachbarten“ Staat jederzeit offen stehen, und zwar gänzlich unabhängig von seiner inneren
Verfasstheit.653
Die Stiftung eines Völkerstaates ist die notwendige Bedingung der Möglichkeit des
ewigen Friedens. Mit diesem letzten und entscheidenden Schritt auf dem Weg zum ewigen
Frieden unter Staaten verwandelt sich das bloß provisorische Völkerrecht in ein
peremptorischen Staatenstaatsrecht bzw. Völkerstaatsrecht.654 ²Mit dem Übergang in den
bürgerlichen Zustand der Staaten ist die beständige Gefahr des Ausbruchs der
Gewalttätigkeiten rechtlich ausgeschlossen. Dies bedeutet, dass alle möglichen Rechtsgründe
zu streiten beseitigt sind, was aber längst nicht bedeutet, dass die in der menschlichen Natur
verwurzelte Streitlust ihrerseits beseitigt ist.655
In seiner geschichtsphilosophischen Schrift aus dem Jahre 1784 war noch zu lesen,
dass die Stiftung eines Völkerstaates der „letzte Schritt“656 auf dem Weg zum ewigen Frieden
darstellt. Wie bereits gesehen wurde, geht Kant allerdings in der Friedensschrift und
anschließend in der Rechtslehre einen weiteren Schritt: die Stiftung eines Weltbürgerrechts.
Darauf soll im Folgenden näher eingegangen werden.
2.3 Dritter Definitivartikel: Das Recht des Weltbürgers jenseits des eigenen Staates
Kants Weltbürgerrecht (ius cosmopoliticum) erwächst aus einer doppelten Tradition.
Gemeint sind einerseits die seit der griechisch-römischen Antike lebendige Tradition des
Kosmopolitismus sowie die neuzeitliche Tradition des allgemeinen völkerrechtlichen
Fremdenrechts andererseits.
Im Gegensatz oder als Ergänzung zum Patriotismus657 betont der Kosmopolitismus in
seinen verschiedenen Varianten, dass die ganze bewohnte Welt als Heimat, und dass alle
Menschen als Mitbürger, oder sogar als Brüder zu betrachten sind. Der kosmopolitische
Gedanke geht bis auf Diogenes von Sinope zurück, der sich erstmals als „Bürger der Welt“
(kosmou politês) definiert hat. Dieser Gedanke diente allerdings zunächst nur als moralisches
Prinzip für eine vernünftige Lebensführung. In den philosophischen Schulen der Kyniker und
der Stoiker wird der Gedanke des Kosmopolitismus jedoch allmählich weiter entwickelt und
vor allem um eine neue politische Dimension erweitert.658 Im Anschluss daran wird auch das
christliche Denken die Notwendigkeit des Zusammenhaltens aller Menschen und der
allgemeinen Menschenliebe betonen. Eine erhebliche Ausweitung und Fortentwicklung
erfährt der kosmopolitische Gedanke dann noch im Zeitalter der Aufklärung.
Das allgemeine völkerrechtliche Fremdenrecht, welches die Verhältnisse der Staaten
zu fremden Staatsbürgern (Reisende, Pilgern, Händlern, Flüchtlingen, usw.) regelt, hat
seinerseits eine jüngere Tradition, die teilweise bis im Mittelalter und in der Renaissance
reicht, jedoch vor allem zu Beginn der Neuzeit neue Impulse erfahren hat. Das allgemeine
Fremdenrecht wird unter anderem vom Schweizer Natur- und Völkerrechtler Emeric de Vattel
in seinem Hauptwerk Droit des gens, ou principes de la loi naturelle appliqués à la conduite
653
Vgl. RL: VI, 350
Vgl. RL: VI, 350
655
Vgl. Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3,
Würzburg 2012, S. 174.
656
Idee: VIII, 26
657
Zu Kants Verständnis des Patriotismus siehe: Kleingeld, Pauline: Kantian Patriotism, in: Philosophy & Public
Affairs 29-4, 2000, S. 313-341.
658
Eine eingehende Darstellung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Kant und seinen stoischen
Vorgängen bietet der folgende Aufsatz: Nussbaum, Martha C.: Kant und stoisches Weltbürgertum, in: Frieden
durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung, hrsg. v. Matthias Lutz-Bachmann
und James Bohman, Frankfurt a. M. 1996, S. 45-75.
654
- 114 -
et aux affaires des nations et des souverains systematisch bearbeitet und einem breiten
Publikum bekannt gemacht.659
In seinen verschiedenen Schriften übernimmt Kant also einen Grundgedanken der
philosophischen Diskussion seiner Zeit und verleiht ihm eine neue, erweiterte Bedeutung.660
Der Kosmopolitismus zieht sich nämlich durch Kants Gesamtwerk. Es ist sogar nicht
übertrieben zu behaupten, wie Otfried Höffe es tut, dass Kant eine „universale
kosmopolitische Philosophie“ entwickelt hat, die nicht nur auf Wissen und Moral beschränkt
bleibt, sondern auch die Bereiche der Erziehung, der Geschichtsphilosophie, der Teleologie,
der Ästhetik und nicht zuletzt der Rechtsphilosophie mit einbezieht.661 Ganz in diesem Sinne
schreibt auch Reinhard Brandt, dass Kant ein „dezidierter Weltphilosoph“ ist, dessen
„Bemühungen in der theoretischen und praktischen Philosophie […] der Etablierung einer
öffentlichen gemeinsamen Welt“662 gelten. Im Rahmen der vorliegenden Dissertation werden
wir uns allerdings lediglich auf Kants politischen Kosmopolitismus beschränken.
Kants politischer Kosmopolitismus tritt zunächst in seinen zwei kleineren geschichtsund rechtsphilosophischen Schriften Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher
Absicht und Über den Gemeinspruch zutage.663 Kant widmet sich aber dem Weltbürgerrecht
vornehmlich in der Friedensschrift und - mit wenigen Unterschieden - in der Rechtslehre. In
der Friedensschrift erscheint das Weltbürgerrecht sogar an prominenter Stelle, nämlich im
abschließenden dritten Definitivartikel. Dieser Artikel findet seine Entsprechung und
Ergänzung im abschließenden § 62 der Rechtslehre. Die abschließende Stellung des
Weltbürgerrechts darf allerdings nicht über die Bedeutung, welche Kant ihm beimisst,
täuschen. Es ist nicht ohne Belang festzuhalten, dass der dritte Definitivartikel nur etwa zwei
Drittel des Umfangs im Vergleich zum ersten oder zum zweiten Definitivartikel ausmacht.
Des Weiteren kann festgehalten werden, dass der § 62 bezüglich des Weltbürgerrechts in der
Rechtslehre nur etwa ein Sechstel des Umfangs im Vergleich zum zweiten Abschnitt
bezüglich des Völkerrechts ausmacht.
Dies ist vielleicht einer der Gründe, weshalb die Kant-Literatur sich lange
vornehmlich auf das Staats- und Völkerrecht konzentriert hat, während dem Weltbürgerrecht
weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Erst in jüngerer Vergangenheit hat sich die
Sekundärliteratur dem Weltbürgerrecht ausführlicher gewidmet.664 Ein weiterer möglicher
Grund für die lange Zeit andauernde geringere Beachtung des Weltbürgerrechts liegt ebenfalls
darin, dass es für viele Kommentatoren nicht ganz erkenntlich war, ob und inwiefern sich das
Weltbürgerrecht vom Völkerrecht unterscheidet. In den folgenden Seiten soll daher auf die
659
Vgl. Vattel, Emeric de: Droit des gens ou principes de la loi naturelle appliqués à la conduite et aux affaires
des nations et des souverains, Paris 1863 [1757], insbesondere Buch II, Kapitel VIII.
660
Vgl. Cavallar, Georg: Cosmopolis. Supranationales und kosmopolitisches Denken von Vitoria bis Smith, in:
Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53, 2005, S. 49-67.
661
Vgl. Höffe, Otfried: Kants universaler Kosmopolitismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55, 2007, S.
179-191.
662
Brandt, Reinhard: Vom Weltbürgerrecht, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. v. Otfried Höffe,
Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 133.
663
Vgl. Idee: VIII, 24ff.; Gemeinspruch: VIII, 289ff.
664
Hingewiesen sei vor allem auf die folgenden Aufsätze: Brandt, Reinhard: Vom Weltbürgerrecht, in:
Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 133-148; Höffe,
Otfried: Kants universaler Kosmopolitismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55, 2007, S. 179-191;
Kleingeld, Pauline: Kants politischer Kosmopolitismus, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 5, 1997, S. 333-348;
Müller, Jörg Paul: Das Weltbürgerrecht (§ 62) und Beschluss, in: Immanuel Kant. Metaphysische
Anfangsgründe der Rechtslehre, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1999, S. 257-279. Dagegen ist es überraschend,
wenn Geismann in seiner Monographie sich dem Weltbürgerrecht in nicht mehr als drei Seiten widmet. Vgl.
Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3, Würzburg
2012, S. 218-220.
- 115 -
Frage nach dem genauen Inhalt, der Adressaten und der Begründung des Weltbürgerrechts
näher eingegangen werden.
a) Das Weltbürgerrecht als eine eigenständige Form des öffentlich-rechtlichen Zustandes
Mit dem Weltbürgerrecht findet Kants Einteilung des öffentlichen Rechts ihren
systematischen Abschluss. Überall dort, wo moralische Personen (Menschen oder Staaten, das
gilt hier gleichviel) miteinander interagieren, also überall dort, wo die äußere Freiheitssphäre
einer jeden moralischen Person mit der äußeren Freiheitssphäre jeder anderen kollidieren
kann, bedarf es einer öffentlichen Gesetzgebung, um diese Verhältnisse zu regeln. Das
Staatsrecht betrifft somit die Verhältnisse der Menschen in einem Staat. Das Völkerrecht
betrifft wiederum das Verhältnis der Staaten untereinander. Als dritte und letzte denkbare
Rechtsform betrifft das Weltbürgerrecht das äußere Verhältnis der Staaten zu den Bürgern
anderer Staaten sowie das Verhältnis von Bürgern verschiedener Staaten. Das
Weltbürgerrecht garantiert also, dass kein Raum der Rechtlosigkeit bestehen bleibt. Der
systematische Stellenwert des Weltbürgerrechts im Rahmen der Kantischen Rechtstheorie
vom Weltfrieden ist allerdings nicht so eindeutig wie zunächst angenommen werden könnte.
Es bleibt nämlich noch zu hinterfragen, worin der genaue Unterschied zwischen dem
Völkerrecht und dem Weltbürgerrecht besteht.
Diese Frage drängt sich bereits deshalb auf, weil Kants Verwendungsweise der
Ausdrücke „Weltbürgerrecht“, „Weltbürger“ und „weltbürgerlich“ in Zum ewigen Frieden
und anschließend in der Rechtslehre sich von seiner früheren Verwendungsweise in der Idee
und im Gemeinspruch unterscheidet.
In der Idee führt Kant die Ausdrücke „Weltbürger“ und „weltbürgerlich“ nur an vier
Stellen aus. In der Einführung führt Kant aus, dass die Menschen (als endliche
Vernunftwesen) weder bloß wie instinktmäßige Tiere verfahren, noch wie „vernünftige
Weltbürger“665 handeln. Im Siebten Satz bezeichnet Kant den „weltbürgerlichen Zustand“666
als einen sich weltweit erstreckenden öffentlichen Rechtszustand, in welchem eine
übergeordnete, vereinigte Macht für die öffentliche Staatssicherheit zuständig ist. Im Achten
Satz definiert Kant wiederum den „allgemeine[n] weltbürgerliche[n] Zustand“ als die höchste
Absicht der Natur und „als der Schooß, worin alle ursprüngliche Anlagen der
Menschengattung entwickelt werden“.667 Mit dem Zusatz „allgemein“ betont Kant, dass der
weltbürgerliche Zustand ein allen Staaten der Welt einschließenden, und somit universellen
Rechtszustand ist. Im Neunten Satz versucht Kant letztlich zu zeigen, dass „ein
philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plan der Natur, der auf
die vollkommene Vereinigung in der Menschengattung abziele, zu bearbeiten, […] als
möglich und selbst für diese Naturabsicht beförderlich angesehen werden“668 muss. Kant führt
insbesondere aus, dass es zur „Idee einer Weltgeschichte“ gehöre, zu zeigen, „was Völker und
Regierungen in weltbürgerlicher Absicht geleistet oder geschadet haben“.669 Diesen
verschiedenen Textstellen ist zu entnehmen, dass Kant in der Idee den „weltbürgerlichen
Zustand“ noch als Gegenbegriff zum „Naturzustand“ versteht. Der weltbürgerliche Zustand
bezeichnet dort einen aller Staaten der Welt umfassenden und übergeordneten Völkerstaat.
Diese Auslegung wird von Kants Verwendungsweise des Ausdrucks „weltbürgerlich“
im Gemeinspruch bestätigt. Dort verwendet Kant den Ausdruck „weltbürgerliche Verfassung“
665
Idee: VIII, 17
Idee: VIII, 26
667
Idee: VIII, 28
668
Idee: VIII, 29
669
Idee: VIII, 31
666
- 116 -
in Analogie zu „staatsbürgerlicher Verfassung“.670 Kant zeigt, dass genauso wie die
Gewalttätigkeiten der Menschen gegeneinander und die daraus entspringende Not das Volk
letztlich dazu zwingen mußte eine staatsbürgerliche Verfassung zu stiften, so wird auch die
sich aus den beständigen Kriegen ergebende Not die Staaten dazu veranlassen, sich unter den
Zwang öffentlicher Gesetze zu begeben und in einem weltbürgerlichen Zustand einzutreten.
Im Unterschied zu dieser Verwendungsweise unterscheidet Kant in der Friedensschrift zum
ersten Mal ausdrücklich nicht nur zwei, sondern drei unterschiedliche Formen des öffentlichrechtlichen Zustandes. Dort führt er nämlich einen erweiterten Begriff des öffentlichen Rechts
ein, welcher neben dem Staatsrecht und dem Völkerrecht nun auch das Weltbürgerrecht
umfasst. Spätestens ab 1795 betrachtet Kant also das Weltbürgerrecht als einen
eigenständigen Zweig des öffentlichen Rechts, der sich weder unter das Staatsrecht noch unter
das Völkerrecht ganz subsumieren lässt.
Erklärungsbedürftig ist an dieser Stelle, ob und inwiefern das Weltbürgerrecht
tatsächlich ein eigenständiger Teil des öffentlichen Rechts darstellt, und gegebenenfalls
inwiefern es sich vom Völkerrecht unterscheidet. Kant gibt hierauf keine direkte und
eindeutige Antwort. Es liegt allerdings nahe, dass sich das Völker- und Weltbürgerrecht
hinsichtlich ihrer Adressaten unterscheiden.671 Es steht zunächst fest, dass das Völkerrecht das
Verhältnis der Staaten untereinander betrifft. Das Völkerrecht umfasst aber auch das
Verhältnis der Staaten zu den Staatsbürgern anderer Staaten. Wichtig ist allerdings dabei zu
sehen, dass die einzelnen Menschen nicht als direkte Völkerrechtssubjekte betrachtet werden.
Das Völkerrecht bezieht sich unmittelbar auf die Staaten und nur mittelbar auf die Menschen.
Diese werden nicht in ihrer Qualität als Menschen, sondern lediglich in ihrer Qualität als
Staatsbürger betrachtet. Im Unterschied dazu bezieht sich das Weltbürgerrecht unmittelbar auf
die Staaten und auf die Menschen als solche, das heißt auf alle Menschen unabhängig von
ihrer jeweiligen Staatsbürgerschaft. In der Friedensschrift schreibt Kant ausdrücklich und
unmissverständlich, dass das Weltbürgerrecht ein Recht ist, welches „allen Menschen
zusteht“.672 Ferner heißt es, dass das Weltbürgerrecht sich unmittelbar auf die „Menschen und
Staaten, in äußerem auf einander einfließenden Verhältniß stehend, als Bürger eines
allgemeinen Menschenstaats“673 bezieht. Kants Ausführungen in der Rechtslehre weichen nur
in sehr geringem Maße davon ab. Dort bezeichnet er das „Volk“ und der „Erdbürger“ als die
Subjekte des Weltbürgerrechts.674
Nachdem die Adressaten des Weltbürgerrechts bestimmt wurden, soll nun auf die
Frage nach der Begründung und dem Inhalt des Weltbürgerrechts eingegangen werden.
b) Das Weltbürgerrecht als ein jedem Mensch kraft seiner Menschheit zustehendes
allgemeines Besuchsrecht
Die weltbürgerrechtlichen Überlegungen Kants nehmen ihren Ausgangspunkt in der
Idee einer ursprünglichen, aller Menschen einschließenden Gemeinschaft des physischen
(mitnichten rechtlichen) Besitzes der Erdoberfläche.675 Die räumliche Begrenztheit der Erde
führt dazu, dass die Menschen „sich nicht ins Unendliche zerstreuen können“676, sondern
notwendigerweise miteinander in Kontakt kommen und sich also wechselseitig erdulden
670
Vgl. Gemeinspruch: VIII, 310
Dies wird von Pauline Kleingeld mit aller wünschenswerten Deutlichkeit hervorgehoben. Vgl. Ders.: Kants
politischer Kosmopolitismus, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 5, 1997, S. 338f.
672
Frieden: VIII, 358
673
Frieden: VIII, 349 (meine Hervorhebung)
674
Vgl. RL: VI, 352f.
675
Vgl. Frieden: VIII, 358; Vgl. ebenfalls RL: VI, 352, 252, 258
676
Frieden: VIII, 358
671
- 117 -
müssen. Aus dieser Idee der ursprünglichen Gemeinschaft des physischen Besitzes lassen sich
zwei Rechte ableiten, welche jedem Menschen derselben Welt zustehen.
Erstens kommt jedem Mensch (und somit jedem Volk) als Glied dieser einen
ursprünglichen Gemeinschaft ein ursprüngliches Recht zu, sich auf irgendeinen Teil der
Erdoberfläche niederzulassen und damit irgendeinen Teil von ihr zu besitzen. In der
Friedensschrift führt Kant aus, dass „ursprünglich […] niemand an einem Orte der Erde zu
sein mehr Recht hat, als der Andere“.677
Zweitens hat jeder Mensch (und somit jedes Volk) ein Recht darauf, die ganze
Erdoberfläche zwecks eines möglichen Verkehrs mit allen anderen Menschen und Völkern zu
benutzen, ohne daran durch den eigenen Staat gehindert werden zu können, sowie ohne durch
fremde Staaten feindselig behandelt zu werden. In der Rechtslehre führt Kant dazu aus, dass
alle Völker ursprünglich in „einer Gemeinschaft […] der physischen möglichen
Wechselwirkung (commercium)“ stehen, „d.i. in einem durchgängigen Verhältnisse, eines zu
allen Anderen, sich zum Verkehr untereinander anzubieten, und haben ein Recht, den Versuch
mit demselben zu machen, ohne daß der Auswärtige ihm darum als einem Feind zu begegnen
berechtigt wäre“.678 Die Menschen haben das Recht ihren eigenen Staat zu verlassen und den
Kontakt mit Menschen anderer Staaten zu suchen. Darauf soll nun näher eingegangen werden.
Im dritten Definitivartikel zum ewigen Frieden stellt Kant die folgende Forderung auf:
„Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt
sein“.679 Die Frage, die sich hier stellt, ist jene, was genau darunter zu verstehen ist. In der
Friedensschrift schreibt Kant, dass es im dritten Definitivartikel, wie bereits in den vorigen
Definitivartikeln, nicht von Philanthropie, sondern allein vom Recht die Rede ist.680
Anschließend definiert Kant dieses Recht in einem zunächst negativen, dann aber auch
positiven Sinne.
In einem ersten Schritt bestimmt Kant, was das Weltbürgerrecht nicht ist.
Diesbezüglich führt er zunächst aus, dass es weder ein „Gastrecht“681 noch ein „Recht der
Ansiedelung auf dem Boden eines anderen Volks (ius incolatus)“682 ist. Es ist auch kein Recht
der „Anwohnung (accolatus) und Besitznehmung in der Nachbarschaft eines Volks, das in
einem solchen Landstriche schon Platz genommen hat“.683 Kant verteidigt das territoriale
Besitzrecht der nomadischen Völker (Kant spricht seinerseits von „Hirten- oder
Jagdvölkern“), deren Unterhalt von großen, durch keine Einzäunung und Abmarkung
geteilten Landstrecken abhängt. Das Weltbürgerrecht enthält somit ein unbedingtes Verbot
jeglicher Form von Imperialismus und Kolonialismus.684 In der Friedensschrift wendet sich
Kant entschieden gegen „das inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich
handeltreibenden Staaten unseres Welttheils“685 gegenüber den Kolonialgebieten, deren
Einwohner die Europäer „für nichts“ hielten. In der Rechtslehre fügt Kant hinzu, dass die
vermeintlich guten Absichten der kolonialen Mächte die Rechtswidrigkeit ihrer Handlungen
nicht zu rechtfertigen vermögen.686
677
Frieden: VIII, 358; RL: VI, 262, 352
RL: VI, 352
679
Frieden: VIII, 357
680
Vgl. Frieden: VIII, 357; RL: VI, 352
681
Frieden: VIII, 358
682
RL: VI, 353
683
RL: VI, 353
684
Zu Kants Kolonialismuskritik siehe u.a.: Cavallar, Georg: Pax Kantiana. Systematisch-historische
Untersuchung des Entwurfs »Zum ewigen Frieden« (1795) von Immanuel Kant, Wien/Köln/Weimar, 1992, S.
227ff.; Väyrynen, Kari: Weltbürgerrecht und Kolonialismuskritik bei Kant, in: Kant und die Berliner
Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, hrsg. v. Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann
und Ralph Schumacher, 2001, S. 302-309.
685
Frieden: VIII, 358
686
Vgl. RL: VI, 353
678
- 118 -
Es wurde bisher gesehen, dass aus der ursprünglichen Gemeinschaft des physischen
Besitzes der Erde kein Recht sich auf dem Boden eines anderen Volks ohne seine
Zustimmung anzusiedeln oder zu begeben folgt. Hierfür wäre „ein besonderer wohlthätiger
Vertrag“687 erforderlich. Damit ist nicht nur die Gewaltanwendung ausgeschlossen, sondern
Kant weist in der Rechtslehre ausdrücklich darauf hin, dass der unterschriebene Vertrag das
Ergebnis einer echten Willensübereinkunft sein soll. Dies bedeutet, dass die beiden
Vertragspartner den Vertrag wissentlich und willentlich unterschrieben haben müssen. Ein
Vertragspartner darf sich nicht etwa die „Unwissenheit“ der einheimischen Bevölkerung
zunutze machen.
In einem positiven Sinne bedeutet das allgemeine Recht auf Hospitalität (Wirtbarkeit)
ein allseitiges „Besuchsrecht“.688 Es handelt sich dabei um das „Recht eines Fremdlings,
seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen von diesem nicht feindselig behandelt zu
werden“.689 Dies bedeutet mit anderen Worten, dass jedem Mensch das Recht zukommt, sich
an irgendeinem Ort der Erde als Besucher zu begeben, den Kontakt mit Menschen anderer
Staaten zu suchen ohne gleich von diesem Staat feindselig behandelt zu werden. Dieses jedem
Mensch zukommende Recht den Zugang zu Menschen anderer Staaten zu suchen, hat
allerdings mitnichten zu bedeuten, dass es für die Staaten eine allgemeine Pflicht besteht, den
Eingang in das eigene Territorium zu gestatten. Die Textlage ist hier eindeutig: In der
Friedensschrift schreibt Kant lediglich, dass die Menschen das Recht haben „sich zur
Gesellschaft anzubieten“.690 Des Weiteren heißt es, dass die Menschen das Recht haben
„einen Verkehr mit den alten Einwohnern zu versuchen“.691 In der Rechtslehre schreibt Kant
wiederum, dass die Menschen das Recht haben „sich zum Verkehr untereinander
anzubieten“.692 Ferner im Text schreibt Kant, dass die Menschen das Recht haben „die
Gemeinschaft mit allen zu versuchen“.693 Dies hat zu bedeuten, dass ein Staat sehr wohl
berechtigt ist, den Eingang eines fremden Menschen auf seinem Territorium zu verweigern.694
Insofern ist es folgerichtig, dass Kant die Politik Chinas und Japans unterstützt, die den
Kontakt mit den Europäern streng begrenzt haben. Kurzum: Die Staaten und die einzelnen
Menschen haben das Recht, den Kontakt mit anderen Staaten und ihrer Bewohner zu suchen.
Sie haben jedoch kein Recht in das Territorium eines anderen Staates ohne dessen Erlaubnis
einzutreten. Jeder Staat ist somit berechtigt über das gewünschte Ausmaß seiner Interaktionen
mit anderen Staaten zu entscheiden. Es kann somit Otfried Höffe zugestimmt werden, wenn er
schreibt: „Alle Menschen haben ein bescheidenes Recht auf eine umfassende
Kooperationsgemeinschaft […] ohne andererseits auf persönliche und kollektive Eigenarten
verzichten zu müssen. Schon bei Kant verbindet sich also ein Recht auf universale
Kooperation mit einem Recht auf Differenz“.695
Aufgrund seiner Einschränkung auf die Bedingungen der allgemeinen Hospitalität
scheint das Weltbürgerrecht zunächst zu wenig ambitioniert zu sein. Kant fügt allerdings
diesem allgemeinen Recht auf Hospitalität eine weitere Bedingung hinzu, die weitreichende
687
Frieden: VIII, 358
Vgl. Frieden: VIII, 358; RL: VI, 353
689
Frieden: VIII, 358
690
Frieden: VIII, 358 (meine Hervorhebung)
691
Frieden: VIII, 358 (meine Hervorhebung)
692
RL: VI, 352 (meine Hervorhebung)
693
RL: VI, 353 (meine Hervorhebung)
694
Es wird somit etwa Jörg Paul Müller nicht zugestimmt, wenn er ohne weitere Präzisierungen von einem
„Besuchsrecht mit entsprechender Hospitalitätspflicht“ seitens des Staates spricht. Vgl. Ders.: Das
Weltbürgerrecht (§ 62) und Beschluss, in: Immanuel Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, hrsg.
v. Otfried Höffe, Berlin 1999, S. 266.
695
Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt a. M.
2001, S. 170.
688
- 119 -
Folgen hat. Er schreibt nämlich, dass der besuchte Staat fremde Menschen nicht von seinem
Territorium verweisen darf, wenn dies ihren „Untergang“696 zur Folge habe. Kant spricht von
„Untergang“ ohne zu spezifizieren, ob dieser Untergang aufgrund gezielter staatlicher
Maßnahmen erfolgen soll oder nicht. Nichts spricht somit dagegen den Begriff des
„Untergangs“ in einem weiten Sinne zu verstehen, als alle Situationen, in welchen der
Besucher aus welchem Grund auch immer (politische Verfolgung, Hungersnot,
Naturkatastrophe, usw.) in seinem Land den Tod oder irgendeine Aufhebung seiner
moralischen Persönlichkeit riskiert. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Staaten die
Pflicht haben, den Eingang in ihr Territorium für fremde, lebensgefährdete Menschen zu
ermöglichen. Mit anderen Worten hat es zu bedeuten, dass schutzsuchende Menschen ein
Recht haben, von den anderen Staaten in Schutz genommen zu werden. Bei drohender
Lebensgefahr sowie bei Gefahr unmenschlicher oder entwürdigender Behandlungen sind die
Staaten auch rechtlich verpflichtet diesen Schutz tatsächlich zu garantieren. Jeder Staat soll
gewährleisten, dass kein Mensch an seiner Grenze abgewiesen wird oder der Eingang in das
Territorium verwiesen wird, wenn mit guten Gründen angenommen werden kann, dass er in
seinem Heimatstaat getötet oder gefoltert wird. Kein Mensch darf von einem fremden Staat
gezwungen werden, in ein Staatsgebiet zurückzukehren oder dort zu verbleiben, wenn er vom
„Untergang“ bedroht ist.
Das allgemeine Besuchsrecht ist somit als „Minimalgarantie für Fremde“697 zu
verstehen. Diese Minimalgarantie wird jedem Mensch unabhängig von seiner
Staatsbürgerschaft gegen die Regierung eines anderen Staates zugestanden. Abschließend zu
diesem Teil ist es nicht unwesentlich darauf hinzuweisen, dass die soeben definierte
Weltbürgerschaft keine eigene, den einzelnen Staatsbürgerschaften konkurrierende
Bürgerschaft ist. Die Weltbürgerschaft ergänzt die Staatsbürgerschaft, ohne diese zu ersetzen.
Otfried Höffe schreibt zu Recht, dass Kant „keinen exklusiven, sondern einen
komplementären Kosmopolitismus“698 vertritt.
c) Das allgemeine Besuchsrecht als Wegbereiter einer friedlichen durchgängigen
Gemeinschaft aller Völker auf Erde
Wer den dritten Definitivartikel der Friedensschrift flüchtig liest, kann leicht den
Eindruck gewinnen, dass das Weltbürgerrecht zu bescheiden ist. Dabei wird allerdings
übersehen, dass das Verbot, in einem anderen Staat als Feind behandelt zu werden Kants
Hoffnung auf die Schaffung einer „friedlichen, wenn gleich noch nicht freundschaftlichen,
durchgängigen Gemeinschaft aller Völker auf Erden“699 berechtigt. Darauf soll in den
folgenden Ausführungen näher eingegangen werden.
Es wurde bisher gesehen, dass das Weltbürgerrecht das Recht aller Menschen ist, nach
bestimmten, allgemeinen Gesetzen in Beziehung zueinander zu treten und im Falle der Gefahr
des eigenen Untergangs den Schutz der anderen Staaten zu bekommen. An dieser Stelle sei
erneut daran erinnert, dass es hier ausschließlich um Prinzipien des Rechts, und keinesfalls
um jene der Ethik bzw. der Philanthropie geht.700 Mit dem Recht hängt jedoch die Befugnis
zu zwingen unmittelbar zusammen. Die Frage, die sich vor diesem Hintergrund aufdrängt, ist
jene, wie und von wem dieser Zwang ausgeübt werden soll. Problematisch ist, dass Kants
696
Frieden: VIII, 358
Müller, Jörg Paul: Das Weltbürgerrecht (§ 62) und Beschluss, in: Immanuel Kant. Metaphysische
Anfangsgründe der Rechtslehre, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1999, S. 267.
698
Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt a. M.
2001, S. 168.
699
RL: VI, 352
700
Vgl. Frieden: VIII, 357; RL: VI, 352
697
- 120 -
direkte Ausführungen zum Problem der institutionellen Gestaltung und Sicherung des
Weltbürgerrechts in Zum ewigen Frieden wie in der Rechtslehre äußerst sparsam sind.
Diesbezüglich bemerkt Georg Geismann zu Recht, dass das Weltbürgerrecht ein bloß „in der
Idee“ öffentliches Recht bleiben würde, solange es keine öffentliche Gesetzgebung gibt,
welche das Verhältnis der Menschen als Weltbürger bestimmt.701
Das öffentliche Recht bezeichnet den Inbegriff der Gesetze, die einer öffentlichen
Bestimmung bedürfen, und deren Erhaltung durch eine öffentliche Zwangsgewalt gesichert
ist. Dies gilt nicht nur für das Staats- und Völkerrecht, sondern ebenfalls für das
Weltbürgerrecht. Anstelle vom „ungeschriebenen Codex“702 (subjektives Weltbürgerrecht)
muss somit ein öffentlicher, notwendig aller Menschen der Welt (vermittelt durch ihre
Repräsentanten) einschließender Vertrag treten, durch welchen das Recht aller Völker und
Menschen in Verhältnis zueinander öffentlich bestimmt wird (objektives Weltbürgerrecht).703
Durch den eben erwähnten Vertrag wird ein allgemeiner weltbürgerlicher Wille gebildet und
bekannt gegeben. Das Weltbürgerrecht soll nach Maßgabe dieses weltbürgerlichen Willens
bestimmt und durch eine oberste Zwangsgewalt gesichert werden. Solange es keine
übergeordnete Rechtsinstanz gibt, um die Einhaltung des Weltbürgerrechts zu garantieren,
wird das Weltbürgerrecht ein bloß provisorisches Recht, das heißt ein zwar gültiges, jedoch
im Streitfall unwirksames Recht bleiben.
Unabhängig von der Frage nach der genauen institutionellen Gestaltung und
Verfestigung des Weltbürgerrechts, sieht Kant die ersten, friedensförderlichen Ansätze zu
einer Weltöffentlichkeit in dem zunehmenden wirtschaftlichen Austausch zwischen den
Völkern. Insbesondere in der Friedensschrift betont Kant nachdrücklich die
vergemeinschaftende Kraft des Handelsgeists. Kant geht dabei davon aus, dass „unter allen
der Staatsmacht untergeordneten Mächten (Mitteln) die Geldmacht wohl die
zuverlässigste“704 ist. Im Fortgang stellt er die folgende These auf: „Es ist der Handelsgeist,
der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes
Volks bemächtigt“.705 Es ist also für Kant der „wechselseitige[] Eigennutz“706, welcher die
Hoffnung auf einen Fortschritt zu einem weltbürgerlichen Zustand berechtigt. Es ist, um es
anders zu formulieren, das gemeinsame Interesse an Handel und Wohlfahrt einerseits sowie
die wirtschaftlichen Schäden des Krieges andererseits, die uns hoffen lassen, dass die
Menschen immer weniger bereit sein werden Kriege zu führen. Selbst wenn Kant sich in der
Friedensschrift vornehmlich auf die völkerverbindende Kraft der grenzüberschreitenden
Handelsbeziehungen konzentriert, spricht nichts dagegen, davon auszugehen, dass durch das
allgemeine Besuchsrecht jeglicher möglicher politischer, wissenschaftlicher, sozialer und
kultureller Austausch zwischen den Völkern befördert wird.
Kant weiß sehr wohl, dass die Menschen und Völker aufeinander angewiesen sind.
Die Zunahme der grenzüberschreitenden Austausche jeglicher Art soll dazu beitragen, dass
trotz der Verschiedenheit der Sprachen und Religionen707 sich allmählich ein Gefühl der
wechselseitigen Abhängigkeit und der sich daraus ergebenden Solidarität zwischen den
Menschen und Völkern entwickelt. Kant hat die zunehmende Interdependenz, die sich aus
dem unbehinderten Verkehr von Menschen, Waren und Informationen ergibt, vorhergesehen.
701
Vgl. Geismann, Georg: Kants Rechtslehre vom Weltfrieden, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 37,
1983, S. 385.
702
Frieden: VIII, 360
703
Vgl. Frieden: VIII, 383; Die angegebene Textstelle bezieht sich auf das Völkerrecht. Ferner schreibt aber
Kant, dass aufgrund der Analogie von Völkerrecht und Weltbürgerrecht jene Maxime, die für das Völkerrecht
gilt, ebenfalls für das Weltbürgerrecht gilt (Vgl. Frieden: VIII, 384).
704
Frieden: VIII, 368
705
Frieden: VIII, 368
706
Frieden: VIII, 368
707
Vgl. Religion: VI, 123
- 121 -
In der Idee spricht Kant in Bezug auf Europa von einem „sehr verketteten Welttheil“.708 In der
Friedensschrift betont Kant, dass die Kommunikationsmittel seiner Zeit, wie etwa das Schiff
oder das Kamel, es den Menschen ermöglichen sich Menschen anderer Kontinente zu nähern
und mit ihnen in Verkehr zu kommen. Kants zufolge müssen die zunehmenden Beziehungen
der Völker untereinander dazu führen, dass „Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an
allen gefühlt wird“709 bzw. dass „Übel und Gewaltthätigkeit an einem Orte unseres Globs an
allen gefühlt wird“.710 Kant ist sich allerdings dessen bewusst, dass diesem gewünschten,
wachsenden Bewusstsein der wechselseitigen Angewiesenheit dem „Charakter des Volks“
entgegensteht, für den die „Verachtung aller Auswärtigen ein trotziges Betragen gegen jeden
anderen [ist], aus vermeinter Selbständigkeit, wo man keines anderen zu bedürfen, also auch
der Gefälligkeit gegen andere sich überheben zu können glaubt“.711
Aus dem allen Menschen zustehenden allgemeinen Besuchsrecht erhofft sich Kant
eine allmähliche Entwicklung der Verhältnisse der Staaten untereinander. In der
Friedensschrift spricht Kant die Hoffnung aus, dass die zwischenmenschlichen Verhältnisse,
die durch dieses Recht geschaffen werden, letztlich dazu führen, dass sogar „entfernte
Welttheile mit einander friedlich in Verhältnisse kommen, die zuletzt öffentlich gesetzlich
werden“.712 Kant hofft also, dass die zunehmenden Verhältnisse zwischen den Bürgern
verschiedener Staaten auch zu rechtmäßigeren Verhältnisse zwischen den einzelnen Staaten
führen werden. Wichtig ist dabei zu sehen, dass Kant die Aufgabe der Friedensstiftung in die
Hände der einzelnen Menschen legt. Nicht nur der moralische Politiker, sondern auch die
einzelnen Menschen sind für die Friedensstiftung zuständig. Der Fortschritt zum Besseren
kann nicht nur von Oben herab (top-down approach), sondern ebenfalls von Unten hinauf
(bottom-up approach) geschehen. Der Beitrag der einzelnen Menschen als Weltbürger zum
Weltfrieden wird von Kant nicht näher thematisiert. Er besteht zumindest darin, dass sie ihren
Geschäften mit Menschen anderer Staaten nachgehen, und dabei auf Gewalt verzichten.
Durch die Ausbreitung der Handelsbeziehungen zwischen den Menschen und Völkern erhofft
sich Kant eine korrespondierende Zivilisierung der Verhältnisse der Staaten zueinander.
Es zeigt sich, dass das Weltbürgerrecht der Ausdruck des einen menschlichen
angeborenen Rechts auf den rechtsgesetzlichen Gebrauch seiner äußeren Freiheit ist, welches
jedem Menschen kraft seiner Menschheit zukommt. Es bestätigt eine grundlegende Einheit
des menschlichen Geschlechts jenseits seiner Fragmentierung in einer Vielfalt staatlich
verfasster Gemeinschaften. Das Weltbürgerrecht ist dasjenige Recht, das die Menschen über
ihre trennenden ethnischen, religiösen oder sprachlichen Unterschiede hinweg als Menschen
der einen Welt verbindet. Ohne Unterschied der ethnischen Herkunft, der Religion und der
Sprache können die Weltbürger gleichberechtigt als Menschen friedlich in Kontakt
zueinander kommen.
2.4 Über das Verhältnis der Definitivartikel zueinander
Abschließend zu diesem zweiten Kapitel soll noch kurz auf die Frage eingegangen
werden, in welchem systematischen Zusammenhang die drei Definitivartikel und die darin
enthaltenen vernunftrechtlichen Gebote zueinander stehen. Die hier u. a. im Anschluss an
Reinhard Brandt aufgeworfene Frage ist jene nach ihrer „zeitlichen Strukturierung“.713 Mit
708
Idee: VIII, 28
Frieden: VIII, 360
710
RL: VI, 353
711
Anthropologie: VII, 331
712
Frieden: VIII, 358
713
Brandt, Reinhard: Vernunftrecht und Zeit bei Kant, in: Recht zwischen Natur und Geschichte. Le droit entre
nature et histoire. Deutsch-französisches Symposion, hrsg. v. Jean-François Kervégan und Heinz Mohnhaupt,
Frankfurt 1997, S. 62.
709
- 122 -
anderen Worten: In welcher Reihenfolge sollen die einzelnen Rechtsschritte auf dem Weg
zum ewigen Frieden begangen werden?
Dass Kant sich hinreichend bewusst war, dass es einen engen Zusammenhang
zwischen Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht gibt, ist unzweifelhaft. Kant war sich bewusst,
dass die Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen der Republikanisierung in den
einzelnen Staaten förderlich ist, und dass umgekehrt die Republikanisierung der einzelnen
Staaten dem allgemeinen Frieden näher macht. Umgekehrt war er sich bewusst, dass die
Bereitschaft und Fähigkeit der Staaten sich allmählich zu republikanisieren von der
Verrechtlichung und dem damit verbundenen Maß an Sicherheit der internationalen
Beziehungen abhängig war. In der Friedensschrift ist zum Beispiel folgendes zu lesen: „Was
aber das äußere Staatenverhältniß betrifft, so kann von einem Staat nicht verlangt werden, daß
er seine, obgleich despotische, Verfassung […] ablegen solle, so lange er Gefahr läuft, von
andern Staaten sofort verschlungen zu werden; mithin muß bei jenem Vorsatz doch auch die
Verzögerung der Ausführung bis zu besserer Zeitgelegenheit erlaubt sein“.714 Die Frage, die
sich im Anschluss daran stellt, ist, ob dem Staatsrecht, dem Völkerrecht oder dem
Weltbürgerrecht den Vorrang gebührt?
Reinhard Brandt fasst seine These folgendermaßen zusammen: „Vor 1795 nimmt Kant
die Präzedenz eines Völkerbundes vor der rechtlichen Ordnung der Staaten an; 1795 lautet
dagegen die Reihenfolge: Erst die Republik, dann der – modifizierte – Völkerbund“.715 In
seinen Schriften aus den Jahren 1784 und 1793 scheint Kant tatsächlich die Meinung zu
vertreten, dass die innere Verfassung der einzelnen Staaten weitgehend von der Gestaltung
ihrer äußeren Verhältnisse abhängig ist. Die Errichtung einer republikanischen Verfassung in
den einzelnen Staaten würde von der vorhergehenden Stiftung eines Völkerbundes als
Weltrepublik abhängen. Ohne die Stiftung eines Völkerbundes, welcher dem Naturzustand
der Staaten untereinander ein Ende setzt, wäre eine Republikanisierung der einzelnen Staaten
kaum zu hoffen.716 Aufschlussreich ist im hier diskutierten Zusammenhang unter anderem die
folgende Reflexion: „Durch den allgemeinen Frieden allein […] kan auch das innere der
bürgerlichen Verfassung allein ihre Vollkommenheit gewinnen“.717 Erst die Schaffung eines
übergeordneten Völkerbundes würde die Republikanisierung der einzelnen Staaten sowie die
Verwirklichung des Weltbürgerrechts ermöglichen.
In der Friedensschrift sowie in seinen anschließenden Schriften scheint Kant jedoch
diese Reihenfolge zu verkehren: Erst die Republik, dann der Völkerbund heißt es alsdann. Am
Anfang des Rechtswegs zum ewigen Frieden steht nicht länger der Völkerbund, welcher dann
zu einem Völkerstaat als Weltrepublik wird, sondern vielmehr die Umwandlung einzelner
Staaten in Republiken. Als erste von drei positiven Rechtsbedingungen der Möglichkeit des
ewigen Friedens unter Staaten nennt Kant im ersten Definitivartikel: „Die bürgerliche
Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“.718 Erst an der zweiten Stelle stellt Kant
die Forderung auf, wonach „[d]as Völkerrecht […] auf einen Föderalismus freier Staaten
gegründet sein“719 soll. Auch wenn im äußeren Verhältnis der Staaten zueinander noch der
Naturzustand herrscht, kann innerhalb der einzelnen Staaten bereits eine republikanische
Verfassung gestiftet werden. Es darf angenommen werden, dass für Kant die republikanischen
Staaten aufgrund ihres friedlichen Charakters sich leichter aufeinander verlassen können, um
zunächst einen lockeren Völkerbund, dann aber einen Völkerstaat zu stiften. Die Frage, ob der
714
Frieden: VIII, 373
Brandt, Reinhard: Vernunftrecht und Zeit bei Kant, in: Recht zwischen Natur und Geschichte. Le droit entre
nature et histoire. Deutsch-französisches Symposion, hrsg. v. Jean-François Kervégan und Heinz Mohnhaupt,
Frankfurt 1997, S. 62.
716
Vgl. Idee: VIII, 24; Streit: VII, 93
717
Reflexion 1468: XV, 648
718
Frieden: VIII, 349
719
Frieden: VIII, 354
715
- 123 -
Völkerbund sowie der Völkerstaat auch für despotische Staaten offen stehen sollen, wurde
bereits ausführlich beantwortet. Es hat sich dabei gezeigt, dass der zweite Definitivartikel gar
nicht fordert, dass die Staaten „Republiken“ im Sinne des ersten Definitivartikels sein sollen.
Wichtig ist an dieser Stelle zu bemerken, dass das Völkerrecht im Hinblick auf die
Verwirklichung des Friedens zeitlich nicht mehr an erster, sondern an zweiter Stelle steht. In
der Friedensschrift ist die anratende Verlaufszeit die folgende: Zuerst die Gründung von
Republiken, dann die Schaffung eines Völkerbündes, und endlich die Stiftung eines
Völkerstaates als Weltrepublik und dadurch die Verwirklichung des Weltbürgerrechts. Wie
im späteren Streit der Fakultäten zu entnehmen ist, gab die Französische Revolution Kant die
Hoffnung, dass alle Völker bei der ersten Gelegenheit versuchen würden, ihrem Staat eine
republikanische Verfassung zu geben. Diese Hoffnung erklärt auch, warum es für Kant so
wichtig ist, dass ein Volk von anderen Mächten nicht gehindert werden darf, sich eine
bürgerliche Verfassung zu geben, wie sie ihm selbst gut zu sein dünkt.720
An dieser Stelle ist es unbedingt erforderlich sich zu vergegenwärtigen, dass die in den
Definitivartikeln enthaltenen Forderungen unbedingten Gebote der praktischen Vernunft sind.
Als solche haben sie denselben Geltungsmodus.721 Dies bedeutet, dass alle drei
Definitivartikel in gleicher Weise gelten. Die Forderungen der Definitivartikel sind als drei
argumentativ, nicht zeitlich aufeinander folgende Rechtschritte auf dem Weg zum ewigen
Frieden zu verstehen. Einleitend zu diesem zweiten Kapitel wurde bereits gesehen, dass alle
drei Rechtsschritte sich zur Vollständigkeit des öffentlichen Rechts ergänzen. Erst in der
Einheit des öffentlichen Rechts, das heißt in der Einheit von Staats-, Völker- und
Weltbürgerrecht, ist ein wirklich universeller Frieden möglich.722 Im Umkehrschluss hat dies
zu bedeuten, dass der Frieden nicht durch die Verwirklichung der einen oder anderen
Definitivartikel allein erreicht werden kann. Es kann also vernunftrechtlich auch keine
Priorität zwischen ihnen geben. Nur mit Blick auf die zufälligen empirischen Umstände ihrer
Verwirklichung, kann sich der Politiker aus pragmatischen Gründen dafür entscheiden (wenn
alle Gebote nicht gleichzeitig und vollumfänglich umgesetzt werden können), zunächst an der
Verwirklichung der einen oder der anderen Forderung zu arbeiten.
720
Vgl. Streit: VII, 85
Ganz abwegig ist deshalb Wolfgang Röds Ansicht, wonach die „völkerrechtliche[n] Normen […] schwächer
als die Normen der staatlichen Rechtsordnung [sind]. Noch weniger bindend als die Normen des Völkerrechts
sind die Normen des Weltbürgerrechts“ (Ders. (Hrsg.): Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Neuzeit,
Band 3, München 2006, S. 128).
722
Vgl. RL: VI, 311
721
- 124 -
3. KAPITEL: DER
WELTFRIEDEN
POLITISCHE
REALITÄTSSINN
DER
KANTISCHEN RECHTSTHEORIE
VOM
Im vorhergehenden Kapitel wurde gezeigt, dass Kants Friedenstheorie ein ganz
besonderer Stellenwert unter den vielfältigen Friedensplänen zukommt, die seit der
Renaissance entworfen wurden.723 Sie bietet als erste den Nachweis (und nicht etwa die bloße
Annahme) darüber, dass eine friedensfähige Weltordnung lediglich durch die Stiftung von
Rechtsverhältnissen zwischen allen moralischen Personen denkbar ist. Wichtig ist dabei zu
sehen, dass jeder einzelner Schritt auf dem Weg zum ewigen Frieden vernunftrechtlich (und
nicht etwa pragmatisch oder anthropologisch) begründet ist. Bereits hierhin liegt ein
wesentlicher Aspekt des politischen Realitätssinns der Kantischen Friedenstheorie. Allein die
vernunftrechtliche Begründung formaler Rechtsprinzipien, also das Absehen von jeglichen
geographisch, historisch und damit auch kulturell abhängigen Argumente, ermöglicht es
heterogene Staaten hinsichtlich ihres Zusammenlebens auf gemeinsame Prinzipien zu
verpflichten.
Es wurde ebenfalls gesehen, dass die Einhaltung der Rechtspflichten die notwendige
Bedingung der Möglichkeit des ewigen Friedens ist, weil nur auf diesem Weg die äußere
Freiheit von jedermann in Bezug auf alle anderen a priori gesichert werden kann. Dieser
letzte Punkt erklärt, dass seit der Veröffentlichung der Friedensschrift im Jahre 1795 und bis
zum heutigen Zeitpunkt sich Kant der anhaltenden Kritik ausgesetzt sieht, ein politischer
Utopist zu sein. Es wird Kant immer wieder vorgeworfen, dass seine Friedenstheorie bloße
Schwärmerei sei, weil die Schaffung eines Zustandes des Weltfriedens, so wird behauptet,
letztlich davon abhängen würde, dass die Menschen einen sittlichen Gebrauch ihres freien
Willens machen.724 Den Kritikern zufolge wäre dies jedoch empirisch nicht zu erwarten. Es
wird also immer wieder behauptet, dass Kants Friedenstheorie, wie auch etwa schon jene des
Abbé de Saint-Pierre, in dieser Welt und unter diesen Menschen nicht realisierbar sei.
Die Frage, die es vor diesem Hintergrund zu beantworten gilt, besteht darin, ob der
Vorwurf utopischen Denkens auf Kants Friedenstheorie zutrifft. Der Begriff der Utopie ist
dem Griechischen (Οὐτοπεία) entlehnt und bedeutet so viel wie Nirgendheim bzw.
Nirgendwo. In ihrer ursprünglichen Bedeutung bezeichnet also eine Utopie einen Ort, welcher
nirgendwo vorhanden ist. Der Begriff der Utopie selbst stammt bekanntlich von dem um 1516
veröffentlichten Werk De optimo statu rei publicae deque nova insula Utopia des englischen
Humanisten Thomas Morus. Seine Beschreibung einer erdichteten Insel und der dort
anzutreffenden idealen Gesellschaft, wo alle Genüsse des Lebens ohne Arbeit und
Anstrengung genossen werden, gab den Anstoß zum literarischen Genre der Sozialutopie. Im
Anschluss an dieses Werk hat man jedes Werk, in dem eine erfundene, ideale Gesellschaft
dargestellt wird, als Utopie bezeichnet. Weitere bedeutende Utopien waren etwa Campanellas
Sonnenstaat (1623), Bacons Neu-Atlantis (1626) oder Fénelons Aventures de Télémaque
(1700). Darauf anspielend, bezeichnet man spöttisch auch als „utopisch“, politische und
soziale Entwürfe, die nicht die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Realisierung angeben und
deshalb zwar als denkbar, jedoch nicht als realisierbar eingeschätzt werden.
Bei genauem Hinschauen erweist sich der Vorwurf der Utopie bereits in Bezug auf
Abbé de Saint-Pierre, wenngleich nicht als ganz unbegründet, doch als allzu einseitig und
undifferenziert. In seinem Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe, welches erstmals
723
Eine gute Darstellung der Friedensentwürfe von Erasmus von Rotterdam über Emeric Crucé und Saint-Pierre,
bis hin zu Kant bietet der schon alte, jedoch immer noch lesenswerte und informative Band: Raumer, Kurt von:
Ewiger Friede, Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, München 1953.
724
Bereits im Jahre 1797 hat Johann Adam Bergk der Kantischen Rechtstheorie vom Weltfrieden gegen den
damals schon gewöhnlichen Vorwurf der Träumerei in Schutz genommen. Vgl. Bergk, Johann Adam: Briefe
über Kants metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Leipzig/Jena 1797, S. 227ff.
- 125 -
1711/12 und 1713 in zwei Bänden vorgelegt und 1717 um einen dritten Band ergänzt wurde,
vertritt Abbé de Saint-Pierre die These, dass alle christlichen Staatsoberhäupter ein ständiges,
jedoch zu jeder Zeit aufhebbares Bündnis errichten sollen, wenn sie wirklich einen
dauerhaften Frieden in Europa wollen. Im Rahmen dieses europäischen Staatenbundes soll
jeder Staat weiterhin autonom bleiben, wenngleich die Außen-, Zoll- und Militärpolitik auf
den Bund übertragen wird. Noch zu Lebzeiten wurde Saint-Pierre europaweit vielfach
diskutiert (etwa von Voltaire, Friedrich II., Leibniz oder Rousseau) und auch häufig spöttisch
kritisiert. Die von Saint-Pierre wiederholte Behauptung, dass die europäischen
Staatsoberhäupter tatsächlich erkennen könnten, dass ein derartiger Bund im allgemeinen
sowie in ihrem jeweiligen besonderen Interesse sei, hat ihm vielfach den Vorwurf
eingetragen, ein aussichtsloser und naiver Utopist zu sein.725 Dabei wird jedoch zumeist
übersehen, dass es sein Verdienst ist, versucht zu haben, die von Thomas Hobbes erstmals
entfaltete Lehre vom Naturzustand und vom Gesellschaftsvertrag auf das Verhältnis der
Staaten untereinander zu übertragen.
Wenn der Vorwurf der Utopie bereits in Bezug auf Abbé de Saint-Pierre differenziert
betrachtet werden muss, so ist jener Vorwurf in Bezug auf Kant entschieden zurückzuweisen.
Mit einem manchmal scharfen polemischen Ton wehrt sich Kant selbst gegen diesem
Vorwurf. In einer Anmerkung aus dem Streit der Fakultät setzt Kant seine Hoffnung auf
einen Rechtsfortschritt ausdrücklich von „Platos Atlantica, Morus‘ Utopia, Harringtons
Oceana und Allais‘ Severambia“726 ab. Kants einsichtige Sichtweise lässt sich bereits aus der
geschichtsphilosophischen Schrift von 1784 festhalten, wo zu lesen ist, dass die Menschen
noch die „härtesten Übel“ und alle „Verwüstungen, die der Krieg anrichtet“727 erdulden
müssen, ehe ein Zustand des Weltfriedens erreicht werden könne. Gleich zu Beginn der
Friedensschrift bekennt Kant, dass „die Menschen überhaupt, oder besonders die
Staatsoberhäupter [den] Krieg[] nie satt werden können“, und dass der ewige Frieden ein
„süße[r] Traum“728 ist, welchem nur die Philosophen haben.
Im weiteren Verlauf des Textes und insbesondere im ersten Zusatz »Von der Garantie
des ewigen Friedens« versucht er nachzuweisen, dass der ewige Frieden ein „nicht bloß
schimärische[r]“729 Zweck, mithin ein Hirngespinst sei. Am Ende der Friedensschrift kommt
Kant letztlich zum Schluss, dass der ewige Frieden „keine leere Idee, sondern eine Aufgabe
[ist], die, nach und nach aufgelöst, ihrem Ziele […] beständig näher kommt“.730 Fraglich ist,
wie und inwiefern es Kant gelungen ist, einen konsistenten Nachweis für die Möglichkeit des
ewigen Friedens zu geben. Darauf soll im folgenden Kapitel näher eingegangen werden.
Es soll dabei gezeigt werden, dass die Vorwürfe der Utopie und des Wunschdenkens
nicht für tragfähig gehalten werden können. Solche Vorwürfe übersehen insbesondere, dass
die Bindung des allgemeinen Rechtsgesetzes an das allgemeine Sittengesetz seine
Legitimation begründet, nicht aber notwendigerweise dessen Wirksamkeit. Entgegen einer
immer wieder neu formulierten Kritik soll hier die These bekräftigt werden, dass Kants
Rechtstheorie vom Weltfrieden nicht einfach als Träumerei eines weltfremden Philosophen
abgewiesen werden kann, weil ihre Notwendigkeit ausnahmslos vernunftrechtlich begründet
ist und ihre Möglichkeit keinesfalls von der moralisch-guten Gesinnung der Menschen
abhängt. Des Weiteren soll gezeigt werden, dass es Kant gelungen ist, zu beweisen, dass die
natürliche Entwicklung der menschlichen Gattung tendenziell auf einen derartigen Zustand
725
Einen informativen Überblick über diese Frage bietet der folgende Sammelband: Ferrari, Jean/Simone,
Goyard-Fabre (Hrsg.): L’année 1796: sur la paix perpétuelle de Leibniz aux héritiers de Kant, Paris 1998.
726
Streit: VII, 92; Vgl. Gemeinspruch: VIII, 276; Frieden: VIII, 343
727
Idee: VIII, 26
728
Frieden: VIII, 343 In einem Brief an Kiesewetter vom 15. Oktober 1795 spricht Kant ebenfalls von seinen
„reveries“ zum ewigen Frieden (Brief: XII, 45).
729
Frieden: VIII, 368
730
Frieden: VIII, 386
- 126 -
des Weltfriedens hinauslaufe. Er beruft sich in diesem Zusammenhang unter anderem darauf,
dass die Stiftung und Erhaltung einer republikanischen Verfassung selbst einem Volk
selbstinteressierter Teufel auf Dauer gelingen kann, sofern jene mit Verstand begabt sind.
Kant gibt zu, dass die republikanische Verfassung die schwerste zu stiften, vielmehr aber
noch zu erhalten ist. Wenn die Stiftung und Erhaltung einer derartigen Verfassung lediglich
von der Moralität der Menschen abhängen würde, dann könnte man mit gewissen Gründen
bezweifeln, ob die Menschen je dieser Verfassung fähig wären. In der Tat müsse es sich in
diesem Fall um einen „Staat von Engeln“731 handeln.
Das folgende Kapitel besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil untersucht die juridische
Legalität als notwendige und zugleich hinreichende Bedingung der Möglichkeit des ewigen
Friedens (1). Das von Kant in der Garantieerklärung zum ewigen Frieden vorgetragene
Gedankenexperiment bezüglich des Volks von Teufeln zeigt, dass die Stiftung eines
Zustandes des Weltfriedens keinesfalls an die moralische Gesinnung der Menschen gebunden
ist. Da das Recht sich mit der äußeren Freiheit zufrieden gibt, genügt das wohlverstandene
Eigeninteresse. Der zweite Teil über das Böse in Kants Rechtstheorie vom Weltfrieden weist
die Kritik zurück, Kants selbstsüchtige Teufel seien noch zu engelhaft (2). Es wird sich dabei
herausstellen, dass Kants hoch differenzierter Begriff des Bösen kein unüberwindbares
Hindernis auf dem Weg zum ewigen Frieden darstellt. Selbst aus der Annahme eines bösen
Prinzips im Menschen kann nicht auf die Unmöglichkeit der Stiftung eines Zustandes des
ewigen Frieden geschlossen werden.
1. Die juridische Legalität als notwendige und hinreichende Bedingung der Möglichkeit
des ewigen Friedens
1.1 Die Einschränkung der juridischen Forderungen auf die Legalität der Handlungen
Im Ersten Zusatz der Friedensschrift übernimmt Kant die seit Aristoteles732 klassisch
gewordene Unterscheidung vom „guten Mensch“ und „guten Bürger“.733 Kant zufolge ist es
weder erforderlich, noch empirisch zu erwarten, dass der Bürger ein „guter Mensch“ sei
(mithin aus moralischer Gesinnung handelt). Es reicht aus und macht übrigens keinen
empirisch sichtbaren Unterschied, wenn der Mensch ein „guter Bürger“ ist (sich mithin aus
welchem Grund auch immer an das allgemeine Rechtsgesetz hält). Das allgemeine
Rechtsgesetz ist „zwar ein Gesetz, welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und
gar nicht erwartet, noch weniger fordert, daß ich ganz um dieser Verbindlichkeit willen
meine Freiheit auf jene Bedingungen selbst einschränken solle“.734 Bemerkenswert ist, dass
Kant an keiner Stelle seiner Schriften die Moralität der Gesinnung als eine notwendige
Bedingung der Möglichkeit des Weltfriedens nennt. Im Gegensatz zu dem, was
überraschenderweise heute noch gelegentlich zu lesen ist735, fordert Kant ausschließlich die
von den Bewegungsgründen völlig absehende bloße Erfüllung der Rechtspflichten. Es geht
also lediglich um die juridische Legalität, nicht zusätzlich um die Moralität. Wenn der Friede
davon abhängen würde, dass die Menschen einen sittlich-moralischen Gebrauch ihres freien
Willens machen, dann könnte befürchtet werden, dass die Stiftung eines Friedenszustandes ad
calendas graecas ausgesetzt wird.
731
Frieden: VIII, 366
Vgl. u. a. Politik: III, 4, 1276 b 20-35
733
Vgl. Frieden: VIII, 366
734
RL: VI, 231 (meine Hervorhebungen)
735
Es ist schwer zu verstehen wie Reinhard Brandt behaupten kann, dass „in der Friedensschrift […] der gute
Wille vielfältig als conditio sine qua non der Republik angerufen“ wird. Vgl. Brandt, Reinhard: Quem fata non
ducunt, trahunt: Der Staat, die Staaten und der friedliche Handel, in: Der Vernunftfrieden. Kants Entwurf im
Widerstreit, hrsg. v. Klaus-Michael Kodalle, Würzburg 1996, S. 79.
732
- 127 -
Mehrere Textstellen können als Beleg hierfür angeführt werden. Im siebten Satz der
Idee stellt Kant beispielsweise fest, dass die Menschen im hohen Grade kultiviert und
zivilisiert sind, jedoch noch weit davon entfernt sind, schon moralisiert zu sein.736 In der
Religionsschrift schreibt Kant nüchtern, dass es nicht zu erwarten sei, dass die Menschen
wahrhaft moralisch handeln, denn „wie kann man […] erwarten, daß aus so krummem Holze
etwas völlig Gerades gezimmert werde?”.737 In der Friedensschrift schreibt Kant, dass man
„an den wirklich vorhandenen, noch sehr unvollkommen organisirten Staaten sehen [kann],
daß sie sich doch im äußeren Verhalten dem, was die Rechtsidee vorschreibt, schon sehr
nähern, obgleich das Innere der Moralität davon sicherlich nicht die Ursache ist“.738 An einer
einzigen Textstelle in der Friedensschrift sieht es zunächst so aus, als würde Kant die Stiftung
eines Zustandes des Weltfriedens von der moralisch-guten Gesinnung der Menschen abhängig
machen. Dort ist zu lesen, dass man den ewigen Frieden „nicht bloß als physisches Gut,
sondern auch als einen aus Pflichtanerkennung hervorgehenden Zustand wünscht“.739
Festzuhalten ist im hier diskutierten Zusammenhang, dass Kant für die Schaffung eines
Zustandes des Weltfriedens die sittliche Achtung vor dem moralischen Gesetz zwar für
wünschenswert, dennoch nicht für notwendig hält.
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würde Kant im späteren Streit der Fakultät
seine früheren Ausführungen zum Teil rückgängig machen. Dort sieht Kant in die
Teilnehmung externer Zuschauer an der Französischen Revolution das Zeichnen einer
parallelen Revolution in der öffentlichen Denkungsart. Diese Teilnahme von Menschen, die
nicht selbst in den Taten und Untaten der Revolution verwickelt sind und deren Äußerung mit
Gefahr verbunden sein kann, beweist „einen moralischen Charakter“ des
Menschengeschlechts, „der das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen lässt, sondern
selbst schon ein solches ist“.740 Die Teilnahme am Kampf für die Stiftung einer
republikanischen Verfassung sieht Kant als das Ergebnis einer „moralische[n] einfließende[n]
Ursache“741, das will heißen als Folge der Präsenz der Rechtsidee, die sich sogar in einem
Enthusiasmus für den Rechtsbegriff ausdrücken lässt. Kant sieht darin den Beweis für die
„moralische Tendenz des Menschengeschlechts“.742 Es ist weder der Eigennutz des Volks von
Teufeln noch die moralische Gesinnung des einzelnen Politikers, sondern der Enthusiasmus
der Rechtsbehauptung für das menschliche Geschlecht, von welchem die Stiftung und
Erhaltung der republikanischen Verfassung erwartet werden kann. Wie jeder Affekt ist auch
dieser Gemütszustand blind. Aus diesem Grunde kann die Vernunft ihn nicht ganz billigen.
Kant führt jedoch aus, dass wahrer Enthusiasmus immer auf das rein Moralische zurückgeht
und nicht auf den Eigennutz der Menschen zurückgeführt werden kann.
Andere Textstellen im Streit der Fakultät zeigen jedoch, dass Kant an der
Einschränkung der juridischen Forderungen auf bloß pflichtgemäße Handlungen festhält. Im
Abschnitt unter der Überschrift »Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im
beständigen Fortschreiten zum Besseren sei« führt Kant unmissverständlich aus: „Nicht ein
immer wachsendes Quantum der Moralität in der Gesinnung, sondern Vermehrung der
Producte ihrer Legalität in pflichtmäßigen Handlungen, durch welche Triebfeder sie auch
veranlaßt sein mögen […] wird der Ertrag (das Resultat) der Bearbeitung desselben zum
Besseren allein gesetzt werden können“.743 Festzuhalten ist hier, dass die juridische Legalität
eine hinreichende Bedingung für die Schaffung eines Zustands des Weltfriedens ist. Im Text
736
Vgl. Idee: VIII, 26
Religion: VI, 100
738
Frieden: VIII, 366
739
Frieden: VIII, 377 (meine Hervorhebung)
740
Streit: VII, 85
741
Streit: VII, 85
742
Streit: VII, 85
743
Streit: VII, 91 (meine Hervorhebung)
737
- 128 -
heißt es ferner ebenso deutlich: „Allmählich wird der Gewaltthätigkeit von Seiten der
mächtigen weniger, der Folgsamkeit in Ansehung der Gesetze mehr werden. Es wird etwa
mehr Wohlthätigkeit, weniger Zank in Processen, mehr Zuverlässigkeit im Worthalten u.s.w.
theils aus Ehrliebe, theils aus wohlverstandenem eigenen Vortheil im gemeinen Wesen
entspringen und sich endlich dies auch auf die Völker im äußeren Verhältniß gegen einander
bis zur weltbürgerlichen Gesellschaft erstrecken, ohne daß dabei die moralische Grundlage
im Menschengeschlechte im mindesten vergrößert werden darf“.744 Zusammenfassend kann
gesagt werden, dass Kant in Bezug auf den ewigen Frieden kein naiver Träumer ist, sondern
vielmehr eine bescheidende und zugleich realistische These vertritt. Für ihn ist die bloße
Erfüllung der Rechtspflichten, unabhängig von den Bewegungsgründen derselben, die
notwendige und hinreichende Bedingung der Möglichkeit des ewigen Friedens. Kants
Begründung der Möglichkeit des ewigen Friedens kann vor diesem Hintergrund nur
schwerlich als die „Träumerei eines überspannten Kopfs“745 abgewiesen werden.
In systematischer Hinsicht lässt sich die Beschränkung der juridischen Forderungen
auf die bloße Legalität aus zweierlei Gründen als folgerichtig begründen. Erstens: Die
Forderung nach moralischem Handeln ist nicht nur unmöglich äußerlich zu erzwingen,
sondern lässt sich vor allem gegenüber anderen Menschen rechtlich gar nicht begründen, da
die in der Rechtslehre formulierten Gesetze sich ausschließlich auf den Gebrauch der äußeren
Freiheit beziehen. Die Prinzipien des Rechts betreffen nicht den Gebrauch der inneren
Freiheit.746 Zweitens: Ob die Erfüllung bloß aus Neigung oder aus Pflicht geschieht, macht
rechtlich gar kein Unterschied, da es sich phänomenal um identische Handlungen handelt.747
Wenn ein Mensch sich bloß aus Neigung an das allgemeine Rechtsgesetz hält, so macht dies
rechtlich gar kein Unterschied, als wenn er die gebotene Handlung aus Pflicht durchführen
würde. Mit der Erfüllung der kategorisch gebotenen Handlung ist die Pflicht als Rechtspflicht
vollständig erfüllt.
Für Kant ist nämlich das unbedingt Gute nichts anderes als der gute Wille selbst, das
heißt der Wille zur Pflicht um dieser selbst willen. Eine Handlung gilt nur dann als moralisch,
wenn sie rein aus Pflicht, das heißt ohne Rücksicht auf die sinnlichen Triebfedern, geschieht.
Da es bei einer moralischen Handlung allein auf den guten Willen ankommt, lässt sich
Moralität nicht empirisch aus einem beobachtbaren Verhalten feststellen. Nur die Legalität
des Verhaltens tritt in Erscheinung, niemals aber die Moralität der Gesinnung.
Ausschlaggebend ist lediglich, dass die Rechtspflicht überhaupt erfüllt wird. Wohlgemerkt
macht es nicht nur moralisch (mit Bezug auf die Moralität der Menschen), sondern auch
empirisch (mit Bezug auf die Zuverlässigkeit des Friedens) einen grundsätzlichen
Unterschied. In der Tat steigt die Zuverlässigkeit der Erfüllung der Rechtspflichten, wenn die
Menschen diese aus moralischer Gesinnung durchführen. Dies liegt darin begründet, dass die
Erfüllung in diesem Fall nicht von den menschlichen Neigungen und somit von kontingenten
Umständen, abhängig ist.748 Der erwähnte Unterschied bezüglich der empirischen Zufälligkeit
der Pflichterfüllung, und somit letztlich bezüglich der Dauerhaftigkeit des Friedens, lässt
744
Streit: VII, 91f. (meine Hervorhebung)
Streit: VII, 92
746
Volker Gerhardt hat dies folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Es geht nicht um die Einstellung der
Individuen zu sich selbst, also auch nicht um ihre Überzeugungen oder ihren Glauben, sondern nur um die Worte
und Taten, mit denen sie sich wechselseitig Schaden zufügen können“. Vgl. Ders.: Ausübende Rechtslehre.
Kants Begriff der Politik, in: Kants in der Diskussion der Moderne, hrsg. v. Yasushi Kato und Gerhard
Schönrich, Frankfurt a. M. 1996, S. 477.
747
Vgl. Geismann, Georg: Kant und kein Ende. Studien zur Rechtsphilosophie, Band 2, Würzburg 2010, S. 146;
Ders.: World Peace: Rational Idea and Reality. On the Principles of Kant’s Political Philosophy, in: Kant.
Analysen - Probleme - Kritik, hrsg. v. Hariolf Oberer, Würzburg 1996, S. 294f.
748
Vgl. Religion: VI, 30f.
745
- 129 -
jedoch den rechtslogischen Beweis der Notwendigkeit und Möglichkeit des Friedens
schlechterdings unberührt.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Kant die juridische Forderung auf
die bloße Legalität der Handlungen beschränkt. Die Moralität ist keine notwendige
Bedingung der Möglichkeit des ewigen Friedens. Dies zu zeigen ist auch der Sinn des
Gedankenexperiments bezüglich des Volkes von Teufeln.
1.2 Das Gedankenexperiment bezüglich des Volks von Teufeln
In der Friedensschrift führt Kant die folgende These aus: „Das Problem der
Staatserrichtung ist […] selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben),
auflösbar“.749 Kants vertritt hier die These, dass die Staatserrichtung (und, wie noch zu sehen
sein wird, sogar die Errichtung einer Republik) selbst einem Volk von Teufeln gelingen kann,
insofern jene mit Verstand begabt sind. Die republikanische Verfassung ist somit nicht allein
durch das Handeln eines moralischen Politikers zu erwarten, sondern kann durch Teufel selbst
errichtet werden. Kants Erläuterung diesbezüglich verdienen ausführlich zitiert zu werden:
„Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesammt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung
verlangen, deren jedes aber ingeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und
ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen
streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben
derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten“.750 Im Folgenden soll auf diese
gedrängte, häufig nicht besonders ernst genommene Argumentation näher eingegangen
werden. Ehe die Argumentation selbst dargestellt und erläutert wird, ist es erforderlich die
Garantieerklärung kurz im Rahmen der Friedensschrift einzuordnen. Im Anschluss daran soll
erläutert werden, was Kant unter dem Ausdruck „Volk von Teufeln“ versteht.
Kant hat die zuvor zitierte Argumentation im ersten Zusatz des ewigen Friedens unter
der Überschrift »Von der Garantie des ewigen Friedens« durchgeführt.751 Dieser erste Zusatz
gliedert sich in drei Teile: Nach den einleitenden Bemerkungen zeigt Kant die Weisheit der
Vorsehung im Hinblick auf die Menschengattung und die Gewähr, dass der Mensch von der
Natur dazu genötigt wird, letztlich das zu machen, was er nach Freiheitsgesetzen tun sollte,
und zwar in den Bereichen des Staats-, Völker- und Weltbürgerrechts. In den folgenden
Ausführungen werden wir uns vornehmlich auf den dritten Teil des ersten Zusatzes
konzentrieren. Die Garantieerklärung bezieht sich auf eine Situation, in welcher die Natur
dem Mensch als Gattung zu etwas zwingt, was er vernunftrechtlich tun soll, jedoch nicht von
sich aus tut. In der Friedensschrift schreibt Kant folgendes dazu: „Wenn ich von der Natur
sage: sie will, daß dieses oder jenes geschehe, so heißt das nicht soviel, als: sie legt uns eine
Pflicht auf, es zu thun (denn das kann nur die zwangsfreie praktische Vernunft), sondern sie
thut es selbst, wir mögen wollen oder nicht“.752 Die Behauptung, dass die Natur die Menschen
zu etwas zwingt, gleichwohl ob sie es wollen oder nicht, wiederholt Kant zweimal im
weiteren Verlauf des Textes („Die Natur will unwiderstehlich“753; „Die Natur will es
anders“754). Die Garantie der Natur betrifft eine Situation, in welcher der Mensch nicht von
sich aus seine Rechtspflicht erfüllt. Die Natur wird ihn dazu nötigen sich an das allgemeine
Rechtsgesetz zu halten, wenn nicht aus moralischer Gesinnung, dann zumindest aus
wohlverstandenem Eigeninteresse.
749
Frieden: VIII, 366
Frieden: VIII, 366
751
Vgl. Frieden: VIII, 360ff.
752
Frieden: VIII, 365 (meine Hervorhebungen)
753
Frieden: VIII, 367
754
Frieden: VIII, 367
750
- 130 -
Das im ersten Zusatz vorgetragene Gedankenexperiment bezüglich des Volks von
Teufeln knüpft an das Problem an, welches Kant im fünften Satz der Schrift Idee zu einer
allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht aufgeworfen hat. Dort heißt es: „Das
größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die
Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“.755
Erklärungsbedürftig ist im hier diskutierten Zusammenhang von wem und wozu der hier
erwähnte Zwang ausgeübt wird. In den anschließenden Ausführungen Kants lassen sich erste
Antwortansätze finden.
Bezüglich der ersten Frage schreibt Kant in der Schrift von 1784, dass es die Not ist
und deren zugrunde liegenden Neigungen, welche den Menschen zwingen, in einen
bürgerlich-gesetzlichen Zustand zu treten. Die Stiftung eines derartigen Zustandes ist das
Ergebnis der menschlichen Ungeselligkeit, die durch sich selbst genötigt wird, sich zu
disziplinieren und so die Naturanlage im Menschen vollständig und zweckmäßig zu
entwickeln. Diesbezüglich spricht Reinhard Brandt zu Recht vom „natürlichen Zwang zum
rechtlichen Zwang“.756
In Bezug auf die Frage nach dem „wozu“ bleibt es zunächst offen, ob Kant unter der
„allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“757 allgemein jede beliebige
Staatsform oder spezifisch die republikanische Verfassung im Sinne hat. Auch in der
Friedensschrift ist zunächst nur vom „Problem der Staatserrichtung“758 die Rede. Im Kontext
der vorherigen Ausführungen Kants in der Friedensschrift lässt sich die Antwort jedoch
relativ leicht finden. Es kann sich lediglich um die republikanische Verfassung handeln, denn
es versteht sich von selbst, dass die Teufel zur machtgestützten Errichtung einer despotischen
Verfassung fähig sind.
1.3 Die mit Verstand begabten selbstsüchtigen Teufel und der Mechanismus der Natur
a) Die Gegenüberstellung vom „Staat von Engeln“ und „Volk von Teufeln“
In der zuvor zitierten Argumentation stellt Kant dem „Staat von Engeln“ das „Volk
von Teufeln“ gegenüber.759 Was unter den Ersteren zu verstehen ist, bereitet keine großen
Schwierigkeiten: Engel sind vollkommen vernünftige Wesen, die als solche immer und von
sich aus moralisch handeln.760 Es handelt sich somit um heilige Wesen, deren Willen
unausbleiblich durch die reine praktische Vernunft bestimmt sind. Was dagegen unter den
erwähnten Teufeln genau zu verstehen ist, und inwiefern sich jene von den Menschen
unterscheiden, ist zunächst unklar. Mit Sicherheit kann in Bezug auf die Teufel das gesagt
werden, was auch für die Menschen gilt, nämlich dass ihre Handlungen von „selbstsüchtigen
Neigungen“761 bestimmt werden und sogar dass sie „unfriedliche[] Gesinnungen“762 haben.
Der Wille des Teufels ist somit durch egoistische Neigungen bestimmt, und seine
Handlungsmaximen haben bloß den wohlverstandenen eigenen Vorteil zum Zweck. Teufel
sind Wesen, deren Willen nicht (oder nicht hinlänglich) durch die reine praktische Vernunft
755
Idee: VIII, 22
Brandt, Reinhard: Quem fata non ducunt, trahunt: Der Staat, die Staaten und der friedliche Handel, in: Der
Vernunftfrieden. Kants Entwurf im Widerstreit, hrsg. v. Klaus-Michael Kodalle, Würzburg 1996, S. 72 (meine
Hervorhebung).
757
Idee: VIII, 22 (die von Kant durch kursive Kennzeichnung hervorgehobenen Wörter wurden aufgehoben)
758
Frieden: VIII, 366 (meine Hervorhebung)
759
Vgl. Frieden: VIII, 366
760
Vgl. GMS: IV, 412
761
Frieden: VIII, 366
762
Frieden: VIII, 366
756
- 131 -
bestimmt sind. Die neigungsbestimmten Teufel sind zugleich mit Verstand begabt.763
Gemeint ist das Vermögen, sich selbst willkürliche Zwecke zu setzen und auf Basis dieser
Zwecke sein Handeln zu bestimmen.764 Sie können jedoch mit ihren Neigungen rational
umgehen, das will heißen, sie können Präferenzen ausdrücken und widerstreitende Interessen
in eine hierarchische Ordnung bringen. Auf dieser Grundlage können sie rational handeln, um
ihren wie auch immer definierten eigenen Nutzen zu maximieren.
Kant schreibt sogar, dass die Teufel „vernünftige[] Wesen“765 sind.
Erklärungsbedürftig ist an dieser Stelle, um was für eine Vernunft es sich dabei handelt. Unter
der Vernunft im weiteren Sinne versteht Kant „das ganze obere Erkenntnisvermögen“.766 Jene
umfasst Verstand, Urteilskraft und Vernunft im engeren Sinne. Letztere ist „das Vermögen
der Prinzipien“767, oder genauer „das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter
Prinzipien“.768 Um mögliche Missverständnisse zu vermeiden, soll hier darauf aufmerksam
gemacht werden, dass Kants Bestimmung der Teufel als vernünftige Wesen mitnichten zu
bedeuten hat, dass deren Willen durch reine praktische Vernunft bestimmt sind. Kant schreibt
nämlich, dass die Teufel vernünftige, und nicht bloß mit Vernunft begabte Wesen sind. Wenn
aber der Wille der Teufel tatsächlich durch die reine praktische Vernunft bestimmt ist, dann
würden sie von sich aus moralisch handeln. In der Folge würde es auch keinen Unterschied
mehr zwischen Teufeln und Engeln geben, so dass das gesamte Gedankenexperiment
bezüglich des Volks von Teufeln keinen Sinn mehr machen würde. Die Teufel haben keine
moralisch-praktische Vernunft, sondern lediglich eine technisch-praktische. Die technischpraktische Vernunft gibt wiederum sowohl Regeln der Geschicklichkeit als auch Ratschläge
der Klugheit.769
Es zeigt sich, dass Kants Verständnis der selbstsüchtigen Teufel sich grundsätzlich
von der christlichen Darstellung des Teufels als Personifizierung des Bösen unterscheidet. In
der christlichen Theologie wird nämlich der Teufel als ein aus dem Himmel gefallener Engel
angesehen, welcher sich gegen Gott auflehnte und seitdem die Welt heimsucht. Der Teufel
tritt als Versucher und Verführer auf. Es wird angenommen, dass die Schlange, welche Eva
zur Erbsünde verführte, vom Teufel benutzt wurde bzw. eine Erscheinungsform des Teufels
war (Offenbarung 12, 9 und 20, 2). Kants Verständnis der selbstsüchtigen Teufel
unterscheidet sich aber auch von der Figur des Mephistopheles, in Johann Wolfgang Goethes
Faust-Tragödie (Urfaust, Faust I, Faust II). Dort erscheint der Teufel wiederum als Prinzip
der Negation alles Bestehenden: „Ich bin der Geist, der stets verneint! / Und das mit Recht;
denn alles, was entsteht, / ist wert, daß es zugrunde geht“.770 In Abgrenzung zu diesen
herkömmlichen Figuren des Teufels sind Kants Teufel nachhaltig selbstinteressierte Wesen,
welche ihr langfristiges Eigeninteresse zu maximieren suchen.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Behauptung, welcher zufolge die
Staatserrichtung selbst einem Volk von Teufeln gelingen könne, wenn sie nur Verstand
haben, mitnichten zu bedeuten hat, dass die erwähnten Teufel aus Achtung vor dem
moralischen Gesetz den rechtlosen Naturzustand verlassen werden. Diese bösen Wesen
würden die Rechtsgesetze keinesfalls aus Pflicht beachten, da die Moral für sie irrelevant ist.
Das Problem der Staatserrichtung interessiert sie bloß aus wohlverstandenem Eigeninteresse.
Vor dem Hintergrund der vorherigen Ausführungen stellt sich die Frage, inwiefern sich die
soeben definierten Teufel von den Menschen unterscheiden. Diesbezüglich liegt zunächst die
763
Vgl. Frieden: VIII, 366
Vgl. KUK: V, 432
765
Frieden: VIII, 366
766
KrV: III, B 169
767
KrV: IV, A 405
768
KrV: III, B 359
769
Vgl. KUK: V, 172
770
Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie. Erster Teil, München 1996 [1808], S. 47 (V. 1338).
764
- 132 -
Vermutung nahe, dass es sich bei den Teufeln um Wesen handelt, deren Willen, im Gegensatz
zum Menschen, gar nicht durch reine praktische Vernunft bestimmbar ist. Wenn dies zutrifft,
dann wären die Teufel überhaupt unfähig je moralisch zu handeln.
Im Grunde genommen ist es jedoch irrelevant, ob man darunter Wesen versteht, deren
Willen durch reine praktische Vernunft zwar bestimmbar sind, jedoch sich dadurch nicht
bestimmen lassen, oder ob es sich um Wesen handelt, die überhaupt nicht durch reine
praktische Vernunft bestimmbar sind. Es reicht festzuhalten, dass Kant zufolge die
selbstsüchtigen Teufel geneigt sind, insoweit es für sie vorteilhaft ist, sich vom allgemeinen
Gesetz insgeheim auszunehmen und sich auch tatsächlich davon ausnehmen werden.
Diesbezüglich unterscheiden sich die Teufel nicht grundsätzlich von den Menschen.
Vielleicht ist es sogar nicht übertrieben zu sagen, dass man hinter der Maske des Teufels die
Menschen erkennen kann, die beständig ihren Neigungen folgen. Diese Auslegung wird
dadurch bekräftigt, dass Kant den Teufeln einen nur mäßigen teuflischen Charakter verleiht
und außerdem nach der einmaligen Erwähnung von Teufeln im Text weiterhin ausschließlich
Menschen erwähnt.
Um nicht als bloß chimärisch abgewiesen zu werden, soll die Kantische Rechts- und
Friedenstheorie, wie Reinhard Brandt unter Berufung auf David Hume schreibt, den „badmen-Test“771 aushalten. Auf diesen Punkt soll im nächsten Abschnitt näher eingegangen
werden.
b) Der natürliche Zwang zum rechtlichen Zwang
Kant vertritt die These, dass selbst die mit Verstand und technisch-pragmatischer
Vernunft begabten Teufel, die sich von den Menschen nicht grundsätzlich unterscheiden,
allmählich lernen werden sich unter den Zwang öffentlicher Gesetze zu begeben. Diese These
hat Kant in den folgenden Zeilen besonders deutlich zum Ausdruck gebracht: „Denn es sind
Menschen, […] welche die Übel, die sie sich unter einander selbstsüchtig anthun, bei
Zunahme der Cultur nur immer desto stärker fühlen und, indem sie kein anderes Mittel
dagegen vor sich sehen, als den Privatsinn (Einzelner) dem Gemeinsinn (aller vereinigt),
obzwar ungern, einer Disciplin (des bürgerlichen Zwanges) zu unterwerfen, der sie sich aber
nur nach von ihnen selbst gegebenen Gesetzen unterwerfen, […] die der Bestimmung des
Menschen, so wie die Vernunft sie ihm im Ideal vorstellt, angemessen ist“.772 Fraglich bleibt
dabei, wie dies überhaupt geschehen soll. Im Folgenden soll also auf die Frage eingegangen
werden, wie die Natur von der Zwietracht der Menschen, selbst wider ihren Willen letztlich
Eintracht erzeugen kann.773
Für Kant werden allmählich selbst die selbstsüchtigen Teufel einsehen müssen, dass
sie ihre Zwecke am besten unter Bedingung gesicherter Rechtsverhältnisse erreichen können.
Dies lässt sich folgendermaßen erklären: Jeder Versuch eines Teufels, aufgrund seiner
selbstsüchtigen Neigungen sich insgeheim Ausnahmen vom allgemeinen Rechtsgesetz zu
verschaffen, wird ebenso und unvermeidlich durch andere Teufel versucht. In diesem Fall
kann ein Handlungskonflikt nicht ausgeschlossen werden, da die eigenen Zwecke mehrerer
Wesen nicht notwendigerweise miteinander übereinstimmen. Im Fall eines
Handlungskonflikts kann im rechtlosen Naturzustand kein Teufel jemals vor den
Gewalttätigkeiten anderer Teufel sicher sein. Die Erreichung der je eigenen Zwecke ist somit
für jeden Teufel letztlich vom Willen anderer Teufeln abhängig. Wie Otfried Höffe in seiner
anregenden Auslegung zeigt, ist im rechtlosen Naturzustand jeder Teufel als gewaltfähiges,
771
Brandt, Reinhard: Antwort auf Bernd Ludwig: Will die Natur unwiderstehlich die Republik?, in: Kantstudien
88, 1997, S. 231.
772
Anthropologie: VII, 329f.
773
Vgl. Frieden: VIII, 360
- 133 -
jedoch zugleich sterbliches Wesen sowohl möglicher Täter als auch möglicher Opfer von
Gewalt.774 Selbst die Stärksten unter ihnen können grundsätzlich nicht ausschließen, dass sie
nicht einmal fremder Gewalt zum Opfer fallen werden. Mit der Zeit werden alle Teufel
bemerken, dass sie mehr zu verlieren haben, wenn sie im rechtlosen Naturzustand bleiben, als
wenn sie das allgemeine Rechtsgesetz befolgen. Jeder Teufel würde selbstverständlich eine
Situation vorziehen, in welcher er Täter wäre ohne zugleich Opfer zu sein. Eine derartige
Konstellation ist jedoch unmöglich. In Abwesenheit einer obersten Zwangsgewalt wird ein
Teufel niemals seine Zwecke unabhängig von der nötigenden Willkür anderer Teufel
verfolgen können. Da jeder Teufel aber vorrangig an seinem eigenen Überleben interessiert
ist, wird jeder Teufel die Alternative „weder Opfer noch Täter“ der anderen „sowohl Opfer als
auch Täter“ vorziehen.
Kant zufolge sehen sich somit die Teufel durch den Krieg letztlich dazu genötigt „in
mehr oder weniger gesetzliche Verhältnisse zu treten“.775 Sie werden nämlich verstehen, dass
die Befriedigung ihrer selbstsüchtigen Neigungen unter der Bedingung gesicherter
Rechtsverhältnisse maximiert wird. Erklärungsbedürftig ist lediglich, worauf sich der zuvor
erwähnte Ausdruck „mehr oder weniger“ beruft. Insofern Kants Teufel mit Verstand begabt
sind, sind sie dazu fähig mit anderen Teufeln einen öffentlichen Rechtszustand zu stiften,
damit jeder Teufel seine eigenen wie auch immer definierten Zwecke unabhängig von einer
anderen nötigenden Willkür verfolgen können. Der von den Teufeln gestiftete öffentliche
Rechtszustand kann sich jedoch sowohl hinsichtlich der Herrschaftsform als auch hinsichtlich
der Regierungsart stark unterscheiden. Wichtig ist lediglich festzuhalten, dass die Teufel sich
verweigern werden, freiwillig auf ihre zügellose Freiheit zu verzichten, und sich einer
obersten Zwangsgewalt zu beugen, wenn diese Gewalt allein in der Hand eines einzelnen
Teufels steht, von deren Gebrauch sie nicht sicher sein können. Die Lösung dieses Problems
ist die Stiftung einer republikanischen Verfassung, welche die Gewaltenteilung und die
Mitgesetzgebung aller Teufel sichert.776 Die Menschen schließen sich allerwärts auf
begrenzten Territorien zusammen und stiften mehr oder weniger republikanisch verfasste
Staaten, die wiederum zunächst gegeneinander Krieg führen. Der Frieden kann erst unter der
Bedingung einer sich weltweit erstreckenden Rechtsordnung erreicht werden. Die Teufel
müssen somit konsequent sein. Derselbe Mechanismus, welcher sie dazu veranlasst hat die
rechtsgesetzlich gesicherte Befriedigung ihrer Neigungen innerhalb einer republikanischen
Verfassung zu suchen, soll sie ebenfalls dazu bringen einen Völkerstaat als Weltrepublik zu
stiften und ein Weltgastrecht zu schaffen.
Es ist also das Entgegenwirken ihrer selbstsüchtigen Neigungen, welches die Teufel
letztlich dazu nötigt sich dem allgemeinen Rechtsgesetz zu unterwerfen. In der Friedensschrift
heißt es dazu: „Das moralisch Böse hat die von seiner Natur unabtrennliche Eigenschaft, daß
es in seinen Absichten (vornehmlich in Verhältniß gegen andere Gleichgesinnte) sich selbst
zuwider und zerstörend ist und so dem (moralischen) Princip des Guten, wenn gleich durch
langsame Fortschritte, Platz macht“.777 Das Problem der Errichtung und Erhaltung einer
republikanischen Verfassung ist selbst für ein Volk von Teufeln, die sowohl mit Verstand als
auch technisch-praktischer Vernunft begabt sind, auflösbar, weil es nicht notwendig ist, dass
jene sich aus Pflicht an das allgemeine Rechtsgesetz halten. Es reicht völlig aus, dass sie sich
aus wohlverstandenem Eigeninteresse an das allgemeine Rechtsgesetz halten.
774
Vgl. Höffe, Otfried: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, 2. Aufl. 2002, S. 67f.. Siehe
bereits: Ders.: Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln: ein Dilemma der natürlichen Gerechtigkeit, in:
Ders.: Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln: philosophische Versuche zur Rechts- und Staatsethik,
Stuttgart 1988, S. 56-77.
775
Frieden: VIII, 363
776
Vgl. Laberge, Pierre: Von der Garantie des ewigen Friedens, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg.
v. Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 163.
777
Frieden: VIII, 379
- 134 -
Es zeigt sich, dass die Menschen auf zweierlei Wege zum Weltfrieden gelangen
können. Sie können den ersten, sanften Weg benutzen, indem sie die Rechtspflicht von sich
aus durchführen. Wenn die Menschen aufgrund ihrer selbstsüchtigen Neigungen jedoch
zunächst nicht das machen, was sie machen sollen, dann wird sie die Natur letztlich dazu
nötigen. Mit Kants eigenen Worten heißt es: „Die Natur will unwiderstehlich, daß das Recht
zuletzt die Obergewalt erhalte. Was man nun hier verabsäumt zu thun, das macht sich zuletzt
selbst, obzwar mit viel Ungemächlichkeit“.778 Dies ist auch der Sinne der von Kant zitierten
Stelle von Seneca: „Den Willigen führt, den Unwilligen treibt das Schicksal“ (fata volentem
ducunt, nolentem trahunt). Die juridische Notwendigkeit der Errichtung einer
republikanischen Verfassung stimmt somit mit der natürlichen Notwendigkeit zu derselben
überein. Die Gebote der Vernunft und der Mechanismus der Natur konvergieren zum selben
Ziel. Wenn es dem Politiker nicht gelingt, die kategorisch gebotene Stiftung einer Republik
durchzuführen, wird die Natur den Menschen dazu nötigen, jedoch mit viel Verzögerung. Der
zweite Weg wird am Ende zwar zum selben Ergebnis führen, allerdings wird er länger und
schmerzlicher sein.
Dieser Auslegung steht Bernd Ludwigs These entgegen, dass die Staats- bzw.
Republikerrichtung zwar selbst für ein Volk von Teufeln auflösbar ist, jedoch nicht durch ein
solches Volk von Teufeln für sich selbst.779 Ludwigs Interpretation zufolge bietet der
Mechanismus der Natur allein keinen Automatismus der Staats- bzw. Republikerrichtung. Die
Republikanisierung wird sich also nicht allein aus dem wohlverstandenen Eigeninteresse der
Teufel ergeben, sondern erfordert, dass der moralische Politiker für die Teufel eine Republik
errichtet. Ludwigs These kann jedoch nicht gänzlich überzeugen. Kants
geschichtsphilosophische These, dass die Hoffnung durchaus berechtigt ist, dass das Problem
der Republikerrichtung durch ein Volk von Teufeln selbst gelöst werden kann, und die
rechtsphilosophische These, dass die Republikanisierung für den Staatsbürger durch den
moralischen Politiker errichtet werden soll, sind genauso voneinander unabhängig wie
miteinander verträglich.
Wie es dem guten Bürger gelingen soll, politisch tätig zu werden, um die
republikanische Verfassung zu errichten und zu erhalten, wird allerdings von Kant nicht
thematisiert. Kant setzt sich nicht an die Stelle der Menschen, welche in den jeweils einzelnen
Fällen zu entscheiden haben werden, wie die republikanische Verfassung am ehesten gestiftet
werden kann. Dieses Problem zu lösen überlässt Kant den Menschen einer jeden Epoche. Jene
werden in ihrer jeweils partikularen Situation zu entscheiden haben, wie sie ihre Verfassung
einrichten wollen und können. Wichtig ist für Kant lediglich, dass dieses Problem prinzipiell
auflösbar ist. Kant betont mehrmals, dass die Menschen selbst eine Lösung zum Problem der
Staatserrichtung finden können.780
c) Die Unterscheidung von Legitimität und Effektivität des öffentlichen Rechts
Das Gedankenexperiment bezüglich des Volkes von Teufeln erinnert uns daran, dass
die Frage der Legitimität des öffentlichen Rechts von jener der Effektivität zu unterscheiden
ist. Legitimatorisch beruht die Staatserrichtung, mithin die Stiftung des öffentlichen Rechts,
nicht auf den hypothetischen Imperativen der Klugheit, sondern auf den kategorischen
Imperativen der Sittlichkeit. Die Menschen sind kategorisch aufgefordert den rechtlosen
778
Frieden: VIII, 367
Vgl. Ludwig, Bernd: Will die Natur unwiderstehlich die Republik? Einige Reflexionen anlässlich einer
rätselhaften Textpassage in Kants Friedensschrift, in: Kant-Studien 88, 1997, S. 218-228. Kritisch dazu u.a.:
Brandt, Reinhard: Antwort auf Bernd Ludwig: Will die Natur unwiderstehlich die Republik?, in: Kant-Studien
88, 1997, S. 229-237.
780
Vgl. Frieden: VIII, 366
779
- 135 -
Naturzustand zu verlassen und in einen bürgerlichen Zustand einzutreten, weil nur auf diesem
Weg die äußere Freiheit von jedermann in Bezug auf alle anderen a priori gesichert werden
kann. Zugleich wird von Kant jedoch nicht bestritten, dass die Staatserrichtung sowie seine
Wahrung historisch auf Gewalt und Klugheit zurückzuführen sind. Exemplarisch hierfür
schreibt Kant, dass die Menschen in der Praxis „auf keinen andern Anfang des rechtlichen
Zustandes […] rechnen [können], als den durch Gewalt“.781 In der empirischen Wirklichkeit
ist es ohne Bedeutung, warum sich die Menschen an das allgemeine Rechtsgesetz halten.
Wichtig (und sogar unerlässlich) ist lediglich, dass sie sich überhaupt an das allgemeine
Rechtsgesetz halten. Die Effektivität des öffentlichen Rechts kann also sehr wohl ohne jede
Annahme über die Gutartigkeit der Menschen auskommen. Die Stiftung und Wahrung des
öffentlichen Rechts kann sich allein auf das Selbstinteresse der Bürger stützten.
Hinzu kommt, dass Kant das Argument, wonach die Menschen mit ihren
selbstsüchtigen Neigungen einer republikanischen Verfassung unfähig wären, umdreht. Ihm
zufolge darf man nicht erst die Stiftung einer republikanischen Staatsverfassung von
moralisch-guten Menschen erwarten, sondern umgekehrt von einer guten Staatsverfassung die
„moralische Bildung eines Volkes“.782 Die Moralisierung des Volks ist somit allein als
Wirkung (und nicht als Ursache) der republikanischen Staatsverfassung zu erwarten. Der
Mensch braucht gar nicht moralisch gut zu sein. Es ist notwendig und reicht auch völlig aus,
dass der Mensch ein guter Bürger ist, das heißt, dass er sich an das allgemeine Rechtsgesetz
hält (gleichwohl aus welchem Bewegungsgrund). Zugleich war sich Kant der
Wechselwirkung von der juridischen Verfasstheit des Staates und dem moralischen Charakter
der Menschen bewusst. Ihm zufolge ist das Verhältnis zwischen juridischer Staatsverfassung
und moralischem Charakter der Menschen ein auf Wechselwirkung beruhendes Verhältnis.
Die moralische Besserung der Menschen ist durch die Errichtung und Ausbreitung der
republikanischen Verfassung erreichbar. Eine derartige Staatsverfassung ermöglicht
wiederum die volle Entfaltung der moralischen Anlage im Menschen. In Kants eigenen
Worten heißt es: „Die Staatsverfassung stützt sich am Ende auf die Moralität des Volkes und
diese wiederum kann ohne gute Staatsverfassung nicht gehörig Wurzel fassen“.783
Es hat sich bisher herausgestellt, dass die vernunftnotwendige Stiftung eines
Zustandes des Weltfriedens keinesfalls davon abhängig ist, dass die Menschen einen sittlichen
Gebrauch ihres freien Willens machen. Die Stiftung und Erhaltung einer republikanischen
Verfassung kann vielmehr selbst selbstsüchtigen Teufeln gelingen, wenn sie nur Verstand
haben. Dies ist möglich weil es völlig ausreicht, dass sie sich aus ihrem wohlverstandenen
Eigeninteresse an das allgemeine Rechtsgesetz halten. Kants selbstsüchtige Teufel sind jedoch
bloße „Modellwesen“.784 Aus diesem Grund soll noch die Frage gestellt werden, ob ihre
Modellisierung genügend der Erfahrung entspricht. Vor diesem Hintergrund wird Kant
gelegentlich vorgeworfen, dass seine selbstsüchtigen Teufel noch allzu engelhafte Züge
aufweisen. Es wird darauf hingewiesen, dass Kant es nicht wahrhaben wollte, dass das Böse
im Menschen nicht bloß auf Selbstliebe, mithin auf Egoismus beschränkt bleibt. Im Anschluss
daran wird die Frage aufgeworfen, ob die Stiftung eines Zustandes des ewigen Friedens
tatsächlich möglich bleibt, wenn das Böse in vollem Umfang anerkannt wird.
781
Frieden: VIII, 371
Frieden: VIII, 366; Vgl. Idee: VIII, 26
783
Vorarbeit: XXIII, 162; Vgl. auch Religion: VI, 94
784
Brandt, Reinhard: Quem fata non ducunt, trahunt: Der Staat, die Staaten und der friedliche Handel, in: Der
Vernunftfrieden. Kants Entwurf im Widerstreit, hrsg. v. Klaus-Michael Kodalle, Würzburg 1996, S. 74.
782
- 136 -
2. Über das Böse in Kants Rechtstheorie vom Weltfrieden
2.1 Kants Lehre vom radikalen Bösen
Um diese Frage überhaupt beantworten zu können, muss man sich näher für den
Zusammenhang von Kants Lehre vom radikalen Bösen und seiner Rechtstheorie vom
Weltfrieden interessieren. Bemerkenswert ist, dass es sich hierbei um ein Thema handelt,
welcher über eine lange Zeit hinweg nur wenig Aufmerksamkeit nach sich gezogen hat. Dies
ist insofern überraschend, als Kant den Begriff des Bösen vielfach, sowohl in seiner
allgemeinen Ethik als auch in seiner Friedenstheorie, verwendet. Am ausführlichsten widmet
sich Kant jedoch dem Bösen in der 1793 erschienenen Schrift Über die Religion innerhalb
der bloßen Vernunft. Im Ersten Stück unter der Überschrift »Von der Einwohnung des bösen
Prinzips neben dem guten: oder über das radikale Böse in der menschlichen Natur« geht Kant
insbesondere auf die Frage ein, ob der Mensch als Gattung von Natur aus böse sei. Seit ihrer
Veröffentlichung und bis heute ist die Religionsschrift jedoch überwiegend als Schrift zur
Religionsphilosophie gedeutet worden.785 Eine andere verbreitete Art und Weise mit der
Religionsschrift umzugehen besteht darin, einzelne Aspekte aus dem Kontext der Schrift zu
entnehmen, um sie im Gesamtzusammenhang mit Kants früheren Werken zur praktischen
Philosophie zu interpretieren. Dies gilt insbesondere für Kants Lehre vom radikalen Bösen.786
Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob Kants Lehre vom radikalen Bösen in der
Religionsschrift mit seiner Bestimmung der Freiheit als Autonomie in der Grundlegung und
der zweiten Kritik verträglich sind. Während die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und
Bösem heftige philosophische Kontroversen ausgelöst hat, wurde Kants Lehre vom radikalen
Bösen lange kaum Beachtung bezüglich ihrer Bedeutung für seine Rechtstheorie vom
Weltfrieden sowie seine Lehre von der Politik geschenkt. Erst in jüngerer Vergangenheit
haben sich verschiedene Autoren systematisch dem politischen Gehalt der Religionsschrift
gewidmet.787
In Auseinandersetzung mit dieser umfangreichen Literatur soll in einem ersten Schritt
der Frage nachgegangen werden, was unter dem Ausdruck des „radikalen Bösen in der
menschlichen Natur“ genau zu verstehen ist.
785
Siehe zum Beispiel: Baum, Hermann: Kant. Moral und Religion, Sankt Augustin 1998; Habermas, Jürgen:
Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants
Religionsphilosophie, in: Recht - Geschichte - Religion. Die Bedeutung Kants für die Gegenwart, hrsg. v. Herta
Nagl-Docekal und Rudolf Langthaler, Berlin 2004, S. 141-160; Palmquist, Stephen R: Kant’s critical religion,
Aldershot/Burlington USA/Singapore/Sydney 2000; Ricken, Friedo/Marly, François (Hrsg.): Kant über Religion,
Stuttgart 1992; Rossi, Philip J./Wreen, Michael W. (Hrsg.): Kant’s philosophy of religion reconsidered,
Bloomington/Indianapolis 1991; Wimmer, Reiner: Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin/New York 1990;
Wood, Allen W.: Kant‘s rational theology, Ithaca 1978. Einen einführenden und zugleich informativen
Überblick über diese umfangreiche Literatur bietet: Cavallar, Georg: Kants Religionsphilosophie im Spiegel
neuerer Arbeiten, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52, 1998, S. 460-470.
786
Vgl. Fackenheim, Emil L: The God Within. Kant, Shelling, and Historicity, (insbesondere das zweite Kapitel:
„Kant and radical evil”), Toronto 1996; Klemme, Heiner F.: Die Freiheit der Willkür und die Herrschaft des
Bösen. Kants Lehre vom radikalen Bösen zwischen Moral, Religion und Recht, in: Aufklärung und
Interpretation. Studien zu Kants Philosophie und ihrem Umkreis, hrsg. v. Heiner F. Klemme, Bernd Ludwig,
Michael Pauen und Werner Stark, Würzburg 1999, S. 124-151; Schulte, Christoph: Radikal böse. Die Karriere
des Bösen von Kant bis Nietzsche, München 1988.
787
Vgl. Städtler, Michael (Hrsg.): Kants „Ethisches Gemeinwesen“. Die Religionsschrift zwischen
Vernunftkritik und praktischer Philosophie, Berlin 2005; Klar, Samuel: Moral und Politik bei Kant: eine
Untersuchung zu Kants praktischer und politischer Philosophie im Ausgang der Religion innerhalb der Grenzen
bloßer Vernunft, Würzburg 2007.
- 137 -
a) Das radikale Böse als ein in der menschlichen Natur verwurzelter Hang
Dieser Ausdruck des radikalen Bösen meint erstens, dass für Kant das Böse nicht nur
bei einzelnen Menschen zu finden ist, sondern in der gesamten Gattung. Dies ist auch der
Grund, warum Kant vom radikalen Bösen „in der menschlichen Natur“ spricht. Unter dem
Adjektiv „radikal“ wird zweitens nicht gemeint, dass der Mensch ganz und gar böse ist. Kant
verwendet den Begriff des radikalen Bösen vielmehr im etymologischen Sinn von „Wurzel“
oder „Ursprung“ (lat. radix). Dementsprechend ist das Böse deshalb radikal, weil es in der
menschlichen Natur verwurzelt ist. Um leicht auftretende Missverständnisse zu vermeiden,
soll gleich an dieser Stelle noch darauf aufmerksam gemacht werden, dass Kant jegliche
Erklärungsversuche des Bösen als „Erbkrankheit, oder Erbschuld, oder Erbsünde“788
entschieden zurückweist.
Was Kant unter dem Begriff des Bösen meint, lässt sich vielleicht am besten im
Vergleich zum kontradiktorisch entgegengesetzten Begriff des Guten verstehen. Kant versteht
das Böse ebenso wie das Gute als einen absoluten Begriff. Damit grenzt er zunächst das
gegensätzliche Begriffspaar des Guten und Bösen von jenem des Wohl und Übel ab. Unser
Wohl und Weh (Übel) ist auf die Empfindung der „Annehmlichkeit“ und „Unannehmlichkeit“
bzw. des „Vergnügens“ und „Schmerzens“ zurückzuführen.789 Woran die Menschen Lust und
Unlust empfinden, variiert jedoch von Mensch zu Mensch, so dass man immer nur von einer
relativen, niemals aber von einer absoluten Annehmlichkeit bzw. Unannehmlichkeit sprechen
kann.
Das unbedingt Gute ist dagegen bei Kant lediglich der gute Wille selbst, dies will
heißen der Wille zur Pflicht um dieser selbst willen. Entsprechendes muss auch für den
gegensätzlichen Begriff des Bösen gelten. Während das Wohl oder Übel immer nur „eine
Beziehung auf unseren Zustand der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit“ hat, schreibt
Kant in der zweiten Kritik, dass „das Gute oder das Böse […] jederzeit eine Beziehung auf
den Willen [hat] so fern dieser durchs Vernunftgesetz bestimmt wird“.790 Sowohl das Gute als
auch das Böse sind, um es anders zu formulieren, eigentlich auf den Willen bezogen. Der
subjektive Grund des Bösen im Menschen ist somit kein bloßer „Naturtrieb“, sondern nur eine
„Maxime“, das heißt „eine Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer Freiheit
macht“.791
Dies hat wiederum zu bedeuten, dass das Böse zwar in der menschlichen Natur
verankert ist, aber dass es nicht die Natur ist, die daran schuld ist, wenn der Mensch böse
handelt. Das Böse kann vielmehr der menschlichen Freiheit zugerechnet werden. Kants
Begriff der Freiheit als Autonomie, wie er in der Grundlegung und in der Kritik der
praktischen Vernunft vorgetragen wurde, impliziert die Möglichkeit der moralisch bösen
Handlungen: Als frei handelndes Wesen hat der Mensch stets die Möglichkeit sich für das
Gute oder das Böse zu entscheiden.792 Der Mensch ist somit als Urheber des Bösen immer
selbst schuld.793 Kant zufolge ist alles Böse immer selbstverschuldet. Jeder Mensch hat zwar
einen Hang zum Bösen, aber nicht jeder wird diesem Hang nachgeben.794 An dieser Stelle
bleibt es offen, warum sich der Mensch dafür entscheidet sein Handeln entweder durch die
reine praktische Vernunft oder durch seine Neigung bestimmen zu lassen. Wichtig ist hier
788
Religion: VI, 40
Vgl. KpV: V, 105
790
KpV: V, 105
791
Religion: VI, 21
792
Dies hat Jochen Bojanowski überzeugend bewiesen. Siehe: Ders.: Kants Theorie der Freiheit: Rekonstruktion
und Rehabilitierung, Göttingen 2006, S. 229ff.
793
Vgl. Religion: VI, 19f.
794
Vgl. Religion: VI, 32
789
- 138 -
lediglich festzuhalten, dass es sich um eine Entscheidung der freien Willkür handeln muss,
und dass der Mensch die volle Verantwortung für seinen Tun und Lassen zu ziehen hat.
Für Kant kann die bloße Unterlassung einer moralisch-guten Handlung noch nicht als
böse bezeichnet werden.795 Das Böse besteht erst im Widerspruch des Guten, oder mit Kants
eigenen Worten in einer „Widerstrebung“796 gegen das Sittengesetz. In diesem Sinne
bezeichnet Kant bereits die mit dem allgemeinen Sittengesetz widerstreitenden Handlungen
als „böse“.797 Dadurch scheint Kant jedoch seine eigene Bestimmung des Bösen rückgängig
zu machen, indem er sich lediglich auf die Handlungen konzentriert und die Beziehung auf
den Willen unbeachtet lässt. Wie noch ausführlicher zu sehen sein wird, meint er jedoch
damit, dass man von gesetzwidrigen Handlungen auf ihre zugrundeliegende böse Maxime
schließen kann. Kant führt allerdings diese erste Bestimmung des Bösen als bloße juridische
Gesetzwidrigkeit zunächst nicht weiter aus. Ob eine Handlung als böse bezeichnet werden
kann, hängt bei ihm nicht davon ab, ob objektiv eine besonders erschütternde
Gesetzwidrigkeit vorliegt, sondern ob subjektiv jene Gesetzwidrigkeit als solche gewollt
wurde.
b) Die Anlage zum Guten und der Hang zum Bösen
Entscheidend für Kants Lehre vom radikalen Bösen ist die Unterscheidung von Anlage
zum Guten und Hang zum Bösen. Was genau unter diesen beiden Begriffen zu verstehen ist,
wird nicht nur in der Religionsschrift angeführt, sondern bereits in Kants früheren Werken zur
praktischen Philosophie. Daran zeigt sich bereits, dass Kants Lehre vom radikalen Bösen von
seiner allgemeinen Ethik nicht getrennt ist. Wie noch zu sehen sein wird, ist sie vielmehr mit
seiner Lehre der Menschen als endliche Vernunftwesen in vielerlei Hinsicht verbunden. Mit
dem Begriff des radikalen Bösen führt Kant seine allgemeine Ethik fort.
Unter der Anlage eines Wesens versteht Kant sowohl die Bestandstücke, welche dazu
erforderlich sind, als auch die Formen ihrer Verbindung, um ein solches Wesen zu sein.798 Für
Kant kann sich die Anlage zum Guten nur in der Gattung, jedoch nicht im Individuum
vollständig entwickeln. Die Anlage des Menschen ist dreifach.
Sie ist erstens die „Anlage für die Thierheit des Menschen, als eines lebenden“.799
Gemeint ist hier die „bloß mechanische[] Selbstliebe“800 des Menschen, welche seine
Erhaltung, Fortpflanzung und seinen Trieb zur Gesellschaft betrifft.
Die zweite Anlage zum Guten ist jene für die „Menschheit desselben, als eines
lebenden und zugleich vernünftigen“.801 Darunter ist diesmal eine „vergleichende[]
Selbstliebe“802 zu verstehen. Jene dient dem Menschen dazu sich mit Seinesgleichen als
glücklich oder unglücklich zu vergleichen. Dieser Vergleich treibt den Menschen
anschließend zur Tätigkeit, welche die Grundlage der Kultur darstellt.
Die dritte und letzte Anlage zum Guten ist jene „für seine Persönlichkeit, als eines
vernünftigen und zugleich der Zurechnung fähigen Wesens“.803 Diese Anlage besteht in der
„Empfänglichkeit der Achtung für das moralisch Gesetz, als einer für sich hinreichenden
Triebfeder der Willkür“.804 Das bedeutet an dieser Stelle das Vermögen des Menschen
795
Vgl. Religion: VI, 22f.
Religion: VI, 22
797
Vgl. GMS: IV, 404; Religion: VI, 20ff.
798
Vgl. Religion: VI, 28
799
Religion: VI, 26
800
Religion: VI, 26
801
Religion: VI, 26
802
Religion: VI, 27
803
Religion: VI, 26
804
Religion: VI, 27
796
- 139 -
unabhängig von sinnlichen Triebfedern sein Handeln allein aus Achtung für das Sittengesetz
zu bestimmen.
Neben diesen drei ursprünglichen Anlagen zum Guten besitzt der Mensch ebenfalls
einen unerforschlichen Hang zum Bösen. Ein Hang (propensio) ist der „subjective[] Grund
der Möglichkeit einer Neigung […], sofern sie für die Menschheit überhaupt zufällig ist“.805
Im Gegensatz zur Neigung setzt der Hang nicht voraus, dass der Mensch bereits einen
bestimmten Gegenstand begehrt. Der Hang ist eigentlich nur eine „Prädisposition“806 zum
Begehren eines Gegenstandes. Es handelt sich hierbei um einen in jedem Menschen
wurzelnden Hang von der Maxime der Sittlichkeit abzuweichen, obzwar er sich ihrer bewusst
ist. Bereits in der Grundlegung kann man lesen, dass der Mensch in seinem Streben nach
Glückseligkeit ein „mächtiges Gegengewicht“ gegen den kategorischen Imperativ hat. Daraus
entspringe eine „natürliche Dialektik“, welche Kant als „Hang“ des Menschen bezeichnet,
„wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Gültigkeit […] in Zweifel zu
ziehen“.807 In der zweiten Kritik definiert Kant diesen selbstsüchtigen Hang entweder als
Selbstliebe, mithin als ein über alles gehende Wohlwollen gegen sich selbst, oder als
Eigendünkel, mithin als das Wohlgefallen an sich selbst.808 Darunter versteht er den Hang
„sich selbst nach den subjectiven Bestimmungsgründen seiner Willkür zum objectiven
Bestimmungsgrunde des Willens überhaupt zu machen“.809
In der Rechtslehre erläutert Kant eingehender, was unter dem Hang zum Bösen zu
verstehen ist. Bezüglich der wissentlich und willentlich begangenen gesetzwidrigen Handlung
trifft Kant eine weitere Unterscheidung. Dort heißt es, dass „ein Verbrecher seine Unthat
entweder nach der Maxime einer angenommenen objectiven Regel […], oder nur als
Ausnahme von der Regel […] begehen“810 kann. Der Mensch ist sich des moralischen
Gesetzes immer unmittelbar bewusst. Dies bedeutet, dass die Übertretung des Sittengesetzes
in beiden erwähnten Fällen vorsätzlich, also mit Bewusstsein, erfolgt. Während im zweiten,
schwächeren Fall die Maxime „bloß ermangelungsweise (negative)“ vom moralischen Gesetz
abweicht, tritt sie im ersten, schlimmeren Fall „sogar abbruchsweise (contrarie)“811 dem
Gesetz entgegen. Selbst wenn Kant die letzte Art des Verbrechens für einen mit Verstand
ausgestatteten Wesen für unmöglich hält (worauf noch näher eingegangen wird), können
insgesamt drei Stufen zunehmender Bösartigkeit identifiziert werden. Es handelt sich um (i.)
die dem Sittengesetz bloß widersprechenden Handlungen, (ii.) die zwar vorsätzliche, jedoch
bloß gelegentliche Gesetzwidrigkeit, sowie letztlich (iii.) die systematische Verwerfung der
Autorität des Sittengesetzes und dessen Übertretung aus böser Gesinnung. Diese drei Stufen
der Bösartigkeit werden von Otfried Höffe zusammenfassend als „Kontra-Legalität“,
„Kontra-Moralität“ und „Regelfall-Böse“ bezeichnet.812
c) Die drei Stufen zunehmender Bösartigkeit bezüglich der Nichtanerkennung des
Sittengesetzes
Bereits in der Grundlegung hatte sich Kant dem Problem der bloß pflichtwidrigen
Handlungen nur beiläufig gewidmet. Ihm geht es vor allem um das Böse im strengen Sinne,
das heißt um den bösen Willen. Im Ersten Stück der Religionsschrift über das radikale Böse in
805
Religion: VI, 28
Religion: VI, 28
807
GMS: IV, 405
808
Vgl. KpV: V, 73
809
KpV: V, 74
810
RL: VI, 320
811
RL: VI, 320f.
812
Vgl. Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt
a. M. 2001, S. 93.
806
- 140 -
der menschlichen Natur führt Kant aus, dass die Nichtanerkennung des Sittengesetzes in drei
verschiedenen Stufen erfolgt. Diese drei Stufen fasst er folgendermaßen zusammen: „Erstlich
ist es die Schwäche des menschlichen Herzens in Befolgung genommener Maximen
überhaupt, oder die Gebrechlichkeit der menschlichen Natur; zweitens der Hang zur
Vermischung unmoralischer Triebfedern mit den moralischen […], d. i. die Unlauterkeit;
drittens der Hang zur Annehmung böser Maximen, d. i. die Bösartigkeit der menschlichen
Natur, oder des menschlichen Herzens“.813 Die im Anschluss von Kant näher erläuterten
Stufen lassen sich wie folgt charakterisieren.
Die erste, niedrige Stufe ist jene der Gebrechlichkeit (fragilitas). Kant zufolge kommt
diese Gebrechlichkeit am besten im berühmten Wort des Apostels Paulus zum Ausdruck:
„Wollen habe ich wohl, aber das Vollbringen fehlt“ (Römer 7, 18). Die Fragilitas humanas
zeigt sich, wenn der Mensch das moralisch Gute, das er tun soll und auch will, doch nicht tue.
Diese Diskrepanz zwischen dem (angeblichen) Wollen und dem (tatsächlichen) Vollbringen
ist darauf zurückzuführen, dass der Mensch nachdem er sich dafür entschieden hat, nach einer
verallgemeinerbaren Maxime zu handeln, sich dennoch letztlich dafür entscheidet seinen
Neigungen zu folgen. Die in der Idee (in thesi) unüberwindliche Triebfeder des Gesetzes
erweist sich in der Befolgung (in hypothesi) als die Schwächere im Vergleich zu der
Neigung.814
Die zweite, bösere Stufe ist jene der Unlauterkeit (impuritas, improbitas). Diese
besteht darin, dass die Maxime der Handlung zwar gut und vielleicht auch zur Ausübung
genügend kräftig, jedoch nicht rein moralisch ist, weil außer dem Gesetze noch eine andere
Triebfeder in die Maxime aufgenommen worden ist. In der Folge werden bloß pflichtmäßige
Handlungen nicht rein aus Pflicht getan. Wichtig ist hier zu sehen, dass das Sittengesetz nicht
vollumfänglich, das heißt nicht unbedingt und ausnahmslos, anerkannt ist. Wenn aber das
Gesetz keine hinreichende Triebfeder des Handelns ist, also wenn andere Triebfedern als das
Gesetz selbst nötig sind, um die Willkür zu gesetzmäßigen Handlungen zu bestimmen, wird
der Mensch das Sittengesetz nur dann befolgen, wenn Pflicht und Neigung zufälligerweise
übereinstimmen.815
Die dritte und zugleich böseste Stufe kennzeichnet Kant als Bösartigkeit (vitiositas,
pravitas). Die Bösartigkeit oder „Verderbtheit (corruptio)“ ist „der Hang der Willkür zu
Maximen, die Triebfeder aus dem moralischen Gesetz andern (nicht moralischen)
nachzusetzen“.816 Die Bösartigkeit geht über die bloße Gebrechlichkeit und Unlauterkeit
hinaus. Der Mensch nimmt sich vor die Beförderung der eigenen Glückseligkeit des
Sittengesetzes vorzuziehen. Deshalb spricht Kant auch von „Verkehrtheit (perversitas) des
menschlichen Herzens […], weil sie die sittliche Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer
freien Willkür umkehrt, und obzwar damit noch immer gesetzlich gute (legale) Handlungen
bestehen können, so wird doch die Denkungsart dadurch in ihrer Wurzel (was die moralische
Gesinnung betrifft) verderbt und der Mensch darum als böse bezeichnet“.817 Der Mensch ist
insofern als böse zu bezeichnen als er die „sittliche Ordnung“818 von Moral und
Glückseligkeit verkehrt.
Das Böse ist in seinen ersten zwei Stufen (der Gebrechlichkeit und der Unlauterkeit)
unvorsätzliche (culpa), in der dritten (der Bösartigkeit) aber vorsätzliche Schuld (dolus).819
Mit anderen Worten könnte man sagen, dass der Mensch auf den zwei ersten Stufen bloße
813
Religion: VI, 29 (meine Hervorhebungen)
Vgl. Religion: VI, 29
815
Vgl. Religion: VI, 30f.
816
Religion: VI, 30
817
Religion: VI, 30
818
Religion: VI, 36
819
Vgl. Religion: VI, 38
814
- 141 -
Willensschwäche zeigt, während er auf der dritten Stufe einen schlechthin bösen Willen zeigt.
Um Missverständnisse zu vermeiden soll hier noch darauf aufmerksam gemacht werden, dass
es verfehlt wäre, der Sinnlichkeit und den Neigungen die Schuld am Bösen zu geben. Der
Grund des Bösen liegt weder in der Sinnlichkeit und den Neigungen an sich, noch in der
Selbstliebe. All diese sind natürlich und als solche vor-moralisch, das heißt weder gut noch
böse. Das Böse ergibt sich vielmehr aus dem Vorzug der Selbstliebe vor der Moral. Für Kant
besteht das „eigentliche Böse“ darin, dass „man jenen Neigungen, wenn sie zur Übertretung
anreizen, nicht widerstehen will, und diese Gesinnung ist eigentlich der wahre Feind“.820
Im folgenden Abschnitt soll nun der Frage nachgegangen werden, ob Kants
Verständnis des Bösen prinzipientheoretisch begründet und empirisch bestätigt ist.
2.2 Die durch Erfahrung bestätigte Universalität des Bösen
a) Der in der Erfahrung zu beobachtende Hang zum Bösen in der menschlichen Natur
Kant wiederholt und betont immerzu, dass sich die Moralität der Gesinnung nicht
feststellen lässt.821 Für ihn kann man nicht wissen, ob jemals von einem Mensch eine
pflichtmäßige Handlung tatsächlich aus Pflicht begangen wurde. Entsprechendes sollte auch
für das Böse gelten. Auch hier gilt, dass man zwar gesetzwidrige Handlungen empirisch
beobachten kann, jedoch niemals ganz sicher sein kann, ob jene aus böser Gesinnung
begangen wurden und somit moralische Verkehrtheit vorliegt. In der Religionsschrift schreibt
Kant diesbezüglich, dass man „gesetzwidrige Handlungen durch Erfahrung bemerken“822
kann. Im unmittelbaren Anschluss daran fügt Kant jedoch hinzu, dass man „die Maximen […]
nicht beobachten [kann], sogar nicht allemal in sich selbst, mithin das Urtheil, daß der Thäter
ein böser Mensch sei, nicht mit Sicherheit auf Erfahrung gründen [kann]“.823 Vorsicht wäre
also angebracht, weil der letzte Bestimmungsgrund der Willkür sich bestenfalls erschließen,
jedoch nicht mit Sicherheit feststellen lässt. Vor diesem Hintergrund mag es ein wenig
überraschen, dass Kant sich als Beweis für den bösen Hang in der menschlichen Natur auf
eine „Menge schreiender Beispiele“824 beruft, die einen förmlichen Beweis überflüssig
machen sollten. In der Tat kann eine allgemeine Erkenntnis der menschlichen Natur nicht auf
Beobachtungen einzelner historischer Geschehnisse beruhen.
Wenn Kant im dritten Abschnitt des Ersten Stück der Religionsschrift zu zeigen
versucht, dass der Mensch als Gattung von Natur aus böse ist, beansprucht er nicht nur bloße
Allgemeingültigkeit, sondern strenge Allgemeinheit. Dies hat zu bedeuten, dass für Kant
jeder einzelne Mensch einen Hang zum Bösen hat. Das Problem besteht nun darin, dass
einzelne historische Beispiele unmöglich die von Kant in Anspruch genommene strenge
(absolute) Allgemeinheit begründen können. Bloße Beispiele können die Rede vom Bösen
nur in einem generellen, nicht jedoch universellen Sinn rechtfertigen. Weil Kant für die
Behauptung, dass der Mensch von Natur aus böse sei, strenge Allgemeinheit beansprucht,
kann der Beweis nicht auf Erfahrung gründen, sondern muss a priori gelten. Da Kants
Behauptung, wie noch zu sehen sein wird, offenbar nicht analytisch ist, müsste sie synthetisch
sein. Ein synthetisches Urteil a priori kann wiederum nicht auf einer empirischen Deduktion
begründet werden, sondern erfordert eine transzendentale Deduktion. Problematisch ist
allerdings, dass eine derartige transzendentale Deduktion von Kant selbst nicht durchgeführt
820
Religion: VI, 58
Vgl. GMS: IV, 408; KpV: V, 47; TL: VI, 221, 226
822
Religion: VI, 20
823
Religion: VI, 20
824
Religion: VI, 32
821
- 142 -
wird.825 Hat dies also notwendigerweise zu bedeuten, dass es Kant an diesem entscheidenden
Punkt nicht gelungen ist, seine These, dass jeder einzelne Mensch ein Hang zum Bösen hat,
konsistent zu begründen?
Um diese Frage zu beantworten, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass die
Aussage, dass der Mensch als Gattung von Natur aus böse ist, mitnichten zu bedeuten hat,
dass man der Begriff des Bösen analytisch aus jenem der menschlichen Gattung ableiten
kann. Wenn der Begriff des Bösen sich analytisch aus jenem der menschlichen Gattung
ergeben würde, dann würde das Böse jedem Menschen mit Notwendigkeit zukommen. In
diesem Fall würde es sich aber nicht um einen Hang, sondern um eine Anlage handeln.826 Des
Weiteren soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass Kants Lehre vom radikalen Bösen in
der Religionsschrift gegenüber der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft auf
einem erweiterten Begriff der Maxime beruht. In der Grundlegung und in der zweiten Kritik
muss sich der Mensch in jeder einzelnen moralisch relevanten Situation die Frage stellen, ob
die Maxime seiner Handlung zu einem allgemeinen Gesetz taugt. In der Religionsschrift
erweitert Kant diese Auffassung. Ihm zufolge treffen die Menschen in einer „obersten
Maxime“827, das heißt in einer Maxime zweiter Stufe, eine grundsätzliche Entscheidung
darüber, ob sie dem moralischen Gesetz den absoluten Vorrang vor der Selbstliebe einräumen
oder umgekehrt verfahren wollen. Diese oberste, allgemeine Maxime kommt anschließend in
den menschlichen besonderen Maximen zum Ausdruck. Diese besonderen Maximen finden
ihren Ausdruck wiederum in den einzelnen menschlichen Handlungen.
Wenn die besonderen Maximen eines Menschen gesetzwidrig sind, kann die oberste
Maxime nicht so beschaffen sein, dass der handelnde Mensch die bedingungslose und
allgemeine Gültigkeit des moralischen Gesetzes anerkannt hätte. Hinzu kommt, dass wenn
seine Handlungen pflichtwidrig sind, können die ihnen zugrundeliegenden Maximen nicht
moralisch gut sein. Die in der Erfahrung zu beobachtenden pflichtwidrigen Handlungen
können nicht anders gedacht werden, als dass der handelnde Mensch die Selbstliebe über die
Moral gestellt hat. Es handelt sich dabei keinesfalls um Erfahrung, sondern es ergibt sich
notwendigerweise aus Kants moraltheoretischen Überlegungen. Zu Recht schreibt Jochen
Bojanowski diesbezüglich, dass es eine „epistemische Asymmetrie zwischen moralisch guten
und moralisch bösen Handlungen“828 gibt. Von einem pflichtmäßigen Handeln kann man
nicht auf eine moralisch gute Maxime schließen. Dies liegt darin begründet, dass die Legalität
der Handlungen eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung der Moralität der
Gesinnung ist. Da jede moralische Handlung notwendigerweise auch eine pflichtmäßige
Handlung ist, jedoch nicht jede pflichtmäßige Handlung auch eine moralische Handlung ist,
kann nicht von einer pflichtmäßigen Handlung auf eine moralisch gute Maxime geschlossen
werden. Wenn dagegen eine Pflichtwidrigkeit vorliegt, dann kann man problemlos auf eine
moralisch böse Maxime schließen. Zusammenfassend kann man also festhalten, dass man aus
prinzipientheoretischen Gründen von pflichtwidrigen Handlungen auf eine moralisch böse
Maxime schließen kann, aber nicht von pflichtmäßigen auf eine moralisch gute.
Die Behauptung: „Der Mensch ist von Natur aus böse“ bedeutet also nur, dass er
„nach dem, wie man ihn durch Erfahrung kennt, nicht anders beurteilt werden“829 kann. Als
Beweis für den bösen Hang in der menschlichen Natur führt Kant einzelne historische
825
Henry Allison ist zum Beispiel der Meinung, dass Kants Argumentation einen synthetischen Satz a priori
enthält und legt seine Deduktion in der folgenden Schrift vor: Allison, Henry E.: Kant’s Theory of Freedom,
Cambridge 1990, S. 64ff. Kritisch dazu u.a.: Bojanowski, Jochen: Kants Theorie der Freiheit: Rekonstruktion
und Rehabilitierung, Göttingen 2006, S. 276f., Timmons, Mark: Evil and Imputation in Kant‘s Ethics, in:
Jahrbuch für Recht und Ethik 2, 1994, S. 113-142.
826
Vgl. Religion: VI, 32
827
Vgl. Religion: VI, 31, 32, 36
828
Bojanowski, Jochen: Kants Theorie der Freiheit: Rekonstruktion und Rehabilitierung, Göttingen 2006, S. 276.
829
Religion: VI, 32 (meine Hervorhebung)
- 143 -
Beispiele an. Solche Beispiele finden sich sowohl im natürlichen als auch im gesitteten
Zustand. Am besten zeigt sich jedoch der böse Hang im Menschen im „äußeren
Völkerzustand“, welcher aus einer merkwürdigen Zusammensetzung des natürlichen und
gesitteten Zustandes besteht.830 Kants Beispiele richten sich im ersten Fall gegen die
„gutmütige Voraussetzung der Moralisten von Seneca bis zu Rousseau“, wonach der Mensch
von Natur aus gut sei. Dagegen führt Kant die „Auftritte von ungereizter Grausamkeit in den
Mordscenen auf Tofoa, Neuseeland“831 an. Als Beweis für die „Laster[] der Cultur und
Civilisirung“ führt Kant die „geheime Falschheit selbst bei der innigsten Freundschaft“ sowie
den Hang an, „denjenigen zu hassen, dem man verbindlich ist, worauf ein Wohlthäter
jederzeit gefaßt sein müsse“.832
In Bezug auf den äußeren Völkerzustand führt Kant aus, dass „civilisirte
Völkerschaften gegen einander im Verhältnisse des rohen Naturstandes (eines Standes der
beständigen Kriegsverfassung) stehen und sich auch fest in den Kopf gesetzt haben, nie
daraus zu gehen“.833 Weitere Beispiele für das Böse im Verhältnis der Völker zueinander
führt Kant in der Friedensschrift aus. Abgesehen von einigen weniger bedeutenden Stellen
führt Kant dort den Begriff des Bösen an vier gewichtigen Stellen der Friedensschrift aus.
Gleich im Ersten Präliminarartikel wird vom „bösen Willen“834 gesprochen, welcher die
erstbeste Gelegenheit benutzt, um den Krieg fortzusetzen. Im Zweiten Definitivartikel
schreibt Kant, dass die Bösartigkeit der menschlichen Natur sich „im freien Verhältniß der
Völker unverhohlen blicken läßt“.835 Im Anschluss hofft Kant, dass der Mensch „über das
böse Princip in ihm […] einmal Meister“836 wird. Letztlich schreibt er im Ersten Anhang, dass
die „in der menschlichen Natur gewurzelte Bösartigkeit von Menschen […] äußeren
Verhältniß der Staaten gegen einander ganz unverdeckt und unwidersprechlich in die
Augen“837 fällt. An einer anderen Stelle verwendet Kant zwar nicht unmittelbar den Begriff
des Bösen, führt jedoch aus, dass die Kriegslust zur Natur des Menschen gehört. Er hebt sogar
hervor, dass der Krieg keines besonderen Bewegungsgrundes bedarf. Jener scheint vielmehr
„auf die menschliche Natur gepfropft zu sein und sogar als etwas Edles, wozu der Mensch
durch den Ehrtrieb ohne eigennützige Triebfedern beseelt wird, zu gelten“.838 In der
Rechtslehre ändert Kant nichts an seiner früheren Ansicht, wenn er schreibt, dass die
„menschliche Natur […] nirgend weniger liebenswürdig, als im Verhältnisse ganzer Völker
gegen einander“839 erscheint. Ferner ist sogar zu lesen, dass der „Wille, einander zu
unterjochen, oder an dem Seinen zu schmälern, […] jederzeit da“840 ist. Insofern es
unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen (also sowohl im natürlichen oder im
gesitteten als auch im völkerrechtlichen Zustand) überall und immer schon einzelne
Menschen gab, welche böse Handlungen durchgeführt haben, ist es berechtigt, das Böse als
eine Konstante des Menschen anzunehmen.
Nachdem einmal gesehen wurde, dass Kants These bezüglich der Universalität des
Bösen durchaus konsistent ist, stellt sich die weitere Frage, ob seine Bestimmung des Bösen
auch empirisch bestätigt ist, oder zumindest eine Entsprechung in der Erfahrung findet.
830
Vgl. Religion: VI, 34
Religion: VI, 33
832
Religion: VI, 33
833
Religion: VI, 34
834
Frieden: VIII, 344
835
Frieden: VIII, 355
836
Frieden: VIII, 355
837
Frieden: VIII, 375
838
Frieden: VIII, 365 (meine Hervorhebung)
839
Gemeinspruch: VIII, 312
840
Gemeinspruch: VIII, 312
831
- 144 -
b) Über die Möglichkeit und Wirklichkeit der Bosheit
In seinen moralphilosophischen Schriften der 1780er Jahren bezeichnet Kant die
Gebrechlichkeit und die Unlauterkeit als die zwei Stufen der Unfähigkeit der Willkür, das
moralische Gesetz in seine Maxime aufzunehmen. In der späteren Religionsschrift fügt er
diesen zwei ersten Stufen eine dritte hinzu. Gemeint ist die Bösartigkeit (vitiositas, pravitas).
Die Bösartigkeit unterscheidet sich von der Bosheit (auch „Äußert-Böse“ genannt). Von
Bosheit könnte erst dann gesprochen werden, wenn der Mensch das Böse als Böses zur
Triebfeder in seine Maxime aufnimmt. Kant bestreitet dagegen, dass der Mensch tatsächlich
aus Bosheit handelt. Für ihn ist der Mensch nicht schlechthin böse.841 Diesbezüglich stellt sich
die Frage, ob und warum der Hang zum Bösen in der menschlichen Natur tatsächlich auf
Gebrechlichkeit, Unlauterkeit und Bösartigkeit beschränkt bleibt.
Als erster Antwortansatz hierzu kann zunächst festgehalten werden, dass in
prinzipientheoretischer Absicht die Möglichkeit der moralischen Bosheit nicht
ausgeschlossen werden kann und von Kant auch nicht ausgeschlossen wird. In der
Rechtslehre schreibt Kant beispielsweise, dass die „Idee des Äußerst-Bösen […] in einem
System der Moral nicht zu übergehen“842 ist. Dies liegt darin begründet, dass das Böse sowie
das Gute ihren Ursprung in der menschlichen Freiheit haben. Wenn die Menschen tatsächlich
als frei handelnde Wesen gedacht werden, kann prinzipiell nicht ausgeschlossen werden, dass
jene sich vornehmen gesetzwidrig zu handeln und das Böse als Böses zur Triebfeder in ihrer
Maxime aufnehmen. Das radikale Böse ist als kontradiktorisch Entgegengesetztes des
unbedingt Guten eine notwendige Möglichkeit der menschlichen Freiheit.843
Kants These, dass es von den Menschen nicht zu erwarten sei, dass sie nach Maximen
handeln, welche dem moralischen Gesetz absichtlich widersprechen, ist also nicht
moraltheoretisch, sondern nur empirisch zu verstehen. Kant meint darunter, dass die Bosheit
zwar eine notwendige Möglichkeit menschlicher Freiheit darstellt, jedoch keine Wirklichkeit
hat. Die Bosheit ist zwar als möglich gedacht (potentialis), jedoch als unwirklich hingestellt
(irrealis). Warum aber, so würde man entgegnen, sollte die Bosheit als unwirklich gelten?
Kant gibt hierauf keine direkte Antwort. Er führt allerdings aus, dass es sich dabei um eine
„förmliche[], ganz nutzlose[] Bosheit“844 handeln würde. Was ist darunter zu verstehen?
Es wurde bereits gesehen, dass sich das Böse aus dem Vorzug der Eigenliebe vor der
Moral ergibt. Nun wird der Mensch der Moral keinen Abbruch tun wollen, wenn seine
Neigungen mit der Moral übereinstimmen, weil dies sonst seinen Neigungen widersprechen
würde. Wenn Eigenliebe und Moral übereinstimmen, kann der Mensch kein Interesse daran
haben, die Gesetzlichkeit als solche zu verwerfen. Es ist nicht zu erwarten, dass die
Gesetzwidrigkeit als solche gewollt wird, da kein Mensch den mindesten Vorteil davon haben
kann. Der Verstoß gegen das Sittengesetz ist für den Menschen kein Selbstzweck, sondern nur
ein Mittel um seinen Eigennutz zu maximieren. Kants These scheint zunächst plausibel zu
sein. Es bleibt jedoch noch zu fragen, ob diese Bestimmung des Bösen der Erfahrung
genügend entspricht. Anders formuliert: Erschöpft sich der böse Hang tatsächlich in den drei
Stufen der Gebrechlichkeit, Unlauterkeit und Bösartigkeit? Über die Gebrechlichkeit,
Unlauterkeit und Bösartigkeit hinaus, ist es empirisch wirklich nicht zu erwarten, dass die
Menschen aus Bosheit handeln?
Diese Frage führt uns zum Gedankenexperiment bezüglich der selbstsüchtigen Teufel
zurück. Diesbezüglich soll auf eine interessante, wenn auch allzu häufig übersehene
841
Vgl. Religion: VI, 37; RL: VI, 321f.; Anthropologie: VII, 293f.
RL: VI, 322
843
Vgl. Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt
a. M. 2001, S. 93.
844
RL: VI, 322
842
- 145 -
Unterscheidung zwischen „Teufeln“ und „Teuflischem“ aufmerksam gemacht werden.845 Die
Teufel sind vernünftige Wesen, die sich durch die reine praktische Vernunft nicht bestimmen
lassen, sondern allein ihren Neigungen folgen. Die teuflischen Wesen dagegen billigen das
Böse in sich und erheben den Widerstreit gegen das moralische Gesetz selbst zur
Triebfeder.846 Es stellt sich also die Frage, ob die Menschen nicht teuflisch sein können.
Diesbezüglich wird in der Sekundärliteratur gelegentlich gegen Kant der Einwand geltend
gemacht, dass es ihm nicht gelungen sei, „die nur egoistischen Potentiale der Mehrung des
eigenen Vorteils von den sadistischen der Herstellung externer Unglücks zu
unterscheiden“.847 In der Tat lässt es sich kaum bestreiten, dass es Menschen gibt (und auch
immer gab), die aus bloßer Grausamkeit und Lust an Aggression töten. Des Weiteren ist es
eine traurige Erkenntnis der menschlichen Geschichte, dass die Lust auf Fremdvernichtung
sowie die Bereitschaft der Selbstvernichtung stärker sein können als der Wille der
Selbsterhaltung.
Es wäre jedoch verfehlt zu behaupten, dass Kant dies völlig übersehen hat, und dass er
nicht wahrhaben wollte, dass das böse Prinzip im Menschen über die bloße Gebrechlichkeit
und Unlauterkeit hinaus gehen kann.848 Es wurde bereits gesehen, dass Kant in der
Religionsschrift über die „Auftritte von ungereizter Grausamkeit in den Mordscenen auf
Tofoa, Neuseeland“849 referiert. Das Entscheidende an diesem Zitat ist nicht, dass Kant sich
auf eine vorsätzliche Tötung eines anderen Menschen (mithin auf einen Mord) beruft.
Entscheidend ist auch nicht, dass es sich hierbei um einen besonders erschütternden und
grausamen Mord handelt. Die Pointe besteht vielmehr darin, dass es sich dabei um eine mit
grundloser Grausamkeit geschehene Tötung handelt, bei welcher offenbar keine Notwehr
vorliegt. Es handelt sich, um es anders auszudrücken, um eine Tötung, die keinen anderen
Anlass hat als die sadistische Lust an Aggression und Zerstörung. Wichtig ist hier zu sehen,
dass einige Menschen offenbar Lust dadurch erleben, anderen Menschen Schmerzen
hinzuzufügen. Es lässt sich leicht einsehen, dass diese Tötung nicht aus Willensschwäche
begangen wurde.
Hier scheint ein Widerspruch in Kants Ausführungen aufzutreten. Auf der einen Seite
scheint er dem Menschen einen nur mäßigen teuflischen Charakter zuschreiben zu wollen.
Auf der anderen Seite führt er Beispiele von bösen Handlungen aus, welche offensichtlich
über die Gebrechlichkeit, Unlauterkeit und Bösartigkeit hinaus gehen. Ein möglicher
Erklärungsversuch kann darin gesehen werden, dass für Kant die teuflischen Wesen
schlechthin bösartig sind. In Abgrenzung dazu mag der Mensch zwar „teuflische Laster“850
wie etwa Neid, Undankbarkeit oder Schadenfreude haben, doch macht dies aus ihm noch kein
„teuflische[s] Wesen“.851 Der Mensch ist böse, aber nicht schlechthin bösartig.
845
Vgl. Brandt, Reinhard: Quem fata non ducunt, trahunt: Der Staat, die Staaten und der friedliche Handel, in:
Der Vernunftfrieden. Kants Entwurf im Widerstreit, hrsg. v. Klaus-Michael Kodalle, Würzburg 1996, S. 74.
846
Vgl. TL: VI, 461; Religion: VI, 35; Anthropologie: VII, 293
847
Ebeling, Hans: Kants „Volk von Teufeln“, der Mechanismus der Natur und die Zukunft des Unfriedens. Über
den Mythos der kommunikativen Vernunft, in: Der Vernunftfrieden. Kants Entwurf im Widerstreit, hrsg. v.
Klaus-Michael Kodalle, Würzburg 1996, S. 89.
848
Diesbezüglich reicht es nicht anzuführen, dass wahrhaft „teuflische Wesen mit nicht nur bösen Gesinnungen,
sondern boshafter Vernunft, die den Widerstreit gegen das Gesetz zur Triebfeder erheben, […] weder selbst in
der Lage [sind], ihren Erhaltungswillen gesetzlich zu organisieren, noch […] sich dem gesetzlichen Zwang eines
moralischen Politikers fügen [würden], weil die Triebfeder ihres Handelns nicht die Selbsterhaltung, sondern der
Widerstreit gegen das Gesetz als solches ist. Also interessieren sie hier nicht“. Vgl. Brandt, Reinhard: Quem fata
non ducunt, trahunt: Der Staat, die Staaten und der friedliche Handel, in: Der Vernunftfrieden. Kants Entwurf im
Widerstreit, hrsg. v. Klaus-Michael Kodalle, Würzburg 1996, S. 74 (meine Hervorhebung).
849
Religion: VI, 33
850
Religion: VI, 27 (meine Hervorhebung)
851
Religion: VI, 35 (meine Hervorhebung)
- 146 -
Nun ist der Mensch verpflichtet moralisch zu handeln. An dieser Stelle stellt sich die
Frage, ob und inwiefern der böse Mensch wieder gut werden kann. Gemeint ist die von Kant
in der Religionsschrift aufgeworfene Frage: „[W]ie kann ein böser Baum gute Früchte
bringen?“852
2.3 Das Böse im Verhältnis der Völker und die weiterbestehende Möglichkeit des
Friedens
Weil das Böse radikal, angeboren ist, können die Menschen niemals das Böse ein für
allemal entfernen. Vor diesem Hintergrund stellen sich die zwei folgenden Fragen, ob eine
moralische Besserung der Menschen (als Individuen und als Gattung) unter dieser Bedingung
überhaupt möglich ist, und ob Kants Lehre vom radikalen Bösen seine Rechtstheorie vom
Weltfrieden nicht untergräbt.
a) Möglichkeit und Grenzen moralischer Besserung der Menschen
Vielfältige historische Beispiele beweisen, dass der Mensch seine ursprüngliche
Anlage zum Guten selbst verdorben hat, indem er dem Hang zum Bösen nachgegeben und aus
Freiheit die sittliche Ordnung der Triebfeder grundsätzlich verkehrt hat. Dies hat allerdings
nicht zu bedeuten, dass eine moralische Besserung unmöglich ist.
Einige interessante Überlegungen zu diesem Thema finden sich in der kleinen,
weniger bekannten geschichtsphilosophischen Schrift Mutmaßlicher Anfang der
Menschengeschichte aus dem Jahre 1786. Dort schildert Kant die „Geschichte der ersten
Entwickelung der Freiheit aus ihrer ursprünglichen Anlage in der Natur des Menschen“.853
Kant will seine Mutmaßungen keineswegs „für ein ernsthaftes Geschäft ankündigen“.854 Er
betrachtet sie vielmehr als eine „bloße Luftreise“855, bei welcher er sich der alttestamentlichen
Erzählung des Sündenfalles als „Karte“ bedient, um eine ganz freie Darstellung der sittlichen
Entwicklung der Menschengeschichte aufzuzeigen.
Kant unterscheidet dabei drei aufeinander folgenden hypothetischen Stufen der
Kultivierung (Jägerleben, Hirtenleben, Ackerbau) bis zur Epoche des Anfangs der Kultur, der
Kunst, der bürgerlichen Verfassung und der öffentlichen Gerechtigkeit.856 Am Anfang dieser
hypothetischen Geschichte des Menschengeschlechts steht der Mensch allein unter der
Herrschaft des Instinkts, während er am Ende seiner Entwicklung unter der Herrschaft der
Vernunft steht. Kants zufolge war der erste Schritt aus dem Stand der Unwissenheit und der
Unschuld, das heißt aus dem Stand, in welchem die Menschen allein durch ihren tierischen
Instinkt geleitet wurden, (sittlich gesehen) ein „Fall“ und (physisch gesehen) aufgrund der
damit einhergehenden Not eine „Strafe“.857 Wichtig sind des Weiteren die folgenden
Erläuterungen Kants: „Die Geschichte der Natur fängt also vom Guten an, denn sie ist das
Werk Gottes; die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk“.858
852
Religion: VI, 45
Anfang: VIII, 109
854
Anfang: VIII, 109
855
Anfang: VIII, 109. Hier ist ein im originalen Schriftbild und anschließend in sämtlichen Kant-Ausgaben
vorhandener Lesefehler zu korrigieren: statt „Lustreise“ heißt es „Luftreise“. Denn die üblicherweise für ein „s“
gehaltene Buchstabe kann auch als ein „f“ gelesen werden. Für diese Korrektur spricht Kants Rede von „Karte“
und „Flügeln“ der Einbildungskraft. Vgl. Höffe, Otfried: Einleitung, in: Immanuel Kant: Schriften zur
Geschichtsphilosophie, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 2011, S. 7.
856
Vgl. Anfang: VIII, 119f.
857
Anfang: VIII, 115
858
Anfang: VIII, 115
853
- 147 -
Ursprünglich wurde der Mensch allein von seinem tierischen Instinkt geleitet. Solange
er diesem „Rufe der Natur gehorchte, so befand er sich gut dabei“.859 Aber die „Vernunft fing
bald an sich zu regen“ und der Mensch „entdeckte in sich ein Vermögen, sich selbst eine
Lebensweise auszuwählen und nicht gleich anderen Thieren an eine einzige gebunden zu
sein“.860 Durch die Befreiung von der unbedingten Herrschaft der Instinkte öffnen sich dem
Menschen neue Handlungsmöglichkeiten, die aber zugleich auch der Ursprung allen Übels
und aller Unordnung sind. Dazu zählt vor allem der Krieg. Kant zeigt, dass wir die Schuld des
Übels in der Welt auf das Schicksal schieben anstatt sie als selbstverursacht anzuerkennen.861
Die Menschen müssen jedoch erkennen, dass sie an allem Übel größtenteils selbst
schuld sind. Im Umkehrschluss ergibt sich, dass der Ausweg aus allem selbstverschuldeten
Übel in der Selbstbesserung liegt. Durch die Beobachtung der Geschichte der ersten
Entwicklung der Freiheit wird sich der Mensch dessen bewusst, dass alles Übel wie alles
Gutes sein eigenes Werk ist. Sobald aber der Mensch seinen Anteil am Weltgeschehen
einsieht, wird er auch erkennen, dass die Geschichte der Menschheit nicht „vom Guten
anhebend zum Bösen“ fortgeht, sondern sich allmählich vom „Schlechtern zum Besseren“
entwickelt, und dass zu diesem Fortschritt „ein jeder an seinem Theile, so viel in seinen
Kräften steht, beizutragen durch die Natur selbst berufen ist“.862
Auch in der späteren Religionsschrift führt Kant aus, dass es für jeden Mensch
prinzipiell möglich bleibt, jederzeit ein moralisch guter Mensch zu werden. Auch hier gilt,
dass eine moralische Besserung lediglich selbstbewirkt werden kann. Auf der einen Seite
bleibt es immer möglich, dass der Mensch seinen moralischen Charakter durch eine
allmähliche Reform seines Verhaltens und eine Festigung seiner Maximen verbessert. Der
böse Mensch kann zunächst nach und nach lernen sich aus welchem Grund aus immer an das
moralische Gesetz zu halten. In diesem Fall kehrt zum Beispiel „der Unmäßige […] zur
Mäßigkeit um der Gesundheit, der Lügenhafte zur Wahrheit um der Ehre, der Ungerechte zur
bürgerlichen Ehrlichkeit um der Ruhe oder des Erwerbs willen, u. s. w. zurück“.863
Wenngleich der Mensch nach außen als ein neuer Mensch auftritt, hat er innerlich immer
noch ein böses Herz. Solange der Mensch sich aber nicht grundsätzlich dafür entschieden hat,
der Moral den absoluten Vorrang vor der Selbstliebe anzuerkennen, kann er zwar ein
gesetzlich guter Mensch sein, jedoch kein moralisch guter Mensch.864 Während er im ersten
Fall bloß legale Handlungen durchführt, handelt er im zweiten Fall moralisch.
Damit aus einem „Mensch von guten Sitten“ ein „sittlich guter Mensch“ wird, muss
die Autorität des Sittengesetzes vollumfänglich anerkennt und die „ursprüngliche sittliche
Ordnung unter den Triebfedern“865 wiederhergestellt werden. Dies hat zu bedeuten, dass das
Sittengesetz als oberster Grund aller unserer Maxime widerhergestellt werden muss. Anstelle
der Selbstliebe das Sittengesetz vorzuziehen, soll letzteres „in seiner ganzen Reinigkeit als für
sich zureichende Triebfeder der Bestimmung der Willkür in dieselbe aufgenommen“866
werden. Mit anderen Worten hat dies zu bedeuten, dass der Mensch wieder moralisch gut
wird, wenn er die Verkehrtheit der Triebfedern in seiner Willkür wieder rückgängig macht.
Das will heißen, wenn er die Achtung für das moralische Gesetz als oberste Triebfeder in
seine Willkür aufnimmt, und somit das Streben nach Glückseligkeit dem allgemeinen
Sittengesetz systematisch unterordnet. Weil die moralische Verkehrtheit sich auf den obersten
Grund aller Maximen bezieht, kann ihre Aufhebung nicht einfach durch eine „Änderung der
859
Anfang: VIII, 111
Anfang: VIII, 112
861
Vgl. Anfang: VIII, 116
862
Anfang: VIII, 123
863
Religion: VI, 47
864
Vgl. Religion: VI, 30
865
Religion: VI, 50
866
Religion: VI, 46
860
- 148 -
Sitten“867, das heißt durch eine allmähliche Reform seines äußeren Verhaltens bewirkt
werden. Um ein moralisch guter Mensch zu werden, ist vielmehr eine „wahre Reform der
Denkungsart“868, eine „Herzenänderung“869 bzw. eine „Revolution in der Gesinnung im
Menschen“870 erforderlich. Erst wenn sich eine derartige Revolution vollzogen hat, das heißt,
wenn der Mensch sich grundsätzlich dafür entschieden hat pflichtmäßige Handlungen rein aus
Pflicht durchzuführen, sind nicht nur legale, sondern außerdem moralische Handlungen
möglich.
Selbst dadurch wäre jedoch das Böse im Menschen nicht endgültig und vollständig
überwunden. Dies liegt darin begründet, dass die Menschen über ihre doppelte Gestalt als mit
praktischer Vernunft begabten endlichen Naturwesen nicht entscheiden können. Es handelt
sich dabei um eine anthropologische Gegebenheit. Selbst wenn die Menschen es wollen,
können sie also weder dem moralischen Gesetz ganz entsagen und sich zu teuflischen Wesen
machen, noch können sie sich zu engelhaften Wesen machen, deren Wille immer und
unausbleiblich durch die reine praktische Vernunft bestimmt ist. Als Sinnenwesen unterliegen
die Menschen ständig Trieben und Bedürfnissen. Sie sind sich außerdem als mit praktischer
Vernunft begabte Wesen dem moralischen Gesetz (dessen Gültigkeit apodiktisch gewiss ist)
immer unmittelbar bewusst. Nun kann nicht versichert werden, dass der Mensch immer der
Moral den absoluten Vorrang vor der Selbstliebe anerkennen wird. Der Kampf des guten
Prinzips mit dem Bösen um die Herrschaft über den Menschen kann niemals als endgültig
abgeschlossen betrachtet werden.
Es wurde gesehen, dass die Bösartigkeit nicht davon abhängt, ob eine besonders
erschütternde oder grausame Gesetzwidrigkeit vorliegt, sondern lediglich, ob die Beförderung
der eigenen Glückseligkeit des Sittengesetzes vorgezogen wurde. Die Bösartigkeit kann somit
eben dort bestehen, wo die Handlungen mit dem Sittengesetz übereinstimmen.871 Die
Bösartigkeit schließt pflichtmäßige Handlungen, mithin juridische Legalität, nicht aus. Aus
diesem Grund scheint zunächst Kants Lehre vom radikalen Bösen für seine Rechtstheorie
vom Weltfrieden ohne Bedeutung zu sein, da diese vom Menschen lediglich die juridische
Legalität fordert. Vor diesem Hintergrund mag es zunächst ein wenig überraschen, dass unter
den von Kant angeführten Beispielen des bösen Hanges in der menschlichen Natur doch ein
Rechtsproblem in der von Kant mehrmals wiederholten Kriegsbereitschaft der Staaten
auftritt.872 Während Kant in der Religionsschrift den Kampf des guten Prinzips mit dem bösen
als ein allein im Innern des Menschen stattfindenden Kampf bestimmt, heißt es in der
Friedensschrift, dass das böse Prinzip auch für die Staaten gilt. Nach der bereits erwähnten
Analogie von Staaten mit Individuen soll nämlich alles das, was für die einzelnen Menschen
gilt, ebenfalls und in gleicher Weise für die Staaten gelten. Der Begriff der moralischen
Verkehrtheit bezieht sich somit auch auf den Staat. Nun scheint aber die Übertragung des
bösen Prinzips im Menschen auf die Staaten die Möglichkeit des Weltfriedens infrage zu
stellen.
867
Religion: VI, 47
Aufklärung: VIII, 36
869
Religion: VI, 47
870
Religion: VI, 47
871
Vgl. Religion: VI, 30
872
Vgl. Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt
a. M. 2001, S. 95.
868
- 149 -
b) Über die Zukunft des Unfriedens und das absolute Primat der Selbsterhaltung
Vor diesem Hintergrund stellt sich die gewichtige Frage, ob Kants Begriff des Bösen
im Grunde genommen kein Argument gegen die Möglichkeit des ewigen Friedens darstellt.
Ist es nicht so, dass Kant ungewollt mit seiner Lehre vom radikalen Bösen seine Lehre vom
Weltfrieden untergräbt?
Dies ist jedenfalls die Ansicht bestimmter Kommentatoren, welche sich auf Kants
Verständnis der Bösartigkeit berufen, um zusammen mit Hans Ebeling die „Zukunft des
Unfriedens“873 zu prognostizieren. Dieser These ist insofern zuzustimmen, als dass die
Stiftung eines bürgerlich-gesetzlichen Zustands die Konflikte zwischen Menschen sowie
zwischen Staaten nicht ein für allemal komplett verschwinden lässt. In der Tat besteht
weiterhin die Möglichkeit, dass solche Konflikte auch nach Eintritt in einen sich weltweit
erstreckenden Rechtszustand bestehen. Der grundsätzliche Unterschied zwischen dem
rechtlosen Naturzustand und dem bürgerlich-gesetzlichen Zustand besteht lediglich darin,
dass die auftretenden Konflikte im letzten Fall nicht länger mit Gewalt ausgetragen werden,
sondern vielmehr prinzipiell mit Recht gelöst werden können. An dieser Stelle darf nicht aus
den Augen verloren gehen, dass Kant lediglich die Bedingungen einer friedensfähigen, nicht
notwendigerweise friedlichen Weltordnung hervorhebt. Mit anderen Worten kann man sagen,
dass Kant mitnichten die Bedingungen des Friedens, sondern allein die Bedingungen der
Möglichkeit des Friedens aufstellt und begründet.
Diese Sichtweise mag zunächst als pessimistisch erscheinen. Einerseits widerspricht
sie nämlich der gutmütigen Hoffnung derjenigen, die glauben, dass das Böse im Menschen
sich ein für allemal beseitigen lässt. Im Gegensatz dazu glaubt Kant weder an das Idealbild
des von der Vergesellschaftung unverdorbenen edlen Wilden, noch an die Schaffung eines im
Zuge des Zivilisationsprozess vollkommen vernünftigen Menschen, der immer von sich aus
moralisch handeln würde. Andererseits widerspricht Kants Sichtweise dem allzu starken
Pessimismus derjenigen, die glauben, dass der Mensch eine Anlage zum Bösen hat. Wie
bereits gesehen wurde, vertritt Kant die im Rahmen seiner prinzipientheoretischen
Überlegungen einzig konsequente und zugleich nüchterne These, wonach die Menschen keine
Anlage, sondern lediglich einen Hang zum Bösen haben. Wer glaubt, dass das Böse im
Menschen sich in der Zukunft vollständig bewältigen lässt, kann sich mit guten Gründen von
Kant dem Vorwurf der Träumerei ausgesetzt sehen. Wer wiederum glaubt, dass der Mensch
eine böse Anlage hat, kann sich dem Vorwurf eines unbegründeten, freiheitsvernichtenden
Pessimismus ausgesetzt sehen. Diese gegensätzlichen Positionen widersprechen Kants
Definition des Menschen als ein frei handelndes Wesen sowie der damit einhergehenden
Möglichkeit sich für das Gute oder Böse zu entscheiden.874 Kant stellt hier erneut seine
politische Urteilskraft unter Beweis. Erst wenn einmal erkannt wurde, dass die Menschen ein
in ihrer Natur wurzelnden und somit niemals komplett aufzuhebenden Hang zum Bösen
haben, können geeignete Maßnahmen zur Stiftung und Erhaltung einer republikanischen
Verfassung getroffen werden. Der böse Hang im Menschen führt jedoch dazu, dass selbst
873
Ebeling, Hans: Vom Einen des Friedens: über Krieg und Gerechtigkeit, Würzburg 1997, S. 35ff.; Ders.:
Kants „Volk von Teufeln“, der Mechanismus der Natur und die Zukunft des Unfriedens. Über den Mythos der
kommunikativen Vernunft, in: Der Vernunftfrieden. Kants Entwurf im Widerstreit, hrsg. v. Klaus-Michael
Kodalle, Würzburg 1996, S. 87ff. In Anlehnung an die Deutung des Marburger Neukantianers Paul Natorp in
seinem Essay Kant über Krieg und Frieden (1924) schreibt ebenfalls Denis Dumas: „là où Kant n’a pas été
suffisamment pessimiste, c'est lorsqu’il a présupposé que les démons sauraient à tout le moins se servir de leur
entendement pour se conformer adéquatement à la logique de l'intérêt égoïste“. Vgl. Dumas, Denis: La réception
néo-kantienne du projet de paix perpétuelle, in: L’année 1795. Kant. Essai sur la paix, hrsg. v. Pierre Laberge,
Guy Lafrance und Denis Dumas, Paris 1997, S. 372.
874
Vgl. Höffe, Otfried: Immanuel Kant. Leben - Werk - Wirkung, München 1983, 7. Aufl. 2007, S. 255.
- 150 -
nach der Stiftung des Staats-, Völker- und Weltbürgerrechts ein kompletter und
immerwährender Friede empirisch niemals garantiert werden kann.
Innerhalb eines Staates fällt der Hang zum Bösen nicht im gleichen Maß auf wie im
zwischenmenschlichen oder zwischenstaatlichen Naturzustand. Dies liegt darin begründet,
dass es im bürgerlich-gesetzlichen Zustand eine übergeordnete Zwangsgewalt gibt, welche
den Menschen zu pflichtmäßigen Handlungen zwingen kann. Im Naturzustand der Staaten ist
dies jedoch nicht der Fall: Es gibt keine überstaatliche Zwangsgewalt, welche über die
zwischenstaatlichen Streitigkeiten rechtsverbindlich entscheiden kann und die Staaten zu
einem pflichtmäßigen Verhalten zwingen kann. Unter diesen Bedingungen kann die
menschliche Natur ihren freien Lauf nehmen. Die vielen Kriege, welche zwischen den Staaten
geführt werden, belegen genug das radikale Böse in der menschlichen Natur. A contrario hat
dies zu bedeuten, dass eine oberste Zwangsgewalt notwendig und auch hinreichend ist, um
das radikale Böse im natürlichen Verhältnis der Staaten in Schranken zu halten, in derselben
Art und Weise wie dies auch der Fall für das natürliche Verhältnis der Menschen ist. Eine
überstaatliche Zwangsgewalt kann das Böse in der menschlichen Natur zwar nicht komplett
beseitigen (und ist übrigens nicht dazu berechtigt), aber dafür sorgen, dass das Böse nicht
unverhohlen auftritt, und dass die Staaten pflichtmäßige Handlungen durchführen.
Kants Gedankenexperiment bezüglich der mit Verstand ausgestatteten Teufel liegt die
Auffassung zugrunde, dass es jenen möglich ist, trotz einander entgegengesetzter
Privatgesinnungen sich im Interesse ihrer Selbsterhaltung unter ein allgemeines Rechtsgesetz
zu stellen. Die Stiftung einer republikanischen Verfassung beruht somit letztlich auf dem
Willen zur Selbsterhaltung. Kant schreibt diesbezüglich, dass die Teufel „insgesammt
allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen“.875 Dies deutet darauf hin, dass die Teufel
ein ihren Neigungen vorhergehendes, grundsätzlicheres Interesse am Fortkommen ihrer
eigenen Existenz haben. Das absolute Primat der Selbsterhaltung liegt wiederum darin
begründet, dass die eigene Existenz die notwendige Bedingung der Möglichkeit der
Befriedigung aller anderen Neigungen (Glückseligkeit) ist. Allein aus diesem Grund sind die
Teufel bereit sich unter ein allgemeines Rechtsgesetz zu stellen und somit ihre äußere Freiheit
wechselseitig einzuschränken.
Kants Teufel wollen somit nicht die Vernichtung der Gesetzlichkeit überhaupt. Wenn
sie das Fortkommen ihrer eigenen Existenz wirklich wollen, dann müssen sie das hierzu
notwendige Mittel, das in ihrem Vermögen ist, auch wollen. Diese Einstimmigkeit des
Denkens der Teufel mit sich selbst ist im Ausdruck „wenn sie nur Verstand haben“876
enthalten. Wenn also a priori feststeht, dass auch Teufel ebenso wie die Menschen ihre je
eigenen wie auch immer definierte Zwecke unabhängig von der nötigenden Willkür anderer
Teufel lediglich in einem republikanischen Staat verfolgen können, dann müssen sie auch die
Stiftung einer derartigen Verfassung wollen. Es ist nämlich in sich widersprüchlich, sich
einen Zweck zu setzten ohne die dafür erforderlichen Mittel zu wollen. Wenn die Teufel nun
tatsächlich mit Verstand und technisch-praktischer Vernunft begabt sind, müssen sie
einstimmig mit sich selbst denken und einsehen, dass nur die Stiftung einer republikanischen
Verfassung ihre Selbsterhaltung und das rechtsgesetzlich gesicherte Streben nach ihrer
eigenen Glückseligkeit ermöglichen kann. Der hypothetische Imperativ besagt den Teufeln
folgendes: Wenn du wirklich eine von der Willkür anderer Teufeln gesicherte Existenz führen
willst, um deine beliebige Zwecke überhaupt verfolgen zu können, dann sollst du eine
republikanische Verfassung stiften, als das notwendige Mittel, welches in deiner Gewalt steht,
um deinen Ziel zu erreichen.
875
876
Frieden: VIII, 366 (meine Hervorhebung)
Frieden: VIII, 366
- 151 -
Kants Friedenstheorie ist also keine Utopie, sondern eine „gegründete Hoffnung“877.
Der Friede ist für Kant nicht nur moralisch notwendig sondern auch empirisch möglich.
Diesbezüglich schreibt Otfried Höffe zu Recht, dass man bezüglich des Frieden statt von einer
„Utopie“ eher von einem „Ideal“ sprechen sollte. Während die erste ein „beständiges
Nirgendwo und Niemals“ bedeutet, handelt es sich im zweiten Fall um ein „realisierbare[s]
Noch-Nicht“.878 Als regulative Idee muss der Frieden das Ziel der Menschheit sein, wenn jene
nicht den ewigen Frieden in einem „weiten Grabe“879 finden will.
Nachdem im ersten Hauptteil Kants vernunftrechtliche Begründung einer
friedensfähigen Weltordnung dargestellt wurde, soll nun im zweiten Hauptteil der bislang
zwar nicht vollständig, aber doch weithin vernachlässigte Aspekt der Anwendung derselben
Vernunftprinzipien auf die Erfahrungsfälle untersucht werden.
877
Frieden: VIII, 386
Höffe, Otfried: Einleitung: Der Friede – ein vernachlässigtes Ideal, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden,
hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 17. Hermann Klenner schließt sich Otfried Höffe an, wenn
er schreibt, dass der Frieden für Kant kein „Nichtort“, sondern ein „Nochnichtort“ sei. Des Weiteren schreibt er,
dass für Kant der Gedanke eines ewigen Friedens „keine leere Idee“ sei, sondern „das Erdenken einer möglichen
Wirklichkeit, die antizipatorische Substanz einer künftigen Weltgesellschaft, wie sie jetzt schon auf dem Wege
ist“. Vgl. Klenner, Hermann: Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“ – Illusion oder Utopie?, in: 200 Jahre Kants
Entwurf »Zum ewigen Frieden«. Idee einer globalen Friedensordnung, Würzburg 1996, hrsg. v. Volker Bialas
und Hans-Jürgen Häßler, S. 21.
879
Frieden: VIII, 357
878
- 152 -
HAUPTTEIL B
KANTS LEHRE VON DER POLITIK
UND DAS PROBLEM DER ANWENDUNG
DER VERNUNFTPRINZIPIEN AUF DIE ERFAHRUNGSFÄLLE
- 153 -
1. KAPITEL: ZUM VERHÄLTNIS VON MORAL, RECHT
RECHTSTHEORIE VOM WELTFRIEDEN
UND
KLUGHEIT
IN
KANTS
In den zwei ersten Teilen der Friedensschrift führt Kant die notwendigen Bedingungen
der Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens der Menschen auf Erden aus. Dort zeigt er,
dass Frieden lediglich durch die Stiftung eines mit Hilfe öffentlicher Gesetze endgültig
gesicherten Rechtszustandes für alle Menschen und alle Völker der Welt erreicht werden
kann. Der Kerngedanke der Friedensschrift ist somit der einer universalen Rechtsordnung.
Die Frage nach dessen Realisierungsbedingungen tritt dabei zunächst in den Hintergrund.
Dies ist einer der Gründe, weshalb Kants Rechtstheorie vom Weltfrieden so vielfach kritisiert
wurde. Aus der ebenso einfachen wie unbestrittenen Feststellung, dass in Kants politischen
Schriften ausgesprochen wenige Aussagen bezüglich der Realisierungsbedingungen der
apriorischen Prinzipien des Rechts in der geschichtlich bewegten Lebenswelt zu finden sind,
wurde häufig geschlossen, dass Kant ein weltfremder Rechtsphilosoph sei, welcher die
Erfahrung missachte und kein Interesse für die konkreten Probleme der Menschen zeige.
In diesem Zusammenhang wurde Kant insbesondere wegen seiner vermeintlichen
Abwertung der Klugheit als die tradierte pragmatische Kompetenz kritisiert. Dabei wird
zumeist gefordert, dass der Klugheit im Bereich der Politik eine gewichtigere Rolle
zukommen sollte, als dies den Fall bei Kant ist. Auf der einen Seite ist die Politik eine
öffentliche Tätigkeit, was unter anderem zu bedeuten hat, dass viele Menschen von den
politischen Entscheidungen betroffen werden können. Allein die Tatsache, dass die Kosten
und der Nutzen einer selbst auf das Erlangen des Gemeinwohls ausgerichteten Entscheidung
oftmals ungleich verteilt sind, erklärt, dass Politiker sich häufig mit öffentlichen
Widerständen seitens der negativ Betroffenen konfrontiert sehen. Vor diesem Hintergrund
ergibt es sich, dass die Politiker klug handeln sollen, wenn sie den immer möglichen
Widerstand der anderen Menschen entschärfen bzw. überwinden möchten. Auf der anderen
Seite darf nicht übersehen werden, dass die unkluge Erfüllung einer aus der Vernunft
hergeleiteten Rechtspflicht zu einem Selbstwiderspruch führen kann, wenn dadurch gegen
Recht verstoßen wird, welches selbst Ausdruck der Vernunft ist. Während beispielsweise eine
überstürzte Reform die bestehenden und bewährten Staatseinrichtungen aufs Spiel setzt,
bringt eine Verzögerung die Bürger gegen den Staat auf. Daraus folgt, dass die Kenntnis der
„Grundsätze des öffentlichen Rechts“880 sowie der moralische Wille sie umzusetzen, nicht
ausreichen, um den vernunftnotwendigen Zustand des Weltfriedens zu stiften. Für die KantKritiker scheint es somit nahe zu liegen, der Klugheit eine gewichtige Rolle bei der
Anwendung der apriorischen Prinzipien des Rechts in der politischen Realität zuzuschreiben.
Dieser Forderung entgegen, behaupten die Kritiker, dass der Klugheit bei Kant diese
Anwendungsfunktion nicht oder nur unzureichend zukommt.
Erstaunlicherweise hat Kants Klugheitslehre über einen langen Zeitraum hinweg keine
große Beachtung seitens der Sekundärliteratur gefunden.881 Diese Zurückhaltung lässt sich
plausibel auf mehrere Gründe zurückführen. Ein erster Grund liegt sicherlich in dem
mangelnden Interesse für Kants politische Philosophie in ihrer Gesamtheit. Weil die Politik zu
denjenigen Bereichen gehört, mit welchen die Klugheit gern assoziiert wird, ist es nicht
verwunderlich, dass das mangelnde Interesse für Kants politische Schriften im Allgemeinen
sich in einem ebenso mangelnden Interesse für Kants Klugheitslehre im Speziellen
880
Frieden: VIII, 378
Unter verschiedenen Beiträgen, welche sich den hypothetischen Imperativen der Klugheit im Speziellen
widmen, sind vor allem die folgenden Beiträge erwähnenswert: Cramer, Konrad: Hypothetische Imperative? in:
Rehabilitierung der praktischen Philosophie, hrsg. v. Manfred Riedel, Bd. 1, Freiburg 1972, S. 159-212; Hill,
Thomas E: The hypothetical Imperativ, in: Philosophical Review 82, 1973, S. 429-450; Patzig, Günther: Die
logischen Formen praktischer Sätze in Kants Ethik, in: Kant-Studien 56, 1966, S. 237-252.
881
- 154 -
widerspiegelte. Weil Kants gesamte politische Philosophie im Hintergrund stand, schien auch
seine Klugheitslehre nicht imstande zu sein, eine ernsthafte sowie fruchtbare Alternative zu
der sittlichkeitsorientierten Klugheitslehre eines Aristoteles oder der amoralischen,
machtfunktionalen Klugheitslehre eines Machiavelli anbieten zu können. Ein weiterer Grund
für die lange nur zurückhaltende Auseinandersetzung mit Kants Klugheitslehre liegt sicher
auch in dem Umstand begründet, dass Kant in seinen Schriften zur praktischen Philosophie
häufig erst dann auf die hypothetischen Imperative der Klugheit eingeht, wenn er zeigen
möchte, dass jene sich vom kategorischen Imperativ der Sittlichkeit grundsätzlich
unterscheiden und streng genommen gar nicht zur praktischen Philosophie gehören.882
Dadurch ergibt sich die etwa kontraintuitive systematische Gestalt, dass die Regeln des
klugen Handelns von der Moralphilosophie ausgeschlossen werden und zur theoretischen
Philosophie gezählt werden. Letztlich kommt noch hinzu, dass Kants Erläuterungen zur
Klugheit manchmal als unklar und schwankend angesehen wurden, was sicherlich damit
verbunden ist, dass Kant selbst nur allmählich Klarheit über den systematischen Stellenwert
der Klugheitsregeln gewonnen hat.
Seit den späten 1970er Jahren haben sich verschiedene Kant-Interpreten jedoch wieder
dem Klugheitsbegriff intensiver zugewandt.883 Besonderer Verdienst gilt hier dem
Aristoteles‘-Experten Pierre Aubenque, welcher in einem zum Klassiker gewordenen Aufsatz
aus dem Jahre 1975 den systematischen Stellenwert der Klugheit bei Kant erhellt hat und auf
dessen Unterschiede zur Aristotelischen phronesis aufmerksam gemacht hat.884 Dieser
Aufsatz war der Anlass einer bis heute anhaltenden, verstärkten Auseinandersetzung mit
Kants Lehre von den hypothetischen Imperativen der Klugheit. Nach wie vor wird dennoch in
der Sekundärliteratur zumeist davon ausgegangen, dass Kant Moral und Klugheit getrennt
oder sogar als Gegensatz begreift. Ein namhafter Autor wie Wolfgang Kersting kam
beispielsweise zu dem Urteil, dass bei Kant „die autonomiestolze Vernunft des Moralgesetzes
die Klugheit [inferiorisiert], und in ihr nur die verächtliche Interessenverwalterin eines
heteronomen Lebens [erblickt]“.885 Daher plädiert Wolfgang Kersting, gemeinsam mit
anderen Autoren, für eine „Rehabilitierung der Klugheit“.
Dieser Auffassung kann jedoch entgegengehalten werden, dass Kant insbesondere im
ersten Anhang der Friedensschrift, um eine Vermittlung zwischen apriorischer Ausgangslage
und pragmatischer Fragestellungen bemüht ist. Dort wirft er die Frage auf, ob die Politiker
sich allein oder vorrangig an Klugheit und Erfahrung orientieren sollen, um die staatliche
Macht auf welchem Weg auch immer auszubauen, oder ob sie sich strikt an das allgemeine
Sittengesetz halten sollen, um Rechtsverhältnisse zu etablieren ohne ihren eigenen Vorteil zu
suchen. Im ersten Falle würde es sich um eine bloße Kunstaufgabe handeln, während es sich
im zweiten Falle um eine sittliche Aufgabe handeln würde. Kants Antwort auf diese Frage
fällt erwartungsgemäß eindeutig aus: In der Politik als ausübende Rechtslehre hat nicht die
882
Dies bemerkte bereits Herbert J. Paton in seiner immer noch lesenswerten Darstellung der Kantischen
Moralphilosophie, in welcher er den hypothetischen Imperativen allein zwei Kapitel widmet. Vgl. Paton, Herbert
James: The categorical imperative: a study in Kant’s moral philosophy, Philadelphia 1971, S.113-120.
883
Vgl. Brandt, Reinhard: Klugheit bei Kant, in: Klugheit, hrsg. v. Wolfgang Kersting, Weilerswist-Metternich
2005, S. 98-133; Hinske, Norbert: Die „Ratschläge der Klugheit“ im Ganzen der Grundlegung. Kant und die
Ethik der Griechen, 3. Abschnitt: Xenophon, in: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer
Kommentar, hrsg. v. Otfried Höffe, Frankfurt a. M. 1989, 3. Aufl. 2000, S. 131-147; Marshall, John:
Hypothetical Imperatives, in: American Philosophical Quarterly 19/1, 1982, S. 105-114; Schwaiger, Clemens:
Klugheit bei Kant. Metamorphosen eines Schlüsselbegriffs der praktischen Philosophie, in: Aufklärung 14,
2002, S. 147-159; Seel, Gerhard: Sind hypothetische Imperative analytische praktische Sätze?, in: Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 2000, S. 148-170.
884
Vgl. Aubenque, Pierre: La prudence chez Kant, in: Revue de Métaphysique et de Morale LXXX/3, 1975, S.
156-182.
885
Kersting, Wolfgang: Einleitung: Rehabilitierung der Klugheit, in: Klugheit, hrsg. v. Ders.: WeilerswistMetternich 2005, S. 7f.
- 155 -
Klugheit den Vorrang, sondern die Weisheit, verstanden als „die Zusammenstimmung des
Willens zum Endzweck“886, das heißt hier als das innere Prinzip des Willens der Befolgung
des Rechtsgesetzes. Es wird sich zwar zeigen, dass Kant auf dem absoluten Vorrang des
formalen Rechtsprinzips beharrt, aber den hypothetischen Imperativen der Klugheit einen
größeren Freiraum einräumt, als in der Sekundärliteratur häufig angenommen wird.
Auf den folgenden Seiten soll der Frage nach dem systematischen Stellenwert der
Klugheit ausführlich nachgegangen werden. Diesbezüglich ergibt sich eine ganze Anzahl an
Fragen, von denen sich aber nur einige primär auf den hier behandelten politischen Bereich
beziehen und daher näher erläutert werden. Einige dieser Fragen sollen schon einmal vorweg
genommen werden: Was ist überhaupt unter Klugheit zu verstehen? Inwiefern kann sie für
das politische Handeln dienlich sein? Und nicht zuletzt: In welchem systematischen
Zusammenhang steht die Klugheit zu Moral und Recht?
1. Kants Definition der Klugheit
Die erste Frage, die es zu beantworten gilt, ist die, was Kant unter dem Begriff der
Klugheit überhaupt versteht. Näheren Aufschluss darüber erfahren wir im zweiten Abschnitt
der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, wo Kant den Begriff der Klugheit zunächst
allgemein als „die Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel zu seinem eigenen größten
Wohlsein“887 definiert. In der hieran direkt anschließenden Anmerkung unterscheidet er
zwischen zwei Aspekten der Klugheit: die Weltklugheit und die Privatklugheit. Unter der
ersten ist die Geschicklichkeit eines jeden Menschen zu verstehen, auf andere Menschen
Einfluss auszuüben, um jene zu seinen Absichten zu gebrauchen. Unter der zweiten ist
dagegen jene Geschicklichkeit gemeint, alle diese Absichten zu seinem eigenen andauernden
Vorteil zu vereinigen. Die Privatklugheit, das heißt der kluge Umgang mit den eigenen
Bestrebungen, ist also der Weltklugheit in dem Sinne systematisch vorgeordnet, dass nur
derjenige weltklug sein kann, der ebenfalls privatklug ist.888 Die Privatklugheit ist somit eine
notwendige Bedingung der Weltklugheit. Dass Kant unter ein und demselben Oberbegriff
zwei Aspekte der Klugheit vereinigt, weist darauf hin, dass für ihn der Umgang mit der Welt
und der Umgang mit den eigenen Bestrebungen zusammen gehören. Es handelt sich um zwei
Seiten einer und derselben Fähigkeit.
Kant spricht von Welt- oder Privatklugheit je nachdem aus welcher Perspektive er das
Problem nach der Wahl der Mittel zu seinem eigenen größten Wohlergehen betrachtet. Es
kann allerdings vorweggenommen werden, dass sich Kants Verständnis der Klugheit mit der
Zeit ändern wird. In der sogenannten »Ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft« war
Kant noch bemüht, den zwei eben angeführten Bedeutungsweisen in einer einzigen Definition
gerecht zu werden, indem er die Klugheit als die Geschicklichkeit definierte „freie Menschen
und unter diesen so gar die Naturanlagen und Neigungen in sich selbst, zu seinen Absichten
brauchen zu können“.889 Bemerkenswert ist allerdings schon an dieser zweiten Definition,
dass Kant hier die hierarchische Ordnung zwischen den zwei Bedeutungen der Klugheit, wie
sie in der Grundlegung ausgeführt wurden, völlig umkehrt. Die Geschicklichkeit im Umgang
mit den eigenen Bestrebungen (Privatklugheit) ist nur noch ein bloßer Unterfall des Umgangs
mit den Menschen (Weltklugheit). Die Weltklugheit ist also von nun an der Privatklugheit
systematisch vorgeordnet. Vor diesem Hintergrund mag es dann nicht allzu überraschend
erscheinen, dass Kant in der veröffentlichen Fassung seiner Kritik der Urtheilskraft den
Begriff der Klugheit nur noch im Sinne der Weltklugheit verwendet, denn die Klugheit wird
886
Verkündigung: VIII, 418; Vgl. TL: VI, 441
GMS: IV, 416; Vgl. Frieden: VIII, 370
888
Vgl. GMS: IV, 416
889
KUK: XX, 200 (meine Hervorhebung)
887
- 156 -
dort schlicht als die „Geschicklichkeit, auf Menschen und ihren Willen Einfluß zu haben“890
definiert. Diese Bedeutungsweise ist auch diejenige, die in Kants späteren Werken
vorherrschen wird, sei es explizit wie in der Vorlesung Über die Pädagogik891 oder implizit
wie in der Schrift Zum ewigen Frieden.892
Auf den folgenden Seiten wird sich zeigen, dass die zuvor erwähnte Verschiebung
bezüglich Kants Verständnis der Klugheit auf einer grundsätzlicheren Verschiebung in
seinem Gedanken zurückgeht. An dieser Stelle reicht es aus festzuhalten, dass Kant im ersten
Teil des Anhangs der Friedensschrift unter der Überschrift »Über die Mißhelligkeit zwischen
der Moral und der Politik, in Absicht auf den ewigen Frieden« die Behauptung aufstellt, dass
Klugheit und Moral grundsätzlich zusammen bestehen können. Es muss nicht
notwendigerweise eine Dichotomie von Politik und Moral geben. Dieser Behauptung gibt
Kant die folgende Fassung: „Die Politik sagt: »Seid klug wie die Schlangen«; die Moral setzt
(als einschränkende Bedingung) hinzu: »und ohne Falsch wie die Tauben«“.893 Festzuhalten
ist an dieser knappen Formel zweierlei. Zunächst erkennt Kant indirekterweise die Bedeutung
der Klugheit für das politische Handeln an. Im zweiten Satzteil fügt er aber restriktiv hinzu,
dass selbst der Politiker sein Handeln nicht ausschließlich auf Klugheit gründen darf, sondern
auch und sogar vorrangig die Gebote der Sittlichkeit zu beachten hat. Das Feld der Klugheit
findet somit seine Grenzen in der Moral, die hier bloß als „einschränkende Bedingung“
bezeichnet wird. In diesem Zusammenhang schreibt Reinhard Brandt zu Recht, dass die
Klugheit dem „Veto“ der Moral unterliegt.894 Zwischen Klugheit als Mittel der Politik und
Moral gibt es also bei Kant keinen grundsätzlich unüberwindbaren Gegensatz, sondern
schlicht entweder „Mißhelligkeit“ oder „Einhelligkeit“, das heißt entweder Disharmonie
(Mangel an Übereinstimmung) oder Harmonie (Übereinstimmung).
Dass Kant die Bedeutung der Klugheit im oben definierten Sinn für das politische
Handeln überhaupt anerkennt, liegt im Hinblick auf seine Moralphilosophie nicht nahe und
bedarf der Erklärung. Es wurde bereits gesehen, dass Kant im zweiten Abschnitt der
Grundlegung neben der allgemeinen Formel des kategorischen Imperativs drei besondere
Formeln anführt: Die Formel des Naturgesetzes, die Formel der Menschheit als Zweck an sich
selbst sowie letztlich die Formel des Reiches der Zwecke als ein Reich der Natur. Obwohl sie
jeweils unterschiedliche Aspekte betonen, sind diese drei Formeln Ausdruck des ein und
selben Grundgesetzes: der allgemeine kategorische Imperativs.895 Die Selbst-Zweck-Formel
des kategorischen Imperativs, auf welche nun näher eingegangen wird, lautet ihrerseits
folgendermaßen: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der
Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“.896
Anhand dieser Formel des kategorischen Imperativs können die Willens- und
Handlungsmaxime der Menschen auf ihre Moralität hin geprüft werden. Vor diesem
Hintergrund drängt sich allerdings die Frage auf, was unter dieser Formel überhaupt zu
verstehen ist und wie jene sich begründen lässt.
Für Kant nimmt der Mensch als ein mit praktischer Vernunft begabtes Wesen eine
Sonderstellung in der Natur ein. Dies liegt darin begründet, dass er einen Willen hat. Diesen
890
KUK: V, 172
In der Vorlesung über die Pädagogik zum Beispiel wird die Klugheit stets im Sinne von Weltklugheit als die
Fähigkeit definiert, „der zufolge man alle Menschen zu seinen Endzwecken gebrauchen kann“ (IX, 450).
892
Auch in den späteren Vorarbeiten zur Rechtslehre definiert Kant die Klugheit in diesem Sinne als die
„Geschicklichkeit […] Menschen (freye Wesen) als Mittel zu seinen Absichten zu brauchen“ (XXIII, 346).
893
Frieden: VIII, 370
894
Vgl. Brand, Reinhard: Klugheit bei Kant, in: Klugheit, hrsg. v. Wolfgang Kersting, Weilerswist-Metternich,
2005, S. 99.
895
Vgl. GMS: IV, 436
896
GMS: IV, 429
891
- 157 -
Willen definiert Kant wiederum als das „Vermögen der Zwecke“.897 Es handelt sich genauer
gesagt um das Vermögen eines jeden vernünftigen Wesens sich selbst beliebige Zwecke zu
setzen und seine Handlungen als Mittel zu Erreichung dieser Zwecke anzupassen. An dieser
Stelle besteht aber Erklärungsbedarf darüber, was unter dem Begriff des Zweckes zu
verstehen ist.
Als erste Annäherung an diesen Begriff, könnte man zunächst versucht sein darunter
einen jeden Gegenstand der Neigungen zu verstehen, welcher noch nicht erreicht ist,
allerdings angestrebt wird. Wenn dies die einzige Bedeutung des Begriffs des Zweckes wäre,
dann würde der Begriff des „Zweckes an sich“ schlechterdings keinen Sinn machen. Wenn
alle Handlungen nur als Mittel zu einem neigungsbestimmten, mithin subjektiven Zweck zu
denken wären, dann würde es außerdem keinen kategorischen Imperativ geben.
Der Begriff des Zweckes hat aber auch eine weitere Bedeutung. Kant schreibt
nämlich, dass der Zweck auch das ist, was „dem Willen zum objectiven Grunde seiner
Selbstbestimmung dient“.898 In diesem engeren Sinne lassen sich wohl Zwecke denken,
welche nicht als Gegenstände der Neigungen zu betrachten wären. Wenn es nämlich einen
kategorischen Imperativ gibt, welcher bestimmte Handlungen als praktisch notwendig
gebietet, und wenn alle Handlungen einen Zweck verfolgen, dann muss es Zwecke geben,
welche von allen Menschen notwendig in ihren Handlungen berücksichtigt werden müssen.
Gemeint sind jene Zwecke, welche unabhängig von allen Neigungen, aus der eigenen
Gesetzgebung der Vernunft, durch apriorische Prinzipien, welche die bloße Form des Wollens
betreffen, bestimmt sind. Solche Zwecke sind „Zwecke an sich“, also Zwecke, die ohne
Bezug auf materiale Zwecke gut sind.
In der Grundlegung verwendet Kant eine je nach Zusammenhang abwechslungsreiche
Terminologie, um diesen Unterschied deutlich zu machen. Auf der einen Seite werden
„relative Zwecke“899 von Kant ebenfalls „subjektive Zwecke“900, „materielle Zwecke“901 oder
auch „willkürliche Zwecke“902 genannt. Diese Zwecke sind neigungsbestimmt und haben
somit lediglich für die einzelnen Menschen einen Wert. Auf der anderen Seite werden
„objective Zwecke“903, von Kant auch „Zwecke an sich selbst“904 genannt. Es handelt sich
also um diejenigen Zwecke, deren Dasein an sich, also unabhängig von den menschlichen
Neigungen einen Wert haben. Entsprechend unterscheidet Kant auch zwischen „dem relativen
Wert“ der relativen Zwecke, und dem „absoluten Wert“ objektiver Zwecke. Was nur einen
relativen Wert und keinen absoluten hat, hat einen Preis. Was dagegen einen absoluten Wert
hat, besitzt eine Würde.905 Desweiteren schreibt Kant, dass was einen Preis hat, nur eine
Sache ist, während nur Personen eine Würde haben können.906 Da nur ein vernünftiges Wesen
eine Person sein kann, sind die Menschen als vernünftige Wesen Personen, die als solche eine
Würde haben und somit auch einen absoluten Wert. Aus der These der Würde vernünftiger
Wesen folgt unmittelbar, dass der Wert aller Menschen gleich und absolut ist. Gleichwohl, ob
die Menschen moralisch handeln oder nicht, besitzen und behalten sie als vernünftige Wesen
eine Würde und somit einen absoluten Wert.
So kommt Kant zu dem für uns entscheidenden Schluss, dass der Mensch und
überhaupt jedes vernünftige Wesen nur als Zweck an sich selbst existieren. Dies beinhaltet,
897
Vgl. KpV: V, 58f.; KUK: V, 280, 370, 431
GMS: IV, 427
899
GMS: IV, 427, 428, 436
900
GMS: IV, 427, 428, 431
901
GMS: IV, 427
902
GMS: IV, 436
903
GMS: IV, 427, 428, 431
904
GMS: IV, 428
905
Vgl. GMS: IV, 434
906
Vgl. GMS: IV, 429
898
- 158 -
dass sie nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen existieren
können, sondern jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden müssen.907 Ein
vernunftbegabtes Wesen soll somit als Zweck an sich selbst betrachtet werden, weil es
Zwecke für sich selbst bestimmen und verfolgen kann. Den anderen Menschen als Zweck an
sich selbst zu behandeln, bedeutet demnach nur nach jenen Maximen zu handeln, von denen
allen Menschen wollen können, dass sie zu allgemeinen Gesetzen dienen sollen. Um ein
vernünftiges Wesen als Zweck an sich selbst behandeln zu können, muss also dieses jederzeit
zugleich als gesetzgebend betrachtet werden.908 Die Menschen sollen nur nach objektiven
Bewegungsgründen handeln, welche nicht subjektiv bedingt sind (auf Neigungen beruhen),
sondern für jedes vernünftige Wesen gelten.
Die Formel der Menschheit als Zweck an sich selbst scheint oberflächlich gesehen die
Klugheit im zuvor definierten Sinn auszuschließen. Wer nämlich versucht, die anderen
lediglich zum eigenen Zweck zu instrumentalisieren, macht aus diesen ein bloßes Mittel zum
beliebigen Gebrauch, was der Selbst-Zweck-Formel des kategorischen Imperativs
offensichtlich widerspricht. Es hat den Anschein, dass es für die Klugheit hier kein Platz gibt.
Bei näherer Betrachtung kann dennoch festgehalten werden, dass die Selbst-Zweck-Formel
des kategorischen Imperativs durchaus zulässt, andere als Mittel zu benutzen, allerdings unter
der strengen Bedingung, dass diese eben nicht „bloß“, also ausschließlich, als Mittel
gebraucht werden. Auf politischem Gebiet kann also folgendes festgehalten werden: Wenn
der politische Handelnde sich zum Grundsatz macht, dem Recht gemäß zu handeln, und die
Anderen zu seinem Zweck beeinflusst, dann ist Klugheit nichts anderes als die
Geschicklichkeit, die Anderen zwecks der moralisch gebotenen Verwirklichung der
Prinzipien des Rechts zu beeinflussen. Unter dieser Bedingung werden die Menschen nicht
bloß als Mittel, sondern zugleich als Zweck betrachtet. In diesem Fall stimmen Klugheit,
Recht und Moral durchaus überein. Moral und Klugheit schließen sich somit nicht
notwendigerweise wechselseitig aus. Klugheit an sich ist nicht moralisch verwerflich, sondern
ist vielmehr eine „sittlich neutrale Kompetenz“.909
Bereits an dieser Stelle ist zu sehen, dass Kant die Klugheit der Sittlichkeit
unterordnet. Dies entspricht der Unterscheidung von hypothetischen und kategorischen
Imperativen, welche wir im Folgenden näher betrachten werden.
2. Kants Lehre von den hypothetischen Imperativen
2.1 Die Unterscheidung zwischen kategorischem und hypothetischem Imperativen
Kant führt seine Lehre von den hypothetischen Imperativen hauptsächlich im zweiten
Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten aus. Dort wird zunächst kurz erläutert,
was unter einem Imperativ überhaupt zu verstehen ist. Diesbezüglich soll folgendes
festgehalten werden: Während alles in der Natur Naturgesetzen unterliegt (sei es biologische
Gesetze wie bei Tieren oder physische Mechanismen wie bei lebloser Materie), können die
Menschen als mit praktischer Vernunft begabte Wesen nach der Vorstellung von Gesetzen,
mithin nach objektiven Vernunftgründen, handeln. Wenn die Vorstellung eines Gesetzes für
einen Willen nötigend ist, wird von einem Gebot der Vernunft gesprochen. Die Formel des
Gebots heißt wiederum Imperativ. Imperative sind somit normative Sätze, die als solche ein
Sollen, das will heißen eine praktische Notwendigkeit aussprechen. Als praktische Sätze
fordern sie die Menschen auf, in einer bestimmten Weise zu handeln oder sich einer
907
Vgl. GMS: IV, 428
Vgl. GMS: IV, 434
909
Höffe, Otfried: Politische Gerechtigkeit: Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat,
Frankfurt a. M. 1989, S. 475.
908
- 159 -
bestimmten Handlung zu enthalten. Kurzum: Sie sagen, dass „etwas zu thun oder zu
unterlassen gut sein würde“.910
Den Imperativen kommt die Funktion zu den Willen der Menschen zu nötigen, weil
jene nicht von allein und notwendigerweise gut handeln. Imperative zeigen dadurch „das
Verhältniß objectiver Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjectiven Unvollkommenheit
des Willens dieses oder jenes vernünftigen Wesens“.911 Die Imperative betreffen lediglich die
Menschen als endliche Vernunftwesen, weil deren Willen im Unterschied zu den göttlichen
und überhaupt zu den heiligen Wesen immer auch durch Sinnlichkeit bestimmt ist und
deshalb nicht vollkommen gut ist. Weil die Menschen keinen vollkommen guten Willen
haben, handeln sie nicht notwendigerweise moralisch. Dies ist der Grund, weshalb der
Imperativ den Menschen überhaupt ein Sollen auferlegt, denn für einen vollkommen guten
Willen sind Imperative überflüssig, weil „das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz
nothwendig einstimmig ist“.912 Des Weiteren führt Kant aus, dass Imperative Sätze sind,
welche objektive Prinzipien der Willensbestimmung zum Ausdruck bringen. In der
Grundlegung wird der Terminus „objektiv“ mit dem Ausdruck „aus Gründen, die für jedes
vernünftige Wesen als ein solches gültig sind“913 erläutert. Ein praktisches Prinzip kann also
nur dann objektive Geltung beanspruchen, wenn jenes auf Vernunftgründen beruht, das heißt
auf Gründen, die von jedem vernünftigen Wesen unwidersprechlich als gültig erkannt werden
können.
Imperative gibt es in zweierlei Gestalt: Als kategorische und als hypothetische
Imperative.914 Der Unterschied wird von Kant in drei kurzen Abschnitten aus der
Grundlegung näher herausgearbeitet. Ganz allgemein kann folgendes festgehalten werden:
Während der kategorische Imperativ eine Handlung als für sich selbst, das will heißen ohne
Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv-notwendig vorschreibt, gebietet der
hypothetische Imperativ eine Handlung lediglich als Mittel für einen möglichen oder
wirklichen Zweck. In Kants eigenen Worten heißt es: „Wenn nun die Handlung bloß wozu
anders als Mittel gut sein würde, so ist der Imperativ hypothetisch; wird sie als an sich gut
vorgestellt, mithin als nothwendig in einem an sich der Vernunft gemäßen Willen, als Princip
desselben, so ist er kategorisch“.915 Während die kategorisch gebotene Handlung unabhängig
von irgendeinem Ziel als an sich gut vorgestellt wird, ist die hypothetisch gebotene Handlung
nur relativ gut. Das bedeutet, dass sie in Bezug auf einen gewissen Zweck gut ist. Die
hypothetischen Imperative verstehen sich lediglich im Verhältnis zu einem gesetzten Zweck.
Sie stellen die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu einem
wirklichen oder bloß möglichen Zweck vor. Im Unterschied zum kategorischen Imperativ,
liegt dem hypothetischen Imperativ somit immer eine Mittel-Zweck-Kalkulation zugrunde.
Aus der schematischen Gegenüberstellung der von Kant anschließend verwendeten
Definitionen ergibt sich das folgende Bild:
910
GMS: IV, 413
GMS: IV, 414
912
GMS: IV, 414
913
GMS: IV, 413
914
Vgl. GMS: IV, 414
915
GMS: IV, 414 (meine Hervorhebungen)
911
- 160 -
Abbildung 3: Synopsis der Imperative
Hypothetische Imperative
Die Handlung wir lediglich als Mittel zu einem beliebig
gesetzten oder natürlichen Zweck geboten
Problematisch-praktisches
Assertorisch-praktisches
Prinzip
Prinzip
Gut geeignet für eine
Gut geeignet für eine
mögliche Absicht
wirkliche Absicht
Regeln der Geschicklichkeit
Ratschläge der Klugheit
Technische Imperative
Pragmatische Imperative
Kategorische Imperative
Die Handlung wird für sich selbst
als objektiv-notwendig geboten
Apodiktisch-praktisches Prinzip
An sich gut
Gebote (Gesetze) der Sittlichkeit
Moralische Imperative
Diese begrifflichen Gegensatzpaare sind nicht immer unmittelbar einleuchtend und
bedürfen also weiterer Erläuterungen. Im Folgenden werden wir uns vornehmlich auf die
hypothetischen Imperative konzentrieren. Diesbezüglich gibt es allerdings viele Probleme,
von denen nur einige primär die hier behandelte Problemstellung betreffen und daher in den
folgenden Seiten näher erläutert werden. Bei der Bestimmung dessen, was unter dem Begriff
eines hypothetischen Imperativs zu verstehen ist, soll zunächst ex negativo vorgegangen
werden. Das heißt es soll in einem ersten Schritt bestimmt werden, was ein hypothetischer
Imperativ nicht ist. Es soll dabei auf drei leicht auftretende Missverständnisse eingegangen
werden und des Weiteren versucht werden diese zu beseitigen.
Erstes Missverständnis: Um von Anfang an konzeptionelle Klarheit zu schaffen, soll
vorweg darauf aufmerksam gemacht werden, dass sich die hypothetischen Imperative von den
kategorischen Imperativen nicht anhand eines sprachlichen Kriteriums unterscheiden lassen.
Kant schreibt mitnichten, dass die hypothetischen Imperative Sätze von hypothetischer Form
und die kategorischen Imperative von kategorischer Form sind. Was Kant hingegen schreibt
ist, dass die ersten hypothetisch, die letzteren kategorisch gebieten. Die hypothetischen
Imperative werden somit nicht ausschließlich in Konditionalsätzen formuliert. Die sprachliche
Form der jeweiligen Imperative ist für die Unterscheidung von hypothetischen und
kategorischen Imperativen ohne jegliche Bedeutung. Hypothetische Imperative können
genauso gut in sprachlich kategorischer Form auftreten, als kategorische Imperative in
sprachlich hypothetischer Form auftreten können.
Zweites Missverständnis: Ein weiteres, naheliegendes Missverständnis liegt in dem
Versuch die Mittel-Zweck-Unterscheidung zur Abgrenzung der beiden Typen von
Imperativen heranzuziehen. Es ist falsch davon auszugehen, dass die Mittel hypothetisch, die
Zwecke aber kategorisch geboten sind. Gewisse Textstellen in der Grundlegung können auch
leicht den Eindruck erwecken, dass der kategorische Imperativ sich dadurch auszeichnet, dass
er die Handlung als solche und nicht als Mittel für einen anderen Zweck gebietet, während
der hypothetische Imperativ genau durch diese letzte Funktion bestimmbar wäre. Dies ist
nicht grundsätzlich falsch, greift aber zu kurz. Wenn man bei Kant liest, dass eine Handlung
für sich selbst geboten ist, dann hat dies zu bedeuten, dass jene nicht im Dienst der Neigung
steht. Im ersten Teil der vorliegenden Dissertation wurde außerdem bereits ausführlich darauf
eingegangen, dass auch Mittel kategorisch geboten sein können. Dies ist für diejenigen Mittel
der Fall, die notwendig sind, um einen kategorisch gebotenen Zweck zu erreichen. Die
Präliminarartikel zum Beispiel bestimmen die notwendigen Mittel zur Schaffung eines
Zustandes vorläufiger Kriegsabwesenheit. Die Einhaltung der Präliminarartikel ist deshalb
kategorisch geboten, weil sie die Bedingungen schaffen, unter denen der Abschluss eines
vernunftnotwendigen Definitivvertrags überhaupt erst möglich ist. Es darf also nicht
übersehen werden, dass eine Handlung als Mittel zu einem kategorisch gebotenen Zweck sehr
wohl auch vernunftnotwendig sein kann.
- 161 -
Drittes Missverständnis: Kants Erläuterungen in der Grundlegung können ebenfalls
leicht so verstanden werden, als wollte Kant lediglich dem kategorischen Imperativ objektive
Geltung zusprechen und diese zugleich den hypothetischen Imperativen absprechen. Wenn
diese Auslegung zutreffen würde, dann würde sich allerdings ein Widerspruch zu der
eingangs angeführten Begriffsbestimmung ergeben, nach welcher allen Imperativen, also
auch den hypothetischen, objektive Geltung zukommt. Dieses Missverständnis ist darauf
zurückzuführen, dass Kant den Terminus „objektiv“ in jeweils unterschiedlichen
Zusammenhängen verwendet. Im Gegensatz zu der anfangs analysierten Definition des
Imperativs bezieht sich der Terminus „objektiv“ im weiteren Verlauf des Textes nicht länger
auf den Imperativ selbst, sondern lediglich auf die von jenem ausgesprochene Notwendigkeit
bzw. Nötigung (das Sollen). Beide Ebenen sind nicht miteinander zu verwechseln. Nur der
kategorische Imperativ führt den Begriff einer objektiven und mithin allgemein gültigen
Notwendigkeit bei sich. Dagegen enthalten die hypothetischen Imperative zwar
Notwendigkeit, welche jedoch bloß unter der Bedingung der menschlichen Zwecksetzungen
gelten kann.916 Ein wesentlicher Unterschied zwischen den kategorischen und den
hypothetischen Imperativen ist also, dass die Nötigung bei den kategorischen Imperativen
objektiv, allgemeingültig und unbedingt ist. Dies ist jedoch nicht der Fall bei den
hypothetischen Imperativen. Die hypothetischen Imperative selbst sind dagegen ebenso
objektiv und allgemeingültig wie der kategorische Imperativ. Die kategorischen und
hypothetischen Imperative haben an sich beide objektive Geltung.
Die Frage, welche sich vor diesem Hintergrund aufdrängt, lautet: Warum ist die
Geltung der hypothetischen Imperative objektiv, ihre Nötigung jedoch nicht? Diese Frage
führt zu dem eigentlichen Unterschied von kategorischem und hypothetischem Imperativ.
Die hypothetischen Imperative bestimmen, welche möglichen Handlungen getan
werden sollen, um entweder einen beliebig gesetzten oder einen natürlichen (und damit
notwendigen) Zweck zu erreichen. Nur wenn die Menschen sich einen Zweck gesetzt haben,
müssen sie im Sinne eines konsistenten Willens auch die dafür erforderlichen Mittel wollen
und somit nach den Vorschriften des hypothetischen Imperativs handeln. Dies bedeutet mit
anderen Worten, dass die hypothetischen Imperative eine Nötigung enthalten, welche davon
abhängig ist, ob bestimmte Zwecksetzungen bei den einzelnen Menschen überhaupt
vorliegen. Kurzum: Die hypothetischen Imperative sind nur unter der Voraussetzung eines
gesetzten Zwecks nötigend. Dies hat nun zweierlei zu bedeuten. Es bedeutet zunächst, dass so
viele hypothetische Imperative gedacht werden können, als es Ziele geben kann. Ebenfalls
bedeutet es, dass die hypothetischen Imperative sich nicht an jedermann richten, weil sich alle
Menschen nicht notwendigerweise dieselben Ziele setzten. Hierbei wird nicht übersehen, dass
die pragmatischen Imperative sich auf die wirkliche Absicht der eigenen Glückseligkeit
beziehen, die für die Menschen kein beliebiges Ziel ist. Die eigene Glückseligkeit ist vielmehr
ein „Zwecke, den allen Menschen natürlicher Weise haben“.917 Was Glückseligkeit konkret
für jeden einzelnen bedeutet, variiert jedoch bis zu einem bestimmten Grad von Mensch zu
Mensch. Die Adressaten der hypothetischen Imperative (einschließlich jene der
pragmatischen Imperative) sind also nicht die Gesamtheit aller Menschen, sondern nur ein
Teil davon. Die hypothetischen Imperative sind nur für die speziell Interessierten oder anders
gesagt für die begrenzte Zahl ihrer jeweiligen Adressaten notwendig. Die hypothetischen
Imperative unterscheiden sich dadurch vom kategorischen Imperativ, denn der kategorische
Imperativ gilt als ein rein formales Prinzip unabhängig von den menschlichen
Zwecksetzungen und führt allgemeine sowie objektive Notwendigkeit mit sich.
Die hypothetischen Imperative verfügen jedoch auch über objektive Geltung, da alle
Menschen als vernünftige Wesen erkennen können, dass jene Imperative für den begrenzten
916
917
Vgl. GMS: IV, 416
Gemeinspruch: VIII, 289
- 162 -
Kreis ihrer Adressaten verbindlich sind. Selbst wenn die Menschen aufgrund ihrer
Zwecksetzungen von einem hypothetischen Imperativ unberührt bleiben, können und sogar
sollen sie diesen Imperativ als richtig und wirksam anerkennen. Die hypothetischen
Imperative verfügen somit auch über objektive Geltung, da sie von jedem vernünftigen Wesen
unwidersprechlich als gültig erkannt werden können. Zusammenfassend kann also
festgehalten werden, dass die hypothetischen Imperative an eine Voraussetzung („Wenn...“)
gebunden sind, aber allgemeine Geltung und unter dieser Voraussetzung (also im Rahmen des
Satzes „Wenn...“) sogar Notwendigkeit beanspruchen können. Sie verfügen somit über einen
internen notwendigen Charakter.
Das zuvor Beachtete lässt sich vielleicht am besten an einem einfachen Beispiel
festmachen. Ein hypothetischer Imperativ kann beispielsweise bestimmen, wie lange und
unter welcher Temperatur ein Ei gekocht werden soll, um es weichzukochen. Die in diesem
hypothetischen Imperativ ausgesprochene Nötigung ist nicht objektiv und allgemeingültig,
weil nicht vorausgesetzt werden kann, dass alle Menschen weichgekochte Eier essen wollen.
Alle Menschen können jedoch einsehen, dass der ausgesprochene Imperativ gültig ist, wenn
der gesetzte Zweck darin besteht, weichgekochte Eier zu essen. Der hypothetische Imperativ
ist also objektiv gültig. Wenn es darum geht, Eier weichzukochen, dann kann und soll sogar
nach den Vorschriften des hypothetischen Imperatives gehandelt werden. Übertragen auf das
Gebiet der Politik kann das Beispiel der drei berühmt-berüchtigten Maximen des politischen
Moralisten, fac et excusa, si fecisti, nega und divide et impera, angeführt werden.918 Der
hypothetische Imperativ, der diesen Maximen zugrunde liegt, ist nur unter der Voraussetzung
nötigend, dass sich die Politiker die bloße Erhaltung und Erweiterung der eigenen Macht zum
Ziel gemacht haben. Allgemein kann festgehalten werden, dass hypothetische Imperative
nicht voraussetzungsfrei formuliert sein können. Kant schreibt diesbezüglich: „Wenn ich mir
einen hypothetischen Imperativ überhaupt denke, so weiß ich nicht zum voraus, was er
enthalten werde: bis mir die Bedingung gegeben ist. Denke ich mir aber einen kategorischen
Imperativ, so weiß ich sofort, was er enthalte“.919 Die Notwendigkeit der hypothetischen
Imperative ergibt sich nur im Hinblick auf einen bestimmten Zweck. Unabhängig von diesem
Zweck machen sie schlechterdings keinen Sinn. Sie sind derartig zu verstehen: „Wenn du das
Ziel X erreichen möchtest, dann sollst du auf das Mittel Y zurückgreifen“. Wenn dein Ziel
lediglich darin besteht, deine Macht auszubauen, dann ist es nützlich den folgenden Maximen
zu folgen: fac et excusa; si fecisti, nega und divide et impera.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Gegenüberstellung von
objektiven kategorischen Imperativen einerseits und subjektiven hypothetischen Imperativen
andererseits sich nicht auf die Geltung der jeweiligen Imperative, sondern auf den Bereich
ihrer Adressaten, der sich im ersten Fall auf alle Menschen erstreckt, während er im zweiten
Fall nur eine Teilmenge derselben betrifft.
Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen stellt sich die Frage, worauf die
Unterscheidung von hypothetischen und kategorischen Imperativen beruht, wenn sie weder
die sprachliche Form betrifft noch die Mittel-Zweck-Unterscheidung, oder die
Unterscheidung zwischen einer objektiven und einer subjektiven Geltung. Es wurde bereits
ausführlich gesehen, dass der Unterschied zwischen den hypothetischen und den
kategorischen Imperativen auf der Art und Weise beruht, wie sie gebieten, das heißt wie jene
die praktische Notwendigkeit einer Handlung vorstellen. Mit Kants Worten würde man sagen,
dass der Unterschied von hypothetischem und kategorischem Imperativ auf einer
„Ungleichheit der Nöthigung des Willens“920 zurückgeht, das heißt auf einen Unterschied der
Notwendigkeit, die sie ausdrücken. Im ersten Falle handelt es sich um eine bloß subjektiv
918
Vgl. Frieden: VIII, 374f.
GMS: IV, 420
920
GMS: IV, 416
919
- 163 -
bedingte Nötigung des Willens, während es sich im zweiten Falle um eine unbedingte und
absolute Nötigung des Willens handelt. Während die hypothetischen Imperative nur ein
bedingtes Sollen aussprechen, spricht der kategorische Imperativ ein unbedingtes Sollen aus.
Es ist aber wichtig, einen Schritt weiter zu gehen und zu sehen, dass diese
Ungleichheit der Nötigung des Willens Kants Unterscheidung zwischen dem materialem und
dem formalem Prinzip des Willens entspricht. Praktische Prinzipien sind formal, wenn sie von
allen neigungsbestimmten, mithin subjektiven Zwecken abstrahieren. Sie sind aber material,
wenn sie auf Triebfedern beruhen.
Der hypothetische Imperativ drückt, als ein materiales Prinzip, ein bedingtes Sollen
aus. Er setzt den Bestimmungsgrund des Willens und des Handelns in einen beliebigen
Zweck, welchen Kant als „Gegenstand der Willkür“921 bezeichnet, und welcher allemal
aufgrund von Bedürfnissen und Neigungen (Furcht, Hoffnung, Berechnung, Interesse, usw.)
gewählt ist. Die von den Menschen gesetzten Zwecke hängen aber immer von der
Besonderheit der äußeren und inneren Umstände ihres Handelns ab. Es handelt sich somit um
bloß zufällige Zwecke. Weil der hypothetische Imperativ sich auf einen neigungsbestimmten,
und somit zufälligen Zweck bezieht, kann er nur unter Voraussetzung empirischer
Bedingungen des vorgesetzten Zwecks nötigend sein.
Der kategorische Imperativ drückt dagegen, als ein rein formales Prinzip, ein
unbedingtes Sollen aus. Er setzt den Bestimmungsgrund des Willens und des Handelns in der
Tauglichkeit der Maxime zu einem allgemeinen Gesetz. Der kategorische Imperativ bezieht
sich also auf ein nicht-empirisch bedingtes, mithin rein formales Wollen. Der Wille wird hier
gänzlich von der Vernunft bestimmt ohne Rücksicht auf einen Zweck, das heißt auf eine
Materie des Willens. Entscheidend für die Unterscheidung von hypothetischem und
kategorischem Imperativ ist somit letztlich der Ursprung des Wollens, auf welchen der
Imperativ bezogen ist. Während der kategorische Imperativ von der Materie der Handlung
abstrahiert, bezieht sich der hypothetische Imperativ auf einen neigungsbestimmten Zweck.
2.2 Die Unterscheidung zwischen technischem und pragmatischem Imperativ
a) Wie unterscheiden sich die technischen von den pragmatischen Imperativen?
Die Unterscheidung von kategorischem und hypothetischem Imperativ, welche die
Entgegensetzung von Unbedingtem und Bedingtem zum Ausdruck bringt, entspricht dem
Gesichtspunkt der Relation, welchen Kant wiederum seiner Tafel der Urteile922 sowie seiner
Tafel der Kategorien923 entnimmt. Im Anschluss daran führt Kant jedoch den Gesichtspunkt
der Modalität ein und dadurch gelingt ihm eine Dreiteilung der Imperative. Unter dem
Gesichtspunkt der Modalität unterscheidet Kant die Grundbegriffe der Möglichkeit,
Wirklichkeit und Notwendigkeit. Ihnen entsprechen dann auch die drei Grundsätze der
Modalität. Dementsprechend können also alle praktischen Sätze nur diesen drei Typen
entsprechen. Denn eine Handlung erfolgt um einer möglichen Absicht willen, sie erfolgt um
einer wirklichen Absicht willen, oder sie erfolgt letztlich nicht um einer fremdbestimmten
Absicht willen, sondern um ihrer selbst willen, also notwendig.
Deshalb schreibt Kant, dass der hypothetische Imperativ eine Handlung entweder zu
einer möglichen oder zu einer wirklichen Absicht gebietet.924 Im ersten Falle ist er ein
„problematisch-praktisches Prinzip“, während er im zweiten Fall ein „assertorischpraktisches Prinzip“ ist. Der kategorische Imperativ, welcher die Handlung ohne Beziehung
921
Frieden: VIII, 377
Vgl. KrV: III, 86
923
Vgl. KrV: III, 93
924
Vgl. GMS: IV, 414
922
- 164 -
auf irgendeine Absicht, also als für sich als objektiv notwendig erklärt, gilt seinerseits als ein
„apodiktisch-praktisches Prinzip“.925 Kant grenzt die drei Imperativtypen auch dermaßen ab,
als dass er zwischen „Regeln der Geschicklichkeit“, „Ratschlägen der Klugheit“ und
„Geboten der Sittlichkeit“ unterscheidet. Schließlich nennt er diese drei Imperative technisch
(zur Kunst gehörig), pragmatisch (zur Wohlfahrt gehörig), moralisch (zu den Sitten
gehörig).926 Erklärungsbedürftig ist nun, was technische und pragmatische Imperative
eigentlich sind. Wie lässt sich ein pragmatischer Imperativ der Klugheit von einem
technischen Imperativ der Geschicklichkeit unterscheiden? Diese Frage lässt sich nicht leicht
beantworten, weil Kants Erläuterungen hier manchmal die gewünschte Klarheit fehlen. Fest
steht, dass die beiden hypothetischen Imperative eine Handlung nicht schlechthin, sondern nur
als Mittel zu einem anderen Zweck gebieten. Dabei werden sowohl die Zwecke als auch die
dafür notwendigen Mittel durch Naturbegriffe bestimmt. Während die Zwecke von
Neigungen bestimmt werden, werden die dafür erforderlichen Mittel durch empirische
kausale Gesetze bestimmt.
Das Erste, was sich diesbezüglich aus der Grundlegung entnehmen lässt, ist, dass der
technische Imperativ vom dem pragmatischen Imperativ dahingehend unterschieden ist, dass
bei dem ersten der Zweck bloß möglich, bei dem zweiten aber gegeben ist.927 Mit anderen
Worten könnte man sagen, dass sich die technischen Imperative von den pragmatischen
Imperativen dadurch unterscheiden, dass der Begriff des Zwecks, auf dem sie beruhen, bei
den ersteren unbestimmt, bei den letzteren aber bestimmt sei. Bei den pragmatischen
Imperativen hat jeder Mensch denselben Zweck, während bei den technischen Imperativen
nicht jeder Mensch denselben Zweck hat.
Die technischen Imperative (Regeln der Geschicklichkeit) geben an, welche
möglichen Handlungen ausgeübt werden sollen, um ein mögliches Ziel zu erreichen. Auf den
ersten Blick liegt es nahe, den Ausdruck „mögliche Zwecke“ mit dem Ausdruck „irgendein
Zweck“ gleichzusetzen. Kant spezifiziert jedoch was unter einem möglichen Zweck zu
verstehen ist. In der Grundlegung definiert er einen möglichen Zweck als alles, „das, was nur
durch Kräfte irgend eines vernünftigen Wesens möglich ist“.928 Wie die anderen Arten von
Imperativen, beziehen sich die technischen Imperative auf Zwecke, die nicht notwendig
gesetzt werden müssen und auch nicht unmöglich sind. Erstens: Als praktische Sätze können
sich die technischen Imperative selbstverständlich nicht auf Handlungen beziehen, die mit
Notwendigkeit geschehen müssen. Weil der Mensch kein Ding der Natur, sondern ein
vernunftbegabtes Wesen ist, hat er stets die Möglichkeit, einen Imperativ zu übertreten.
Zweitens: Die technischen Imperative können ebenfalls keine Handlungen gebieten, welche
außerhalb des Rahmens des (logisch oder faktisch) Möglichen stehen, weil es per
definitionem solche Handlungen nicht gibt.
Aus dem bisher Gesagten kann folgendes festgehalten werden: Die technischen
Imperative beziehen sich auf Zwecke, die erstens für den Willen kontingent sind, und
zweitens im Rahmen prinzipieller Erreichbarkeit liegen.929 Die Regeln der Geschicklichkeit
befassen sich mit technischen, sachorientierten Problemen und geben konkrete natürliche
Zusammenhänge an. Die Formel des sich auf eine mögliche Absicht beziehenden
hypothetischen Imperativs lautet: Wenn der Zweck gesetzt ist, dann soll auf eine Regel der
Geschicklichkeit zurückgegriffen werden, die uns besagt, welches Mittel eingesetzt werden
muss, um die gewollte Wirkung hervorzurufen. Es hat sich bisher gezeigt, dass die
technischen Imperative jene Handlungen gebieten, die angewandt werden sollen, um eine
925
Vgl. GMS: IV, 414
Vgl. GMS: IV, 417
927
Vgl. GMS: IV, 419
928
GMS: IV, 415
929
Vgl. Aubenque, Pierre: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, Hamburg 2007, S. 183.
926
- 165 -
Absicht zu erreichen, welche die Menschen bloß vernünftigerweise wollen können. Es gibt
somit unendlich viele Regeln der Geschicklichkeit, da auch die Zahl möglicher Absichten
unbegrenzt ist. Es muss angenommen werden, dass die Menschen sich all das zum Ziel
machen können, was in ihrer Macht steht. Mit Kants eigenen Worten heißt es: „Man kann sich
das, was nur durch Kräfte irgend eines vernünftigen Wesens möglich ist, auch für irgend
einen Willen als mögliche Absicht denken, und daher sind der Principien der Handlung, so
fern diese als nothwendig vorgestellt wird, um irgend eine dadurch zu bewirkende mögliche
Absicht zu erreichen, in der That unendlich viel“.930 Aus diesem Grunde nennt Kant den
hypothetischen Imperativ, welcher die praktische Notwendigkeit einer Handlung als Mittel
zur Erreichung eines bloß möglichen Zwecks vorstellt, als problematisch.
Wichtig ist des Weiteren zu sehen, dass die Regeln der Geschicklichkeit sittlich
gleichgültig sind. Kant erläutert die technischen Imperative anhand eines doppelten Beispiels
– nämlich die Handlungsanweisungen, die ein Arzt befolgen muss, um seinen Patienten zu
heilen, und diejenigen, die ein Giftmischer befolgen muss, um ihn zu töten. Dieses Beispiel
weist darauf hin, dass die technischen Imperative dem Zweck gegenüber völlig gleichgültig
sind. Kant formuliert dies wie folgt: „Ob der Zweck vernünftig und gut sei, davon ist hier gar
nicht die Frage, sondern nur was man thun müsse, um ihn zu erreichen. Die Vorschriften für
den Arzt, um seinen Mann auf gründliche Art gesund zu machen, und für einen Giftmischer,
um ihn sicher zu tödten, sind in so fern von gleichem Werth, als eine jede dazu dient, ihre
Absicht vollkommen zu bewirken“.931 Ob der Zweck gut oder vernünftig ist, ist hier ohne
Belang. Es geht nämlich nicht um die Frage nach der Bestimmung des Willens, sondern
lediglich um jene nach der Wahl der geeigneten Mittel in Hinsicht auf eine bereits
festgestellte Absicht. Von dem Gesichtspunkt der Geschicklichkeit aus betrachtet, gilt eine
moralische Zwecksetzung im selben Maße wie eine unmoralische.
Die pragmatischen Imperative (Ratschläge der Klugheit) beziehen sich dagegen auf
eine Absicht, welche die Menschen nicht bloß haben können, sondern von denen man sicher
und a priori voraussetzen kann, dass sie diese Absicht insgesamt von ihrer Natur her haben.
Diese Absicht ist für Kant die Absicht der Glückseligkeit.932 In Abgrenzung zu den
technischen Imperativen, geben somit die pragmatischen Imperative an, wie der vorgegebene
bzw. wirkliche Zweck der eigenen Glückseligkeit, den Kant für ein natürliches, mithin
notwendiges Streben aller Menschen hält, erreicht werden kann. Für Kant darf man das
Streben nach Glückseligkeit „nicht bloß als nothwendig zu einer ungewissen, bloß möglichen
Absicht vortragen, sondern zu einer Absicht, die man sicher und a priori bei jedem Menschen
voraussetzen kann, weil sie zu seinem Wesen gehört“.933 Das Streben nach Glückseligkeit
gehört zum Wesen des Menschen. Es ist ein anthropologisches Faktum, das bei jedem
einzelnen Menschen sogar a priori also unabhängig von zeitlich-psychologischen
Erfahrungen vorausgesetzt werden kann. Dieses Streben, welches dem Menschen innewohnt,
wird einen jeden durchgängig sein Leben lang begleiten. So definiert Kant die Glückseligkeit
in der Kritik der praktischen Vernunft als „das Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der
Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet“.934 Vor diesem
Hintergrund drängt sich nun die Frage auf, was Kant unter dem Begriff der Glückseligkeit
überhaupt versteht.
Die Antwort auf diese Frage ist deswegen nicht so einfach zu beantworten, wie es
zunächst erscheinen könnte, weil die Thematik der Glückseligkeit bei Kant zwar eine nicht zu
unterschätzende Rolle einnimmt, sich jedoch durch sein gesamtes Werk hindurch zieht und
930
GMS: IV, 415
GMS: IV, 415
932
Vgl. GMS: IV, 415
933
GMS: IV, 415f.
934
KpV: V, 22
931
- 166 -
immer eher beiläufig behandelt wird.935 In der Kritik der reinen Vernunft definiert Kant die
Glückseligkeit als „die Befriedigung aller unserer Neigungen (sowohl extensive der
Mannigfaltigkeit derselben, als intensive dem Grade und auch protensive der Dauer nach)“.936
An dieser kurzen Definition ist zweierlei festzuhalten. Erstens kann festgehalten werden, dass
der Begriff der Glückseligkeit sich inhärent auf „uns“, das will heißen auf alle Menschen in
ihrer jeweiligen Individualität bezieht. Glückseligkeit ist anders formuliert die Befriedigung
der spezifischen Neigungen eines jeden Menschen. Daraus folgt wiederum, dass, was die
Menschen unter Glückseligkeit verstehen, von einem Mensch zum anderen variieren kann.
Des Weiteren kann festgehalten werden, dass die Glückseligkeit für Kant ein Zustand ist, in
welchem jegliche konkreten Situationen inbegriffen sind und welcher somit allumfassenden
Charakter hat. Kants Begriff der Glückseligkeit geht somit weit über die bloß vorübergehende
Zufriedenheit mit sich selbst in einer besonderen Situation hinaus – wie etwa wenn wir ein
lang erstrebtes Ziel erreicht haben. Kant versteht die Glückseligkeit vielmehr als eine
Zufriedenheit des Menschen mit seinem ganzen Dasein. Diese Zufriedenheit beschränkt sich
nicht allein auf die Gegenwart, sondern umfasst die Vergangenheit und erstreckt sich bis in
die Zukunft. In der Grundlegung schreibt Kant explizit, dass „zur Idee der Glückseligkeit ein
absolutes Ganze, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem
zukünftigen Zustande erforderlich ist“.937
Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass die technischen Imperative
sich von den pragmatischen Imperativen dahingehend unterscheiden, dass es bei den
technischen Imperativen prinzipiell immer offen bleibt, ob sich die Menschen einen
gegebenen Zweck setzten werden oder nicht. Dies ist bei den pragmatischen Imperativen
nicht der Fall, weil jene auf das Glück bezogen sind, welches für Kant nicht einmal gewollt
werden muss oder überhaupt nur kann, da das Streben nach Glückseligkeit eine den
Menschen wesentliche Eigenschaft ist.
In den bisherigen Ausführungen wurden die Regeln der Geschicklichkeit und die
Ratschläge der Klugheit getrennt dargestellt. Dies hat jedoch nicht notwendigerweise immer
zu bedeuten, dass sie als zwei voneinander getrennte hypothetische Imperative betrachtet
werden sollen. Die technischen Imperative können sehr wohl sachbezogene
Handlungsvorschriften formulieren, um ein mögliches Ziel zu erreichen, das uns wirklich
glücklich machen würde. Die technischen Imperative können also unter bestimmten
Bedingungen mit den pragmatischen Imperativen konvergieren. Die Imperative der Klugheit
nehmen dann die Imperative der Geschicklichkeit in ihren Dienst.938
Kant hat sich jedoch bisher damit begnügt, die technischen Imperative bloß zu
beschreiben. In einem zweiten Schritt versucht er ihre Möglichkeit überhaupt zu begründen.
b) Wie sind die hypothetischen Imperative möglich?
Es hat sich bisher gezeigt, was unter den verschiedenen hypothetischen Imperativen zu
verstehen ist. Die Frage, welche sich anschließend stellt ist folgende: Wie sind alle diese
Imperative möglich? Unter dieser Frage ist nicht zu verstehen, wie die hypothetisch
gebotenen Handlungen vollzogen werden können. Auf diese Frage soll im nächsten Kapitel
ausführlich eingegangen werden. Gefragt ist hier lediglich wie die Nötigung des Willens, die
in dem Imperativ enthalten ist, gedacht werden kann.
935
Für eine Gesamtdarstellung des Kantischen Verständnisses von Glückseligkeit siehe: Himmelmann, Beatrix:
Kants Begriff des Glücks, Berlin 2003.
936
KrV: III, 523
937
GMS: IV, 418 (meine Hervorhebungen)
938
Vgl. Brandt, Reinhard: Klugheit bei Kant, in: Klugheit, hrsg. v. Wolfgang Kersting, Weilerswist-Metternich
2005, S. 111.
- 167 -
Wie ein technischer Imperativ möglich sei, bereitet Kant zufolge keine große
Schwierigkeit. Die Regel der Geschicklichkeit formuliert Handlungsvorschriften, welche
insofern nötigend sind, als mit dem gesetzten Zweck auch die dazu erforderlichen Mittel
gewollt werden müssen. Kants Erklärung dazu lautet: „Wer den Zweck will, will (so fern die
Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat) auch das dazu unentbehrlich
nothwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist“.939 Mit anderen Worten könnte man sagen, dass
das empirische Wollen eines beliebigen Zweckes das empirische Wollen der dafür
notwendigen Mittel einschließt. Es ist nämlich in sich widersprüchlich, sich einen Zweck zu
setzten ohne die dafür erforderlichen Mittel zu wollen. Zwar kann man sich sehr wohl einen
Menschen denken, der sich einen bestimmten Zweck gesetzt hat, welchen er zu wollen meint,
aber in Wirklichkeit nur wünscht.940 Es würde ihm nicht gelingen vom unverbindlichen
Wünschen zum handlungsleitenden Wollen zu gelangen. Gerade in einer derartigen Situation,
in welcher ein Mensch nicht einstimmig mit sich selbst denkt, stellt sich der hypothetische
Imperativ als praktischer Satz entgegen. Er erinnert den Menschen an folgendes: Wenn du
wirklich dieses Ziel willst, dann sollst du diese oder diese Handlung als das notwendige
Mittel, welches in deiner Gewalt steht, vollziehen, um das Ziel zu erreichen. Der Wollende
wird somit aufgefordert, sich konsequent an sein Ziel zu halten und die notwendigen Mittel
für jenen Zweck aufzubringen.
In der Grundlegung verteidigt Kant die These, dass der hypothetische Imperativ, was
das Wollen betrifft, ein analytischer Satz sei. Nachdem der synthetische Zusammenhang
zwischen Mittel und Zweck erkannt ist, folgt die Verbindlichkeit der technischen Regel
analytisch, „denn in dem Wollen eines Objects als meiner Wirkung wird schon meine
Causalität als handelnde Ursache, d. i. der Gebrauch der Mittel, gedacht, und der Imperativ
zieht den Begriff nothwendiger Handlungen zu diesem Zwecke schon aus dem Begriff eines
Wollens dieses Zwecks heraus“.941 In der Sekundärliteratur bleibt es jedoch bis heute
umstritten, ob die technischen Imperative tatsächlich analytische Sätze sind. Eine eingehende
Berücksichtigung der Diskussion zu diesem Thema würde allerdings den Rahmen dieser
Arbeit sprengen und wird deshalb unterlassen.942
Im Unterschied zu den technischen Imperativen sind die pragmatischen Imperative
keine analytischen Sätze.943 Dies würde der Fall sein, wenn es möglich wäre, einen
bestimmten Begriff von Glückseligkeit zu geben. Kants Ausführungen lauten in diesem
Zusammenhang: „Die Imperative der Klugheit würden, wenn es nur so leicht wäre, einen
bestimmten Begriff von Glückseligkeit zu geben, mit denen der Geschicklichkeit ganz und
gar übereinkommen und eben sowohl analytisch sein“.944 Die Verbindlichkeit der
pragmatischen Imperative würde sich ebenso wie jene der technischen Regeln aus der
Synthese von Mittel und Zweck analytisch ergeben, insofern es gelingen würde einen
einzigen, allgemeingültigen Begriff von Glückseligkeit zu definieren: „Denn es würde eben
sowohl hier als dort heißen: wer den Zweck will, will auch (der Vernunft gemäß nothwendig)
die einzigen Mittel, die dazu in seiner Gewalt sind“.945 Eine derartige Leistung übersteigt
jedoch bei weitem die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen als einem endlichen
939
GMS: IV, 417 (meine Hervorhebung)
Vgl. Brandt, Reinhard: Klugheit bei Kant, in: Klugheit, hrsg. v. Wolfgang Kersting, Weilerswist-Metternich
2005, S. 109.
941
GMS: IV, 417
942
In der einschlägigen Sekundärliteratur ist nach wie vor keine einheitliche Position zu finden. Während eine
erste Gruppe von Autoren (Downie 1984, Ludwig 1999, Seel 2000) Kants Argumentation kritisch
gegenübersteht, meint eine zweite Gruppe von Interpreten (Marshall 1982, Baumanns 2000) weiterhin, dass die
hypothetischen Imperative analytische Sätze seien.
943
Vgl. GMS: IV, 417
944
GMS: IV, 417
945
GMS: IV, 417f.
940
- 168 -
Vernunftwesen. Dies ist auf dreierlei Gründe zurückzuführen, welche jedoch von Kant nur
teilweise in der hier vorgetragenen Form ausgeführt werden.
Erstens ist der Mensch zwar ein endliches Wesen, welches jedoch unendlich viele
Neigungen, Bedürfnisse, Hoffnungen und Wünsche hat. Deren qualitativ sowie quantitativ
maximale Erfüllung wird von Kant als Glückseligkeit genannt. Die Glückseligkeit, als ein
Zustand eines Maximums an Wohlergehen, ist niemals vollständig zu erreichen, weil jede
Entscheidung bezüglich der Erfüllung einer Neigung gleichzeitig die Preisgabe einer anderen
Entscheidung bezüglich der Erfüllung einer anderen Neigung zur Folge hat, die für den
Handelnden vielleicht genauso wünschenswert wäre.
Zweitens kann keine allgemeingültige Definition dafür gegeben werden, was
Glückseligkeit für einen jeden ausmacht. Es kann weder eine persönliche noch a fortiori
allgemeingültige Definition der Glückseligkeit gegeben werden, weil die Menschen niemals
mit sich selbst einstimmig bestimmen können, was sie eigentlich wollen und wünschen. Es ist
also unmöglich alle empirischen Elemente, welche die Glückseligkeit ausmachen können,
unter einen einzigen Begriff zu subsumieren.
Drittens kann keine vollständige Prognose der komplexen Folgen unserer Handlungen
gemacht werden. Die Bestimmung der Mittel zur eigenen Glückseligkeit soll an der
unüberwindbaren Komplexität des empirischen Lebens und der menschlichen Freiheit
scheitern, weil die Menschen niemals im Voraus sicher sein können, ob ihre Handlungen dem
vorausgesetzten Zweck der eigenen Glückseligkeit tatsächlich zuträglich sein werden oder
nicht. Die dafür erforderliche Allwissenheit ist den Menschen jedoch niemals gegeben. Um
dies zu verdeutlichen führt Kant das Beispiel eines Menschen auf, der seine Glückseligkeit im
Reichtum sieht. Die Erfüllung dieser Neigung führt jedoch Probleme mit sich, weil sein
Reichtum ihm den Neid seiner Mitmenschen einbringt. Der Neid der anderen Menschen
verhindert ihn wiederum vollständig glücklich zu sein. Diese Nebenfolge ist zwar nicht
gewollt, muss jedoch im Kauf genommen werden. Für Kant ist der Mensch „nicht vermögend
nach irgend einem Grundsatze mit völliger Gewißheit zu bestimmen, was ihn wahrhaftig
glücklich machen werde, darum, weil hiezu Allwissenheit erforderlich sein würde“.946
Die begriffliche Bestimmung der Glückseligkeit sowie der dafür notwendigen Mittel
erfordert eine Allwissenheit, die von den Menschen als endliche Vernunftwesen nicht erreicht
werden kann. Dies wäre aber für den Begriff der Glückseligkeit notwendig, denn es wurde
bereits gesehen, dass „zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganze, ein Maximum des
Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande erforderlich
ist“.947 Indem Kant die Allwissenheit als die Bedingung der Möglichkeit für die analytisch
folgende Notwendigkeit der pragmatischen Imperative aufdeckt, erfasst er das Grundproblem
einer jeden konsequentialistischen Ethik, welche universal-gebietende Gesetze aufzustellen
versucht: Eine solche Ethik stößt immer an die Grenzen der kognitiven Fähigkeiten der
Menschen. Wenn dies nicht der Fall wäre, wenn man also die Glückseligkeit inhaltlich
bestimmen könnte sowie die Mittel zum Glück ganz genau kennen würde, dann wären die
pragmatischen Imperative auch nur analytische Sätze.
Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass die Imperative der Klugheit
nicht analytische Sätze sein können, weil es weder einen a priori festgelegten Begriff von
Glückseligkeit gibt noch einen solchen überhaupt geben kann. Dies ist wiederum darauf
zurückzuführen, dass die Menschen nicht alle ihre Bestrebungen zeitgleich erfüllen können
und vor diesem Hintergrund unfähig sind mit sich selbst einstimmig zu entscheiden, worin
ihre Glückseligkeit eigentlich liegt, und weil die von den Menschen gewählten Zwecke
aufgrund der Unvorhersehbarkeit der Handlungsfolgen immer ambivalent sind.
946
947
GMS: IV, 418
GMS: IV, 418 (meine Hervorhebungen)
- 169 -
Am Ende seiner Auseinandersetzung mit dem Eudämonismus kommt Kant zum
folgenden Schluss: „Man kann also nicht nach bestimmten Prinzipien handeln, um glücklich
zu sein, sondern nur nach empirischen Ratschlägen, z.B. der Diät, der Sparsamkeit, der
Höflichkeit, der Zurückhaltung u. s. w., von welchen die Erfahrung lehrt, daß sie das
Wohlbefinden im Durchschnitt am meisten befördern“.948 Es handelt sich hier um einen
gewichtigen Satz, der eine nähere Betrachtung verdient.
Aus der Unmöglichkeit heraus eine Definition der Glückseligkeit zu geben sowie die
komplexen Folgen unseres Handelns zu bestimmen, folgt zunächst, dass es unmöglich ist in
gewisser und allgemeiner Weise zu bestimmen, welche Handlungen die Glückseligkeit der
Menschen befördern. Es gibt kein verlässliches Prinzip, an dem sich die Menschen in ihrem
Tun und Lassen orientieren können, um glücklich zu werden.
Die Menschen können niemals sicher sein, was am Ende wirklich klug ist und die
pragmatischen Imperative können ihnen niemals den Erfolg garantieren. Kant schreibt, dass
die Handlungsvorschriften der pragmatischen Imperative den Menschen nur sagen können,
welche Handlungen „im Durchschnitt“ ihre Ziele am besten dienen.949 Daraus folgt
wiederum, dass die pragmatischen Imperative mit keinerlei Sicherheit verbunden sind. Weil
sie auf einem bloß statistischen Prinzip gründen, kann ein Irrtum niemals ausgeschlossen
werden. Aus der Unsicherheit der Folgenerwägungen erkennt Kant zutreffend die Gefahr des
Irrtums: „In dieser Beurtheilung, ob jene Maßregel klüglich genommen sei oder nicht, kann
[…] der Gesetzgeber irren“.950
Damit wird nicht übersehen, dass es selbst in Abwesenheit von Sicherheit dennoch
unterschiedliche Grade von Wahrscheinlichkeit gibt. Handlungsvorschriften, die jedoch auf
dem Durchschnittsprinzip beruhen, können vielleicht im Allgemeinen gelten, niemals aber
allgemein. Selbst Handlungsvorschriften, die sich mit einer an Sicherheit grenzenden
Wahrscheinlichkeit annähern, können niemals als allgemein gültige und somit notwendige
Gesetze auftreten. Da der Mensch nicht weiß, was er eigentlich will und daher unfähig ist
einen bestimmten Begriff der Glückseligkeit zu entwickeln, können außerdem die Ratschläge
der Klugheit nur sehr vage und ungenau sein. Als Beispiel führt Kant die Sparsamkeit, die
Höflichkeit und die Zurückhaltung an. Den pragmatischen Imperativen fehlt also die
Präzision eines technischen Imperativs.
Die unaufhebbare Unsicherheit, die mit der Wahl der Mittel zur eigenen
Glückseligkeit stets verbunden ist, lässt die Rede von einem Gesetz in Bezug auf die
pragmatischen Imperative als fragwürdig erscheinen. In der Grundlegung kommt Kant selbst
zu dem etwas verwirrenden Schluss, dass „die Imperativen der Klugheit, genau zu reden, gar
nicht gebieten, d. i. Handlungen objectiv als praktisch-nothwendig darstellen, können, daß sie
eher Anrathungen (consilia) als Gebote (praecepta) der Vernunft zu halten sind“.951 Im
Unterschied zu den moralischen Imperativen und zu den technischen Imperativen fehlt es den
pragmatischen Imperativen am strengen Gesetzescharakter, weil sie niemals mit dem
Anspruch auf Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit auftreten können. Sie können daher gar
nicht gebietend, sondern nur anratend sein. Deshalb spricht Kant nicht von Geboten oder
Regeln der Klugheit sondern bloß von Ratschlägen der Klugheit. In der Kritik der praktischen
Vernunft spricht Kant diese Ungleichheit in der Nötigung des Willens folgendermaßen aus:
„Die Maxime der Selbstliebe (Klugheit) räth blos an; das Gesetz der Sittlichkeit gebietet. Es
ist aber doch ein großer Unterschied zwischen dem, wozu man uns anräthig ist, und dem,
wozu wir verbindlich sind“.952 Besonders auffallend an diesem Zitat ist, dass Kant nicht
948
GMS: IV, 418
Vgl. auch RL: VI, 216
950
Gemeinspruch: VIII, 299
951
GMS: IV, 418
952
KpV: V, 36
949
- 170 -
länger von pragmatischen Imperativen spricht, sondern weniger fordernd von „Maxime[n] der
Selbstliebe“. Auch hier ist zu lesen, dass die pragmatischen Imperative im Unterschied zum
kategorischen Imperativ keine unbedingt gebietenden Regeln, sondern bloße Ratschläge sind.
Die Bezeichnung der Vorschriften der Klugheit als bloße Ratschläge ist insofern folgerichtig,
als allein Ratschläge per definitionem die betroffenen Menschen zu einem Handeln auffordern
können, ohne ihnen jedoch die Freiheit abzusprechen über ihre eigene Glückseligkeit in
letzter Instanz selbst zu entscheiden.953 Damit geht jedoch das unaufhebbare Risiko einher,
dass die Menschen falsche Entscheidungen treffen.
Zusammenfassend zu dem Unterschied von technischem und pragmatischem
Imperativ kann demnach gesagt werden, dass die pragmatischen Imperative einen unsicheren
Weg zur Erreichung eines wirklichen Zweckes zeigen, während die technischen Imperative
einen sicheren Weg zur Erreichung eines bloß möglichen Zwecks weisen.954
c) Gehören die hypothetischen Imperative zur praktischen oder zur theoretischen
Philosophie?
Es hat sich bis hierher gezeigt, dass Kant in der Grundlegung sowie anschließend in
der Kritik der praktischen Vernunft den imperativen Charakter der Ratschläge der Klugheit so
stark relativiert, dass man sich mit guten Gründen die Frage stellen kann, ob sie überhaupt
noch als Imperative bezeichnet werden dürfen. Diese Unsicherheit ist eng mit Kants
gedanklichem Entwicklungsprozess auf dem Gebiet der praktischen Philosophie im Ganzen
verbunden. Auf den folgenden Seiten wird sich zeigen, dass die zuvor erwähnte Unsicherheit
in Kants Formulierungen auch eine allmähliche Verschiebung und Selbstkorrektur in seinen
Gedanken bezüglich der systematischen Stelle der hypothetischen Imperative verkündet.
Die sogenannte »Erste Einleitung in die Kritik der Urtheilskraft« gibt hierfür nähren
Aufschluss. In einer bedeutenden Anmerkung aus diesem unveröffentlichten Text, den Kant
vor dem Abschluss seiner Arbeiten am Haupttext der dritten Kritik verfasst hat, hielt er es für
möglich, wenn auch wohl nicht für zwingend geboten, die pragmatischen Imperativ als
technische Sätze zu definieren. Dies lässt sich auf die wesentliche Gemeinsamkeit der beiden
hypothetischen Imperative zurückführen, die mögliche Handlungen zur Erreichung eines
neigungsbestimmten Zieles gebieten. Alle nicht-moralischen, mithin den Freiheitsbegriff
nicht voraussetzenden Sätze, so schreibt er dort, „können, wenn man etwa Zweydeutigkeit
besorgt, statt practischer technische Sätze heißen. Denn sie gehören zur Kunst, das zu stande
zu bringen, wovon man will, daß es seyn soll, die, bey einer vollständigen Theorie, jederzeit
953
Siehe dazu schon: Hinske, Norbert: Die „Ratschläge der Klugheit“ im Ganzen der Grundlegung, in:
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, hrsg. v. Otfried Höffe, Frankfurt a. M.
1989, 3. Aufl. 2000, S. 141.
954
In seinem klassischen Werk zur Kants Moralphilosophie macht Paton die folgende Bermerkung: „Yet in spite
of their uncertainty the counsels of prudence are more binding that the rules of skill, since it is mere folly to
wreck one’s happiness, an end which is very far from being arbitrarily chosen” (Paton, Herbert J.: The
categorical imperative: a study in Kant’s moral philosophy, Philadelphia 1971, S. 116). Auf den ersten Blick
scheint es nicht einfach zu verstehen, wie Ratschläge verbindlicher als Regeln sein können. Die technischen
Imperative schreiben sichere Handlungen als Mittel zur Erreichung eines möglichen Zieles vor, während die
pragmatischen Imperative unsichere Handlungen als Mittel zur Erreichung eines wirklichen Zieles bestimmen.
Die Tatsache, dass die technischen Imperative sicher in der Zuweisung der notwendigen Mittel zur Erreichung
des angestrebten Zieles sind, hat nicht zu bedeuten, dass sie verbindlicher sind als die pragmatischen Imperative.
Dies liegt darin begründet, dass die Mittel immer in Bezug auf ein bestimmtes Ziel zu verstehen sind. Ein Mittel
für sich allein genommen führt keine Verbindlichkeit mit sich. Weil das Ziel der pragmatischen Imperative aber
wirklich ist, jenes der technischen dagegen bloß möglich ist, ist die Erreichung des angestrebten Zieles im ersten
Fall immer ein individuelles und partielles Ziel, während es sich im zweiten Fall um ein allgemeines und
umfassendes Ziel handelt. Genau aus diesem Grunde sind die pragmatischen Imperative verbindlicher als die
technischen Imperative.
- 171 -
eine bloße Folgerung und kein für sich bestehender Theil irgend einer Art von Anweisung ist.
Auf solche Weise gehören alle Vorschriften der Geschicklichkeit zur Technik und mithin zur
theoretischen Kenntnis der Natur als Folgerungen derselben“.955 In der hieran direkt
anschließenden Fußnote fügt Kant hinzu, dass es jedoch berechtigt sei, weiterhin an dem
Terminus des pragmatischen Imperativs festzuhalten, obwohl er - wie zuvor gesehen hervorhob, dass diese Imperative ebenfalls den technischen Imperativen untergeordnet sind:
„Allein daß der Zweck, den wir uns und andern unterlegen, nämlich eigene Glückseeligkeit,
nicht unter die blos beliebigen Zwecke gehöret, berechtigt zu einer besondern Benennung
dieser technischen Imperativen, weil die Aufgabe nicht blos, wie bey technischen, die Art der
Ausführung eines Zwecks, sondern auch die Bestimmung dessen, was diesen Zweck selbst
(die Glückseeligkeit) ausmacht, fordert, welches bey allgemeinen technischen Imperativen als
bekannt vorausgesetzt werden muß“.956
In derselben Fußnote räumt Kant außerdem ein, dass es ein Fehler war, die Imperative
der Geschicklichkeit in der Grundlegung als problematische Imperative bezeichnet zu haben,
weil die Zusammenstellung von „Imperativ“ und „problematisch“ widersprüchlich sei.957
Ausschließlich der kategorische Imperativ sei durch keine Bedingung eingeschränkt und
somit bei striktem Wortgebrauch ein eigentlicher, unbedingter Imperativ. Der problematische
Imperativ wiederum gebietet bedingterweise, das heißt lediglich unter der Bedingung eines
bloß möglichen Zweckes. Nimmt man den Begriff der Nötigung, welcher zur Definition eines
Imperativs gehört, an, so lässt sich einsehen, dass die problematischen Imperative bei striktem
Wortgebrauch gar nicht als Imperative bezeichnet werden dürften. Es wäre demnach
zutreffender die Imperative der Geschicklichkeit als technische Imperative, das heißt als
Imperative der Kunst, zu bezeichnen.958 In der veröffentlichten Fassung der Kritik der
Urtheilskraft zieht Kant aus seinen vorherigen Überlegungen radikale Konsequenzen. Von
nun an verweigert er erstens den beiden hypothetischen Imperativen explizit jeglichen
imperativen Charakter und zählt sie zweitens zur theoretischen Philosophie.
Kants Erläuterung diesbezüglich verdienen ausführlich zitiert zu werden: „Alle
technisch-praktische Regeln [...], so fern ihre Principien auf Begriffen beruhen, müssen nur
als Corollarien zur theoretischen Philosophie gezählt werden. Denn sie betreffen nur die
Möglichkeit der Dinge nach Naturbegriffen, wozu nicht allein die Mittel, die in der Natur
dazu anzutreffen sind, sondern selbst der Wille (als Begehrungs-, mithin als Naturvermögen)
gehört, sofern er durch Triebfedern der Natur jenen Regeln gemäß bestimmt werden kann.
Doch heißen dergleichen praktische Regeln nicht Gesetze (etwa so wie physische), sondern
nur Vorschriften: und zwar darum, weil der Wille nicht bloß unter dem Naturbegriffe, sondern
auch unter dem Freiheitsbegriffe steht, in Beziehung auf welchen die Principien desselben
Gesetze heißen und mit ihren Folgerungen den zweiten Theil der Philosophie, nämlich den
praktischen, allein ausmachen“.959
Diese gewichtigen, häufig zitierten Absätze bedürfen weiterer Erläuterungen, weil sie
vor dem Hintergrund früheren Ausführungen Kants insbesondere in der Grundlegung ein
wenig irritierend sind. Einiges spricht dafür, dass Kant nur allmählich Klarheit über die
systematische Stellung der hypothetischen Imperative gewonnen hat. Ausschlaggebend ist in
diesem Zusammenhang offensichtlich sein Versuch in der Kritik der praktischen Vernunft
eindeutig zwischen einem theoretischen und einem praktischen Gebrauch der Vernunft zu
unterscheiden.
955
KUK: XX, 199f.
KUK: XX, 200
957
Vgl. KUK: XX, 200
958
Vgl. KUK: XX, 200
959
KUK: V, 172 (meine Hervorhebung)
956
- 172 -
In der Grundlegung beschränkt sich Kant noch gänzlich darauf zu zeigen, dass die
hypothetischen Imperative sich auf einen heteronomen Willen beziehen und demnach nicht
als das angestrebte oberste Prinzip der Sittlichkeit fungieren können. Die Frage, ob die Regeln
der Geschicklichkeit sowie die Ratschläge der Klugheit zu praktischer oder theoretischer
Philosophie zählen, wird hier so gut wie nicht erörtert. In der Grundlegung scheint es
demnach wohl berechtigt zu sein, davon auszugehen, dass Kant die hypothetischen Imperative
zur praktischen Philosophie zählt. Die Dreiteilung der Imperative erlaubt uns anzunehmen,
dass die Ratschläge der Klugheit innerhalb Kants Ethik eine Mittelstellung zwischen
Geschicklichkeit und Sittlichkeit einnehmen. In der fünf Jahre später erschienenen Kritik der
Urtheilskraft wird diese Unsicherheit bezüglich der systematischen Stelle der Klugheit
endgültig aufgehoben. Wie Pierre Aubenque zurecht bemerkt, verliert die Klugheit „ihren
Platz an der Seite der Geschicklichkeit und wird dieser als bloßer Einzelfall untergeordnet“.960
Grundsätzlicher noch heißt es dort, dass die hypothetischen Imperative im Grunde genommen
gar nicht zur praktischen Philosophie gehören, sondern zur theoretischen zählen. Die Frage,
welche sich hier unmittelbar aufdrängt, ist, wie sich diese Verschiebung in Kants Gedanken
begründen lässt.
Der erste Abschnitt der Einleitung in der Kritik der Urtheilskraft (sowohl in ihrer
ersten als auch in ihrer zweiten Fassung) gibt hierzu näheren Aufschluss. Dort erläutert Kant,
inwiefern sich die Philosophie in einen theoretischen und einen praktischen Teil gliedert.961
Für Kant ist die tradierte Einteilung in theoretische und praktische Philosophie nur dann
berechtigt, wenn es einen spezifischen Unterschied zwischen beiden Teilen gibt. Da die
Philosophie für Kant ein System der Vernunfterkenntnisse aus Begriffen ist, so muss sich
dieser Unterschied auch auf Ebene der Begriffe finden lassen. Für Kant gibt es aber nur zwei
Arten von Begriffen, welche die Erkenntnis ihres Gegenstandes ermöglichen, nämlich die
Naturbegriffe sowie der Freiheitsbegriff. Die ersteren Begriffe machen die theoretische
Erkenntnis möglich, während der zweite die praktische Erkenntnis möglich macht. Nur wenn
die Aufteilung der Philosophie in theoretische und praktische auf dem Naturbegriff sowie
dem Freiheitsbegriff gründet, sind beide Teile der Philosophie tatsächlich spezifisch
verschieden. Den theoretischen Teil der Philosophie nennt Kant auch „Naturphilosophie“ und
den praktischen Teil „Moralphilosophie“.962 Festzuhalten ist hier, dass Kant die praktische
Philosophie mit der Moralphilosophie identifiziert. Die Gleichsetzung von Freiheit als
Autonomie der reinen praktischen Vernunft mit dem Handeln bloß aus Achtung für das
Sittengesetz ist folgenschwer. Diese Gleichsetzung macht die Rede von sittlich-gleichgültigen
Handlungen innerhalb der praktischen Philosophie unmöglich. Für die technisch-praktischen
Regeln der Geschicklichkeit und der Klugheit gibt es innerhalb der Kantischen praktischen
Philosophie somit keinen Platz.
Dies erklärt, dass Kant im weiteren Verlauf des Textes darauf aufmerksam macht, dass
man das „Praktische nach Naturbegriffen“ nicht mit dem „Praktischen nach dem
Freiheitsbegriffe“963 für einerlei nehmen darf. Wenn dies geschehen würde, dann würde man
durch die Benennung einer theoretischen und einer praktischen Philosophie eine Einteilung
treffen, durch welche eigentlich nichts eingeteilt wäre, und welche somit unbegründet wäre.
Die Nichtbeachtung dieser begrifflichen Unterscheidung erklärt, dass die Regeln der
Geschicklichkeit und die Ratschläge der Klugheit fälschlicherweise zusammen mit den
Gesetzen der Sittlichkeit im Bereich der praktischen Philosophie eingeordnet wurden. An
dieser Stelle ist es wichtig festzuhalten, dass damit nicht bestritten wird, dass es sich bei den
Regeln der Geschicklichkeit und den Ratschläge der Klugheit auch um praktische Prinzipien
960
Aubenque, Pierre: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, Hamburg 2007, S. 186.
Vgl. KUK: V, 171ff.
962
KUK: V, 171
963
KUK: V, 171
961
- 173 -
handelt, sofern man unter „praktisch“ alles das versteht, „was durch Freiheit möglich ist“964,
oder wenn man unter „praktisch-möglich (oder nothwendig)“ alles das versteht, was „als
durch einen Willen möglich (oder nothwendig) vorgestellt wird“.965
Im Anschluss hieran stellt sich aber noch die entscheidende Frage, ob es sich bei dem
Begriff, welcher der Kausalität des Willens die Regel gibt, um einen Naturbegriff oder um
einen Freiheitsbegriff handelt. Handelt es sich um einen Naturbegriff, so sind die Prinzipien
technisch-praktisch. Handelt es sich dagegen um einen Freiheitsbegriff, so sind die Prinzipien
moralisch-praktisch.966 In beiden Fällen handelt es sich jedoch um praktische Prinzipien in
einem allgemeinen Sinne. Weil die Einteilung der Philosophie in theoretische und praktische
Philosophie auf einer Gegenüberstellung der Prinzipien der Vernunfterkenntnis gründet,
werden die ersteren zur theoretischen Philosophie (als Naturlehre) gezählt, während die
zweiten allein der praktischen Philosophie (als Freiheitslehre) zugeordnet werden. Sowohl die
pragmatischen Imperative als auch die technischen Imperative dürfen nicht zur praktischen
Philosophie gezählt werden, weil sie Handlungen als Mittel zu einem Zweck gebieten, welche
durch Naturbegriffe bestimmt sind. Während die Zwecke durch Neigungen bestimmt werden,
werden die dafür erforderlichen Mittel durch empirische Kausalgesetze bestimmt. Aus diesem
Grunde gehören die technisch-praktischen Imperative zur theoretischen Philosophie. In
Abgrenzung dazu machen die moralisch-praktischen Vorschriften, welche gänzlich auf dem
Freiheitsbegriff gründen, die moralischen Gesetze aus. Ausschließlich jene zählen zur
praktischen Philosophie. Technisch-praktische Regeln sind dagegen nur Korollarien der
Naturwissenschaft. Wie in der »Erste Einleitung in die Kritik der Urtheilskraft« zu lesen ist,
handelt es sich bei jenen um die „Anwendungen einer vollständigen theoretischen
Erkenntniß“967 auf dieselbe Art und Weise wie auch die Lösung eines mechanischen
Problems nur die Anwendung von Lehrsätzen der betreffenden Wissenschaft darstellt.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Kant den hypothetischen Imperativen
nicht den Charakter praktischer Sätze genommen hat. Kant nennt die hypothetischen
Imperative „praktisch“, weil das in ihnen beinhaltete theoretische Wissen bezüglich eines
Kausalnexus in eine Regel eingebettet ist, die lediglich durch Freiheit in einem allgemeinen
Sinne möglich ist. Selbst wenn die technisch-praktischen Regeln nicht zu jenem Teil der
Philosophie, der als praktisch bezeichnet wird, gezählt werden dürfen, weil sie nicht aus der
reinen praktischen Vernunft entspringen, so handelt es sich dennoch um praktischen Regeln.
Dies erklärt sich dadurch, dass sie sich auf den menschlichen Willen als ein begriffliches
Kausalvermögen beziehen.968
3. Kants Ablehnung des Anspruches der Politik auf Autonomie
3.1 Der Anspruch der Politik auf Unabhängigkeit von Moral und Recht
Die vorangegangenen Ausführungen sollten deutlich gemacht haben, dass Klugheit
aus einer moraltheoretischen Perspektive bei Kant nicht an sich verwerflich ist und aus
diesem Grund als Mittel der Politik prinzipiell zulässig ist.969 Was Kant dagegen mit aller
Entschlossenheit verwirft, ist eine Politik, die ausschließlich auf Klugheit gegründet ist.
964
KrV: III, 520
KUK: V, 172
966
Vgl. KUK: V, 172
967
KUK: XX, 198
968
Vgl. Bojanowski, Jochen: Kant über das Prinzip der Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie
(Einleitung I – V), in: Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 2008, S. 28.
969
Es kann somit Peter Koslowski nicht zugestimmt werden, wenn er schreibt, dass die strengen Regeln des
Rechts die Klugheitsregeln ersetzen. Vgl. Koslowski, Peter: Staat und Gesellschaft bei Kant, Tübingen 1985, S.
36f.
965
- 174 -
Gemeint ist hier eine Politik, die seit dem frühen 19. Jahrhundert in der Literatur gerne als
„Realpolitik“ bezeichnet wird und zu deren wichtigsten Vorläufern und Verfechtern
Thukydides und Machiavelli gezählt werden. Zu den wichtigsten Merkmalen dieser
sogenannten Realpolitik gehören die enge Orientierung an die existierenden politischen
Kräfteverhältnisse und die daraus entstehenden Möglichkeiten des staatlichen Machtausbaus.
In der Friedensschrift führt Kant seine Argumentation gegen die vermeintlichen Realpolitiker
in zwei Etappen durch. Er stellt zunächst jene Argumente vor, die für den vermeintlichen
realpolitischen Standpunkt (das will heißen für eine Autonomie der Politik) sprechen könnten,
um in einem zweiten Schritt diese Argumente zu widerlegen.
Als oberstes Prinzip der Sittlichkeit hat der kategorische Imperativ allgemeine und
absolute Gültigkeit. Er gilt unbedingt für alle Menschen ungeachtet deren empirischen
Bedingungen. Im ersten Teil des Anhangs der Friedensschrift wendet sich Kant entschieden
gegen den „Praktiker“, welcher sich unter dem Hinweis auf empirische Bedingungen den
Geboten der Sittlichkeit entzieht. Dort ist folgendes zu lesen: „Nun gründet […] der Praktiker
(dem die Moral bloße Theorie ist) seine trostlose Absprechung unserer gutmüthigen Hoffnung
(selbst bei eingeräumten Sollen und Können) eigentlich darauf: daß er aus der Natur des
Menschen vorher zu sehen vorgiebt, er werde dasjenige nie wollen, was erfordert wird, um
jenen zum ewigen Frieden hinführenden Zweck zu Stande zu bringen“.970 Der welterfahrene
Praktiker leugnet die Existenz der Moral als solche zwar nicht, spricht ihr dennoch jede
objektiv-praktische Realität, also Notwendigkeit, ab. Für ihn gilt: Die Gebote der Sittlichkeit
mögen zwar in der Theorie richtig sein, taugen jedoch nicht für die politische Praxis. Diese
Zurückweisung des unbedingten Charakters der Moral für das politische Handeln begründet
der Praktiker auf seiner Kenntnis der menschlichen Natur. Für ihn gilt, dass der Mensch zwar
kann, was er soll, dennoch nicht unbedingt will, was er soll. Insofern sich die Politiker den
Frieden zum materiellen Ziel gesetzt haben, wäre dieses Ziel dementsprechend gänzlich
unabhängig von der Moral zu verfolgen. Im unmittelbaren Anschluss an das oben angeführte
Zitat lässt Kant den Praktiker sagen: „[W]er einmal die Gewalt in Händen hat, wird sich vom
Volk nicht Gesetze vorschreiben lassen. Ein Staat, der einmal im Besitz ist, unter keinen
äußeren Gesetzen zu stehen, wird sich in Ansehung der Art, wie er gegen andere Staaten sein
Recht suchen soll, nicht von ihrem Richterstuhl abhängig machen, und selbst ein Welttheil,
wenn er sich einem andern, der ihm übrigens nicht im Wege ist, überlegen fühlt, wird das
Mittel der Verstärkung seiner Macht, durch Beraubung oder gar Beherrschung desselben nicht
unbenutzt lassen“.971
Abschließend kommt der Praktiker zu der für ihn ausschlaggebenden
Schlussfolgerung, welche das von ihm behauptete Recht des Stärkeren legitimeren soll: „[S]o
zerrinnen nun alle Plane der Theorie für das Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht, in
sachleere unausführbare Ideale, dagegen eine Praxis, die auf empirische Principien der
menschlichen Natur gegründet ist, welche es nicht für zu niedrig hält, aus der Art, wie es in
der Welt zugeht, Belehrung für ihre Maximen zu ziehen, einen sicheren Grund für ihr
Gebäude der Staatsklugheit zu finden allein hoffen könne“.972 Festzuhalten ist an den eben
zitierten Textstellen, dass der Praktiker sich gänzlich auf bloße Erfahrung beschränkt, das
bedeutet, dass er die Maxime seines Handelns allein aus der empirischen Kenntnis der
menschlichen Natur ableitet. Aus seiner vermeintlichen Menschenkenntnis folgert er, dass
Politik, insofern sie erfolgreich sein möchte, sich allein an den Ratschlägen der Klugheit zu
orientieren hat. Der Praktiker beansprucht die tauglichen Mittel zu kennen, anhand von
welchen das friedliche Nebeneinander der Menschen allein gesichert werden kann. Das
elementare (aus Erfahrung abgeleitete) Mittel ist in dieser Hinsicht der Ausbau der staatlichen
970
Frieden: VIII, 371
Frieden: VIII, 371
972
Frieden: VIII, 371
971
- 175 -
Macht. Kants zufolge zielen die Praktiker auf die „Vergrößerung ihrer Macht, auf welchem
Wege sie auch erworben sein mag“.973
3.2 Kants Zurückweisung des Anspruches der Politik auf Autonomie
Kant weist die Argumentation des Praktikers über die Notwendigkeit des staatlichen
Machtausbaus entschieden zurück. Für ihn handelt es sich dabei allein um Rhetorik, die nur
einen „Privatvortheil“974 zu verheimlichen sucht. Gegen die Argumentation des Praktikers
zugunsten einer allein „der Erfahrung folgsamen Praxis“975 macht Kant drei Einwände
geltend.
Wie bereits angeführt wurde, leitet der Praktiker die Maxime seines Handelns aus
seiner vermeintlichen Kenntnis der menschlichen Natur ab. Der Verweis auf die ohne
weiteres postulierte Bösartigkeit der menschlichen Natur wird immer wieder herangezogen,
um die Zulässigkeit pflichtwidriger Handlungen im Namen der Staatsräson zu rechtfertigen.
Dagegen macht Kant den Einwand geltend, dass der Praktiker aufgrund seiner Position
zweifellos viele Menschen kennt, dies aber längst noch nicht bedeutet, dass er den Mensch an
sich kennt, „wozu ein höherer Standpunkt der anthropologischen Beobachtung erfordert
wird“.976
Im weiteren Verlauf versucht Kant nachzuweisen, dass der Hauptmangel einer sich
allein auf Klugheit beruhenden Politik in der prinzipiellen Unberechenbarkeit der Mittel zu
Erlangung deren Endziels liegt. Dies liegt darin begründet, dass die menschliche Vernunft
nicht in der Lage ist den positiven oder negativen Erfolg des Handelns mit Sicherheit
vorherzusagen. Es gibt eine permanente und unaufhebbare Ungewissheit bezüglich der Folgen
unseres Handelns. Dieser These gibt Kant in der Friedensschrift die folgende Fassung: „Der
Grenzgott der Moral weicht nicht dem Jupiter (dem Grenzgott der Gewalt); denn dieser steht
noch unter dem Schicksal, d. i. die Vernunft ist nicht erleuchtet genug, die Reihe der
vorherbestimmenden Ursachen zu übersehen, die den glücklichen oder schlimmen Erfolg aus
dem Thun und Lassen der Menschen nach dem Mechanism der Natur mit Sicherheit vorher
verkündigen […] lassen“.977 Wenige Seiten weiter weist Kant darauf hin, dass sich die
ausschließlich an Klugheit orientierende und „alle reine Vernunftprincipien vorbeigehende
Praxis“978 stets „ungewiß in Ansehung ihres Resultats“979 befindet. Die
Legitimitätsbegründung des bloß nach Klugheitsregeln verfahrenden Politikers ist schon
deshalb gänzlich zu verwerfen, weil die von ihm in Anspruch genommenen Methoden an der
unüberwindbaren Komplexität der Wirklichkeit scheitern müssen.
Aus Erfahrung kann lediglich gesagt werden, wie die Menschen bisher gehandelt
haben. Es kann weder gesagt werden, dass die Menschen notwendigerweise so handeln
müssten, noch dass sie zukünftig auch tatsächlich weiterhin so handeln werden. Die
Erfahrungserkenntnis ist somit kontingent und gilt lediglich für die Vergangenheit. Dies liegt
darin begründet, dass der Mensch als ein Naturwesen den Naturgesetzen zwar vollständig
unterliegt, jedoch als ein mit praktischer Vernunft begabtes Naturwesen stets die Möglichkeit
hat sich diesen Naturgesetzten zu entziehen. Selbst wenn es ein „böse[s] Prinzip“980 im
Menschen gibt, können sich die Menschen immer durch den Gebrauch ihrer praktischen
Vernunft für das Gute entscheiden. Für Kant beruht somit jede Politik, die sich auf empirische
973
Frieden: VIII, 375
Frieden: VIII, 373
975
Gemeinspruch: VIII, 306
976
Frieden: VIII, 374
977
Frieden: VIII, 370
978
Gemeinspruch: VIII, 305
979
Frieden: VIII, 377
980
Frieden: VIII, 355
974
- 176 -
Prinzipien der menschlichen Natur stützt, auf einem unsicheren Grund. Aus der
Unmöglichkeit die komplexen Folgen unseres Handelns zu bestimmen, folgt, dass die
Klugheit selbst nicht weiß, was am Ende am klügsten ist. Der Erfolg ist die einzige
Berechtigung, die der Praktiker als Grund für seine Handlungen angibt. Aus der Erfahrung
können jedoch keine allgemeinen Regeln der Klugheit hergeleitet werden, die den Menschen
mit Sicherheit zum Erfolg führen könnten.981
Zusammenfassend bezüglich dieser zwei ersten Argumente kann gesagt werden, dass
sowohl aus der Anthropologie noch aus der Geschichte weder die Unmöglichkeit moralischer
Politik noch das vermeintliche Recht des Stärkeren abgeleitet werden können. Kants
Ablehnung der Rhetorik der vermeintlichen Realpolitiker bezüglich der Unmöglichkeit der
Friedensstiftung ist deshalb von zentraler Bedeutung, weil diese Rhetorik leicht den Charakter
einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung bekommt. In den Vorarbeiten zur Friedensschrift
schreibt Kant diesbezüglich: „Die Politische Praktiker schließen daraus wie es bisher
gegangen ist wie es künftig gehen wird ohne zu bedenken daß gerade diese Voraussetzung
wenn sie allgemein angenommen wird Ursache ist daß es nie besser wird“.982 Die
Behauptung, dass Frieden unmöglich ist, weil es bisher keinen Frieden gegeben hat, wird
somit zur Wirklichkeit, weil diejenigen, die an diese Behauptung glauben, sich auch auf eine
Art und Weise verhalten, die schließlich dazu führt, dass die ursprüngliche Behauptung sich
tatsächlich als wahr erweisen wird.
Das dritte Argument gegen eine Autonomie der Politik formuliert Kant bereits im
Gemeinspruch. Dort heißt es, dass „alles, was in der Moral für die Theorie richtig ist, auch für
die Praxis gelten müsse“.983 Dasselbe Argument findet sich außerdem in leicht veränderter
Form in der Friedensschrift. Dort führt Kant aus, dass jeder (also auch der Politiker) die
Gebote der Sittlichkeit grundsätzlich zu beachten hat: „Die Moral ist [der] Inbegriff von
unbedingt gebietenden Gesetzen, nach denen wir handeln sollen, und es ist offenbare
Ungereimtheit, nachdem man diesem Pflichtbegriff seine Autorität zugestanden hat, noch
sagen zu wollen, daß man es doch nicht könne. Denn alsdann fällt dieser Begriff aus der
Moral von selbst weg (ultra posse nemo obligatur)“.984 Kant führt hier seine Argumentation
in drei Schritten durch. Seine Argumentation impliziert zunächst die Prämisse, dass Moral
immer gegeben ist, und dass niemand ihre Existenz als solche grundsätzlich verneinen kann.
Die Moral in der Form des Gebotes bezeichnet Kant als Pflicht. Die Gebote der Sittlichkeit
haben aber unbedingte und allgemeine Notwendigkeit. Wer also einmal die Moral anerkannt
hat, kann sich konsequenterweise nicht den Geboten der Sittlichkeit entziehen. Denn wollte
man den Begriff der Pflicht zurückweisen, gäbe es keine Moral mehr. In Abgrenzung zu einer
Doppelmoral besitzen die Gebote der Sittlichkeit bei Kant also nicht nur in Bezug auf
individuelle Moral Gültigkeit, sondern ebenfalls im Bereich der Politik.985 Auch dem Politiker
hilft alle Erfahrung nichts, „um sich der Vorschrift der Theorie zu entziehen, sondern
allenfalls nur zu lernen, wie sie besser und allgemeiner ins Werk gerichtet werden könne,
wenn man sie in seine Grundsätze aufgenommen hat“.986
981
Vgl. Gerhardt, Volker: Ausübende Rechtslehre. Kants Begriff der Politik, in: Kants in der Diskussion der
Moderne, hrsg. v. Yasushi Kato und Gerhard Schönrich, Frankfurt a. M. 1996, S. 468f.
982
Vorarbeit: XXIII, 162
983
Gemeinspruch: VIII, 288
984
Frieden: VIII, 370
985
In Abgrenzung dazu vertritt Heinz-Gerd Schmitz die These, dass mit der transzendentalen Formel des
öffentlichen Rechts die Geschicklichkeit eine so zentrale Bedeutung gewinnt, dass der Herrschaft des
kategorischen Imperativs das Feld des Politischen schließlich entzogen wird. Kant würde so ganz gegen seinen
Willen in eine doppelte Ethik zurückfallen. Vgl. Schmitz, Heinz-Gerd: Moral und Klugheit? Überlegungen zur
Gestalt der Autonomie des Politischen im Denken Kants, in: Kant-Studien 81, 1990, S. 412-434. Kritisch dazu:
Williams, Howard: Morality or Prudence?, in: Kant-Studien 83, 1992, S. 222-225.
986
Gemeinspruch: VII, 289
- 177 -
Mit diesen drei Argumenten sollte die Illusion einer Autonomie der Politik aufgelöst
werden. Wenn man aber aus den empirischen Bedingungen keinen sicheren Grund für die
Politik herleiten kann, dann bleibt nur noch die praktische Vernunft übrig, um einen
konsistenten Begriff der Politik zu bestimmen.
4. Die geltungstheoretische Abhängigkeit der Politik von der Moral sowie dem Recht
Aus dem vorhergehenden Teil sollte deutlich hervorgegangen sein, dass jeder Begriff
der Politik, welcher allein auf empirischen Prinzipien gründet, aufgrund seiner
Widersprüchlichkeit nicht überzeugend sein kann. Die Inkonsistenz eines jeden empirischen
Begriffs der Politik liegt in dessen Prinzipienlosigkeit begründet. Ein Begriff der Politik,
welcher ohne Selbstwiderspruch gedacht werden kann, ist somit auf einen „sicheren
Grund“987 angewiesen. In dem ersten Teil des Anhangs der Friedensschrift ist Kant um die
Definition eines solchen normativ begründeten Begriffs der Politik bestrebt. Dies will heißen,
um einen Begriff der Politik, dessen Grund in der reinen praktischen Vernunft liegt.
4.1 Kants Bestimmung der Politik als ausübende Rechtslehre
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Kants Bestimmung eines normativen
Begriffs der Politik lange Zeit nur wenig Interesse seitens der Sekundärliteratur nach sich
gezogen hat. Einleitend zu dieser Dissertation wurde auch ausführlich gesehen, dass Kant
dafür kritisiert wurde, dass er angeblich gar keinen eigenständigen Begriff der Politik hat, das
heißt dass er keinen Unterschied zwischen Politik, Recht und Moral macht. Diese Kritik
wurde sukzessiv und mit wenigen Abweichungen von so unterschiedlichen Kant-Interpreten
wie Kurt von Borries, Hannah Arendt, Ernst Vollrath oder Pierre Hassner geäußert.988 Die
doppelte Frage, die sich vor diesem Hintergrund aufdrängt, ist jene, ob die Geringschätzung,
unter welcher Kants Lehre von der Politik bis in die 1980er Jahren gelitten hat, sich heute
verbessert hat, und vor allem ob die erwähnte Geringschätzung tatsächlich begründet ist.
Die Antwort auf die erste Frage fällt offensichtlich zwiespältig aus. Einhergehend mit
der umfassenden Rehabilitierung der praktischen Philosophie Kants in den frühen 1970er
Jahren war auch ein erwachtes Interesse an Kants Begriff der Politik zu verzeichnen.
Insbesondere in den zahlreichen Veröffentlichungen von Reinhard Brandt und Otfried Höffe
wurde überzeugend gezeigt, dass Kant ein erfahrungsoffener Rechtsphilosoph ist, für welchen
die Aufgabe der Politik in der Verwirklichung der Vernunftprinzipien des Rechts in der
Realität besteht, wozu Erfahrung, Urteilskraft und Klugheit gehören. Diese Deutung findet
ihre Zuspitzung in den Arbeiten von Ulrich Sassenbach und Volker Gerhardt, in welchen
hervorgehoben wird, dass die Friedensschrift eine genuine „Theorie der Politik“ enthält, die
spezifisch politische Aufgaben und Verfahren bestimmt.989
987
Frieden: VIII, 371
Vgl. Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, hrsg. v. Ronald Beiner,
München/Zürich 1985, S. 46; Borries, Kurt von: Kant als Politiker. Zur Staats- und Gesellschaftslehre des
Kritizismus, Aalen 1973 (Neudruck der Ausgabe Leipzig 1928), S. 145; Hassner, Pierre: Les concepts de guerre
et de paix chez Kant, in: Revue française de science politique 11-3, 1961, S. 642; Vollrath, Ernst: Was ist das
Politische? Eine Theorie des Politischen und seiner Wahrnehmung, Würzburg 2003, S. 65; Ders.: Grundlegung
einer philosophischen Theorie des Politischen, Würzburg 1987, S. 92.
989
Vgl. Gerhardt, Volker: Ausübende Rechtslehre. Kants Begriff der Politik, in: Kant in der Diskussion der
Moderne, hrsg. v. Gerhard Schönrich und Yasushi Kato, Frankfurt a. M. 1996, S. 464-488; Ders.: Eine kritische
Theorie der Politik. Über Kants Entwurf »Zum ewigen Frieden«, in: Der Vernunftfrieden. Kants Entwurf im
Widerstreit, hrsg. v. Klaus-Michael Kodalle, Würzburg 1996, S. 5-20; Ders.: Immanuel Kants Entwurf »Zum
ewigen Frieden«. Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995; Siehe auch: Sassenbach, Ulrich: Der Begriff des
Politischen bei Immanuel Kant, Würzburg 1992.
988
- 178 -
Dieser interpretatorische Ansatz bleibt allerdings bis heute in der Kant-Forschung
umstritten. Nach wie vor wird in der Sekundärliteratur die Kritik geäußert, dass die Politik
und das Recht bei Kant zusammenfallen. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang lediglich
auf wenige, exemplarische Stellungnahmen. So behauptet Jürgen Habermas, dass bei Kant
„Politik grundsätzlich in Moral überführt werden kann“.990 Dieselbe Meinung wird ebenfalls
von Peter Koslowski vertreten, wenn er erklärt, dass der „Politik-Begriff […] bei Kant eine
erhebliche Einschränkung, sozusagen einen Funktionsverlust [erfährt], weil Politik in Recht
und Ökonomie überführt wird“.991 Wir bereits gesehen wurde, ist eine ähnliche Einschätzung
der Kantischen politischen Philosophie ist ebenfalls bei Georg Geismann zu finden. So
schreibt er beispielsweise, dass man bei Kant von einer „Politischen Philosophie“ oder einer
„Theorie der Politik” lediglich als Synonyme für eine „Philosophie oder Theorie des
öffentlichen Rechts” sprechen mag.992 Auch die von Aristoteles stark geprägte amerikanische
Philosophin Martha C. Nussbaum schreibt, dass Kant zuweilen dazu neigt, „durch den
moralischen Imperativ den politischen außer Kraft zu setzen“993 (wobei nicht leicht
einzusehen ist, was unter dem erwähnten „politischen Imperativ“ zu verstehen ist). Wie diese
verschiedenen Ausführungen zu bewerten sind, darauf soll in den folgenden Seiten näher
eingegangen werden. Dabei wird sich herausstellen, warum der zum Teil bis heute
andauernde stiefmütterliche Umgang mit Kants Begriff der Politik unbegründet ist und warum
eine gründliche Untersuchung der Kantischen Lehre von der Politik für wert erachtet werden
soll.
In der Friedensschrift definiert Kant den Begriff der Moral allgemein als eine „Praxis
in objectiver Bedeutung, als Inbegriff von unbedingt gebietenden Gesetzen, nach denen wir
handeln sollen“.994 Wichtig ist an dieser Stelle festzuhalten, dass diese Definition alle
handlungsbestimmenden Gesetze umfasst, das heißt sowohl jene der Rechtslehre als auch jene
der Tugendlehre.995 Im Fortgang stellt Kant die These auf, dass wahre Politik stets mit
moralischen Prinzipien übereinstimme. Dort heißt es: Es könne „keinen Streit der Politik als
ausübender Rechtslehre mit der Moral als einer solchen, aber theoretischen (mithin keinen
Streit der Praxis mit der Theorie) geben“.996 Hier stellt Kant der Politik als ausübende
Rechtslehre die Moral als theoretische Rechtslehre begrifflich gegenüber. Moral und Politik
stehen im Verhältnis zueinander wie die Theorie zu der Praxis. Diese gewichtige dennoch
lange ausgesprochen wenig beachtete Definition des Verhältnisses von Politik und Moral
bedarf weiterer Erläuterungen.
Wichtig ist zunächst festzuhalten, dass wahre Politik auf inhärente Art und Weise mit
dem Recht in Verbindung steht. Politik ist „ausübende Rechtslehre“. Dies will heißen, dass
sie die Rechtsbegriffe auf die Erfahrungsfälle anwenden soll. Es besteht allerdings
Erklärungsbedarf darüber, warum Kant den Ausdruck „Rechtslehre“ und nicht schlicht jenen
990
Habermas, Jürgen: Publizität als Prinzip der Vermittlung von Politik und Moral, in: Materialen zu Kants
Rechtsphilosophie, hrsg. v. Zwi Batscha, Frankfurt a. M., 1976, S. 180.
991
Koslowski, Peter: Staat und Gesellschaft bei Kant, Tübingen 1985, S. 36f.
992
Vgl. Geismann, Georg: Kant und kein Ende, Pax Kantiana oder Der Rechtsweg zum Weltfrieden, Bd. 3,
Würzburg 2012, S. 235. Bereits in: Ders.: Nachlese zum Jahr des „ewigen Friedens”. Ein Versuch, Kant vor
seinen Freunden zu schützen, in: Logos 3, 1996, S. 321.
993
Nussbaum, Martha C.: Kant und stoisches Weltbürgertum, in: Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und
das Problem einer neuen Weltordnung, hrsg. v. Matthias Lutz-Bachmann und James Bohman, Frankfurt a. M.
1996, S. 63.
994
Frieden: VIII, 370
995
Der obige Begriff der Moral weicht von der geläufigen Terminologie ab. In der Regel wird innerhalb Kants
Moralphilosophie zwischen Rechtsgesetzen (Rechtslehre) und Moralgesetzen (Sittenlehre) unterschieden. Vgl.
De Castillo, Monique: Moral und Politik, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin
1995, 2. Aufl. 2004, S. 196; Gerhardt, Volker: Immanuel Kants Entwurf »Zum ewigen Frieden«. Eine Theorie
der Politik, Darmstadt 1995, S. 9.
996
Frieden: VIII, 370
- 179 -
des „Rechts“ verwendet, obwohl in Bezug auf die Definition der Politik nicht von einer
Theorie, sondern ausschließlich von der Praxis die Rede ist. Die Einleitung der Rechtslehre
gibt hierfür näheren Aufschluss.997 Zur Erinnerung: Dort wird zwischen dem positiven Recht
einerseits und dem natürlichen Recht andererseits unterschieden.998 Das positive Recht ist für
die positive Geltungsfrage (quaestio facti) zuständig: Es besagt, was Rechtens ist (quid sit
iuris). Das natürliche Recht dagegen ist für die moralische Gültigkeitsfrage (quaestio iuris)
zuständig: Es besagt, was Recht und Unrecht ist (iustum et iniustum). Der Gegenstand der
Rechtslehre ist für Kant das natürliche Recht. Die Rechtslehre begründet somit ein System der
Prinzipien des Rechts. Moral als theoretische Rechtslehre meint hier, dass die Prinzipien des
Rechts aus der reinen praktischen Vernunft, das heißt unabhängig von aller Erfahrung,
abgeleitet werden müssen. Sie verfügen somit über allgemeine und objektive Gültigkeit. Vor
dem Hintergrund der obigen Ausführungen liegt es nahe, dass Kant mit der Definition der
Politik als ausübende Rechtslehre nicht die mechanische Umsetzung des bloß positiven
Rechts, das heißt die Ausübung, dessen was Rechtens ist, im Sinne hat.
Diese Definition bezieht sich vielmehr auf das natürliche Recht, welches in der reinen
praktischen Vernunft gegründet ist. Politik bezeichnet somit die Ausübung dessen, was Recht
ist, oder bei entsprechender Umformulierung, die Verwirklichung der apriorischen Prinzipien
des Rechts in der politischen Realität. Das Ziel der Politik wird somit vom Recht verbindlich
bestimmt.999 Gemeint ist hier die Überwindung des Naturzustandes - nämlich sowohl jener
der Menschen als auch jener der Staaten - unter strikter Wahrung der Freiheit, Gleichheit und
Unabhängigkeit aller moralischen Personen. Kant löst also das Problem der Mißhelligkeit
zwischen Politik und Moral, indem er der Moral eine absolute Vorrangstellung in sämtlichen
Belangen einräumt. Die Klugheit steht dagegen unter der strengen Aufsicht der reinen
praktischen Vernunft. Alle Handlungen, die mit dem kategorischen Imperativ nicht vereinbar
sind, sind schlechterdings verboten. Was also klug erscheinen mag, jedoch nicht moralisch ist,
wird bedingungslos abgelehnt. In diesem Zusammenhang ist Reinhard Brandt gänzlich
zuzustimmen, wenn er diesbezüglich von einer „Präzedenzregel“1000 spricht.
Es wurde gesehen, dass der Rechtsbegriff „ein reiner, jedoch auf der Praxis [...]
gestellter Begriff“1001 ist. Unbeantwortet bleibt jedoch bislang, wie dieser reine Rechtsbegriff
auf die „in der Erfahrung vorkommenden Fälle“ anzuwenden ist. Mit welchen Mitteln und
unter welchen Umständen auch immer diese apriorischen Prinzipien des Rechts in der Realität
verwirklicht werden sollen, wird von Kant nur am Rande thematisiert. Es handelt sich hierbei
um eine Aufgabe, deren Erfüllung im Ermessen des Politikers liegt. Wichtig ist dabei zu
sehen, dass die bloße Erkenntnis der Prinzipien des Rechts nicht ausreicht, wenn Politik
erfolgreich sein soll. Im Gemeinspruch schreibt Kant eindeutig, dass die Kenntnis der
Prinzipien des Rechts und die Kompetenz diese fallgerecht (in concreto) anzuwenden nicht
dasselbe sind.1002 Bei der Vermittlung der apriorischen Prinzipien des Rechts mit dem
Einzelfall bedarf der Politiker also stets der Urteilskraft. Darauf soll im nächsten Kapitel der
vorliegenden Dissertation noch näher eingegangen werden.
997
Eine interessante Auslegung der Einleitung in die Rechtslehre findet sich bei: Höffe, Otfried: Der
kategorische Rechtsimperativ: „Einleitung in die Rechtslehre“, in: Immanuel Kant. Metaphysische
Anfangsgründe der Rechtslehre, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1999, S. 41-62.
998
Vgl. RL: VI, 229f.
999
Vgl. Gerhardt, Volker: Ausübende Rechtslehre. Kants Begriff der Politik, in: Kants in der Diskussion der
Moderne, hrsg. v. Yasushi Kato und Gerhard Schönrich, Frankfurt a. M. 1996, S. 479.
1000
Brandt, Reinhard: Zu Kants politischer Philosophie. Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an
der Johann Wolfgang Goethe–Universität Frankfurt (Bd. XXXV, Nr. 5), Stuttgart 1997, S. 236.
1001
RL: VI, 205
1002
Vgl. Gemeinspruch: VIII, 275
- 180 -
Zusammenfassend kann hier festgehalten werden, dass die Definition der Politik als
ausübende Rechtslehre das Problem der Mißhelligkeit zwischen der Politik und der Moral
durch die absolute und systematische Unterwerfung der ersteren unter der zweiten auflöst.
4.2 Kants Gegenüberstellung von moralischer Politik und politischem Moralismus
In der Friedensschrift wird das Problem der Mißhelligkeit und Einhelligkeit zwischen
der Moral und der Politik am Beispiel mehrerer Gegensatzpaare veranschaulicht, die helfen
sollen zwischen einer falschen und einer richtigen Anordnung zu unterscheiden. Bei der
schematischen Darstellung dieser Gegensatzpaare ergibt sich das folgende Schema:
Abbildung 4: Die Gegensatzpaare von moralischer Politik und politischem Moralismus
Moralische Politik
Wahre Politik
Staatsklugheit im Dienst der Staatsweisheit
Sittliche Aufgabe (problema morale)
Formales Prinzip
Recht
Politischer Moralismus
Politik für sich selbst („Realpolitik“)
bloße Staatsklugheit
Kunstaufgabe (problema technicum)
Materiales Prinzip
Gewalt
Im Gegensatz etwa zu Niccolò Machiavellis Beschreibung der virtù des Fürsten in
seiner kurzgefassten Abhandlung Il Principe1003, entwickelt Kant die Figur des moralischen
Politikers, welcher die einzig wahre Form von Politik betreibt, die wiederum in keinen
Konflikt mit der Moral gerät. Diese wahre Form von Politik wird als ausübende Rechtslehre
verstanden. Kant spricht ebenfalls von einer „a priori erkennbare[n] Politik“.1004 So
verstanden löst sich die vermeintliche Mißhelligkeit von Moral und Politik in jene
Einhelligkeit auf, die im zweiten Teil des Anhangs bezüglich des transzendentalen Begriffs
des öffentlichen Rechts diskutiert wird. Darauf soll im weiteren Verlauf der vorliegenden
Dissertation noch näher eingegangen werden.
Der These der geltungstheoretischen Abhängigkeit der Politik von der Moral und dem
Recht gibt Kant in der Friedensschrift die folgende Fassung: „Die wahre Politik kann also
keinen Schritt thun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben, und obzwar Politik für sich
selbst eine schwere Kunst ist, so ist doch Vereinigung derselben mit der Moral gar keine
Kunst; denn diese haut den Knoten entzwei, den jene nicht aufzulösen vermag, sobald beide
einander widerstreiten“.1005 In diesem gewichtigen Satz stellt Kant zwei verschiedene Begriffe
der Politik gegenüber: eine „wahre Politik“ und eine „Politik für sich selbst“.
Auf der einen Seite wirft sich „wahre Politik“ (und das heißt für Kant Politik als
ausübende Rechtslehre) systematisch der Moral unter. Die Moral ist gesetzgebend. Die
Aufgabe der Politik besteht dagegen darin, die Gebote der Moral in der politischen Realität zu
verwirklichen ohne über deren Inhalt zu vernünfteln. Auf diesem Weg kann es keinen
Widerstreit zwischen Moral und Politik geben. Kants drückt dies folgendermaßen aus: „Alle
wahre Politik ist auf die Bedingung eingeschränkt mit der Idee des öffentlichen Rechts
zusammenzustimmen (ihr nicht zu wiederstreiten).1006
1003
Machiavelli, Niccolò: Il Principe / Der Fürst, übers. u. hrsg. v. Philipp Rippel, Stuttgart 1986, insbesondere
Kap. XV-XIX. Näheres dazu: Höffe, Otfried (Hrsg.): Niccolò Machiavelli: Der Fürst, Berlin 2012 (insbesondere
die Beiträge von Rolf Geiger, Peter Schröder, Giovanni Panno und Otfried Höffe).
1004
Frieden: VIII, 378
1005
Frieden: VIII, 380
1006
Vorarbeit: XXIII, 346
- 181 -
Nur im Rahmen der „Politik für sich selbst“ kann ein Widerstreit zwischen der Politik
und der Moral auftauchen. Was Kant unter dem Begriff der „Politik für sich selbst“ versteht,
ist die erfahrungsabhängige, sich auf Klugheit berufende Politik. Kant spricht ebenfalls von
„empirische[r] Politik“.1007 Es handelt sich dabei um eine „schwere Kunst“, nämlich die
Kunst die geeigneten Mittel zur Erreichung seiner Zwecke zu wählen, oder wie Kant schreibt,
die Kunst „ein ganzes freye Volk zu seinen Absichten zu brauchen“.1008 Politik ist in diesem
Sinne an sich noch nicht moralisch verwerflich. Zu Recht weist Ulrich Sassenbach darauf hin,
dass „[d]er bloße Begriff der Politik […] noch nicht am Maßstab der Prinzipien von Moral
und Recht geprüft und deren Priorität unterworfen worden [ist], aber deshalb auch nicht
moralisch verwerfbar [ist]. Eine solche Politik ist noch ganz der Erfahrungswelt verhaftet“.1009
Unmoralisch wird die „Politik für sich selbst“ erst dann, wenn sie gegen die Gebote der
Sittlichkeit verstößt. In den Vorarbeiten schreibt Kant, dass ein kluger Politiker sich nach den
von ihm verwendeten Mitteln als moralisch oder unmoralisch charakterisieren lässt:
„Diejenige Politik welche dazu sich solcher Mittel bedient die mit der Achtung fürs Recht der
Menschen zusammenstimmen ist moralisch die hingegen welche was den Punkt der Mittel
betrift nicht bedenklich ist (also die des Politikasters) ist Demagogie“.1010
Wahre Politik, das heißt Politik als ausübende Rechtslehre, stimmt mit der Moral
überein. Diese Übereinstimmung von Theorie und Praxis erläutert Kant am Beispiel zweier
unterschiedlicher Typen von Politik. Gemeint ist Kants Gegenüberstellung von moralischer
Politik und politischen Moralismus. Im ersten Teil des Anhangs der Friedensschrift stellt Kant
dem moralischen Politiker, der „die Principien der Staatsklugheit so nimmt, daß sie mit der
Moral zusammen bestehen können“, den politischen Moralisten entgegen, der „sich eine
Moral so schmiedet, wie es der Vortheil des Staatsmanns sich zuträglich findet“.1011 Der
politische Moralist ist nichts anderes als ein Opportunist, der mit der Geschicklichkeit begabt
ist „für alle Sättel gerecht zu sein“.1012 Im weiteren Verlauf des Textes führt Kant aus, dass
das materielle Prinzip dem des politischen Moralisten entspricht (Staatsklugheit), während
das formale dem des moralischen Politikers entspricht (Staatsweisheit).
Die Schaffung eines Zustandes des Friedens ist für den politischen Moralisten eine
bloße Kunstaufgabe (problema technicum), während sie für den moralischen Politiker eine
sittliche Aufgabe (problema morale) ist. Die Verwirklichung des formalen Prinzips
bezeichnet Kant als das Staatsweisheitsproblem. Die hieran direkt anschließende, weitere
Erläuterung der Aufgabe des moralischen Politikers lautet: „Der moralische Politiker wird es
sich zum Grundsatz machen: wenn einmal Gebrechen in der Staatsverfassung oder im
Staatenverhältniß angetroffen werden, die man nicht hat verhüten können, so sei es Pflicht,
vornehmlich für Staatsoberhäupter, darin bedacht zu sein, wie sie sobald wie möglich
gebessert und dem Naturrecht, so wie es in der Idee der Vernunft uns zum Muster vor Augen
steht, angemessen gemacht werden könne: sollte es auch ihrer Selbstsucht Aufopferung
kosten“.1013 Der moralische Politiker macht es sich zur Pflicht das Staats-, Völker- und
Weltbürgerrecht gemäß den Prinzipien der reinen praktischen Vernunft nach und nach zu
reformieren, auch wenn so seine kurzfristigen persönlichen Interessen der Reform zum Opfer
fallen sollten. Die gebotenen Reformen wird er außerdem „sobald wie möglich“, das heißt
ohne Verzögerung dennoch mit Rücksicht auf die politischen Umstände vollziehen wollen.
Bereits hier zeigt sich, dass der moralische Politiker keinesfalls ein weltfremder Utopist sein
1007
Frieden: VIII, 380
Vorarbeit: XXIII, 346
1009
Sassenbach, Ulrich: Der Begriff des Politischen bei Immanuel Kant, Würzburg 1992, S. 19.
1010
Vorarbeit: XXIII, 346
1011
Frieden: VIII, 372
1012
Frieden: VIII, 374
1013
Frieden: VIII, 372
1008
- 182 -
darf, sondern ein geduldiger Reformer sein muss. Der moralische Politiker ist also dazu
verpflichtet das Bestehende „nach Principien a priori“ zu reformieren.1014
Es hat sich bisher gezeigt, dass der moralische Politiker sich durch langsame, aber
stetig fortschreitende Reformen dem Ziel des ewigen Friedens annähern soll. In der
Sekundärliteratur wird häufig darauf hingewiesen, dass Kant ein elitäres Reformkonzept hat,
insofern der Fortschritt zum Besseren allein vom moralischen Politiker zu erwarten wäre. So
schreibt Claudia Langer, dass es sich bei Kant um eine „Reform von Oben“1015 handelt, in
welcher der Staat sowohl Subjekt als auch Objekt der Reform ist. Des Weiteren ist zu lesen,
dass „[d]as Vertrauen, das dieses Modell in den guten Willen der Obrigkeit setzt, […]
frappierend ist“.1016 Ulrich Sassenbach schreibt seinerseits, dass die vernunftgebotene Reform
lediglich „mit Hilfe staatlicher Organe“1017 durchgeführt werden kann. Auch für Bernd
Ludwig kommt der Rechtsfortschritt ausschließlich von oben herab.1018
Mehrere Textstellen in Kants Werken können als Beleg für diese Interpretation
angeführt werden. Im späten Streit der Fakultäten wirft Kant die Frage auf: „In welcher
Ordnung allein kann der Fortschritt zum Besseren erwartet werden?“ Seine kurze Antwort
hierauf lautet: „nicht durch den Gang der Dinge von Unten hinauf, sondern den von oben
herab“.1019 Im Anschluss daran schreibt er, dass ein Fortschritt zum Besseren in der
Geschichte vom Volk allein kaum zu erwarten sei. Kant erwartet einen Fortschritt zum
Besseren weniger von der durch öffentliche Bildung geförderten Kultivierung und letztlich
Moralisierung des Volks als vielmehr vom Handeln des moralischen Politikers. Die Hoffnung
auf den Fortschritt sei bei ihm durch eine „Weisheit von oben herab“1020 begründet. Gemeint
ist hier ein „überlegte[r] Plane der obersten Staatsmacht“.1021 Dazu würde gehören, dass der
„Staat sich von Zeit zu Zeit auch selbst reformiere und, statt Revolution Evolution
versuchend, zum Besseren beständig fortschreite“.1022 Der Staat selbst soll also die
Staatsverfassung schrittweise verbessern. Wenn der Fortschritt gänzlich vom Staat abhängig
wäre und somit von einem moralischen Politiker, dann könnte man Kant für eine allzu große
Zuversicht kritisieren, weil auch ein Staatsoberhaupt ein gebrechlicher Mensch ist, der als
solche nicht immer im Sinne des vernunftnotwendigen Fortschrittes handelt. Selbst wenn es
nicht primär vom Volk abhängt, ob, wie und wann die Stiftung eines andauernden
Friedenszustands gelingen kann, so vermögen die Menschen doch, „das größte Hinderniß des
Moralischen“1023, nämlich den Krieg, welches ihrem freien Tun und Lassen zugerechnet
werden kann, allmählich abbauen. Wie bereits im ersten Hauptteil gesehen wurde, beruht
Kants Hoffnung auf Frieden nicht allein auf dem Handeln des moralischen Politikers, sondern
ebenfalls auf der Stärkung dieser „negative[n] Weisheit“.1024
Kant richtet seine Kritik aber nicht nur an die Politiker, die nur auf Klugheit setzen
(die Realpolitiker), sondern auch an die Politiker, die glauben ganz auf Klugheit verzichten zu
können (die despotisierenden Moralisten).
1014
Vgl. Frieden: VIII, 372, 375, 377; Vorarbeit: XXIII, 162f.
Vgl. Langer, Claudia: Reform nach Prinzipien. Untersuchungen zur politischen Theorie Immanuel Kants,
Stuttgart 1986, insbesondere S. 81ff.
1016
Langer, Claudia: Reform nach Prinzipien. Untersuchungen zur politischen Theorie Immanuel Kants,
Stuttgart 1986, S. 84.
1017
Sassenbach, Ulrich: Der Begriff des Politischen bei Immanuel Kant, Würzburg 1992, S. 141.
1018
Vgl. Ludwig, Bernd: Will die Natur unwiderstehlich die Republik? Einige Reflexionen anlässlich einer
rätselhaften Textpassage in Kants Friedensschrift, in: Kant-Studien 88, 1997, S. 218f.
1019
Streit: VII, 92
1020
Streit: VII, 93
1021
Streit: VII, 93
1022
Streit: VII, 93
1023
Streit: VII, 93
1024
Streit: VII, 93
1015
- 183 -
5. Kants Zurückweisung eines despotisierenden Moralismus in der Politik
Die zuvor erwähnte Reformkonzeption steht der weit verbreiteten Kritik entgegen,
dass Kants praktische Philosophie im Allgemeinen und seine Rechtslehre im Besonderen
keine Rücksicht auf die jeweiligen Einzelfälle nehmen, und damit einhergehend einen
folgenblinden und somit moralisch verwerflichen Rigorismus implizieren. Auf den ersten
Blick scheint dieser Vorwurf berechtigt zu sein. Als Beleg für Kants vermeintliche
Gleichgültigkeit gegenüber den zu erwartenden Folgen unseres Tun und Lassens können
verschiedene Textstellen angeführt werden. In der Grundlegung ist beispielsweise zu lesen,
dass die Menschen sich an dem moralischen Gesetz zu orientieren haben: „der Erfolg mag
sein, welcher er wolle“.1025 In der Friedensschrift führt Kant zustimmend die berühmte
Formel „fiat justitia, pereat mundus“ auf, welche er folgendermaßen übersetzt: „Es herrsche
Gerechtigkeit, die Schelme in der Welt mögen auch insgesammt darüber zu Grunde
gehen“1026 (anstatt: „Es geschehe Gerechtigkeit, möge die Welt zugrunde gehen“). Ferner
schreibt er im selben Text, dass die politischen Maxime „nicht von der, aus ihrer Befolgung
zu erwartenden Wohlfahrt und Glückseligkeit eines jeden Staats, also nicht vom Zweck, den
sich ein jeder derselben zum Gegenstande macht (vom Wollen) als dem obersten (aber
empirischen) Princip der Staatsweisheit, sondern von dem reinen Begriff der Rechtspflicht
(vom Sollen, dessen Princip a priori durch reine Vernunft gegeben ist) ausgehen, die
physische Folgen daraus mögen auch sein, welche sie wollen“.1027 Diesen verschiedenen
Textstellen ist zu entnehmen, dass Kant nachdrücklich betont, dass die Vernunftprinzipien
tatsächlich in jeder Situation ganz unabhängig von den möglichen Folgen (und das heißt
sowohl für die Anderen als auch für den Handelnden selbst) beachtet werden sollen.
Nichtsdestoweniger zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass der Vorwurf eines folgenblinden,
moralischen Rigorismus zu kurz greift.
In der Friedensschrift warnt Kant ausdrücklich davor, dass Politik nicht bloß in Moral
aufgehen darf und eine eigenständige Aufgabe zu leisten hat. Der moralische Politiker darf
kein sogenannter „despotisirende[r] Moralist“1028 sein. Ein solcher wäre er nämlich dann,
wenn er entgegen aller Staatsklugheit die Prinzipien des Rechts ohne Rücksicht auf die
politischen Umstände vollziehen würde. In den Vorarbeiten zur Friedensschrift bezeichnet
Kant die despotisierenden Moralisten ebenfalls sarkastisch als „Metaphysiker“ und kritisiert
ihre „sanguinistische[] Hoffnung die Welt zu verbessern“.1029 Als erschreckendes Beispiel
hierfür hatte Kant die Französische Revolution vor Augen, welche er zwar mit großer
Begeisterung begrüßte, jedoch spätestens mit der Terrorherrschaft aus den Jahren 1793/94 als
einen misslungenen Moralisierungsversuch der Politik erkannte. Dass Kant ein waches
Bewusstsein für das Risiko eines folgenblinden und somit letztlich der Möglichkeit nach
widersprüchlichen Moralisierungsversuchs der Politik hatte, zeigt hinreichend ein kleiner
Passus aus der Friedensschrift, in welchem zu lesen ist, dass die Politiker sich für die
Schaffung eines Zustandes des Weltfriedens zwar bedingungslos an dem moralischen Prinzip
zu orientieren haben, „doch mit der Erinnerung der Klugheit, ihn nicht übereilterweise mit
Gewalt herbei zu ziehen, sondern sich ihm, nach Beschaffenheit der günstigen Umstände,
unablässig zu nähern“.1030 Die Politiker sollen auf dem Wege der politischen Reform und
unter Berücksichtigung der Ratschläge der Klugheit, also zügig, aber behutsam die Prinzipien
des Rechts in der Realität umsetzen. Der Politiker, welcher für die Verwirklichung der
1025
GMS: IV, 416
Frieden: VIII, 378
1027
Frieden: VIII, 379
1028
Frieden: VIII, 373
1029
Vorarbeit: XXIII, 155
1030
Frieden: VIII, 378
1026
- 184 -
Prinzipien des Rechts in der Realität auf unzulässige Mittel zurückgreifen würde, würde nicht
nur unmoralisch, sondern auch unklug handeln.1031
Vor diesem Hintergrund scheint die Frage berechtigt zu sein, ob bei Kant tatsächlich
jegliche Folgenüberlegungen bei der Befolgung des moralischen Gesetzes ausgeschlossen
sind. Es ist der Verdienst von Otfried Höffe, entgegen einer weit verbreiteten Ansicht gezeigt
zu haben, dass die Antwort auf diese Frage negativ ausfällt, und dass Folgenüberlegungen bei
Kant unter bestimmten Bedingungen wohl erlaubt sind.1032 Für ein angemessenes Verständnis
von Höffes Argumentation soll zunächst daran erinnert werden, dass der allgemeine
kategorische Imperativ nicht nur das oberste Prinzip der Sittlichkeit, sondern zugleich ein
Kriterium ist, anhand von welchem die Willens- und Handlungsmaximen auf ihre Moralität
hin überprüft werden können. Die Bedingung der Sittlichkeit von Willens- und
Handlungsmaximen ist, dass beide verallgemeinerungsfähig sind. Taugen unsere Maxime zu
einem allgemeinen Gesetz, dann ist es nicht nur zulässig, sondern sogar geboten, nach ihnen
zu handeln. Taugen sie nicht hierzu, so sind ihnen entsprechende Handlungen unmoralisch
und verboten. An dieser Stelle ist es wichtig, sich wieder bewusst zu machen, wie das
Kriterium der Verallgemeinerung der Maxime zu verstehen ist. Die Frage, ob unsere Willensund Handlungsmaxime zu einem allgemeinen Gesetz taugen, also verallgemeinerungsfähig
sind, impliziert keine Überlegung über die empirischen Folgen in der sinnlichen Welt, die sich
möglicherweise ergeben würden, wenn jeder gemäß einer bestimmten Maxime handeln
würde. Es geht vielmehr um eine Verallgemeinerung - um ein Nicht-Denken-Können bzw.
Nicht-Wollen-Können - in der intelligiblen Welt, das will heißen um einen logischen
Widerspruch in der Struktur der Maxime selbst. Die Überprüfung der subjektiven Willensund Handlungsmaxime durch den kategorischen Imperativ gilt somit als rein apriorisch,
insofern sie auf Folgenüberlegungen verzichtet, und als empirisch bestimmt, falls sie auf
Folgenüberlegungen zurückgreift.
Um die Zulässigkeit von Folgenüberlegungen innerhalb der Kantischen Ethik zu
beweisen, trifft Otfried Höffe eine Unterscheidung zwischen sogenannten handlungsinternen
und handlungsexternen Folgenüberlegungen.
Die handlungsinternen Folgenüberlegungen betreffen nicht die Wahl der Maxime,
sondern nur die Frage, wie die einmal gewählten Maximen angewandt werden sollen. Sie
bleiben also bloß innerhalb eines moralischen Gebots beschränkt. Derartige
Folgenabwägungen gehören zu dem, was Kant in der Grundlegung als den „Begriff der
Handlung an sich selbst“1033 bezeichnet. Als solche treten sie erst auf nachdem die Wahl der
Maxime einmal getroffen wurde. Derartige Folgenerwägungen sind nicht nur erlaubt, sondern
sogar notwendig für das moralische Handeln. Das Hilfsgebot zum Beispiel lässt sich ohne
Überlegungen, wie man einer sich im Notfall befindende Person erfolgreich hilft, gar nicht
erfüllen.
Die handlungsexternen Folgenüberlegungen sind dagegen jene Folgenüberlegungen,
welche die Wahl der Maxime mitbestimmen können. Sie setzten ein bevor die Wahl einer
Maxime überhaupt getroffen wurde und suchen diese Wahl zu beeinflussen. Wer sich von
handlungsexternen Folgenüberlegungen leiten lässt, wählt eine Handlung nicht für sich selbst,
sondern nur als Mittel für einen bestimmten Zweck. Der Bestimmungsgrund des Willens
1031
Vgl. Religion: VI, 96
Vgl. Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt
a. M. 2001, S. 74. Siehe auch: Ders.: Kants nichtempirische Verallgemeinerung: Zum Rechtsbeispiel des
falschen Versprechens, in: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: Ein kooperativer Kommentar, hrsg. v.
Otfried Höffe, Frankfurt a. M. 2000, S. 209f; Ders.: Kategorische Rechtsprinzipien: Ein Kontrapunkt der
Moderne, Frankfurt a. M. 1995, S. 184f.; Ders.: Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, in:
Zeitschrift für philosophische Forschung 31, 1977, S. 368f.
1033
GMS: IV, 402 (meine Hervorhebung)
1032
- 185 -
ergibt sich durch einen beliebigen Zweck (materielles Prinzip) und nicht durch die
Tauglichkeit der Maxime zu einem allgemeinen Gesetz (formales Prinzip).
Vor diesem Hintergrund lässt es sich leicht einsehen, warum die absolute
Notwendigkeit der Vernunftprinzipien nichts mit einer Gleichgültigkeit gegenüber den
Handlungsfolgen zu tun hat. Wenn der Politiker zum Beispiel sich allein aus Achtung vor
dem moralischen Gesetz einmal dafür entschieden hat, die Vernunftprinzipien des Rechts zu
verwirklichen, darf und sogar soll er an den Umsetzungsbedingungen dieser Prinzipien
denken. Gerade an diesem Punkt wäre es sogar absurd Folgenüberlegungen auszuschließen,
denn wie auch immer die Anwendung der Vernunftprinzipien geschehen soll, wird zumeist
zugunsten einer unter mehreren Handlungsmöglichkeiten entschieden. Weil jede getroffene
Handlung, verschiedene Folgen nach sich zieht, sollte der Politiker eine Güterabwägung
vornehmen, und also die Vor- und Nachteile aller Optionen abwägen. Er soll zwischen allen
ihm zustehenden möglichen Mittel abwägen, um seinen bereits festgestellten Zweck am
ehesten zu verwirklichen, das heißt um die Prinzipien des Rechts umzusetzen. Gefragt sind
dabei eine besonnene Berücksichtigung des Bestehenden und Einschätzung des Möglichen.
Innerhalb Kants Ethik sind Folgenerwägungen nur bei der Bestimmung unserer Willens- und
Handlungsmaxime ausgeschlossen. An dieser Stelle gibt es für die Klugheit endgültig keinen
Platz. Kant stellt nur die Klugheit, welche die Handlungsentscheidung für sich beansprucht
oder nur beeinflussen möchte, in eine Gegenposition zur Moral.
Dagegen wird allerdings mit der Umsetzung der Vernunftprinzipien des Rechts in der
Realität der Klugheit eine klar eingegrenzte Aufgabe gestellt. Der Klugheit kommt die
Funktion zu unter den verschiedenen möglichen, moralisch-gleichgültigen Mitteln, die zu
einem kategorisch gebotenen Zweck führen können, diejenigen auszuwählen, welche am
wirksamsten sind. Innerhalb Kants Ethik öffnet sich somit ein Feld, in welchem die Moral
und die Klugheit nicht mehr im Konflikt zueinander stehen, sondern kompatibel und sogar
notwendigerweise einander brauchen und ergänzen. Wie in der Friedensschrift zu lesen ist,
bedarf der moralische Politiker stets der „Erinnerung der Klugheit“.1034 Folgenerüberlegungen
sind jedoch nur dort möglich und notwendig, wo das moralische Gesetz dem Menschen einen
gewissen Spielraum übrig lässt, der durch pragmatische oder technische Überlegungen gefüllt
werden kann und muss. Kant zufolge ist dies allerdings bei den vollkommenen Pflichten nicht
der Fall. Weil die vollkommenen Pflichten, wie zum Beispiel das Lügenverbot, lediglich
Einzelhandlungen verbieten, bedarf deren Befolgung keiner Folgenüberlegungen. Dass dieser
Spielraum selbst bei den vollkommenen Rechtspflichten beachtlicher ist als das was zunächst
angenommen werden könnte, darauf soll im nächsten Kapitel näher eingegangen werden.
Die Tatsache, dass Kant die Zulässigkeit von handlungsinternen Folgenüberlegungen
innerhalb seiner Moral- und Rechtsphilosophie anerkennt, sagt dennoch nichts über die
Realisierbarkeit dessen, was moralisch geboten ist. Dieser Frage möchten wir uns im
Folgenden widmen. Es wird sich dabei zeigen, dass für Kant die Einhaltung der
Rechtspflichten nicht nur möglich, sondern auch klug ist.
6. Die Einhaltung der Rechtspflichten als Gebot der Sittlichkeit sowie als Ratschlag der
Klugheit
6.1 Die Einhaltung der Rechtspflichten ist möglich
Für Kant ist Frieden nur durch die Stiftung eines mit Hilfe öffentlicher Gesetze
endgültig gesicherten Rechtszustandes zu erreichen. Aus diesem Grunde entspricht das
Problem der Realisierung des Friedens jenem der Verwirklichung der Prinzipien des Rechts.
1034
Frieden: VIII, 378
- 186 -
Bisher wurde bereits gesehen, dass es möglich ist, die Klugheit mit den unbedingt
gebietenden Vorschriften der Moral zu versöhnen. Dennoch konnte Kant nicht nachweisen,
dass jenes, was geboten ist, prinzipiell auch erreicht werden kann. Kant hat sich bis zum Ende
geweigert, darin überhaupt eine Frage zu sehen. Wahrscheinlich fürchtete er, dass die
Folgenüberlegungen und die Abschätzung der Realisierbarkeit des moralischen Gesetzes auf
dessen Definition zurückwirken und seine Notwendigkeit schließlich relativieren könnten.
Was die Frage nach der Realisierbarkeit des moralischen Gesetzes anbelangt, so führt Kant
lediglich das Argument an, wonach die Kraft des unbedingt gebietenden Sittengesetzes dessen
Ausführbarkeit impliziert. Wenn das moralische Gesetz eine Handlung gebietet, dann müssen
die Menschen auch fähig sein jene umzusetzen, weil im Sollen bereits das Können beinhaltet
ist.1035 Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Menschen bei der Befolgung des
moralischen Gesetzes nicht scheitern können. Es bedeutet lediglich, dass die Menschen sich
nicht auf die vermeintliche Unmöglichkeit einer gebotenen Handlung berufen können, um das
moralische Gesetz nicht zu verwirklichen versuchen. Dies lässt sich auf zwei Gründe
zurückführen:
Der Mensch kann nicht wissen, wie weit seine Fähigkeiten eigentlich reichen, was für
ihn möglich und unmöglich ist und was im Endeffekt klug und unklug ist. Wie zuvor gesehen
wurde, sind die Folgen unseres Tun und Lassens niemals mit Sicherheit vorherzusehen.
Unsere Folgenabschätzungen sind mit einer niemals völlig aufzuhebenden Unsicherheit
verbunden. Hinzu kommt, dass nicht einmal die Wahrscheinlichkeit einer Folge genau
vorherzusehen ist.
Der Mensch weiß dagegen mit Gewissheit, welche Handlung vom moralischen Gesetz
geboten wird. Dafür bedarf man nämlich gar keiner empirischen Kenntnisse. In der
Grundlegung heißt es: „Was ich also zu thun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei, dazu
brauche ich gar keine weit ausholende Scharfsinnigkeit. Unerfahren in Ansehung des
Weltlaufs, unfähig auf alle sich eräugende Vorfälle desselben gefaßt zu sein, frage ich mich
nur: kannst du auch wollen, daß deine Maxime ein allgemeines Gesetz werde?“.1036 Kants
These, dass jeder Mensch weiß, was moralisch geboten ist, findet sich ebenfalls in der zweiten
Kritik: „Was nach dem Princip der Autonomie des Willens zu thun sei, ist für den gemeinsten
Verstand ganz leicht und ohne Bedenken einzusehen. [Denn] was Pflicht sei, bietet sich
jedermann von selbst dar“.1037 Dort führt Kant ebenfalls aus, dass man das „Bewußtsein
dieses Grundgesetzes ein Factum der Vernunft nennen“ kann, weil man es nicht „aus
vorhergehenden Datis der Vernunft […] herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich
selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori auf keiner, weder reinen noch empirischen,
Anschauung gegründet ist“.1038 Das Sittengesetz ist kein empirisches, sondern das einzige
Faktum der reinen Vernunft, die sich dadurch als „ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic
iubeo)“1039 ankündigt.
Aus der Unsicherheit der Folgenerwägungen einerseits und der unbedingten
Notwendigkeit des moralischen Gesetzes andererseits folgt, dass die Menschen sich dem
kategorischen Imperativ nicht unter dem Vorwand entziehen dürfen, dass dieser sich nicht
umsetzen lasse. Solange nicht mit Gewissheit bewiesen wurde, dass die Pflichterfüllung
unmöglich ist (und ein derartiger, unwiderlegbarer Beweis ist nicht möglich), sollen sich also
die Menschen in ihrem Verhalten strikt an dem moralischen Gesetz orientieren. In der Schrift
Über den Gemeinspruch schreibt Kant folgendes dazu: „Es mögen nun auch noch so viel
Zweifel gegen meine Hoffnungen aus der Geschichte gemacht werden, die, wenn sie
1035
Vgl. KpV: V, 30; Gemeinspruch: VIII, 287; TL: VI, 380, 384; Religion: VI, 50, 41, 62, 67
GMS: IV, 403
1037
KpV: V, 36
1038
KpV: V, 31
1039
KpV: V, 31
1036
- 187 -
beweisend wären, mich bewegen könnten, von einer dem Anschein nach vergeblichen Arbeit
abzulassen; so kann ich doch, so lange dieses nur nicht ganz gewiss gemacht werden kann, die
Pflicht (als das liquidum) gegen die Klugheitsregel aufs Unthunliche nicht hinzuarbeiten (als
das illiquidum, weil es bloße Hypothese ist) nicht vertauschen“.1040 Mit diesem Argument,
nach welchem die Menschen das machen können müssen, was das moralische Gesetz
gebietet, gelingt es Kant also zu zeigen, dass die Erfüllung einer Pflicht unabhängig von der
Abschätzung ihrer Realisierbarkeit erfolgen soll.
6.2 Die Einhaltung der Rechtspflichten ist klug
Kant beschränkt sich nicht darauf zu zeigen, dass, was gemacht werden soll,
grundsätzlich auch erreicht werden kann. Darüber hinaus versucht er zu zeigen, dass was
moralisch geboten ist, auch pragmatisch angestrebt werden soll. Im ersten Teil des Anhangs
der Friedensschrift heißt es dazu: „[T]rachtet allererst nach dem Reiche der reinen praktischen
Vernunft und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch euer Zweck (die Wohlthat des ewigen
Friedens) von selbst zufallen“.1041 In diesem Satz stellt Kant der Gerechtigkeit als formales
Rechtsprinzip die Wohltat des ewigen Friedens als materielles Prinzip gegenüber. Das
formale sowie das materielle Prinzip schließen sich nicht wechselseitig aus. Mit dem Adverb
„allererst“ zeigt Kant, dass das formale Prinzip dem materiellen hierarchisch und zeitlich
vorangestellt ist. Seine These lautet wie folgt: Wenn man dem formalen Rechtsprinzip den
Vorrang gäbe, so erfülle sich ebenfalls das materielle. Bevor sich der Begründung dieser
These gewidmet wird, soll Kant noch kurz zu Wort kommen: „Man kann hier nicht halbieren
und das Mittelding eines pragmatisch-bedingten Rechts (zwischen Recht und Nutzen)
aussinnen, sondern alle Politik muß ihre Knie vor dem erstern beugen, kann aber dafür hoffen,
obzwar langsam, zu der Stufe zu gelangen, wo sie beharrlich glänzen wird“.1042
Diese berühmte Formel, dass jede Politik ihre Knie vor dem Recht beugen muss, sollte
vor dem Hintergrund der obigen Erörterungen kein Verständnisproblem mehr darstellen. Hier
wird erneut die geltungstheoretische Abhängigkeit der Politik von den Prinzipien des Rechts
und der Moral hervorgehoben. Erklärungsbedürftig ist dagegen der letzte Teil des obigen
Zitats, in welchem Kant dem moralischen Politiker einen andauernden „Glanz“ in Aussicht
stellt. Einiges spricht dafür, dass es sich hier nicht um einen moralischen Glanz handelt. Der
Glanz ist nämlich von außen einzusehen. Bei einer moralischen Handlung kommt es dagegen
ausschließlich auf den guten Willen an, der nach außen nicht bewiesen werden kann. Was
Kant im Sinne hat, ist also vielmehr ein politischer Glanz. Dieser ergibt sich wiederum aus
dem positiven Erfolg, den der moralische Politiker erreicht, indem er dem formalen
Rechtprinzip den Vorrang vor dem materiellen Zweck einräumt. Für Kant gibt es also gar
keinen Widerstreit zwischen Recht und Nutzen, zwischen Sittlichkeit und Sinnlichkeit sowie
zwischen dem formalen und dem materiellen Prinzip. Das erste ist immer die Grundlage für
jede Politik, wenn diese auf Dauer erfolgreich sein soll.1043
Diese These lässt sich folgendermaßen begründen: Die Maximen des politisch
Handelnden sollen sich am formalen Rechtsprinzip orientieren, weil einzig auf diesem Weg
das angeborene und erworbene Recht des Einzelnen mit dem Recht aller Anderen nach einem
allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann. Frieden als die Garantie der äußeren Freiheit
von jedermann ist in Bezug auf alle anderen Menschen a priori ausschließlich unter
Bedingung des Rechts zu erwarten. Erst, wenn Frieden wahrhaft gegeben ist, das heißt, wenn
1040
Gemeinspruch: VIII, 309
Frieden: VIII, 378
1042
Frieden: VIII, 380
1043
In einer seinen Reflexionen zur Rechtsphilosophie schreibt Kant in diesem Sinne, dass die Gerechtigkeit,
mithin die Unterordnung der Klugheit unter das Recht, „der kurze weg der Staatklugheit“ ist (Reflexion 7779:
XIX, 514).
1041
- 188 -
die Menschen in einem weltweiten, bürgerlich-gesetzlichen Zustand leben, ist a priori
gesichert, dass diese von der Wohltat des ewigen Friedens profitieren, indem sie ihre
jeweiligen materiellen Zwecke unabhängig von der nötigenden Willkür der Anderen
verfolgen können. Wenn also bei Kant zu lesen ist, dass aus dem Befolgen des formalen
Rechtsprinzips, der materielle Zweck, nämlich die eigene Glückseligkeit, von selbst resultiert,
dann darf dies nicht so verstanden werden, als ob für Kant die Glückseligkeit direkt und
automatisch aus der Befolgung der Vernunftprinzipien folgt. Was Kant hiermit festhalten will,
ist nämlich nicht die Idee, dass die Anwendung des formalen Rechtsprinzips die Bedingung
der Glückseligkeit impliziert, sondern ausschließlich die Bedingung der Möglichkeit der
Glückseligkeit. Die Tatsache, dass jeder Mensch in seinem Streben nach Glückseligkeit
rechtlich von den Eingriffen der anderen Menschen geschützt ist, hat längst noch nicht zu
bedeuten, dass sie jemals ihre eigene Glückseligkeit tatsächlich erreichen werden. Hierfür ist
es notwendig, dass weitere Bedingungen vorliegen, welche wiederum von den inneren wie
äußeren Umständen der Menschen abhängig sind.
Zusammenfassend ist hier zweierlei festzuhalten. Bei der bisherigen Analyse des
Kantischen Gedankengangs wurde gezeigt, dass Kant sowohl die Notwendigkeit als auch die
Möglichkeit der Überwindung des inter-individuellen und inter-staatlichen Naturzustandes
und des Übergangs in einem sich weltweit erstreckenden öffentlich-rechtlichen Zustand
gänzlich a priori begründet. Kant fügt hier allerdings dem apriorischen Argument bezüglich
der Notwendigkeit und Möglichkeit der Stiftung eines Zustandes des Weltfriedens ein
plausibles empirisches Argument hinzu, demzufolge dieser Zweck ebenfalls als
hypothetischer Imperativ, genauer gesagt als pragmatischer Imperativ gedeutet werden
kann.1044 Entsprechend handeln die Menschen klug, wenn sie sittlich handeln. Wollen die
Menschen ihre materiellen Zwecke erreichen, dann ist es hypothetisch geraten, dem Recht
gemäß zu handeln. Die Einhaltung der Rechtspflichten ist nicht nur an sich gut, sondern
ebenfalls für eine wirkliche Absicht gut geeignet. Bei der Einhaltung der Rechtspflichten
handelt es sich nicht nur um einen Gebot der Sittlichkeit, sondern auch um einen Ratschlag
politischer Klugheit. Zumindest langfristig können somit die Menschen auf eine Konvergenz
von Klugheit und Moral sowie von Nutzen und Gesinnung hoffen. Wie wir bereits im ersten
Hauptteil gesehen haben, führt Kant in seinen kleineren, geschichtsphilosophischen Schriften
zusätzlich gute Gründe an, welche diese gutmütige Hoffnung berechtigen sollen. Dort
versucht er nachzuweisen, dass die Geschichte auf das hin tendiert, was die reine praktische
Vernunft fordert.
In diesem Kapitel hat sich herausgestellt, dass wahrhaftig kluge Politik keineswegs
unmoralisch sein muss, genauso wie moralische Politik nicht weltfremd und erfolglos sein
muss. Den Prinzipien des Rechts gemäß zu handeln, hat empirisch betrachtet noch niemals
bedeutet, notwendigerweise scheitern zu müssen. Im Gegensatz zu einem naiven Utopismus,
welcher die Schaffung eines Zustandes des Weltfriedens allein vom sittlichen Gebrauch des
menschlichen freien Willens abhängig machen würde, stellt Kant eine nüchterne These auf,
welche die Moral mit der Klugheit, die Sittlichkeit mit der Sinnlichkeit unter dem Vorrang der
ersteren auszusöhnen versucht. Als Politiker benötigt man weder eine andere Welt noch einen
anderen Menschen. Es reicht völlig aus – und es ist tatsächlich möglich – das Vorhandene
allmählich zu reformieren. Der Politiker, welcher die Möglichkeit einer Verwirklichung der
Prinzipien des Rechts in der Wirklichkeit von vornherein verleugnet und seine Machtpolitik
mit Hilfe einer unfundierten Vorstellung eines unaufhebbaren, ewigen Krieges begründet, ist
kein einischtiger Realpolitiker, sondern vielmehr ein unmoralischer Verführer, dessen
Illegitimität mit aller möglichen Kraft denunziert werden soll.
1044
Vgl. Geismann, Georg: World Peace: Rational Idea and Reality. On the Principles of Kant’s Political
Philosophy, in: Kant. Analysen - Probleme - Kritik, hrsg. v. Hariolf Oberer, Würzburg 1996, S. 265-319.
- 189 -
2. KAPITEL: ÜBER DEN SYSTEMATISCHEN STELLENWERT
KANTS RECHTSTHEORIE VOM WELTFRIEDEN
DER
URTEILSKRAFT
INNERHALB
Im ersten Hauptteil der vorliegenden Dissertation wurde gezeigt, dass es Kant
weitgehend gelungen ist, die Notwendigkeit der Stiftung eines Zustandes des Weltfriedens
rein rational, also unabhängig von jeglichen Erfahrungsbedingungen, zu begründen. Genau
hierin liegt seine epochale Leistung im Bereich der politischen Philosophie. Darüber hinaus
darf jedoch nicht übersehen werden, dass Kant ebenfalls um eine Vermittlung von den
universalen, formalen Vernunftprinzipien mit den einzelnen, konkreten Fällen bemüht war.
Das Mittelglied der Verknüpfung sowie des Übergangs von den ersteren zu den letzteren sieht
Kant in der Figur des moralischen Politikers. In der Friedensschrift wird moralische Politik
als „ausübende Rechtslehre“ definiert. Dem moralischen Politiker kommt somit die Aufgabe
zu, die apriorischen Prinzipien des Rechts auf die Erfahrungsfälle anzuwenden. Der Akzent
liegt in Kants Definition ausdrücklich auf der Ausübung. Gerade hierfür ist allerdings
Urteilskraft unentbehrlich. Die Urteilskraft überhaupt definiert Kant zunächst allgemein als
das „Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“.1045
Was genau unter diesem Vermögen, welches gerne als Subsumtionsleistung definiert
wird, zu verstehen ist, soll im Folgenden noch ausführlich gezeigt werden. An dieser Stelle
reicht es aus festzuhalten, dass es von der Urteilskraft überhaupt sowohl einen theoretischen
als auch einen praktischen Gebrauch geben kann. Wer jedoch die Politik als angewandte
Rechtslehre bestimmt, betont ausdrücklich den praktischen Gebrauch der Urteilskraft. Des
Weiteren schreibt Kant in der Kritik der reinen Vernunft und vor allem dann in der Kritik der
Urtheilskraft, dass es die Urteilskraft grundsätzlich in zweierlei Gestalt gibt: Als bestimmende
und als reflektierende Urteilskraft. Diese Unterscheidung entspricht den zwei einzigen
Vermittlungsmöglichkeiten zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen. Gemeint sind
der Übergang von einem gegebenen Allgemeinen zu einem gesuchten Besonderen einerseits
sowie der Übergang von einem gegebenen Besonderen zu einem gesuchten Allgemeinen
andererseits. Wenn das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) durch den Verstand
bereits gegeben ist, dann ist von der bestimmenden Urteilskraft die Rede. Wenn dagegen das
Allgemeine erst gefunden werden muss, dann wird von der reflektierenden Urteilskraft
gesprochen.
Für die Anwendung der Vernunftprinzipien auf die Erfahrungsfälle ist die
bestimmende Urteilskraft gefragt. Was den Vernunftprinzipien entspricht, ist nämlich bereits
gegeben und kann selbst von dem gemeinsten Verstand jederzeit erkannt werden.1046 In seiner
kleinen Abhandlung Von einem neuerdings erhobenen Ton in der Philosophie schreibt Kant
diesbezüglich, dass „die Stimme der Vernunft (dictamen rationis) […] zu Jedermann deutlich
spricht“.1047 Die Tatsache, dass die Vernunftprinzipien in abstracto von jedermann leicht
erkannt werden können, lässt jedoch die doppelte Frage unbeantwortet, auf welche
Erfahrungsfälle sowie auf welche Art und Weise jene in concreto angewandt werden sollen.
Auf diese Problematik soll auf den folgenden Seiten ausführlich eingegangen werden.
Dies soll in Kenntnis, aber nicht immer in Übereinstimmung mit einem Großteil der
Sekundärliteratur aus den letzten zwei Jahrzehnten geschehen. Es soll hier die These vertreten
werden, dass Kants Rechtstheorie vom Weltfrieden die absolute Verbindlichkeit universeller
Rechtsprinzipien mit einem nicht zu unterschätzenden Spielraum für die Politik bezüglich
ihrer konkreten Anwendung auf die Einzelfälle verbindet. Es wird sich somit zeigen, dass
Kant kein weltfremder Moralist ist, sondern vielmehr ein erfahrungsoffener und
kontextsensibler Rechtsphilosoph, welcher der Urteilskraft eine erhebliche Rolle bei der
1045
KUK: V, 179
Vgl. GMS: IV, 403; KpV: V, 36
1047
VT: VIII, 402 (meine Hervorhebung)
1046
- 190 -
Anwendung der Vernunftprinzipien zuweist und somit unmittelbar eine Eigenständigkeit der
Politik gegenüber Recht und Moral anerkennt.
Im folgenden Kapitel soll erstens der Begriff der Urteilskraft erläutert werden und auf
das von Kants selbst gesehene Problem des unendlichen Regelregresses eingegangen werden
(1). Im zweiten Abschnitt wird die Bedeutung der reinen praktischen Urteilskraft für die
Beurteilung der Prinzipien der Moralität erörtert (2). Dabei wird insbesondere auf die
Schwierigkeiten hingewiesen, die Kants Unterscheidung von sinnlicher und intelligibler Welt
der Urteilskraft bereitet sowie auf das Naturgesetz als Typus des Sittengesetzes eingegangen.
Der dritte Abschnitt widmet sich der Bedeutung der erfahrungsgeschärften Urteilskraft bei der
Anwendung der Vernunftprinzipien (3). Es wird dabei besonders hervorgehoben, dass die
absolute Verbindlichkeit universeller Vernunftprinzipien sehr wohl mit individuellen
Einzelfallentscheidungen vereinbar ist.
1. Das Problem des unendlichen Regelregresses und der Versuch, die Urteilskraft für
Kants praktische Philosophie zu rehabilitieren
1.1 Das Problem des unendlichen Regelregresses in Kants praktischer Philosophie
Es wurde bereits gesehen, dass die Vernunftgesetze als unbedingt gebietende
Handlungsvorschriften ihre Anwendbarkeit begrifflich voraussetzen: Wenn ein
Vernunftgesetz eine Handlung gebietet, dann müssen die Menschen auch jenes prinzipiell
umsetzen können, weil nach Kant im Sollen bereits das Können beinhaltet ist.1048 Ein
Vernunftgesetz ohne irgendeine Anwendungsmöglichkeit würde widersprüchlich sein. Es
kann keine Verpflichtung zum Unmöglichen bestehen (impossibilium nulla obligatio est).
Den Menschen ist es also prinzipiell möglich, die Vernunftgesetze in konkrete Taten zu
übersetzen. Diesbezüglich warnt Kant jedoch, dass es zwischen dem Vernunftgesetz oder
genauer den subjektiven Handlungsmaximen und der konkreten Tat einen großen
Zwischenraum gibt.1049 Gemeint ist die Kluft, welche die Theorie von der Praxis notwendig
trennt.1050 Um diese Kluft zu überwinden, das heißt um die Vernunftgesetze auf die
Erfahrungsfälle anzuwenden, ist die Urteilskraft nötig. Die Frage, welche sich vor diesem
Hintergrund aufdrängt, ist jene, ob sich für den Gebrauch der Urteilskraft Regeln finden
lassen, die es ihr ermöglichen würden, ihre Aufgabe erfolgreich zu erledigen. Diese
Problematik wird im folgenden Kapitel thematisiert.
Eine Regel anwenden heißt für Kant, einen Gegenstand einem Begriff unterzuordnen.
Jede Regel kann explizit in einer Proposition ausgedrückt werden. Ihr Inhalt kann somit
immer von allen leicht identifiziert werden. Ganz anders verhält es sich aber mit der Frage,
was unter diese Regel fällt und was nicht. Die Antwort auf diese Frage kann nicht von einer
neuen Regel bestimmt werden, denn auch in Bezug auf diese Regel bleibt es offen, wie sie
angewandt werden soll. An dieser Stelle tritt das bekannte Problem des unendlichen
Regelregresses (regressus ad infinitum) auf. Dieses Problem besteht grundsätzlich darin, dass
sich keine Regel denken lässt, welche die Anwendung einer anderen Regel lückenlos und
somit endgültig regeln könnte. Jede Regel bedürfte einer weiteren Regel, um ihre Anwendung
festzulegen. Wenn einmal eine klar definierte Regel vorliegt, stellt sich immer die Frage, wie
und unter welchen Bedingungen sie angewandt werden soll. Die Anwendungsbedingungen
dieser ersten Regel können wiederum erst von einer neuen Regel definiert werden. Aber auch
in Bezug auf diese zweite Regel stellt sich erneut die anfängliche Frage, wie sie angewandt
werden soll, so dass es immer weiteren Regeln bedarf, um letztlich die Anwendung der ersten
1048
Vgl. KpV: V, 30; Gemeinspruch: VIII, 287; TL: VI, 380, 384; Religion: VI, 41, 50, 62, 67
Vgl. Religion: VI, 697
1050
Vgl. Gemeinspruch: VIII, 275
1049
- 191 -
zu bestimmen. In der Folge ergibt sich, dass die Anwendung einer Regel niemals lückenlos
und somit zweifelsfrei bestimmt werden kann. Hieraus folgt wiederum, dass es selbst für ein
regelgeleitetes Handeln grundsätzlich unmöglich ist, sich ausschließlich an formulierten
Regeln zu orientieren. Die Urteilskraft gelangt somit immer an einen Punkt, an welchem sie
auf sich selbst gestellt sieht. Dieses Problem des unendlichen Regelregresses tritt im Bereich
der Ethik ebenso gut wie in allen anderen Bereichen des Handelns auf.1051 Es gilt also
genauso gut für die Anwendung des allgemeinen Sittengesetzes als auch für die Anwendung
der pragmatischen Ratschläge der Klugheit oder der technischen Regeln der Geschicklichkeit.
Dass Kant sich diesem Problem hinreichend bewusst ist, lässt sich bereits in dem einleitenden
Abschnitt aus dem Gemeinspruch entnehmen. Dort führt Kant explizit aus, dass es für die
Urteilskraft „nicht immer wiederum Regeln gegeben werden können, wonach sie sich in der
Subsumption zu richten habe (weil das ins Unendliche gehen würde)“.1052
Allein diese Feststellung sollte ausreichen, um zu zeigen, dass es entschieden zu kurz
greift, wenn man Kants Verständnis der Politik auf einen bloß mechanischen Prozess der
Rechtsverwaltung reduziert.1053 Dieser Kritik zufolge wären die Politiker zu einem
vorgegebenen und gleichförmigen Handeln ohne kritische Beurteilung und abwägende
Stellungnahme, und somit auch ohne Rücksicht auf die Besonderheiten der jeweiligen
Situationen aufgefordert. In diesem Zusammenhang ist es besonders interessant die folgende
Reflexion aus dem Nachlass zu lesen: „Das Verfahren nach einer Regel welches keiner
Urtheilskraft bedarf, ist mechanisch“.1054 Dementsprechend wäre die Politik verstanden als
ausübende Rechtslehre tatsächlich nichts anderes als ein bloß mechanischer Prozess, insofern
die Anwendung der Vernunftprinzipien keine Urteilskraft erfordern würde, also wenn sie
immer in gleicher Weise sowie ohne Nach- und Mitdenken erfolgen würde. Dies könnte aber
selbst dann nicht der Fall sein, wenn der Politiker nur ein einziges Vernunftgesetz in Bezug
auf eine immer wiederkehrende Situation anwenden sollte. Selbst in einem derartigen Falle
hat der Politiker zu entscheiden, ob er sich in einer Situation befindet, in welcher sein
Handeln gefordert ist. Es wurde jedoch gesehen, dass die Anwendung der Vernunftgesetze
anhand von Regeln niemals vollständig geregelt werden kann. Die daraus resultierende
strukturelle Offenheit bezüglich der Anwendung der Vernunftprinzipien auf die unendliche
Mannigfaltigkeit der real existierenden Situationen erklärt, dass die Urteilskraft unverzichtbar
ist, und dass der Prozess der Rechtsanwendung nicht mechanisch sein kann.
Für die situationsangemessene Anwendung der Prinzipien des Rechts kann sich der
Politiker nicht allein auf eine Regel stützen. Nur ein Teil des politischen Handelns kann somit
explizit durch Regeln bestimmt werden. Gemeint ist hier zunächst die Bestimmung des
politischen Zwecks, welcher ganz allgemein in der Stiftung eines Zustandes des Weltfriedens
besteht. Die pflichtmäßige Anwendung der Prinzipien des Rechts in der Realität lässt sich
dagegen nie vollständig durch Regeln festlegen. Schon diese Feststellung ermöglicht es
Charles Larmores Kritik zurückweisen, dass für Kant „das moralisch Richtige voll und ganz
durch Regeln spezifiziert werden kann“.1055 Nicht alle menschlichen Handlungen sind von
den Vernunftgesetzen bestimmt, und diejenigen, die es werden, können nicht bis in jedes
Detail von den Vernunftgesetzen bestimmt werden. Diese Feststellung hat für das politische
Handeln weitreichende Konsequenzen. Sie scheint nahezuliegen, dass die Kantische
1051
Vgl. Mayer, Verena: Das Paradox des Regelfolgens in Kants Moralphilosophie, in: Kant-Studien 97, 2006,
S. 347f.
1052
Gemeinspruch: VIII, 275 (meine Hervorhebungen)
1053
Eine solche Deutung findet sich zum Beispiel bei Ernst Vollrath. Vgl. Vollrath, Ernst: Was ist das
Politische? Eine Theorie des Politischen und seiner Wahrnehmung, Würzburg 2003, S. 65.
1054
Reflexion 924: XV, 411
1055
Larmore, Charles: Strukturen moralischer Komplexität, Stuttgart/Weimar 1995, S. 4 (meine Hervorhebung),
zitiert nach: Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie,
Frankfurt a. M. 2001, S. 64.
- 192 -
praktische Philosophie im Allgemeinen und die Rechtslehre im Speziellen die absolute
Notwendigkeit der Vernunftgesetze sehr wohl mit einem gewissen Freiraum für die Politik
bezüglich der Anwendung auf die Einzelfälle verbinden kann. Dieser Freiraum ergibt sich
gerade dort, wo die Urteilskraft in ihrer Anwendungsfunktion am Werk ist. Diese Offenheit
ist struktureller Natur, da die Urteilskraft im Endeffekt immer an einem Punkt gelangt, an
welchem sie sich auf sich allein gestellt sieht. Gerade deswegen, weil nicht alles durch Regeln
bestimmt werden kann, ist die Urteilskraft innerhalb Kants praktischer Philosophie
unentbehrlich.
1.2 Das Risiko der Willkür bei der Anwendung der Vernunftprinzipien
Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen soll nun auf zwei denkbare,
wenngleich sich gegenseitig ausschließende Kritikpunkte näher eingegangen werden. Der
ersten Kritik zufolge ist die Bestimmung der formalen Vernunftprinzipien mit einer
vollständigen Unterbestimmung ihrer konkreten Anwendung verbunden. Dadurch ergibt sich
das Risiko, dass die Anwendung der Vernunftprinzipien von Seiten der Politiker willkürlich
erfolgt. Der zweiten Kritik zufolge lässt die absolute Notwendigkeit der universellen
Rechtsprinzipien gar keinen Freiraum für Individualität und Erfahrung im politischen Bereich
zu. Innerhalb Kants Rechtsphilosophie würde es somit keinen Platz für die Politik als ein
eigenständiges Konzept geben.
Bevor sich dem ersten Kritikpunkt ausführlicher gewidmet wird, sollen die
wichtigsten Schlussfolgerungen aus dem letzten Abschnitt dieses Kapitels kurz nochmal
aufgegriffen werden. Es wurde gezeigt, dass zum Verstandesbegriff, welcher die
Vernunftprinzipien enthält, immer ein Aktus der Urteilskraft hinzukommen muss.1056 Des
Weiteren wurde gesehen, dass das Verfahren der Urteilskraft nicht lückenlos bestimmt
werden kann, weil jeder Versuch die Ausübung der Vernunftprinzipien in Regeln zu fassen
letztlich in einem unendlichen Regelregress mündet. Das politische Handeln kann sich also
weder auf der bloß mechanischen Anwendung der Vernunftgesetze beschränken, noch kann
es bis ins letzte Detail bestimmt werden. Wenn jedoch die Anwendung der Vernunftprinzipien
unmöglich vollständig durch Regeln bestimmt werden kann, könnte mit gewissen Gründen
befürchtet werden, dass jene willkürlich erfolgt. Es besteht somit Erklärungsbedarf darüber,
wie vermieden werden kann, dass die Anwendung der Vernunftprinzipien auf bloße Willkür,
mithin auf purer Beliebigkeit beruht.
Die hier aufgeworfene Problematik ist von großer Tragweite: Wenn sich aus der
Feststellung, dass die Anwendung der Vernunftgesetze sich gar nicht vollständig regeln lässt,
ergeben würde, dass die Anwendung willkürlich erfolgen könnte, dann dürfte man ernsthafte
Bedenken gegen Kants Moralphilosophie in ihrer Gesamtheit formulieren. Welchen Sinn
würde die Begründung des Sittengesetzes haben, wenn jenes in seiner Anwendung umgangen
werden könnte? Diese Problematik lässt sich am Beispiel des ersten Definitivartikels gut
verdeutlichen. Wenn nämlich einmal erkannt wird, dass die bürgerliche Verfassung in jedem
Staat republikanisch sein soll, dann stellt sich nur noch die Frage, mit welchem Mittel dieser
Zustand hervorgebracht werden kann. Kann zum Beispiel die Schaffung einer bürgerlichen
Verfassung im Inneren durch eine Revolution oder nach außen durch Krieg hervorgebracht
werden? Es lässt sich leicht einsehen, dass das willkürliche Handeln die Bindung an die
Vernunftgesetze aufhebt und somit Gefahr läuft, gegen jene zu verstoßen. Kant zufolge sollen
aber die Moral und das Recht stets die Oberhand behalten. Dies bedeutet, dass der Politiker
niemals nach freiem Belieben handeln darf, selbst wenn es sich um die Anwendung der
Vernunftprinzipien in der Wirklichkeit handelt.
1056
Vgl. Gemeinspruch: VIII, 275
- 193 -
Der Politiker darf seine Entscheidungen nicht willkürlich treffen, sondern er muss jene
stets im Einklang mit dem allgemeinen Sittengesetz treffen. Es sind entsprechend nicht alle
Mittel für die Herbeiführung eines gebotenen Zwecks tauglich. Beliebige Mittel dürfen nicht
angewendet werden, um ein Vernunftgesetz in der Realität anzuwenden. Die verwendeten
Mittel müssen stets mit dem Grund für die Befolgung dieses Gesetzten, also mit dem
allgemeinen Sittengesetz widerspruchsfrei übereinstimmen. Es lässt sich vor diesem
Hintergrund leicht einsehen, dass die Revolution sowie der Krieg zu ächten sind, da beide die
Gefahr eines gebotswidrigen Rückfalls in den zwischenmenschlichen Naturzustand in sich
bergen. Die vorhergehenden Ausführungen zeigen, dass der Verweis auf das unaufhebbare
Risiko der Willkür bei der Anwendung der Vernunftprinzipien nicht stichhaltig ist. Die
grundsätzliche Schwäche dieser Kritik besteht darin, zwei Dinge gleichzusetzen, welche nicht
gleicher Natur sind: Die längst bekannte Tatsache, dass die Anwendung der
Vernunftprinzipien nicht vollständig determiniert ist (und überhaupt sein kann), wird von
Seiten vieler Kritiker so verstanden, dass die Anwendung der Vernunftprinzipien vollständig
undeterminiert ist. Den Kritikern zufolge impliziert diese Unterbestimmung der Anwendung
der Vernunftprinzipien eine Willkür, welche mit dieser Unterdetermination einhergeht.
Allerdings gibt es zwischen einer Unterbestimmung und einer vollständigen Unbestimmung
einen Unterschied. Die Anwendung der Vernunftprinzipien ist bei Kant sicher unterbestimmt,
jedoch nicht unbestimmt.
Nachdem diese erste Kritik als wenig überzeugend abgewiesen wurde, drängt sich ein
weiteres Problem auf. Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen bezüglich der
absoluten Notwendigkeit der Vernunftprinzipien scheint es für die Politik überhaupt keinen
Freiraum mehr zu geben. Wenn nämlich die Aufgabe der Politik lediglich darin besteht die
Vernunftgesetze auf die Erfahrungsfälle anzuwenden, ohne über deren Inhalt vernünfteln zu
dürfen und ohne beliebige Mittel hierfür einsetzen zu dürfen, stellt sich die Frage, wie viel
Spielraum der Politik tatsächlich noch übrig bleibt. Von einer Eigenständigkeit der Politik
gegenüber Recht und Moral kann erst dann gesprochen werden, wenn den Politikern, trotz des
Vorliegens eines Rechtgesetzes, Spielraum für eine eigene Entscheidung bleibt. Die Politik
würde sich tatsächlich auf einen bloß mechanischen Prozess der Rechtsdurchsetzung
beschränken, wenn in einer bestimmten Situation der Freiraum des Politikers so stark
eingeengt wäre, dass nur eine einzige, vorgegebene Art und Weise der Rechtsanwendung
denkbar wäre. In einem derartigen Fall könnte man von einer Reduktion des politischen
Ermessensspielraums auf null sprechen.
In der Sekundärliteratur wird zumeist davon ausgegangen, dass Kant dieses Problem
gar nicht gesehen hätte oder zumindest, dass seine Antwort unzureichend ist. Es wird ihm
aber vor allem vorgeworfen, dass er die Bedeutung der Urteilskraft für seine Moral- und
Rechtsphilosophie nicht genügend thematisiert hat. Als Beleg für dieses thematische Defizit
wird zu Recht darauf hingewiesen, dass die Urteilskraft weder zu den Kernbegriffen noch zu
den zweitrangigen Konzepten der Kantischen praktischen Philosophie gehört. In der
Friedensschrift beispielsweise kommt der Begriff der Urteilskraft überraschenderweise
überhaupt nicht vor, obwohl diese für die fallgerechte Anwendung der Vernunftprinzipien in
der Wirklichkeit unentbehrlich ist. Die Folgen dieser mangelnden Berücksichtigung scheinen
beachtlich zu sein. Aus der ebenso einfachen wie unbestrittenen Feststellung, dass in Kants
politischen Schriften ausgesprochen wenige Aussagen bezüglich der Anwendung der
Vernunftprinzipien in der politischen Wirklichkeit zu finden sind, wurde häufig geschlossen,
dass Kant ein weltfremder Rechtsphilosoph sei, welcher weder Interesse noch Gespür für die
konkreten Probleme der Menschen habe. Kants Rechtstheorie vom Weltfrieden wäre somit
für die Beantwortung konkreter politischer Fragen gänzlich ungeeignet. In ihrem Rahmen
würde es keinen Platz für flexible, politische Einzelfallentscheidungen geben. Dem
pflichtbewussten Anwender universeller Vernunftprinzipien wird deshalb von einigen
- 194 -
Interpreten das vermeintliche Gegenmodell des aristotelischen phronimos vorgezogen.1057
Dass dieser Ansatz in die falsche Richtung geht, darauf soll in den folgenden Seiten näher
eingegangen werden.
1.3 Kants scheinbare Abwertung der Urteilskraft und die Versuche, jene für seine
praktische Philosophie zu rehabilitieren
Ein wirkungsmächtiger Versuch Kants scheinbare mangelnde Betrachtung für
politisch-konkrete Problemstellungen zu korrigieren, stammt von Hannah Arendt. Auch sie
geht davon aus, dass Kants kleinere rechtsphilosophischen Schriften politiktheoretisch so gut
wie bedeutungslos sind. So schreibt sie zum Beispiel, dass man bereits aus dem ironischen
Ton in der Friedensschrift entnehmen kann, dass Kant seine bedeutendste politische Schrift
nicht sehr ernst nahm.1058 Hannah Arendt sah allerdings darin keinen Grund sich von Kant
endgültig abzuwenden, denn sie war der Überzeugung, dass die Kritik der Urtheilskraft eine
eigenständige, fruchtbare politische Philosophie in sich birgt. In Anlehnung an Hannah
Arendt haben verschiedenen Autoren wie zum Beispiel ihr Schüler Ernst Vollrath in
Deutschland sowie Jean-François Lyotard und Alain Renault in Frankreich versucht, die
Kritik der Urtheilskraft als Grundlage für Kants politische Philosophie zu erschließen, ohne
jedoch Hannah Arendts Theorie wesentlich weiterzuentwickeln.1059
Diese verschiedenen Ansätze wurden in den letzten Jahrzehnten vielerlei diskutiert.
Eine eingehende Darstellung dieser Diskussionen würde den Rahmen dieser Arbeit bei
weitem sprengen. An dieser Stelle reicht es aus festzuhalten, dass die reflektierende
Urteilskraft sowie der Gemeinsinn auch unter politischen Gesichtspunkten von Bedeutung
sein können. Das gleiche gilt ebenfalls für die von Jürgen-Eckardt Pleines vertretene These,
dass auch Takt für das praktische Handeln von Bedeutung sein kann.1060 Zugleich soll jedoch
daran erinnert werden, dass alle diese Ansätze bald an ihre Grenze stoßen, weil das für Kants
Moral- und Rechtsphilosophie entscheidende Thema der Anwendung der Vernunftprinzipien
auf die Erfahrungsfälle in der Kritik der Urtheilskraft kaum vorkommt. Eine politische
Philosophie, welche diese zentrale Thematik allzu unberücksichtigt lässt, kann allerdings
schwerlich gänzlich überzeugen. Otfried Höffe zeigte sich in dieser Hinsicht durchgängig als
der getreuere Kantianer. In einem bedeutenden Aufsatz aus dem Jahre 1990 ist es ihm
weitgehend gelungen, den Stellenwert der Urteilskraft für Kants praktische Philosophie zu
erhellen und ihr einen Platz innerhalb der universalistischen Moral zuzuweisen.1061 In
Anlehnung an seine Arbeit wird hier davon ausgegangen, dass die Aufgabe der Politik in der
Anwendung der allgemeinen Vernunftprinzipien auf die einzelnen Erfahrungsfälle besteht,
und dass hierfür die bestimmende Urteilskraft gefragt ist. Kant hat jedoch keine Lehre von der
1057
Für eine Diskussion der Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Phronesis und Urteilskraft soll auf die
folgenden Beiträge verwiesen werden: Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechtsund Friedenstheorie, Frankfurt a. M. 2001, S. 63ff; Ders.: Universalistische Ethik und Urteilskraft: ein
aristotelischer Blick auf Kant, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 44, 1990, S. 537-563; Petersen,
Thomas: Phronesis und Urteilskraft – antike und zeitgenössische politische Philosophie, in: Wege zur politischen
Philosophie. Festschrift für Martin Sattler, hrsg. v. Gabrielle von Sivers und Ulrich Diehl, Würzburg 2005, S.
119-134.
1058
Vgl. Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, hrsg. v. Ronald Beiner,
München/Zürich 1985 (besonders Lektüre 2 und 10).
1059
Vgl. Lyotard, Jean-François: L’enthousiasme. La critique kantienne de l’histoire, Paris 1986; Renault, Alain:
Le système du droit. Philosophie et droit dans la pensée de Fichte, Paris 1986 (insbesondere S. 99-114 und 201209); Vollrath, Ernst: Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, Stuttgart 1977.
1060
Vgl. Pleines, Jürgen-Eckardt: Praxis und Vernunft. Zum Begriff praktischer Urteilskraft, Würzburg/
Amsterdam 1983.
1061
Vgl. Höffe, Otfried: Universalistische Ethik und Urteilskraft: ein aristotelischer Blick auf Kant, in:
Zeitschrift für philosophische Forschung 44, 1990, S. 537-563.
- 195 -
praktischen Urteilskraft entwickelt. Das Problem der Ausübung der Vernunftprinzipien hat er
nur stückhaft und eher beiläufig behandelt. Mögliche Ansatzpunkte zu diesem Problem sind
nicht primär in der dritten Kritik zu finden, sondern vielmehr in Kants moral- und
rechtsphilosophischem Gesamtwerk. Seine Lehre von der Urteilskraft muss somit erst einmal
rekonstruiert werden. Dieses Unternehmen wird jedoch dadurch erschwert, dass Kant
scheinbar nur allmählich Klarheit über den systematischen Stellenwert der Urteilskraft
innerhalb seiner Moral- und Rechtsphilosophie gewonnen hat.
Die Tatsache, dass Kants explizite Behandlung der Urteilskraft in seinen moral- und
rechtsphilosophischen Schriften eher marginal bleibt, hat lange noch nicht zu bedeuten, dass
jene ganz ausgeblendet wird. Bereits in der Vorrede der Grundlegung zeigt sich, dass Kant
sich dem Problem der Vermittlung von apriorischen Gesetzen und empirischer Praxis
durchaus bewusst ist. Dort heißt es ausdrücklich und eindeutig, dass die moralischen Gesetze
die „durch Erfahrung geschärfte Urtheilskraft erfordern“.1062 Im Anschluss daran schreibt
Kant, dass der durch Erfahrung geschärften Urteilskraft eine doppelte Aufgabe zukommt. Sie
wäre erforderlich, um teils zu unterscheiden, in welchen Fällen die Vernunftgesetze ihre
Anwendung haben, und teils um ihnen Eingang in den Willen der Menschen und Nachdruck
zur Ausübung zu verschaffen.1063 Des Weiteren führt Kant aus, dass die Urteilskraft deshalb
unentbehrlich ist, weil der Wille des Menschen „der Idee einer praktischen reinen Vernunft
zwar fähig, aber nicht so leicht vermögend ist, sie in seinem Lebenswandel in concreto
wirksam zu machen“.1064
An dieser Stelle kann bereits festgehalten werden, dass bei Kant ausdrücklich gerade
das betont wird, was man bei ihm zu vermissen glaubt, nämlich ein waches Bewusstsein für
die Verknüpfung und den Übergang von seinen Vernunftprinzipien zu den Erfahrungsfällen.
Für Kant scheint es selbstverständlich zu sein, dass wann immer die Ausübung der
Vernunftprinzipien auf den Einzelfall gefordert wird, die Urteilskraft unentbehrlich ist.
Angesichts der Tatsache, dass die Vorrede trotz ihrer Kürze so ausführlich auf die Bedeutung
der Urteilskraft eingeht, mag es erstaunlich scheinen, dass die Behandlung dieser Thematik
im weiteren Verlauf des Werkes sowie anschließend in den zwei Teilen der Metaphysik der
Sitten so marginal ist.1065 Ein wahrscheinlicher Grund hierfür liegt darin, dass Kant in diese
Werke rein apriorische Gesetze aufzustellen und zu begründen versucht, was ihn wiederum
dazu bringt eindeutig zwischen empirischen und apriorischen Überlegungen zu
unterscheiden.1066 Für die Urteilskraft gibt es hier keinen Platz.
Der Verweis auf Kants Ansatz einer rein rational begründeten Ethik führt uns
allerdings einen Schritt näher zum entscheidenden Argument. In der Grundlegung hat Kant
auf der einen Seite gezeigt, dass die Entscheidung für das moralisch Gute unabhängig von
jeglichen Erfahrungsbedingungen erfolgen soll. Auf der anderen Seite ist sich Kant dessen
bewusst, dass das praktische Handeln eine Verknüpfung von den Vernunftprinzipien mit den
Erfahrungsfällen erfordert. Dasselbe Vermögen, welches für das moralische Handeln
erforderlich ist, um die Regel mit dem Einzelfall zu vermitteln, darf also nicht die Regel oder
genauer die subjektiven Handlungsmaximen bestimmen. Dieses Problem wird von Kant
umgegangen, indem er neben der erfahrungsgeschärften Urteilskraft ebenfalls eine
erfahrungsunabhängige Urteilskraft anerkennt. Diese folgenreiche, dennoch lange wenig
beachtete Unterscheidung scheint Kant selbst nur allmählich erkannt zu haben. In der
1062
GMS: IV, 389 (meine Hervorhebung)
Vgl. GMS: IV, 389
1064
GMS: IV, 389
1065
Vgl. Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt
a. M. 2001, S. 67.
1066
Im zweiten Abschnitt der Grundlegung weist Kant beispielsweise ausdrücklich jede „vermischte Sittenlehre,
die aus Triebfedern von Gefühlen und Neigungen und zugleich aus Vernunftbegriffen zusammengesetzt ist“
zurück (IV, 411).
1063
- 196 -
Grundlegung ist lediglich von der erfahrungsabhängigen Form der Urteilskraft die Rede. Wie
bereits gesehen wurde, wird jene als die „durch Erfahrung geschärfte Urtheilskraft“1067
bezeichnet. In der drei Jahren später erschienen Kritik der praktischen Vernunft wird aber
bereits von Kant eingesehen, dass die Urteilskraft für das Gedankenexperiment der
Verallgemeinerung erforderlich ist, und dass deren Verfahren ohne Widerspruch nicht
erfahrungsabhängig sein kann. Dort wird die erfahrungsunabhängige Form der Urteilskraft
von Kant als die „Urtheilskraft der reinen praktischen Vernunft“ oder schlicht als die „reine
praktische
Urtheilskraft“1068
bezeichnet.
Die
Konsequenz,
dass
nur
die
erfahrungsunabhängige Urteilskraft einen spezifisch moralischen Charakter besitzen kann,
zieht Kant jedoch erst in der späten Religionsschrift.1069 Es bleibt der reinen praktischen
Urteilskraft vorbehalten über das Moralische zu entscheiden. Durch diese Unterscheidung von
der erfahrungsgeschärften und der erfahrungsunabhängigen Urteilskraft gelingt es Kant die
absolute Verbindlichkeit universeller Vernunftprinzipien mit Einzelfallentscheidungen
zusammen zu verknüpfen.
Wie noch ausführlich zu sehen sein wird, entspricht dieser Unterscheidung eine
notwendige Arbeitsteilung. Während die erfahrungsunabhängige Urteilskraft für die
Beurteilung der Prinzipien der Moral zuständig ist, sorgt die erfahrungsabhängige Urteilskraft
für die konkrete Erfüllung der Rechtspflichten.
2. Die Bedeutung der reinen praktischen Urteilskraft für die Beurteilung der Prinzipien
der Moralität
2.1 Die Aufgabe der praktischen Urteilskraft
Es wurde gesehen, dass Kant den Begriff der reinen praktischen Urteilskraft in der
Kritik der praktischen Vernunft im Abschnitt »Von der Typik der reinen praktischen
Urteilskraft« einführt. Erst ist der Religionsschrift wird ausdrücklich von der „moralische[n]
Urtheilskraft“1070 gesprochen. Anhand der reinen praktischen Urteilskraft soll der allgemeine
kategorische Imperativ auf die konkreten Handlungen angewandt werden. In den letzten zwei
Jahrzehnten haben sich verschiedene Autoren vermehrt der Frage zugewandt, was Kant genau
unter dem Begriff der „praktischen Urteilskraft“ bzw. der „moralischen Urteilskraft“
versteht.1071 In kritischer Auseinandersetzung mit der Literatur zu diesem Thema soll hier
gezeigt werden, dass die Funktion der reinen praktischen, mithin moralischen Urteilskraft in
der moralischen Beurteilung der Handlungsmaximen nach allgemeinen Prinzipien besteht.
Kant spricht der Urteilskraft eine moralische Kompetenz zu. Es wird im Folgenden gezeigt,
dass Kant in der zweiten Kritik eine Theorie der reinen praktischen Urteilskraft in ihren
Grundzügen vorlegt. Er definiert zunächst die Aufgabe der praktischen Urteilskraft, dann die
Schwierigkeiten, die sich bei der Erfüllung dieser Aufgabe stellen, und schließlich weist er
auf eine Lösung dieser Schwierigkeiten hin. Im Folgenden soll auf diese drei Etappen des
Kantischen Gedankengangs näher eingegangen werden.
1067
GMS: IV, 389
KpV: V, 68
1069
Vgl. Religion: VI, 186
1070
Religion: VI, 186
1071
Erwähnenswert sind hier vor allem die folgenden Beiträge: Höffe, Otfried: Universalistische Ethik und
Urteilskraft: ein aristotelischer Blick auf Kant, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 44, 1990, S. 537563; Pleines, Jürgen-Eckardt: Praxis und Vernunft. Zum Begriff praktischer Urteilskraft, Würzburg 1983;
Thurnherr, Urs: Urteilskraft und Anerkennung in der Ethik Immanuel Kants, in: Anerkennung. Eine
philosophische Propädeutik. Festschrift für Annemarie Pieper, hrsg. v. Monika Hofmann- Riedinger und Urs
Thurnherr, Freiburg 2001, S. 76-92.
1068
- 197 -
Die Aufgabe der praktischen Urteilskraft liegt in der Unterscheidung, ob eine in der
Sinnlichkeit mögliche Handlung ein Fall sei, welcher unter die praktische Regel der reinen
Vernunft falle oder nicht.1072 Dies bedeutet mit anderen Worten, dass die praktische
Urteilskraft für die Anwendung der allgemeinen praktischen Regel der reinen Vernunft auf
konkrete empirische Handlungen zuständig ist. Mit dieser Aufgabenbestimmung ist die
allgemeine Funktion der Urteilskraft, wie sie zuvor in der Kritik der reinen Vernunft als „das
Vermögen unter Regeln zu subsumiren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen
Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht“1073 angeführt wurde, für den Bereich der Praxis
spezifiziert. Das „Etwas“, von dem zu unterscheiden ist, ob es unter einer gegebenen Regel
stehe oder nicht, entspricht in der Praxis die in der Sinnlichkeit mögliche Handlung. Die
„gegebene Regel“, unter die subsumiert werden soll, kann wiederum nur eine praktische
Regel sein. Gemeint ist hier offenbar der allgemeine kategorische Imperativ als der oberste
Grundsatz der Sittlichkeit, von welchem aus alle anderen Regeln ihren praktischen Charakter
erhalten.
Der grundsätzliche Unterschied zwischen der theoretischen und der praktischen
Urteilskraft liegt also lediglich darin begründet, dass im Fall der praktischen Urteilskraft nicht
die theoretische Ableitung von Sätzen, wie dies etwa bei einer logischen Schlussfolgerung
geschieht, sondern die praktische Unterordnung einer möglichen empirischen Handlung unter
eine abstrakte Regel verlangt wird. In der Aufgabenzuweisung der praktischen Urteilskraft
wird die praktische Regel der reinen Vernunft, mithin der allgemeine kategorische Imperativ,
mit den in der Sinnlichkeit möglichen Handlungen in Zusammenhang gesetzt. Die
Anwendung der praktischen Regeln der reinen Vernunft auf die in der Erfahrung
vorkommenden Fälle stößt jedoch auf besondere Schwierigkeiten, die auf den folgenden
Seiten näher untersucht werden. Um diese Schwierigkeiten einerseits sowie den besonderen
Stellenwert der „Typik der reinen praktischen Urteilskraft“ als Ausweg aus diesen
Schwierigkeiten andererseits richtig verstehen zu können, soll zunächst kurz an Kants
Überlegungen bezüglich der Dritten Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft erinnert
werden.1074 Die Dritte Antinomie der reinen Vernunft ist wie alle anderen Antinomien primär
eine theoretisch-kosmologische Antinomie. Da sie sich auf den Gegensatz von Freiheits- und
Naturkausalität bezieht, ist sie jedoch für die gesamte Ethik Kants von zentraler Bedeutung.
Eine Antinomie besteht bekanntlich aus einem Widerstreit zwischen zwei Sätzen, die
beide als wahr, richtig und beweisbar erscheinen. Im hier diskutierten Fall gibt es einen
Widerspruch zwischen dem Gedanken der Kausalität aus Freiheit einerseits (Thesis) und
jenem der Kausalität der Natur (Antithesis) andererseits. Die Antinomie besteht nun darin,
dass sowohl die These als auch die Antithese, für sich als wahr und richtig erscheinen, was
allerdings unmöglich ist, da sie sich gegenseitig widersprechen.
Dem Gedanken der Kausalität aus Freiheit zufolge gibt es keine vollständige
Determination, sondern die Begebenheiten in der Welt erfolgen teilweise als Wirkung einer
spontanen ersten Ursache, welche selbst wiederum keine weitere sie bewirkende Ursache
mehr hat. Dem Gedanken der Kausalität der Natur zufolge folgt dagegen alles was geschieht
lediglich den Gesetzen der Natur. Die Kausalität nach Gesetzen der Natur zeichnet sich
dadurch aus, dass jede Begebenheit in der Welt die notwendige Wirkung ihrer
vorhergehenden Ursache ist. Sie ist somit als eine unendliche Abfolge von Ursachen und
Wirkungen zu verstehen, in deren Rahmen es keine spontane erste Ursache geben kann, ohne
damit die Gesetzmäßigkeit selbst aufzuheben.
Die dritte Antinomie besteht somit aus einem frontalen Gegensatz zweier, sich
scheinbar ausschließender Gesetzmäßigkeiten. In der Kritik der reinen Vernunft versucht Kant
1072
Vgl. KpV: V, 67
KrV: III, 131 (meine Hervorhebungen)
1074
Vgl. KrV: III, 308ff.
1073
- 198 -
jedoch zu zeigen, dass es sich dabei lediglich um eine scheinbare Antinomie handelt, welche
nur so lange besteht, als man dogmatisch spekuliert. Dementsprechend versucht er die
„Möglichkeit der Causalität durch Freiheit in Vereinigung mit dem allgemeinen Gesetze der
Naturnothwendigkeit“1075 zu beweisen.
Um dies zu erreichen, trifft er eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen „Ding an
sich“ und „Erscheinung“.1076 Mit dem Begriff des „Dinges an sich“ bezeichnet Kant die
Wirklichkeit überhaupt, das heißt die Wirklichkeit wie sie unabhängig von aller
Erfahrungsmöglichkeit an sich selbst besteht. Der Begriff der „Erscheinung“ bezeichnet
dagegen die Wirklichkeit, wie sie sich in den Formen der Anschauung (Raum und Zeit) und
des Verstandes (Kategorien) darstellt. An dieser Stelle ist dreierlei zu beachten.
- Erstens: Diese Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung impliziert
zunächst, dass die Art und Weise, wie die Menschen die Wirklichkeit anschauen, nicht dem
Wesen der Wirklichkeit selbst entspricht. Es gibt einen grundsätzlichen Unterschied zwischen
der Wirklichkeit, wie sie an sich besteht, und wie jene von den Menschen wahrgenommen
wird. Mit anderen Worten könnte man sagen, dass die Art und Weise wie die Menschen die
Wirklichkeit wahrnehmen von ihrer Beschaffenheit an sich selbst unterschieden ist.
- Zweitens: Daraus folgt wiederum, dass die Dinge an sich in theoretischer Hinsicht
unerkennbar sind. Dies bedeutet mit anderen Worten, dass es von den Dingen an sich
schlechterdings keine positive Erkenntnis der spekulativen Vernunft geben kann. Die
Menschen können nicht erkennen, wie die Dinge an sich beschaffen sind, sondern lediglich
wie jene ihre Sinne affizieren, also erscheinen.
- Drittens: Die Erscheinungen sind allerdings bloße Vorstellungen, welche Ursachen
haben müssen, die selbst nicht Erscheinungen sind. Wenn die Gegenstände der Sinne als
Erscheinungen, mithin als bloße Vorstellungen definiert werden, so bedeutet dies, dass ihnen
ein Ding an sich zugrunde liegt. Die Dinge an sich müssen somit als Grund der
Erscheinungen angenommen werden können, obwohl es unmöglich ist ihr Wesen positiv zu
bestimmen. Daraus ergibt sich, dass die Dinge an sich wenngleich theoretisch unerkennbar,
doch ohne Widerspruch denkbar sind.
Die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung beschränkt sich nicht auf
äußere Gegenstände. Kant unterscheidet auch an den menschlichen Handlungen einen
empirischen und einen intelligiblen Charakter oder anders gesagt einen Charakter in der
Erscheinung und einen Charakter des Ding an sich.1077 Der empirische Charakter zeichnet den
Menschen als ein Naturwesen aus, während der intelligible Charakter den Menschen als ein
mit praktischer Vernunft begabtes Wesen auszeichnet.
Der empirische Charakter menschlicher Handlungen zeichnet sich genauer genommen
dadurch aus, dass deren Wirkungen in ihrer sinnlichen Erscheinungsform als Teil der Natur
durchgängig unter den Naturgesetzen stehen. Wie bereits gesehen wurde sind die
Erscheinungen allerdings bloße Vorstellungen, welche Ursachen haben müssen, die selbst
nicht Erscheinungen sind. Aus diesem Grund muss dem empirischen Charakter menschlicher
Handlungen ebenfalls ein intelligibler Charakter zugrunde liegen. Dieser intelligible
Charakter muss zumindest als denkbar eingeräumt werden.
Der intelligible Charakter des Menschen entspricht dem Charakter des Menschen als
Ding an sich, mithin als Verstandewesen. Dem intelligiblen Charakter der Handlung
entsprechend ist es möglich die Wirkungen menschlicher Handlungen nicht bloß als
determinierte Folge bloßer Naturkausalität, sondern ebenfalls als Wirkung einer Kausalität
durch Freiheit, das heißt als Wirkung einer spontanen ersten Ursache, welche wiederum selbst
keine Ursache mehr hat zu denken. Der intelligible Charakter ist nicht zu erkennen. Kant
1075
KrV: III, 366
Vgl. KrV: III, 202ff.
1077
Vgl. KrV: III, 366f.
1076
- 199 -
betont wiederholt, dass es unmöglich ist, an sinnlich erscheinenden Handlungswirkungen die
eigene Freiheit und die der anderen unmittelbar zu erkennen. Wichtig ist allerdings hier zu
sehen, dass die erscheinenden Handlungswirkungen ohne Widerspruch als sinnliches Zeichen
einer freien Ursache begriffen und anerkannt werden können.
Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung zwischen einem intelligiblen und einem
empirischen Charakter wird es möglich, Freiheits- und Naturkausalität als vereinbar zu
denken: Durch seinen intelligiblen Charakter, als Ding an sich betrachtet, kann dem Mensch
Freiheit zugesprochen werden, während alle seine Handlungen als Erscheinungen
durchgängig den Naturgesetzen unterstehen. In diesem Sinne gibt es keinen Widerspruch
zwischen dem Gedanken der Kausalität der Freiheit und dem Gedanken der Kausalität der
Natur. Es kann widerspruchsfrei behauptet werden, dass der Mensch in sinnlicher Hinsicht
dem Naturgesetz durchgängig unterworfen ist, dagegen in intelligibler Hinsicht frei ist.
2.2 Der Widersinn der praktischen Urteilskraft
Die Unterscheidung von sinnlicher Welt (mundus sensibilis) und intelligibler Welt
(mundus intelligibilis) ist eine große Schwierigkeit für die Urteilskraft. Das Problem der
Vermittlung vom Intelligiblen zum Sinnlichen stellt sich für die Urteilskraft sowohl aus einer
erkenntnistheoretischen Perspektive als auch aus einer praktischen Perspektive. In beiden
Fällen ist die Urteilskraft gefragt: Einmal als Urteilskraft der reinen theoretischen Vernunft
und einmal als Urteilskraft der reinen praktischen Vernunft.
Für die Urteilskraft der reinen theoretischen Vernunft besteht das Problem darin, wie
„reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen überhaupt angewandt werden können“.1078 In
der ersten Kritik zeigt Kant, dass die Urteilskraft der reinen theoretischen Vernunft einer
vermittelnden Vorstellung bedarf, um ihre Aufgabe erfüllen zu können. Das heißt, um die
reinen Verstandesbegriffe mit den sinnlichen Anschauungen fallgerecht verknüpfen zu
können, bedarf es einer vermittelnden Vorstellung. Diese reine vermittelnde Vorstellung, die
einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein muss, wird von Kant als transzendentales
Schema bezeichnet.1079 Eine eingehende Erörterung des transzendentalen Schemas würde von
der hier diskutierten Problematik ablenken.1080 An dieser Stelle reicht es aus festzuhalten, dass
das transzendentale Schema ein Verfahren ist, welches die fallgerechte Anwendung der reinen
Verstandesbegriffe, also der Kategorien auf die Erscheinungen ermöglicht. Die angestrebte
Vermittlung vom Sinnlichen und Intelligiblen kann jedoch im Falle der reinen praktischen
Urteilskraft nicht in Form eines Schematismus erfolgen.
Dies liegt darin begründet, dass die Bedingungen unter denen die reine praktische
Urteilskraft ihre Aufgabe erfüllen muss, von jenen der reinen theoretischen Urteilskraft
grundsätzlich unterschieden sind. Dies erklärt sich wiederum dadurch, dass das „sittlich Gute
etwas dem Objecte nach Übersinnliches [ist], für das also in keiner sinnlichen Anschauung
etwas Correspondirendes gefunden werden kann“.1081 Für Kant ist also das Sittlich-Gute ein
Noumenon, mithin ein Übersinnliches. Es hat sich bereits gezeigt, dass es eine theoretische
Erkenntnis vom Übersinnlichen nicht geben kann. Im Unterschied dazu gibt es jedoch eine
praktische Erkenntnis vom Übersinnlichen. Gemeint ist der allgemeine kategorische
Imperativ als der oberste Grundsatz der Kantischen Moralphilosophie. Jener fordert nur nach
derjenigen Maxime zu handeln, durch welche die Menschen zugleich wollen können, dass sie
1078
KrV: III, 134
Vgl. KrV: III, 134
1080
Dazu siehe: Höffe, Otfried: Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie,
München 2004, Kapitel 13.
1081
KpV: V, 68
1079
- 200 -
ein allgemeines Gesetz werde.1082 In der Kritik der praktischen Vernunft führt Kant
diesbezüglich aus, dass der allgemeine kategorische Imperativ ein Faktum der reinen
Vernunft ist, welches „auf eine reine Verstandeswelt Anzeige giebt, ja diese sogar positiv
bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennen läßt“.1083 In praktischer
Hinsicht wird somit das Übersinnliche von einer denkmöglichen Idee zu einem notwendigen
Postulat, weil die Möglichkeit des Sittlich-Guten bereits in der praktischen Regel der reinen
Vernunft enthalten ist, deren Realität für Kant rational gar nicht bezweifelt werden kann.1084
Die Befolgung des allgemeinen kategorischen Imperativs lässt sich allerdings nicht
unmittelbar in der phänomenalen Welt erkennen. Dort treten lediglich die Handlungen, nicht
aber die Güte des Willens in Erscheinung. Der gute Wille, welcher allein ohne Einschränkung
für sittlich gut gehalten werden kann, tritt niemals in Erscheinung. Er gehört ausschließlich
der intelligiblen Welt an und ist damit für uns Menschen kein Gegenstand möglicher
Erkenntnis. Nur die Legalität der Handlungen, nicht aber die Moralität der Gesinnung tritt in
Erscheinung. Daraus folgt, dass keine sinnliche Anschauung das Sittlich-Gute in der
phänomenalen Welt festhalten kann. Da sich der gute Wille nicht festhalten lässt, kann es
ergo keine direkte Darstellung desselben geben. Die Schwierigkeit der praktischen
Urteilskraft ergibt sich somit daraus, dass das Sittlich-Gute der intelligiblen Welt angehört,
wogegen die Handlungen, welche dem allgemeinen Sittengesetz entspringen zur sinnlichen
Welt gehören, ohne dass es möglich ist, jene auf ihre Moralität hin zu prüfen. Dies erklärt
letztlich, weshalb die reine praktische Urteilskraft auf größere Schwierigkeiten stößt als es der
Fall ist für die reine theoretische Urteilskraft.
Die Aufgabe der reinen praktischen Urteilskraft besteht nämlich darin, den
allgemeinen kategorischen Imperativ (mithin ein Gesetz der Freiheit) auf eine mögliche
empirische Handlung (mithin ein Ereignis in der Natur) anzuwenden. Die reine praktische
Urteilskraft muss, um es anders zu formulieren, den allgemeinen kategorischen Imperativ,
welcher den Willen unabhängig von jeglichen empirischen Bedingungen zum Handeln
bestimmt, auf die in der Erfahrung vorkommenden Fälle anwenden, welche wiederum den
Naturgesetzen unterstehen. Auf den ersten Blick scheint es widersprüchlich menschliche
Handlungen als empirische Vorkommnisse, die unter dem Naturgesetz stehen, als mögliche
Fälle des allgemeinen kategorischen Imperativs anzusehen. Wie kann nämlich eine Handlung,
welche in einem natürlichen Kausalnexus steht, als Fall der Selbstbestimmung durch
apriorische Prinzipien, welche die bloße Form des Wollens betreffen, gelten? Die Aufgabe
der praktischen Urteilskraft scheint außerhalb des Rahmens des Möglichen zu liegen, weil
dabei zwei Welten, nämlich die phänomenale sowie die noumenale Welt, ins Verhältnis
gesetzt werden sollen, in welchen zwei verschiedene, sich scheinbar ausschließende
Gesetzmäßigkeiten am Werk sind. Kant erinnert in der Kritik der praktischen Vernunft an
diese Schwierigkeit, als er zum folgenden Schluss kommt: „[S]o scheint es widersinnisch, in
der Sinnenwelt einen Fall antreffen zu wollen, der, da er immer so fern nur unter dem
Naturgesetze steht, doch die Anwendung eines Gesetzes der Freiheit auf sich verstattete, und
auf welchen die übersinnliche Idee des sittlich Guten, das darin in concreto dargestellt werden
soll, angewandt werden könne“.1085
Nichtsdestotrotz muss eine Überprüfung unserer Maxime möglich sein, denn sonst
könnte die praktische Regel der reinen Vernunft nicht auf die konkreten Handlungen
angewendet werden.
1082
Vgl. GMS: IV, 421
KpV: V, 43 (meine Hervorhebung)
1084
Vgl. KpV: V, 132
1085
KpV: V, 68
1083
- 201 -
2.3 Das Naturgesetz als Typus des Sittengesetzes
Vor dem Hintergrund der vorherigen Ausführungen stellt sich die Frage, wie eine
Vermittlung zwischen Freiheits- und Naturgesetz möglich ist. In der Kritik der praktischen
Vernunft im Kapitel »Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft« zeigt Kant, dass die
Idee des Sittlich-Guten und die empirisch vorkommenden Handlungen jeweils einen Gesetz
unterstehen. Gemeint sind das Naturgesetz einerseits und das Freiheitsgesetz andererseits.
Beide Gesetze sind zwar grundsätzlich unterschiedlich, haben jedoch eines gemeinsam: Die
„Form der Gesetzmäßigkeit überhaupt“.1086 Mit anderen Worten hat dies zu bedeuten, dass
das Naturgesetz und das Freiheitsgesetz die Form eines Gesetzes besitzen und in dieser
Hinsicht vergleichbar sind. Sie sind zwar nicht inhaltlich, sondern bloß formal, mithin als
Gesetze überhaupt, vergleichbar. Vor diesem Hintergrund spielt es keine Rolle woher die
Gesetze ihre Bestimmungsgründe hernehmen.1087 Aus diesem Grunde ist es erlaubt, „die
Natur der Sinnenwelt als Typus einer intelligibelen Natur zu brauchen“.1088 Mit Ernst
Cassirers Worten könnte man sagen, dass das Naturgesetz in seiner gesetzmäßigen Form als
„Vorbild“ für die Beurteilung des moralischen Handelns gilt.1089 Die Möglichkeit die
phänomenale Natur als Typus der intelligiblen Natur zu benutzen ist allerdings an eine strikte
Bedingung gebunden: Man darf die Anschauungen (und was davon abhängig ist) nicht auf die
intelligible Welt übertragen, sondern allein die Form der Gesetzmäßigkeit überhaupt. Das
Sittengesetz ist seiner Form nach ein Naturgesetz (jedoch nur der Form nach). Als solches
kann das Sittengesetz der Urteilskraft unterliegen. Dieses der Form nach entsprechende
Naturgesetz wird deswegen „Typus des Sittengesetzes“ genannt.
Der Typus der reinen praktischen Urteilskraft wird von Kant folgendermaßen
ausgedrückt: „Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem
Gesetze der Natur, von der du selbst ein Theil wärest, geschehen sollte, sie du wohl, als durch
deinen Willen möglich, ansehen könntest?“1090 Unmittelbar anschließend versichert Kant,
dass diese Regel der Urteilskraft es einem jedem zu beurteilen erlaubt, ob eine Handlung
sittlich-gut oder böse ist.1091 Der Typus bietet somit ein Verfahren zur moralischen
Qualifikation der Handlungsmaximen und somit zur Erfüllung der Aufgabe der praktischen
Urteilskraft an. Jenes lässt sich in zwei Schritte unterteilen.
Der Mensch soll sich zunächst vorstellen, dass die Handlung, welche er vorhat, nach
einem Gesetze der Natur geschieht. Entscheidend ist, wie es ferner im Text heißt: Diese
„Vergleichung der Maxime seiner Handlungen mit einem Naturgesetzte“.1092 Was es heißen
soll die Maximen seiner Handlungen mit einem Naturgesetze zu vergleichen, bedarf jedoch
einer Erklärung, da Kant dies offen lässt. Wenn ein Naturgesetz als eine Abfolge von
Ursachen und Wirkungen zu verstehen ist, dann hat dies zu bedeuten, dass beim Vorliegen
gewisser Bedingungen, die als Ursache zu betrachten sind, eine bestimmte Wirkung
notwendig folgen muss. Sind die Bedingungen strikt erfüllt, dann muss dieselbe Wirkung
immer und überall zu beobachten sein. Wenn also ein Mensch eine beliebige Handlung
vorhat, ist er zunächst dazu angehalten sich vorzustellen, dass alle anderen Menschen in der
gleichen Situation wie er immer notwendig in derselben Art und Weise handeln werden, wie
er sich selbst verhalten würde. Er muss annehmen, dass „ein jeder“1093 nach denselben
Maximen wie den seinen handeln wird.
1086
KpV: V, 70
Vgl. KpV: V, 70
1088
KpV: V, 70
1089
Vgl. Cassirer, Ernst: Kants Leben und Lehre, Berlin, 1921, S. 276ff.
1090
KpV: V, 69
1091
Vgl. KpV: V, 69
1092
KpV: V, 69
1093
KpV: V, 69
1087
- 202 -
In einem weiteren Schritt muss der handelnde Mensch auch wollen können, dass alle
anderen Menschen sich so verhalten, wie er sich selbst verhalten würde. Er muss sich
beispielsweise die Frage stellen, ob er mit jemand einverstanden sein könnte, wenn dieser
betrügt, um sich einen Vorteil zu verschaffen, sich sein Leben nimmt, weil er dessen
überdrüssig ist oder die Not anderer als gleichgültig ansähe. Wichtig ist an dieser Stelle
festzuhalten, dass der handelnde Mensch sich hier nicht mehr als isoliertes Individuum
versteht, sondern sich selbst aus dem höheren Standpunkt der Gattung betrachtet. Dies hat
unter anderem zu bedeuten, dass die Frage, ob der handelnde Mensch auch wollen kann, dass
alle anderen Menschen nach denselben Maximen handeln wie den seinen, nicht nur aus der
Ersten Person Perspektive beantwortet wird, sondern ebenfalls aus einer Perspektive, in
welcher er nicht Akteur, sondern möglicher Betroffener ist. Dieser Perspektivenwechsel
erlaubt es leicht festzustellen, ob man in Einstimmung mit einer Handlungsmaxime ist oder
nicht. Der handelnde Mensch muss sich nur fragen, ob er damit einverstanden ist, betrogen zu
werden oder wenn er sich im Notfall befindet von den Anderen mit Gleichgültigkeit behandelt
zu werden. Es lässt sich leicht einsehen, dass kein Mensch eine Natur wollen kann, die nach
diesen Gesetzen aufgestellt wäre. Der Typus der reinen praktischen Urteilskraft bietet somit
ein Verfahren, welches es ermöglicht die Willens- und Handlungsmaxime der Menschen in
der phänomenalen Welt auf ihre Moralität hin zu überprüfen. Der Typus darf allerdings nicht
so verstanden werden, als würde ein jeder Mensch in dergleichen Situation tatsächlich nach
derselben Maxime handeln. Er darf nicht als vorausgesetzte Tatsache gedeutet werden. Positiv
formuliert hat dies zu bedeuten, dass der Typus als bloßes Gedankenexperiment oder als
bloße Vorstellung zu verstehen ist. Jeder weiß nämlich, dass selbst wenn er heimlich betrügt,
deswegen nicht jedermann betrügt, oder wenn er lieblos ist, ihn die Anderen deswegen auch
lieblos behandeln.
Die Menschen sehen sich hier dazu aufgefordert, die Maximen ihrer Handlungen mit
einem allgemeinen Naturgesetz zu vergleichen. Vergleichen heißt in diesem Zusammenhang
sich vorzustellen, ob die Maximen in Übereinstimmung mit einem Naturgesetz sein könnten.
Übereinstimmung darf jedoch nicht mit Identität verwechselt werden. Der Typus und das
Sittengesetz sind das gleiche (der Form der Gesetzmäßigkeit nach), jedoch nicht dasselbe.
Der Unterschied vom Typus und Sittengesetz ist bereits an den von Kant verwendeten Verben
festzuhalten. Während die Formulierungen des Sittengesetzes einen handlungsbestimmenden
Charakter haben („handle so, daß...“), besitzt die Typik einen bloß interrogativen Charakter
(„frage Dich, ob...“). Mit der Formulierung „Frage dich, ob ...“ anstatt „Handle so, daß ...“
weist Kant deutlich darauf hin, dass das Freiheitsgesetz und das Naturgesetz grundsätzlich
unterschiedlich sind, und dass beide nur in Bezug auf die Form ihrer Gesetzmäßigkeit
überhaupt verglichen werden können.1094 In der Kritik der praktischen Vernunft schreibt Kant,
dass das Naturgesetz als ein Typus der Beurteilung der Handlungsmaxime nach sittlichen
Prinzipien gilt.1095
Dieser Typus kann jedoch keine endgültige Antwort in einem positiven Sinne auf die
Frage nach dem moralischen Charakter der Handlungsmaximen bieten. In Kants eigenen
Worten heißt es diesbezüglich: „Wenn die Maxime der Handlung nicht so beschaffen ist, daß
sie an der Form eines Naturgesetzes überhaupt die Probe hält, so ist sie sittlich
unmöglich“.1096 Dies bedeutet mit anderen Worten, dass nicht alle Handlungen, deren
Maximen ohne Widerspruch mit einem Naturgesetz verglichen werden können, schon
notwendig als sittlich-gut betrachtet werden können. Es gilt genau umgekehrt, dass alle
Maximen, welche sich nicht als Naturgesetz vorstellen lassen, sittlich-unmöglich sind. Der
1094
Vgl. Pieper, Annemarie: Handlung, Freiheit und Entscheidung – Zur Dialektik der praktischen Urteilskraft,
in: Pragmatik – Handbuch pragmatischen Denkens, hrsg. v. Herbert Stachowiak, Hamburg 1989, S. 90f.
1095
Vgl. KpV: V, 69
1096
KpV: V, 69f. (meine Hervorhebungen)
- 203 -
Typus ermöglicht es also nicht positiv zu bestimmen, was sittlich-gut ist. Er ermöglicht es nur
jene Maximen auszuschließen, welche nicht zu einem allgemeinen Gesetz taugen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass der Typus eine notwendige, jedoch keine
hinreichende Bedingung der Sittlichkeit bereitstellt.
Dies hat wiederum zu bedeuten, dass auch die Interpretation des Typus das Vermögen
der Urteilskraft verlangt. Die Urteilskraft ist nämlich dann von Nöten, um jene Maxime zu
identifizieren, die dem Typus zufolge zwar zulässig sind, dennoch aber nicht moralisch sind.
Hierfür gibt es jedoch keine weitere Regel der Urteilskraft, welche die richtige moralische
Qualifikation einer Maxime garantieren könnte. Daraus ergibt sich eine weitere wichtige
Folge. In der Kritik der praktischen Vernunft schreibt Kant, dass selbst der gemeinste
Verstand dem Typus nach urteilen kann, da das Naturgesetz jeglichen gewöhnlichen Urteilen
und selbst den Erfahrungsurteilen zu Grunde liegt. Für Kant ist also jeder Mensch jederzeit in
der Lage, die Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung einer beliebigen Maxime mit
dem allgemeinen Sittengesetz zu erkennen: „Welche Form in der Maxime sich zur
allgemeinen Gesetzgebung schicke, welche nicht, das kann der gemeinste Verstand ohne
Unterweisung unterscheiden“.1097 Selbst dieser gemeinste Verstand hat die Möglichkeit das
Naturgesetz bloß zum Typus eines Gesetzes der Freiheit zu machen. Dies bedeutet also, dass
selbst dieser gemeinste Verstand urteilen kann, ob eine Maxime sittlich-unmöglich ist
(negativ). Vor dem Hintergrund der obigen Erläuterungen muss jedoch festgehalten werden,
dass dies noch nicht zu bedeuten hat, dass dieser gemeinste Verstand richtig urteilen kann, ob
eine Maxime sittlich-gut ist (positiv) oder nicht. Dies liegt daran, dass dafür die Urteilskraft
erforderlich ist, und jene sich hierfür nicht weiter an Regeln orientieren kann.
Es hat sich bisher gezeigt, dass Kant im Abschnitt »Von der Typik der reinen
praktischen Urteilskraft« die Bedingungen der Möglichkeit einer Vermittlung von intelligibler
und sinnlicher Sphäre auf dem Feld der Praxis hervorgehoben hat. Jene sind insofern von
zentraler Bedeutung, als sie den Aufgabenbereich der erfahrungsgeschärften Urteilskraft
überhaupt erst konstituieren. Erst wenn in einer besonderen Situation einmal feststeht, worin
die moralische Aufgabe besteht, stellt sich die weiterführende Frage nach der konkreten
Erfüllung dieser Aufgabe. Die erfahrungsabhängige und erfahrungsunabhängige Urteilskraft
stehen somit in einem Zusammenhang wechselseitiger Abhängigkeit: Es ist die
erfahrungsunabhängige Urteilskraft, welche den Aufgabenbereich der erfahrungsabhängigen
Urteilskraft erst konstituiert, aber es ist die erfahrungsabhängige Urteilskraft, welche für die
konkrete Erfüllung der Rechtspflichten sorgt. Wie dies geschehen kann und wie viel
Spielraum es dabei für Individualität gibt, soll nun in den folgenden Seiten näher erläutert
werden.
3. Die Bedeutung der erfahrungsgeschärften Urteilskraft bei der Anwendung der
Vernunftprinzipien
Wie Otfried Höffe zu zeigen vermochte, vertritt Kant – freilich ohne es vollständig zu
explizieren – eine Handlungstheorie, die sich in einen dreistufigen Beurteilungsprozess
gliedern lässt. Aus der bildhaften Darstellung dieser drei Stufen ergibt sich das folgende
Schema:
1097
KpV: V, 27
- 204 -
Abbildung 5: Die drei Problemstufen einer fallgerechten Anwendung der Prinzipien des
Rechts in der Wirklichkeit1098
Erste Stufe
Zweite Stufe
Dritte Stufe
Das Problem der Identifikation einer moralischen Aufgabe
Das Problem der konkreten Erfüllung der Rechtspflichten
- Das Problem der Art und Weise der Erfüllung
- Das Problem des Maßes der Erfüllung
- Das Problem der Prioritätssetzung
- Das Problem des Adressatenkonflikts
Das Problem der Abwägung einander entgegengesetzter Prinzipien
3.1 Das Problem der Identifikation einer moralischen Aufgabe
Die erste Stufe ist jene der Identifikation einer moralischen Aufgabe. Es wurde bereits
gesehen, dass die erste Funktion der Urteilskraft darin besteht zu unterscheiden, ob etwas
unter einer gegebenen Regel oder Gesetz stehe oder nicht. Ihr kommt also die Aufgabe zu
eine konkrete Situation als individuellen Fall eines allgemeinen Situationstyps aufzufassen. So
wird zum Beispiel die Situation einer Person, die sich ertränkt, als Notlage identifiziert. Wenn
eine vorgegebene Situation als individueller Fall eines allgemeinen Situationstyps aufgefasst
werden wird, dann muss zunächst eine Interpretationsleistung erbracht werden. Soll nämlich
eine konkrete Situation unter eine Norm subsumiert werden, so bedarf diese Situation selbst
in jedem Falle zunächst einer vorhergehenden Auslegung. Diese Identifikation ist weder
zwingend noch eindeutig. Dies liegt unter anderem daran, dass es sich gelegentlich mehrere
konkurrierende Regeln für die Regulierung eines Einzelfalls denken lassen. Das vorgeordnete
und grundsätzlichere Problem besteht aber vielmehr darin, dass die Regelauswahl in einer
besonderen Situation selbst nicht von einer anderen Regel bestimmt werden kann. Es gibt
somit eine permanente Offenheit und damit verbunden eine unaufhebbare Unsicherheit
bezüglich der im Einzelfall anwendbaren Regel.
Weil niemals lückenlos demonstriert werden kann, dass eine besondere Situation unter
eine allgemeine Regel fällt, ist selbst der gute Willen des Politikers im konkreten Fall nicht
ausreichend, wenn er von seiner Urteilskraft einen schlechten Gebrauch macht. Dass diese
Identifikation einer moralischen Aufgabe gar nicht so einfach ist, wie es zunächst erscheinen
mag, lässt sich am Beispiel des fünften Präliminarartikels feststellen. Dort heißt es eindeutig
und unmissverständlich: „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern
gewaltthätig einmischen“.1099 Im weiteren Verlauf des Textes führt Kant folgendermaßen fort:
„Dahin würde zwar nicht zu ziehen sein, wenn ein Staat sich durch innere Veruneinigung in
zwei Theile spaltete, deren jeder für sich einen besondern Staat vorstellt, der auf das Ganze
Anspruch macht; wo einem derselben Beistand zu leisten einem äußern Staat nicht für
Einmischung in die Verfassung des andern (denn es ist alsdann Anarchie) angerechnet werden
könnte“.1100 Ohne sich erneut diesem Artikel länger widmen zu wollen, muss jedoch
festgehalten werden, dass allein die Identifikation einer gebotenen Handlung unter der
Bedingung unvollständiger Information sowie unklarer räumlicher und zeitlicher Begrenzung
eines Konflikts höchst kompliziert werden kann. Ein solches Beispiel zeigt uns den Spielraum
für Interpretation, der sich bei der Identifikation einer moralischen Aufgabe ergibt.
1098
Systematische Skizze nach: Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und
Friedenstheorie, Frankfurt a. M. 2001, S. 75ff.
1099
Frieden: VIII, 346
1100
Frieden: VIII, 346
- 205 -
3.2 Das Problem der konkreten Erfüllung der Rechtspflichten
Nachdem in einem ersten Schritt identifiziert wurde, zu welchem Oberbegriff eine
Situation zählt, so müssen nun in einem zweiten Schritt die verschiedenen Handlungsoptionen
dieser Lage identifiziert werden. Diese zweite Stufe ist jene der konkreten Erfüllung der
Rechtspflichten. Im zuvor erwähnten Beispiel eines hilfsbedürftigen Menschen sieht man sich
mit einer einfachen Alternative konfrontiert: Entweder reagiert man auf die Notlage und
versucht zu helfen, oder man geht nicht auf die Situation ein und lässt den Mann in der
Notlage auf sich alleine gestellt. Wenn einmal die verschiedenen Handlungsoptionen in einer
Lage identifiziert sind, so soll anschließend die Frage beantwortet werden, welche der
zugrundeliegenden Handlungsmaximen der Rang des Moralischen gebührt. Für die
letztgenannte Frage ist jedoch nicht länger die erfahrungsgeschärfte Urteilskraft zuständig,
sondern allein die reine praktische Urteilskraft. Im zuvor erwähnten Beispiel der Notlage
wurde das Problem der konkreten Erfüllung der Pflichten auf eine einfache Alternative
(helfen oder nicht helfen) reduziert. In Wirklichkeit handelt es sich dabei jedoch um eine viel
komplexe Frage. Wenn einmal identifiziert ist, worin die moralische Aufgabe besteht, dann
stellen sich noch vier weitere Fragen.
Die erste Frage ist jene nach der Art der Realisierung der moralischen Aufgaben.
Wenn beispielsweise einmal identifiziert ist, dass im Nachbarstaat Anarchie herrscht und dass
Menschen dort in humanitärer Not sind und dass somit unsere Hilfe geboten ist, dann bleibt
noch zu entscheiden, mit welchen konkreten Mitteln die Hilfe geleistet werden kann. Dass
dies in der Realität gar nicht so unproblematisch ist, lässt sich deutlich am Beispiel der
zahlreichen Fehlentscheidungen erkennen, die man seit Ende des Zweiten Weltkrieges im
Rahmen der Entwicklungshilfe1101 oder der sogenannten Peace-Keeping und Peace-BuildingMissionen in Kriegsregionen begangen hat.1102
Unter der Bedingung der Endlichkeit der vorhandenen Ressourcen steht der Politiker
außerdem häufig vor der schmerzlichen Frage nach dem Maß der Realisierung. Die hier
aufgeworfene Frage ist jene nach dem Umfang der Pflichterfüllung. Dieser Frage wurde
sowohl von Kant selbst als auch von seinen vielen Kommentatoren erstaunlicherweise nur
wenig Beachtung geschenkt. Erstere Ansätze zur Beantwortung dieser Frage lassen sich
allerdings in der Tugendlehre finden, wo Kant die kasuistische Frage, wie weit man den
Aufwand seines Vermögens im Wohltun treiben soll folgendermaßen antwortet: „Doch wohl
nicht bis dahin, daß man zuletzt selbst Anderer Wohlthätigkeit bedürftig würde“.1103 Weil die
eigenen Fähigkeiten sowie die moralisch gebotenen Handlungen stets variieren, lässt es sich
leicht einsehen, dass nur die Urteilskraft in situ über den angemessenen Umfang der
Pflichterfüllung entscheiden kann. Wichtig ist lediglich hier zu sehen, dass der Umfang der
Pflichterfüllung nicht als uneingeschränkt gedacht werden kann. Eine uneingeschränkte
Hilfeleistung im Zusammenhang mit einer humanitären Krise zum Beispiel würde jede zur
Hilfeleistung fähige Person auf Dauer in einen Zustand versetzen, in welchem sie selbst auf
die Hilfeleistung anderer Personen angewiesen wäre. Die Schaffung eines derartigen
Zustandes, in welchem eine jede Person auf die Hilfe Anderer angewiesen ist, ist jedoch mit
dem Prinzip der Selbstständigkeit einer jeden Person nicht vereinbar und sollte deshalb
vermieden werden. Selbst wenn die Tugendpflichten verbindlich sind, ist die konkrete
1101
Eine gute Darstellung und kritische Würdigung von den Möglichkeiten und Grenzen der bisherigen
entwicklungspolitischen Strategien bietet der folgende Band: Rauch, Theo: Entwicklungspolitik: Theorien,
Strategien, Instrumente, Braunschweig 2009.
1102
Eine statistisch fundierte Darstellung der hemmenden wie fördernden Faktoren der Friedenssicherung und konsolidierung bietet der folgende Band: Doyle, Michael W. / Sambanis, Nicholas: Making War and Building
Peace: United Nations Peace Operations, Princeton 2006.
1103
TL: VI, 454
- 206 -
Erfüllung dieser Pflichten nicht unbedingt uneingeschränkt. Bei der Anwendung der
Vernunftprinzipien auf die Realität soll also der Politiker stets auf die Verhältnismäßigkeit
seines Handelns achten. Diese Aufgabe liegt allein im Ermessen des Politikers, der sich dabei
nicht an formulierten Regeln orientieren kann. Dies gilt zum Beispiel für die Sozialpolitik, die
den Staat zu betreiben berechtigt ist, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft andauernd
zu sichern. Im Gemeinspruch heißt es diesbezüglich: „Wenn die oberste Macht Gesetze giebt,
die zunächst auf die Glückseligkeit […] gerichtet sind: so geschieht dieses […] bloß als
Mittel, den rechtlichen Zustand vornehmlich gegen äußere Feinde des Volks zu sichern.
Hierüber muß das Staatsoberhaupt befugt sein, selbst und allein zu urtheilen, ob dergleichen
zum Flor des gemeinen Wesens gehöre, welcher erforderlich ist, um seine Stärke und
Festigkeit sowohl innerlich, als wider äußere Feinde, zu sichern“.1104
Die zwei letzten Fragen, welche die Urteilskraft zu beantworten hat, beziehen sich auf
den Fall eines Adressatenkonflikts und auf die Prioritätensetzung. Die hier aufgeworfene,
umfassendere Frage ist jene nach der Vorrangigkeit und Dringlichkeit. In der interrogativen
Form heißt es etwa: Gegenüber welchen Personengruppen und in welcher Rangfolge ist das
Hilfsgebot zu erfüllen? Der erfahrungsabhängigen Urteilskraft kommt hier die Rolle zu
darüber zu entscheiden, welche Zielgruppe unter mehreren möglichen vorzuziehen sei.
Es sei hier festgehalten, dass dem moralischen Politiker ein nicht zu unterschätzender
Spielraum bei der konkreten Erfüllung der Rechtspflichten zukommt, ohne allerdings den
Vernunftprinzipien Abbruch zu tun.
3.3 Das Problem der Abwägung einander entgegengesetzter Prinzipien
Auf der dritten Stufe kommt der Urteilskraft die Rolle zu, einander entgegengesetzte
Prinzipien abzuwägen und Prinzipienkonflikte aufzulösen. Zwei Möglichkeiten sind hier
grundsätzlich denkbar: Das Problem der Prinzipienabwägung ergibt sich entweder, wenn es
einen Konflikt zwischen verschiedenen Rechtspflichten oder zwischen verschiedenen
Tugendpflichten gibt (interner-Pflichtenkonflikt), oder wenn es einen Konflikt zwischen einer
Rechtspflicht und einer Tugendpflicht gibt (intra-Pflichtenkonflikt). In einer gegebenen
Situation kann es nämlich vorkommen, dass einander entgegengesetzte Rechts- und
Tugendpflichten einzuhalten sind, oder dass innerhalb einer Rechtspflicht mehrere Prinzipien
gefragt sind, die in jeweils unterschiedliche Richtungen weisen. Die Frage, die sich vor
diesem Hintergrund stellt, ist wie die Prinzipienabwägung geschehen kann und wie viel
Freiraum dem moralischen Politiker dabei zukommt.
Abbildung 6: Pflichtenkonflikte
InternerPflichtenkonflikt
Intra-Pflichtenkonflikt
Konflikt zwischen verschiedenen Rechtspflichten
Konflikt zwischen verschiedenen Tugendpflichten
Konflikt zwischen einer Rechtspflicht und einer Tugendpflicht
Wie im nächsten Kapitel noch ausführlicher zu sehen sein wird, argumentiert Kant,
dass es keinen Widerstreit der Pflichten geben kann. Um einen Widerstreit der Pflichten zu
vermeiden, ist die Urteilskraft aber auf Prioritätsregeln angewiesen. Eine erste Prioritätsregel,
um einen intra-Pflichtenkonflikt zu vermeiden, besteht in dem Vorrang der vollkommenen
Rechtspflichten vor den unvollkommenen Tugendpflichten. Ein zweites Instrumentarium, auf
welches die Urteilskraft zurückgreifen kann, um eine Pflichtkollision zu vermeiden, sind die
1104
Gemeinspruch: VIII, 298
- 207 -
sogenannten „Erlaubnißgesetze der Vernunft“1105, die einen provisorischen Aufschub
bezüglich der Ausübung einer Pflicht erlauben. Auf diesen Punkt soll im weiteren Verlauf der
vorliegenden Dissertation noch näher eingegangen werden.
Ein weiterer Fall, in welchem die erfahrungsgeschärfte Urteilskraft gefragt ist, um
einander entgegengesetzte Rechtsprinzipien abzuwägen, ist die Notlage. Kant widmet sich
dem Problem der Notlage und des sogenannten Notrechts im »Anhang zur Einleitung in die
Rechtslehre«. Die Tatsache, dass Kant sich diesem Problem im Anhang und nicht in der
Einleitung selbst widmet, ist an sich bereits aussagekräftig: Während er im Haupttext der
Einleitung auf den Rechtsbegriff eingeht, behandelt er im Anhang zwei von ihm als
zweideutig bezeichnete Rechte. Gemeint sind die Billigkeit einerseits und das Notrecht
andererseits, „von denen die erste ein Recht ohne Zwang, das zweite einen Zwang ohne Recht
annimmt“.1106 Erklärungsbedürftig ist nun, was unter dem Begriff des Notrechts zu verstehen
ist und warum es sich dabei für Kant nicht um ein eigentliches Recht handelt. Unter dem
Begriff des Notrechts verstehen viele Autoren ganz allgemein eine durch die Not bedingte
und somit berechtigte Rechtsverletzung. Es lässt sich jedoch leicht einsehen, dass die
Rechtslehre widersprüchlich wäre, wenn es ein Recht gäbe, das im Fall der Gefahr des
Verlustes seines eigenen Lebens einem Anderen, der uns nichts zuleide täte, das Leben zu
nehmen. Für Kant ist kein Mensch berechtigt in die Freiheitssphäre eines anderen Menschen
einzugreifen, um einer bloß vermuteten, zukünftigen Gefahr zuvorzukommen. Es ist dagegen
erlaubt einem „ungerechten Angreifer auf mein Leben [...] durch Beraubung des seinen
zuvor[zu]kommen“.1107 Erlaubt ist also eine Reaktion auf einen ungerechten, unmittelbar
bevorstehenden Eingriff in die eigene Freiheitssphäre. In seinen Reflexionen aus dem
Nachlass schreibt Kant sogar, dass das Notwehrrecht das „heiligste[ ] Recht“1108 des
Menschen ist. Das Notwehrrecht ist jedoch kein eigentliches Recht, weil es sich auf
Situationen bezieht, in welchen kein Richter aufgestellt werden kann.
Nun kommen wir zu dem für uns entscheidenden Punkt: In seiner Reaktion auf einen
fremden Eingriff in die eigene Freiheitssphäre ist jeder Mensch zu einer gewissen
„Mäßigung“ aufgefordert. Zur Mäßigung der Ausübung des Notwehrrechts kann mich aber
kein juridisches, sondern allein ein ethisches Gesetz anhalten. Dieses ethische Gesetz spricht
überdies keine „Verpflichtung“ sondern bloß eine „Anempfehlung“1109 aus. Kants
Ausführungen lassen außerdem die Frage weitgehend unbeantwortet, was unter dem
Ausdruck der „Mäßigung“ überhaupt zu verstehen sei. Es wurde bereits gesehen, dass für
Kant der Rückgriff auf Zwang nur zur Sicherung und Wiederherstellung der Freiheitssphäre
eines jeden Menschen zulässig ist. Der Zwang darf deshalb nicht weiter ausgeübt werden, als
dies zur Wiederherstellung der verletzten Freiheitssphäre notwendig ist. Damit wird jedoch
noch nicht bestimmt, welche Form die ethisch empfohlene Mäßigung annehmen soll. Wichtig
ist hier zu sehen, dass lediglich die Urteilskraft über die gewünschte Mäßigung entscheiden
kann. Auch im Falle des Notrechts bedarf es also einer komplexen Urteilkompetenz. Zunächst
einmal muss die Lage als Notlage identifiziert werden. Nach diesem ersten Schritt stellt sich
die Frage, ob die eingesetzten Mittel geeignet und erforderlich sind, um den Zweck der
Selbstverteidigung zu erfüllen. Gefragt ist somit, ob es alternative, mildere Mittel gibt, welche
denselben Erfolg mit derselben Sicherheit erbringen könnten. Unter der Bedingung der
ethisch anempfohlenen Mäßigung der Verteidigungsmaßnahmen stellt sich außerdem die
Frage, ob der Zweck und die eingesetzten Mittel in einem ausgewogenen Verhältnis
zueinander stehen.
1105
Frieden: VIII, 373
RL: VI, 234
1107
RL: VI, 235 (meine Hervorhebung)
1108
Reflexion 7195: XIX, 269
1109
RL: VI, 235
1106
- 208 -
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es Kant weitgehend gelungen ist,
universale Rechtsprinzipien zu begründen, die trotzdem für die Urteilskraft offen bleiben.
Nun soll im folgenden Abschnitt gezeigt werden, dass die absolute Verbindlichkeit
universeller Vernunftprinzipien sehr wohl mit individuellen Einzelfallentscheidungen
aufgrund pragmatischer Überlegungen vereinbar ist.
4. Die Vereinbarkeit von absoluter Verbindlichkeit universeller Vernunftprinzipien und
individuellen Einzelfallentscheidungen
4.1 Die fallgerechte Anwendung der Vernunftprinzipien als eine kontextabhängige und
kreative Kompetenz
In der Sekundärliteratur wird die Aufgabe der bestimmenden Urteilskraft
vereinfachend als Subsumtionsleistung definiert. In der Tat besteht ihre Funktion darin, zu
unterscheiden, ob eine besondere Handlung unter einer gegebenen Regel stehe oder nicht. Im
vorherigen Teil wurde allerdings angedeutet, dass es sich dabei um eine viel komplexere und
ergebnisoffene Aufgabe handelt als häufig angenommen. Ganz allgemein kann behauptet
werden, dass die Anwendung der Vernunftprinzipien zunächst eine Kontextualisierung der
Sicht- und Vorgehensweise erfordert. Darunter ist zu verstehen, dass der moralische Politiker
sein Handeln stets vor dem Hintergrund eines vorgegebenen Kontexts einschätzen soll. Er
darf die vorgegebene Lage, in welcher er sich befindet, nicht schlichtweg ignorieren und die
Vernunftprinzipien blind anwenden. Der moralische Politiker soll sich vielmehr mit der
Umwelt in Verbindung setzten. Zur erfolgreichen Anwendung der Vernunftgesetze in der
Wirklichkeit muss er in hohem Maße die Fähigkeit zur Kontextualisierung erwerben und sein
Verhalten an die besonderen Aspekte des Einzelfalls anpassen können. Der moralische
Politiker muss die Vernunftprinzipien in Zusammenhang mit den konkreten, jeweils
unterschiedlichen Lebenssituationen stellen können.
Wie soll dies aber genau geschehen? Der Politiker muss zunächst eine vorsichtige
Situationsanalyse durchführen. Das heißt er muss sorgfältig die Lage analysieren, in welcher
er sich befindet, und in welcher er die Vernunftprinzipien anwenden soll. Diese
Situationsanalyse lässt sich in verschiedene Unterstufen gliedern. Der Politiker muss zunächst
die verschiedenen Hindernisse, welche sich auftun könnten, identifizieren und nach ihrer
Wahrscheinlichkeit und Gefährlichkeit einordnen. Im Anschluss daran muss er verschiedene
Handlungsoptionen im Einklang mit dem allgemeinen Sittengesetz entwickeln und gewichten.
Die lang- sowie kurzfristigen Vor- und Nachteile einer jeden Handlungsoption müssen mit
Blick auf den gesetzten Zweck und unter Berücksichtigung der identifizierten Hindernisse
geprüft und ausbalanciert werden. Eine solche Abwägung ermöglicht die differenzierende
Berücksichtigung der Besonderheiten jeder konkreten Situation sowie ein zielgerichtetes
Handeln. Die Anwendung der Vernunftgesetze beinhaltet somit auch die Vergegenwärtigung
der Folgen des Handelns. Dieser Feststellung steht der beliebte Vorwurf entgegen, dass es
innerhalb Kants praktischer Philosophie keinen Platz für Folgenüberlegungen gäbe.
Der Spielraum für Erfahrung und Individualität ist auch deshalb größer als zunächst
angenommen werden könnte, weil der politisch Handelnde in vielen Fällen nicht einfach die
relativ beste Lösung unter mehreren bereits vorgegebenen Handlungsoptionen wählen muss,
sondern vielmehr selber neue Mittel und Wege finden muss.1110 Der politisch Handelnde hat
die für seine Ziele in Betracht kommenden Handlungsentwürfe zunächst erst selbst zu
entwickeln. Insofern ist das Problem der Anwendung der Vernunftgesetze eine kreative
Leistung. Weil die Mittel und Wege zur konkreten Erfüllung der Rechtspflichten nicht
1110
Vgl. Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt
a. M. 2001, S. 79.
- 209 -
bestimmt werden können, enthält die Urteilskraft einen Platz für Kreativität, da sie im Urteil
Neues und Unvorhersehbares hervorbringt.
An dieser Stelle soll noch kurz darauf aufmerksam gemacht werden, dass der eben
skizzierte Spielraum bei der Anwendung der Vernunftprinzipien auf die Erfahrungsfälle
sowohl für die unvollkommenen Tugendpflichten als auch für die vollkommenen
Rechtspflichten gilt. Damit wird nicht bestritten, dass der Spielraum bei der Anwendung der
unvollkommenen Tugendpflichten größer ist als jener der vollkommenen Rechtspflichten.
Dies liegt darin begründet, dass die unvollkommenen Pflichten sich nicht direkt auf einzelne
Handlungen beziehen, sondern lediglich die Maxime der Handlung betreffen. Auf diese Art
und Weise lassen sie einen größeren Spielraum bei deren Befolgung zu. Dieser Spielraum
darf allerdings nicht als „eine Erlaubniß zu Ausnahmen von der Maxime der Handlung“
verstanden werden, sondern nur als die „der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die
andere (z. B. die allgemeine Nächstenliebe durch die Elternliebe) […], wodurch in der That
das Feld für die Tugendpraxis erweitert“1111 werde.
Damit soll allerdings nicht übersehen werden, dass selbst bei den vollkommenen
Rechtspflichten nicht immer bestimmt werden kann, wie jene konkret erfüllt werden sollen.
Auch – und vielleicht vor allem – die Erfüllung der Rechtspflichten benötigt eine vorsichtige
Situationsanalyse, eine Kontextualisierung der Sicht- und Vorgehensweise sowie der
handlungsinternen Folgenüberlegungen. Es ist Otfried Höffe zuzustimmen, wenn er schreibt,
dass „selbst die vollkommenen Pflichten insoweit unvollkommen [sind], als sie die Art und
Weise, sie zu erfüllen, nicht mitdefinieren“.1112 Es ist zum Beispiel eine vollkommene
Rechtspflicht für den Politiker die Staatsverfassung nach den Prinzipien der Freiheit, der
Abhängigkeit und der Gleichheit zu gestalten. Die Art und Weise wie diese Prinzipien im
Einzelnen zu bewahren sind, kann dagegen nicht mitbestimmt werden. Der Spielraum betrifft
etwa den gewählten Augenblick der möglichen Reformen, ihre Geschwindigkeit sowie ihren
Umfang (etwa schrittweise und beschränkte Reformen oder umfassende Reformen) als auch
ihren konkreten Inhalt (etwa Mehrheitswahlsysteme oder Verhältniswahlsysteme). Die
fallgerechte Anwendung der Vernunftprinzipien erfordert vom moralischen Politiker die
besonnene Rücksicht auf das Gegebene und Mögliche, wobei ein sicheres Gespür für Macht
und das Machtbare unerlässlich ist.
Es zeigt sich hier, dass Kants Moral- und Rechtsphilosophie dem Mensch nicht von
seinem Ermessen bezüglich des moralischen Handelns zu befreien versucht. Dies führt
wiederum dazu, dass die Legalität und Moralität menschlicher Handlungen bei der
Anwendung der Vernunftprinzipien immer gefährdet ist, weil sie nicht von einem falschen
Gebrauch der Urteilskraft sicher sein kann.
4.2 Die zwei Fallklassen möglich auftretender Anwendungsfehler
Es hat sich gezeigt, dass dem moralischen Politiker bei der konkreten Erfüllung der
Rechtspflichten systembedingt ein nicht zu unterschätzender Ermessensspielraum zukommt.
Dieser Ermessensspielraum kann jedoch zu ungewünschten Ergebnissen führen. Für die
konkrete Erfüllung der Rechtspflichten lassen sich zwei Fallklassen von möglich auftretenden
Fehlern unterscheiden. Gemeint sind einerseits eine Ermessensfehlgewichtgung sowie ein
Nichtgebrauch des zustehenden Ermessenspielraums andererseits. Was unter diesen beiden
Begriffen zu verstehen ist, darauf soll im Folgenden näher eingegangen werden.
1111
TL: VI, 390
Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt a.
M. 2001, S. 80.
1112
- 210 -
a) Das Risiko der Ermessensfehlgewichtung
Es wurde bereits gesehen, dass sich der Politiker für die konkrete Erfüllung der
Rechtspflichten nicht gänzlich auf Regeln beruhen kann, sondern eine vor- und umsichtige
Situationsanalyse durchführen muss. Dies bedeutet, dass er immer erst die Lage analysieren
muss, in welcher er sich befindet, und in welcher er die Vernunftprinzipien anwenden soll.
Das Verfahren der Urteilskraft muss dabei nicht unbedingt willkürlich sein, sondern kann sich
an verschiedenen Kriterien orientieren. Gemeint wären im Beispiel des Hilfsgebotes etwa die
Anzahl der Hilfsbedürftigen, die Größe ihrer Not, die eigenen Hilfskapazitäten, die
Zugänglichkeit zu den Hilfsbedürftigen, oder die Ersetzbarkeit der Hilfeleistung.1113 Es kann
allerdings vorkommen, dass wesentliche Umstände von dem Politiker nicht oder nicht
ausreichend berücksichtigt werden. Bestimmte Umstände können entweder über- oder
unterbewertet (etwa die Not einer bestimmten Menschengruppe im Vergleich zu einer
anderen) oder schlicht nicht berücksichtigt werden. Wenn bestimmte Situationsmerkmale
gegenüber anderen zu stark gewichtet werden, dann kann dies zu suboptimalen Ergebnissen
führen. Das erste Problem, welches sich also für den Politiker ergibt, wenn es um die Frage
nach dem Maß der Realisierung, der Prioritätensetzung und des Adressatenkonflikts geht,
besteht in einer Ermessensfehlgewichtung.
Dieses Problem ist für die Politik besonders ernst zu nehmen. Wie bereits gesehen
wurde, besteht ihre Aufgabe darin, die allgemeinen Rechtsprinzipien auf die Erfahrungsfälle
anzuwenden. Die Politik ist somit per definitionem eine Sphäre des praktischen Handelns.
Der Politiker kann sich die Situation niemals auswählen, in welcher sein Handeln erforderlich
ist, da er sich bereits in der Situation befindet. Er kann sich der Notwendigkeit des Handelns
nicht entziehen, weil selbst die Entscheidung sich nicht zu entscheiden, dem Wesen nach, eine
Entscheidung ist. Das Entscheiden und das Handeln verfügen somit über einen
unausweichlichen Charakter. Der Politiker muss Entscheidungen treffen und seinen
Entscheidungen entsprechend handeln. Durch seine Entscheidungen gestaltet er wiederum die
Wirklichkeit. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die positiven sowie negativen Folgen
seines Tuns und Lassens sich nicht auf seine eigene Person beschränken, sondern auch für
eine Vielzahl von Menschen Folgen haben.
Das Risiko einer Ermessensfehlgewichtung wird dadurch erhöht, dass der Politiker
unter einem unaufhebbaren Zeitdruck steht. Aus diesem Grund kann er die Situation, in
welcher sein Handeln gefordert wird, niemals ganz durchschauen und muss daher seine
Entscheidungen zumeist unter Unsicherheit treffen. Diese Merkmale zusammen genommen
unterscheiden die Politik als Sphäre des Handelns grundsätzlich von der Philosophie als
Sphäre des Erkennens. Die Politik steht unter anderen Bedingungen als die Philosophie.
Anders als der Handelnde kann sich der Erkennende die Situation auswählen, welche er zum
Gegenstand seiner Reflexionen machen möchte. Diese Situation kann er nachträglich und im
Besitz aller dafür notwendigen Informationen beurteilen. Vor diesem Hintergrund lässt sich
leicht einsehen, dass die Urteilskraft für den politisch Handelnden vielmehr von Nöten und
daher von viel größerer Bedeutung ist als für den Erkennenden.
b) Das Risiko unberücksichtigter Ermessensspielräume
Das zweite Problem, welches bei der konkreten Erfüllung der Rechtspflichten
auftreten kann, ist jenes eines Nichtgebrauchs des zustehenden Ermessenspielraums. Von
einem Nichtgebrauch des zustehenden Ermessenspielraums kann erst dann die Rede sein,
wenn der Politiker das ihm zustehende Ermessen bei der Anwendung der Vernunftprinzipien
1113
Vgl. Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt
a. M. 2001, S. 79.
- 211 -
auf die Erfahrungsfälle gar nicht ausübt. Es handelt sich dabei um eine Form
selbstverschuldeter Situationsblindheit, weil der Politiker von sich aus dem ihm tatsächlich
zustehenden Freiraum gar nicht nützt und die Vernunftprinzipien undifferenziert anwendet.
Der Nichtgebrauch des zustehenden Ermessenspielraums ist von einer unverschuldeten
Reduktion des Ermessenspielraums auf null (zum Beispiel aufgrund fehlender bzw.
verspäteter Informationen) zu unterscheiden. Im letzterwähnten Fall kann der Politiker
aufgrund externer Faktoren von dem Ermessenspielraum, welcher ihm anderweitig
zugestanden wäre, keinen kompletten Gebrauch machen.
In der Friedensschrift betont Kant die zentrale Rolle der Klugheit und der
erfahrungsgeschärften Urteilskraft und erkennt sogar mittelbar eine Eigenständigkeit der
Politik an, wenn er schreibt, dass Politik nicht bloß in Moral aufgehen darf. In Kants eigenen
Worten heißt es, dass der moralische Politiker kein sogenannter „despotisierende[r]
Moralist[]“1114 sein darf. Ein solcher wäre er nämlich dann, wenn er wider aller Staatsklugheit
die Prinzipien des Rechts ohne Rücksicht auf die politischen Umstände und unbeachtet der
möglichen Folgen vollziehen würde. In diesem Fall könnte man von einem Nichtgebrauch des
zustehenden Ermessenspielraums sprechen, da der Politiker das ihm zustehende Ermessen gar
nicht nutzt. Dies kann darauf zurückzuführen sein, dass er in einer bestimmten Situation (wie
etwa bei der Abschaffung des stehenden Herres) gar nicht erkennt, dass ihm überhaupt ein
Ermessen zusteht. Es kann aber auch darauf zurückzuführen sein, dass der Politiker sich
folgenblind dafür entscheidet, die Vernunftprinzipien anzuwenden, gleichwohl, wie die
Folgen sein könnten.
Diese Form von moralischer Situationsblindheit wird von Kant verworfen. In der
Friedensschrift richtet Kant seine Kritik vornehmlich gegen den politischen Moralisten. Er
erwähnt den despotisierenden Moralisten dagegen nur beiläufig. Dies liegt darin begründet,
dass Kant davon ausgeht, dass nach wiederholten Misserfolgen der despotisierende Moralist
allmählich von selbst lernen wird und klüger wird. Im Wortlaut Kants heißt es: „Es mag also
immer sein, daß die despotisirende (in der Ausübung fehlende) Moralisten wider die
Staatsklugheit (durch übereilt genommene oder angepriesene Maßregeln) mannigfaltig
verstoßen, so muß sie doch die Erfahrung, bei diesem ihrem Verstoß wider die Natur nach
und nach in ein besseres Gleis bringen“.1115 Der politische Moralist stellt dagegen eine
verschleierte und somit vergleichsweise viel ernstzunehmendere Gefahr dar, weil sie „durch
Beschönigung rechtswidriger Staatsprincipien unter dem Vorwande einer des Guten nach der
Idee, wie sie die Vernunft vorschreibt, nicht fähigen menschlichen Natur, so viel an ihnen ist,
das Besserwerden unmöglich machen und die Rechtsverletzung verewigen“.1116 Der
politische Moralist ist nichts anderes als ein unmoralischer Opportunist, welcher durch sein
Handeln den Fortschritt zum Besseren blockiert, der ansonsten Wirklichkeit werden könnte.
4.3 Die Urteilskraft als ein nicht lehrbares, jedoch durch Erfahrung zu verbesserndes
Vermögen
Weil die konkrete Anwendung der Vernunftgesetze sich nicht vollständig in Regeln
fassen lässt, gibt es eine permanente und unaufhebbare Offenheit bezüglich der
einzusetzenden Mittel. Selbst für einen welterfahrenen Politiker sind allerdings die zu
erwartenden Vor- und Nachteile seiner Handlungen schwer einzuschätzen, denn „es erfordert
einen guten Kopf, um sich aus dem Gedränge von Gründen und Gegengründen
herauszuwickeln und sich in der Zusammenrechnung nicht zu betrügen“.1117 Aus der
1114
Frieden: VIII, 373
Frieden: VIII, 373
1116
Frieden: VIII, 373
1117
Gemeinspruch: VIII, 287
1115
- 212 -
strukturellen Offenheit bei der Anwendung der Vernunftgesetze ergibt sich also die Gefahr
des Irrtums: Selbst eine geübte und erfahrene Urteilskraft kann dem Politiker niemals
garantieren, keine Irrtümer zu begehen. Die Güte des Willens reicht nicht aus, um moralisch
zu handeln, weil jede Regel falsch angewandt werden kann, wenn die Menschen einen
schlechten Gebrauch ihrer Urteilskraft machen. Die Frage, die es vor diesem Hintergrund zu
beantworten gilt, besteht darin, ob die Urteilskraft wenigsten lehrbar und erlernbar ist. Mit
anderen Worten könnte es heißen: Kann die Urteilskraft überhaupt kultiviert werden?
In der Kritik der reinen Vernunft führt Kant ernsthafte Bedenken diesbezüglich an:
„Der Mangel an Urtheilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen
Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen. Ein stumpfer oder eingeschränkter Kopf, dem es an
nichts, als an gehörigem Grade des Verstandes und eigenen Begriffen desselben mangelt, ist
durch Erlernung sehr wohl, sogar bis zur Gelehrsamkeit auszurüsten. Da es aber gemeiniglich
alsdann auch an jener […] zu fehlen pflegt, so ist es nichts Ungewöhnliches, sehr gelehrte
Männer anzutreffen, die im Gebrauche ihrer Wissenschaft jenen nie zu bessernden Mangel
häufig blicken lassen”.1118 Kant stellt hier ernüchternd fest, dass der Mangel an Urteilskraft,
den er als „Dummheit“ bezeichnet, angeboren ist und nicht ausgebessert werden kann. Ferner
im Text schreibt er, dass die Urteilskraft „ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt,
sondern nur geübt sein will. Daher ist diese auch das Specifische des so genannten
Mutterwitzes, dessen Mangel keine Schule ersetzen kann“.1119 Für Kant ist die Urteilskraft
eine besondere „Naturgabe“1120, also ein besonders Talent, welches von Natur aus gegeben ist
und also nicht erworben werden kann. Diese pessimistische Sichtweise nuanciert er jedoch in
seinen späteren moralphilosophischen Werken. Insbesondere in der Grundlegung führt Kant
eindeutig aus, dass die Urteilskraft durch Erfahrung geschärft werden kann.1121 Die
Urteilskraft ist für ihn eine besondere Tauglichkeit, welche prinzipiell nicht erlernt, sondern
nur durch praktische Erfahrungen geübt werden kann.1122 Es handelt sich nicht um ein Wissen,
das sich vermitteln lässt, das heißt, das man durch eine gelehrte Person ein für allemal
erlernen könnte, sondern eher um ein Können. Dieses Können kann man wiederum lediglich
durch eigene Erfahrung und Übung erwerben und nur allmählich ausbauen.
Unbeantwortet bleibt weiterhin die Frage, warum die Urteilskraft nicht lehrbar ist und
sich lediglich durch eigene Erfahrung erwerben lässt. Der Grund hierfür liegt auf der Hand:
Eine Lehre der Urteilskraft könnte nur Regeln lehren, welche wiederum notwendig an dem
Problem ihrer Anwendung ihre Grenze finden würden. Eine Lehre der Urteilskraft würde
somit an dem Problem des unendlichen Regelregresses scheitern. Dieses Problem wird von
Kant klar gesehen. In der Anthropologie heißt es diesbezüglich: „Sollte es [...] Lehren für die
Urtheilskraft geben, so müßte es allgemeine Regeln geben, nach welchen man unterscheiden
könnte, ob etwas der Fall der Regel sein oder nicht: welches eine Rückfrage ins Unendliche
abgiebt“.1123 An dieser Stelle ist es wichtig sich klar zu machen, dass die Funktion der
Urteilskraft darin besteht zu unterscheiden, in welchen jeweils unterschiedlichen Fällen die
Vernunftgesetze anzuwenden sind. Die Urteilskraft bezieht sich somit auf Situationen, die
niemals gleich sind und weder notwendig noch unmöglich sind. Ihr Gegenstand ist somit
jener der Kontingenz und des Unvorhersehbaren. Weil die Situationen, über welche die
Urteilskraft zu entscheiden hat, immer variieren und auch anders sein könnten, wie sie
tatsächlich sind, kann das Verfahren und das Ergebnis der Urteilskraft nicht von vornherein
festgelegt sein. Im Unterschied zu einer jeden Wissenschaft, die ihr Wissen explizit in
1118
KrV: III, 132
KrV: III, 131
1120
KrV: III, 132
1121
Vgl. GMS: IV, 389
1122
Vgl. GMS: IV, 389; Gemeinspruch: VIII, 275; Anthropologie: VII, 199
1123
Anthropologie: VII, 120; Vgl. auch KUK: V, 169
1119
- 213 -
Propositionen ausdrücken kann, kann das Verfahren und das Ergebnis der Urteilskraft nicht
ein für allemal stringent demonstriert werden. Die Erkenntnisse der Urteilskraft lassen sich
nicht durch Propositionen ausdrücken. Der Versuch die Urteilskraft in Propositionen zu
fassen, ist zum Scheitern verurteilt, weil ihr Gegenstand jener der Zufälligkeit und des
Unabsehbaren ist.
Eine interessante Konsequenz, welche sich daraus ergibt, ist, dass ein spezifisches
Fachwissen nicht ausreicht, um zu wissen, ob eine Situation als Fall eines allgemeinen
Situationstyps aufgefasst werden kann. So schreibt Kant folgendes dazu: „Ein Arzt daher, ein
Richter, oder ein Staatskundiger kann viel schöne pathologische, juristische oder politische
Regeln im Kopfe haben in dem Grade, daß er selbst darin gründlicher Lehrer werden kann,
und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, entweder, weil es ihm an
natürlicher Urtheilskraft (obgleich nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine
in abstracto einsehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann,
oder auch darum weil er nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte zu diesem
Urtheile abgerichtet worden“.1124 Auch für die Politik ist somit Erfahrung wichtiger als
Fachwissen allein. Selbst wer einen guten Verstand und gute Fachkenntnisse hat, verfügt
nicht notwendigerweise über die Fähigkeit von ihnen auf angemessene Weise Gebrauch zu
machen. In der Idee schreibt Kant dazu, dass zu der richtigen Erkenntnis der
Vernunftprinzipien und zum erforderlichen guten Willen vor allem noch eine „durch viel
Weltläufe geübte Erfahrenheit“1125 erforderlich ist.
Die Tatsache, dass die Urteilskraft nicht lehrbar, sondern kontextgebunden ist, reicht
aus, um den Vorwurf zu entkräften, dass Kants Ethik im Allgemeinen und seiner Rechtslehre
im Speziellen individualitätsfeindlich und kontextblind sei. Das individuelle Vermögen
fallgerecht die Anwendung des moralischen Gesetzes zu beurteilen ist im Gegenteil für die
Kantische Ethik von ganz zentraler Bedeutung.
Abschließend zu diesem Kapitel kann festgehalten werden, dass Kant in der
Friedensschrift der Urteilskraft eine weitaus wichtigere Rolle einräumt, als man durch eine zu
flüchtige Lektüre annehmen könnte. Diese bestimmt weder das Material noch die Form, sorgt
jedoch für die fallgerechte Anwendung der Prinzipien des Rechts. Die wichtige Funktion,
welche die Urteilskraft innerhalb Kants Friedenstheorie einnimmt, zeigt nicht nur
exemplarisch, dass Kant ein reiches Bewusstsein für den Übergang zwischen den apriorischen
Prinzipien des Rechts und der empirischen Realität hatte, sondern zeigt zugleich, wie
ungereimt es ist, Kant vorzuwerfen, er unterscheide nicht zwischen Recht und Politik oder
reduziere die Politik auf einen bloßen Verwaltungsprozess, ohne Rücksicht auf konkrete
Situationen und auf die Individualität des politisch Handelnden. Die Politik bewegt sich in
einem Rahmen, welcher verbindlich von der Moral und dem Recht vorgeschrieben wird.
Innerhalb dieses verbindlichen Rahmens steht aber der Politik die Entscheidung über Mittel
und Wege frei. Im etymologischen Sinne des Wortes kann man somit nicht von einer
Autonomie der Politik sprechen. Autonomie bedeutet Selbstgesetzgebung. Davon kann aber
nicht die Rede sein. Die Politik ist kein autonomes Handlungsfeld, welches sich seine Regeln
selber geben kann, wohl aber ein Feld, innerhalb welches dem Politiker ein Freiraum für
eigenständige Entscheidungen bleibt. Deshalb kann in diesem Zusammenhang von
Eigenständigkeit der Politik gesprochen werden.
Diese These steht der lang verbreiteten Geringschätzung der Friedensschrift durch die
Sekundärliteratur entgegen. Sie berichtigt die allgemeine Ansicht, dass die Friedensschrift
lediglich für seine vernunftrechtliche Konzeption einer Weltfriedensordnung von Bedeutung
ist. In Anlehnung an die Arbeiten von Volker Gerhardt und Otfried Höffe wurde hier gezeigt,
dass es einerseits abwegig ist, wenn man wie Hannah Arendt behauptet, dass die
1124
1125
KrV: III, 132
Idee: VIII, 23
- 214 -
Friedensschrift politiktheoretisch unerheblich ist, weil sie so viel Ironie enthalte, und
andererseits dass es entschieden zu wenig ist, wenn man wie Georg Geismann die
Friedensschrift lediglich als Rechtstheorie vom Weltfrieden begreife.
5. Über das Verhältnis von Philosophie und Politik bei Kant
Kant fügt in die zweite Auflage der Friedensschrift von 1796 einen zweiten Zusatz
unter der Überschrift »Geheimer Artikel zum ewigen Frieden« ein. Gegen die nicht nur
damals vorherrschende Geheimdiplomatie stellt Kant zwei Forderungen auf, welche die
Schaffung eines Zustandes des Weltfriedens förderlich sein sollen.
Die erste Forderung besteht darin, dass man den Philosophen ein Recht auf freie und
öffentliche Meinungsäußerung gewähren soll. Für Kant soll der Staat den Philosophen „frei
und öffentlich über die allgemeine Maximen der Kriegsführung und Friedensstiftung reden
lassen“.1126 Eine staatliche Ermutigung dazu ist gar nicht nötig, da die Philosophen, dies
schon von selbst tun werden, wenn man es ihnen nur nicht verbietet.1127 Es reicht also aus,
dass es keine staatliche Aufsicht oder Zensur gibt, also dass man die „Freiheit der Feder“1128
garantiert, damit die Philosophen von selbst ihrer „Verpflichtung durch allgemeine (moralisch
gesetzgebende) Menschenvernunft“1129 nachkommen. Was Kant hier fordert, ist nichts
anderes als seine bereits in der Aufklärungsschrift von 1784 formulierte Forderung, „von
seiner Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen“.1130
Die zweite Forderung des geheimen Artikels zum ewigen Frieden lautet: „Die
Maximen der Philosophen über die Bedingungen der Möglichkeit des öffentlichen Friedens
sollen von den zum Kriege gerüsteten Staaten zu Rathe gezogen werden“.1131 Das hier von
Kant vorgetragene Argument lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Wenn man den
Frieden wirklich will, dann ist es pragmatisch geboten (Kant selbst schreibt: „sehr ratsam“)
auf das zu hören, was die Philosophen bezüglich der Grundsätze des Staats-, Völker- und
Weltbürgerrechts zu sagen haben. Die zweite Forderung geht also weiter als die erste. Was
Kant hier fordert, ist nicht mehr nur, dass man die Philosophen uneingeschränkt „sprechen“
lässt, sondern sogar, dass man auf sie „höre“.
Mit diesen beiden Forderungen trägt Kant zu einer neuen Bestimmung des
Verhältnisses von Politik und Philosophie bei. Der (zunächst unerwähnte) Bezugspunkt der
Diskussion ist dabei Platons sogenannte Philosophen-König-Satz, wonach Philosophen
regieren müssen, wenn der Staat wohlgeordnet und glücklich sein soll: „Wenn nicht [...]
entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die jetzt so genannten Könige
und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren und also dieses beides
zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philosophie, […] eher gibt es keine Erholung von
dem Übel für die Staaten“.1132 Selbst wenn das platonische Ideal einer Philosophen-Herrschaft
über Jahrhunderte hinweg breite Zustimmung unter den Philosophen fand, ist es nicht
alternativlos geblieben. Im Unterschied zu Platon z. B. schreibt bereits Aristoteles, dass der
Philosoph nicht selbst die Herrschaft ausüben soll und dass der Politiker auf den Philosophen
hören soll: „Philosophie zu treiben ist für einen König nicht nur nicht notwendig, sondern
sogar hinderlich; dagegen soll er auf wirkliche Philosophen hören und ihnen folgen“.1133
1126
Frieden: VIII, 369
Vgl. Frieden: VIII, 369
1128
Gemeinspruch: VIII, 304
1129
Frieden: VIII, 369
1130
Aufklärung: VIII, 36 (meine Hervorhebungen)
1131
Frieden: VIII, 368
1132
Platon: Der Staat, übersetzt von Friedrich Schleiermacher, Berlin 1828, 473
1133
Aristoteles: Das Königtum, übersetzt von Wilhelm Nestle, Stuttgart 1977, S. 76.
1127
- 215 -
Im zweiten Zusatz schließt sich Kant also Aristoteles an. Er lehnt nämlich sowohl eine
sich in der Person des Philosophenkönigs ergebende Einheit von Philosophie und Politik, als
auch eine komplette Trennung der beiden Bereiche ab. Kant spricht sich viel mehr für eine
Arbeitsteilung von Philosophie und Politik unter dem Primat der ersteren aus. Er beschränkt
dabei die philosophische Tätigkeit auf die Bestimmung der Vernunftprinzipien des Rechts
und überlässt die Anwendung derselben auf vorkommende Erfahrungsfälle vollständig dem
Politiker.
Es gibt somit eine Eigenständigkeit der beiden Bereiche. Politik und Philosophie
dürfen nicht (wie bei Platon) zusammenfallen, sondern haben jeweils eine eigenständige
Leistung zu erbringen. Zu Recht schreibt Volker Gerhardt, dass Kant „jeder Personalunion
zwischen Philosophie und Politik eine kompromißlose Absage erteilt“.1134 Eine solche
Personalunion wird von Kant nicht nur als unwahrscheinlich, sondern auch als unerwünscht
abgelehnt. Kants Antwort auf den Philosophen-König-Satz heißt dementsprechend: „Daß
Könige philosophiren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch
nicht zu wünschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft unvermeidlich
verdirbt“.1135 Im Unterschied zu Platon, für den die Philosophenkönige sich nicht
korrumpieren lassen1136, würde Kants zufolge eine zu enge Verwicklung der Philosophen in
den konkreten politischen Tätigkeiten ihre Unabhängigkeit und Objektivität
beeinträchtigen.1137 Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass Kant Zweifel nicht nur an
der Möglichkeit des platonischen Ideals einer Identität von Politik und Philosophie sondern
auch an ihrer Wünschbarkeit erhebt.
Für Kant verdirbt der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft. Nur weil sie von
der Macht unabhängig bleiben, können die Philosophen als die „natürlichen Verkündiger und
Ausleger“1138 der Vernunftprinzipien des Rechts bezeichnet werden. Dies erklärt auch warum
Kant darauf verzichtet, den Philosophen Sonderrechte und eine Sonderstellung im Staat
zuzuerkennen. Es kommt nicht einmal in Frage, dass der „Staat den Grundsätzen des
Philosophen vor den Aussprüchen des Juristen (des Stellvertreters der Staatsmacht) den
Vorzug einräumen müsse“.1139 Philosophen sind (der Idee nach) nur Anwälte der allgemeinen
Menschenvernunft. Ihr Vorteil ist, so Kants weitere Erläuterung, dass sie „ihrer Natur nach
der Rottirung und Clubbenverbündung unfähig“1140 sind. Die Tatsache, dass Philosophie und
Politik zwei eigenständige Bereiche sind, hat nicht zu bedeuten, dass sie getrennt voneinander
bestehen müssen. Es gibt für Kant nicht nur eine Vereinbarkeit von Philosophie und Politik,
sondern vor allem eine Komplementarität. Politik und Philosophie sind sowohl im Hinblick
1134
Gerhardt, Volker: Der Thronverzicht der Philosophie: Über das moderne Verhältnis von Philosophie und
Politik bei Kant, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S.
180.
1135
Frieden: VIII, 369
1136
Platon: Der Staat, 484a ff.
1137
Weil die Nähe zur Macht das freie Urteil verdirbt, sollen sich die „Gelehrten“ bzw. Philosophen, wie Kant an
Kiesewetter in Oktober 1795 schreibt, nicht „mit den Politikern vom Handwerk verbrüdern“ (Briefe: XII, 45).
1138
Streit: VII, 89
1139
Frieden: VIII, 369
1140
Frieden: VIII, 369; Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die scharfen Kritiken, die Kant gegen die
Juristen ausübt. Im zweiten Zusatz der Friedensschrift spricht Kant den Juristen die Fähigkeit ab wahrhaft
unabhängig zu urteilen: „Der [Jurist], der die Wage des Rechts und nebenbei auch das Schwert der Gerechtigkeit
sich zum Symbol gemacht hat, bedient sich gemeiniglich des letzteren, nicht um etwa blos alle fremde Einflüsse
von dem ersteren abzuhalten, sondern wenn die eine Schale nicht sinken will, das Schwert mit hinein zu legen
(vae victis), wozu der Jurist, der nicht zugleich (auch der Moralität nach) Philosoph ist, die größte Versuchung
hat“ (369). Wenige Seiten danach erklärt Kant: „Statt der Praxis, deren sich diese staatskluge Männer rühmen,
gehen sie mit Praktiken um, indem sie blos darauf bedacht sind, dadurch, daß sie der jetzt herrschenden Gewalt
zum Munde reden (um ihren Privatvortheil nicht zu verfehlen), das Volk und womöglich die ganze Welt preis zu
geben“ (373). Kant spricht hier den Juristen die Fähigkeit ab, wahrhaft unabhängig zu urteilen. Ihnen fehlt die
dafür notwendige Urteilsfreiheit.
- 216 -
auf ihre jeweiligen Aufgaben als auch im Hinblick auf die dafür erforderlichen Kompetenzen
unterschieden und komplementär.
Politik und Philosophie sind aufeinander angewiesen. Kant grenzt den
Aufgabenbereich der Philosophen ein. Ihre Kompetenz erstreckt sich lediglich auf den
begrenzten, aber grundlegenden Anteil. Gemeint ist die Bestimmung der Vernunftprinzipien
des Rechts. Die Kompetenz der Philosophen erstreckt sich jedoch nicht auf das
komplementäre Problem der Anwendung jener Vernunftprinzipien auf die Erfahrungsfälle.
Die Kompetenz, die von den Philosophen für die Bestimmung der Vernunftprinzipien
gefordert ist, ist das „freie Urtheil der Vernunft“.1141 Die Kompetenz, die von den Politikern
für die Anwendung der Vernunftprinzipien erforderlich ist, ist wiederum die Urteilskraft.
Weil von den Philosophen und Politikern jeweils andere Kompetenzen gefragt sind, kann
nicht angenommen werden, dass gute Philosophen auch gute Politiker sind.
Entgegen einer „lichtscheuen Politik“1142 versucht Kant zu zeigen, dass es im
wohlverstandenen Eigeninteresse der Politik ist, die Philosophen uneingeschränkt reden zu
lassen. Es ist sowohl der Philosophie als auch der Politik von Nutzen, wenn man den
Philosophen frei und öffentlich sprechen lässt. Das geforderte Recht auf freie
Meinungsäußerung ist „beiden zu Beleuchtung ihres Geschäfts unentbehrlich“.1143 Das Recht
auf freie Meinungsäußerung soll nämlich kontradiktorische Debatten ermöglichen und somit
helfen allmählich größere Klarheit bezüglich der wahren Grundsätze der Kriegführung und
Friedensstiftung zu gewinnen. Dies lässt wiederum auch eine Annäherung an das angestrebte
Ziel des allgemeinen Friedens hoffen, wenn sich die friedenswilligen Politiker in ihren
Verhalten an diesen Grundsätze orientieren. In der ersten Kritik heißt es in diesem Sinne: „Zu
dieser Freiheit [des Vernunftgebrauchs; F. R.] gehört denn auch die, seine Gedanken, seine
Zweifel, die man sich nicht selbst auflösen kann, öffentlich zur Beurtheilung auszustellen […]
Dies liegt schon in dem ursprünglichen Rechte der menschlichen Vernunft, welche keinen
anderen Richter erkennt, als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein
jeder seine Stimme hat; und da von dieser alle Besserung, deren unser Zustand fähig ist,
herkommen muß, so ist ein solches Recht heilig und darf nicht geschmälert werden“.1144 Es ist
dem Denken über den Frieden sowie dem Fortschritt zu demselben förderlich, wenn dieses
Denken öffentlich und ohne Einschränkung geschieht.
Abschließend soll noch die Frage beantwortet werden, was genau unter den von Kant
erwähnten Philosophen zu verstehen ist. Im zweiten Zusatz scheint Kant zunächst das Recht
auf freie Meinungsäußerung nur für die Philosophen zu fordern. Diese Forderung lässt sich
allerdings nicht auf eine bestimmte Berufsgruppe einschränken. Sie bezieht sich viel mehr auf
alle Menschen, die fähig sind an den philosophischen Debatten teilzunehmen. Während für
Platon nur sehr wenige Menschen zur Philosophie fähig sind, genügt bei Kant die „allgemeine
Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat“.1145 Otfried Höffe fasst dies
folgendermaßen zusammen: „An die Stelle von Platons Aristokratie des Geistes […] tritt also
eine Demokratie der Vernunft“.1146 Hier bestätigt sich, das was bereits zuvor gesehen wurde:
Kant erwartet die Schaffung eines Zustandes des Weltfriedens nicht allein vom Handeln des
moralischen Politikers sondern auch von unten hinauf durch die Aufklärung des Volks. Kant
erwartet den Frieden nicht von einem „philosophierenden König“, sondern aus den
„königliche[n] Völker[n]“.1147 Zu Recht stellt Volker Gerhardt folgendes fest: „Dass nicht die
1141
Frieden: VIII, 369
Frieden: VIII, 386
1143
Frieden: VIII, 369
1144
KrV: III, 492 (meine Hervorhebungen)
1145
KrV: III, 492 (meine Hervorhebung)
1146
Höffe, Otfried: "Königliche Völker". Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie, Frankfurt a.
M. 2001, S. 176.
1147
Vgl. Frieden: VIII, 369
1142
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Philosophen, sondern die Volker selbst zu Königen werden – das ist die unüberbietbare
Hoffnung, die Kant Platon entgegensetzt“.1148
1148
Gerhardt, Volker: Der Thronverzicht der Philosophie: Über das moderne Verhältnis von Philosophie und
Politik bei Kant, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S.
191. Vgl. auch: Schneiders, Werner: Philosophenkönige und königliche Völker. Modelle philosophischer Politik
bei Platon und Kant, in: Filosofia Oggi 2, 1981, S. 165-175.
- 218 -
3. KAPITEL: DAS PROBLEM DER WIDERSPRUCHSFREIEN ANWENDUNG
RECHTSPRINZIPIEN IN DER POLITISCHEN WIRKLICHKEIT
DER APRIORISCHEN
Im vorherigen Kapitel wurde der systematische Stellenwert der Urteilskraft innerhalb
Kants Rechtstheorie vom Weltfrieden ausgiebig diskutiert. Es hat sich dabei gezeigt, dass
Kant nebst der rein rationalen Begründung der Rechtsprinzipien sich ebenfalls dem
komplementären Problem der Anwendung derselben Prinzipien auf die Erfahrungsfälle
widmet. Es wurde außerdem gesehen, dass Kant eine Handlungstheorie vertritt, die sich in
einen dreistufigen Beurteilungsprozess gliedern lässt. Zur Erinnerung seien hier die drei
Problemstufen einer fallgerechten Anwendung der Prinzipien des Rechts in der Wirklichkeit
kurz wieder aufgeführt. Gemeint sind erstens die Identifikation einer moralischen Aufgabe,
dann die konkrete Pflichterfüllung und letztlich die Abwägung einander entgegengesetzter
Prinzipien. Die ersten beiden Problemstufen wurden im letzten Kapitel ausführlich erläutert
und diskutiert. Es hat sich dabei herausgestellt, dass Kants Rechtstheorie vom Weltfrieden die
absolute Verbindlichkeit universeller Rechtsprinzipien mit einem nicht zu unterschätzenden
Spielraum für Politik bezüglich ihrer konkreten Anwendung auf die Einzelfälle verbindet. Auf
die dritte Stufe wurde dagegen nur flüchtig eingegangen. Die zuvor vorgetragenen
Ausführungen beschränkten sich dabei vornehmlich auf das Problem des Notrechts.
In der Sekundärliteratur wird zumeist davon ausgegangen, dass Kants Antwort auf das
Problem des Pflichtenkonflikts und jenes der Abwägung zwischen den widerstreitenden
Pflichten unzureichend ist. Es wurde bereits kurz darauf hingewiesen, dass Kant die
Möglichkeit einer Kollision von Pflichten ausdrücklich ausschließt. Kants Argumentation
bezüglich der Unmöglichkeit von Pflichtenkonflikten hat vor allem in der angelsächsischen
Sekundärliteratur viele Diskussionen ausgelöst aber nur wenig Zustimmung gefunden.1149 In
den gegenwärtigen Diskussionen wird zumeist davon ausgegangen, dass Pflichtenkonflikte
unvermeidbar sind. Nicht selten wird die Unvermeidbarkeit von Pflichtenkonflikten sogar als
die Grenze einer jeden deontologischen Ethik angesehen.
Pflichtenkonflikte beziehen sich auf Situationen, in welchen die Menschen zu
Handlungen verpflichtet sind, welche für sich selbst möglich, jedoch nicht zugleich
durchführbar sind. Dies bedeutet, dass die Erfüllung der einen Pflicht notwendig mit der
Unterlassung oder sogar der Verletzung einer anderen Pflicht einhergeht. Es wurde bereits
gesehen, dass solche Pflichtenkonflikte vorliegen können, wenn in einer gegebenen Situation
einander entgegengesetzte Rechts- und Tugendpflichten einzuhalten sind (intraPflichtenkonflikt) oder wenn für die Erfüllung einer besonderen Rechtspflicht mehrere
Handlungen gefragt sind, die in jeweils unterschiedliche Richtungen weisen (internerPflichtenkonflikt). Im Gegensatz zu einem großen Teil der Literatur soll im Folgen gezeigt
werden, dass Kant zwei stichhaltige theoretische Instrumente entwickelt hat, auf welche die
Urteilskraft zurückgreifen kann, um mögliche Prinzipienkonflikte zu vermeiden.
In diesem Kapitel geht es darum, die zwei zuvor erwähnten Möglichkeiten von
Prinzipienkonflikten und die Auswege davon exemplarisch zu erläutern und kritisch zu
diskutieren. Entsprechend gliedert sich dieses Kapitel in zwei Abschnitte. Der erste Abschnitt
behandelt das viel diskutierte Problem der intra-Pflichtenkollision am Beispiel Kants
1149
Um nur einige Beispiele zu erwähnen: Donagan, Alan: Consistency in Rationalist Moral Systems, in: Moral
Dilemmas, hrsg. v. Christopher W. Gowans, Oxford 1987, S. 271-290; Gowans, Christopher W.: Innocence
Lost: An Examination of Inescapable Moral Wrongdoing, Oxford 1994, insbesondere S. 187ff.; Guyer, Paul:
Kant‘s System of Nature and Freedom. Selected Essays, Oxford 2005; Hill, Thomas E.: Moral Dilemmas, Gaps
and Residues: A Kantian Perspective’, in: Moral Dilemmas and Moral Theory, hrsg. v. H. E. Mason, Oxford
1996, S. 167-198; Nussbaum, Martha C.: The Fragility of Goodness: Luck and Ethics in Greek Tragedy and
Philosophy, Part II, Cambridge 2001, S. 31 ff.; O’Neill, Onora: Instituting Principles: Between Duty and Action,
in: Kant’s Metaphysics of Morals: Interpretative Essays, hrsg. v. Mark Timmons, Oxford 2002, S. 331-347;
Sullivan, Roger J.: Immanuel Kant's Moral Theory, Cambridge 1989, insbesondere S. 73ff.
- 219 -
rechtsphilosophischer Erörterung der Lüge (1). Diesbezüglich wird häufig behauptet, dass
hier offenbar einen Widerstreit der Pflichten vorliegt, da eine Rechtspflicht (das Lügenverbot)
und eine Tugendpflicht (das Hilfsgebot) sich gegenseitig ausschließen, obwohl beiden
Notwendigkeit zukommt. Es soll dabei insbesondere auf Kants Begründung der absoluten
Vorrangstellung der vollkommenen Rechtspflichten vor den unvollkommenen
Tugendpflichten eingegangen werden. Der zweite und abschließende Abschnitt behandelt
seinerseits das ebenso viel diskutierte Problem des internen-Pflichtenkonflikts (2). Er
untersucht Kants Begründung der Erlaubnisgesetze der reinen Vernunft am Beispiel des
dritten Präliminarartikels, wobei sich zeigen wird, dass Kant in der Friedensschrift der Politik
einen Freiraum zugesteht, der selbst auf einen vernunftrechtlichen Grund zurückgeht.
1. Das Problem der Pflichtenkollision am Beispiel Kants rechtsphilosophischer
Erörterung der Lüge
Kaum eine andere moral- und rechtsphilosophische These Kants hat eine derart
verbreitete Ablehnung hervorgerufen wie die mehrmals wiederholte Behauptung man müsse
in seinen Aussagen immer und unter allen Umständen wahrhaftig sein. Für Kant gibt es eine
absolute Pflicht zur Wahrhaftigkeit, die keine Ausnahme zulässt, selbst dann nicht, wenn man
durch eine Lüge die Absicht verfolgt, ein mögliches Verbrechen zu verhindern. Diese
umstrittene These wird von manchen Kommentatoren gerne als Beleg dafür angeführt, dass
Kants Versuch rein apriorische Gesetze aufzustellen und zu begründen letztlich in einem
weltfremden Rigorismus mündet.1150 Neben der immer noch gängigen Kritik an der inneren
Konsistenz und damit Gültigkeit der Kantischen Argumentation, wird ebenfalls behauptet,
dass diese Argumentation zu einem ausweglosen Widerstreit der Pflichten führt. Gemeint ist
etwa der Konflikt zwischen dem rechtlichen Gebot der Wahrhaftigkeit und dem moralischen
Gebot der Hilfe bedürftiger Menschen.1151 Dieser Widerstreit wäre in dem Sinne nicht lösbar,
als der Handelnde (gleichwohl welche Entscheidung er auch trifft) gezwungen wäre, eine
bestehende Pflicht zu verletzen und damit etwas zu tun, was er vernünftigerweise nicht tun
sollte.
Die Kritik richtet sich dabei vornehmlich an Kants Ausführungen in dem kleinen,
gegen Benjamin Constant gerichteten Aufsatz Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe
zu lügen aus dem Jahre 1797.1152 Selbst wenn die philosophische Debatte sich allzu häufig auf
Kants Erörterungen im sogenannten Lügenaufsatz beschränkt, darf nicht übersehen werden,
1150
Im Gegensatz dazu versuchen verschiedene Autoren zu zeigen, dass Kants These durchaus konsistent und
ernst zu nehmen ist. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang vor allem auf die Beiträge von Georg Geismann,
in welchen die bisher stärkste Argumentation von Julius Ebbinghaus präzisiert wird. Vgl. Ebbinghaus, Julius:
Kants Ableitung des Verbotes der Lüge aus dem Rechte der Menschheit, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1:
Sittlichkeit und Recht. Praktische Philosophie 1929-1954, hrsg. v. Hariolf Oberer und Georg Geismann, Bonn
1986, S. 407-420; Geismann, Georg: Kant und kein Ende. Studien zur Rechtsphilosophie, Band 2, Würzburg
2010, S. 229-248; Ders.: Versuch über Kants rechtliches Verbot der Lüge, in: Kant. Analysen - Probleme Kritik, hrsg. v. Hariolf Oberer und Gerhard Seel, Würzburg 1988, S. 293-316. Erwähnenswert sind des Weiteren
die Beiträge von Otfried Höffe und Hans Wagner. Vgl. Höffe, Otfried: Kategorische Rechtsprinzipien. Ein
Kontrapunkt der Moderne, Frankfurt a. M. 1990, 3. Aufl. 1995, Kapitel 7 (Das Verbot des falschen
Versprechens); Wagner, Hans: Kant gegen „ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen“, in: KantStudien 69, 1978, S. 90-96.
1151
Um nur ein Beispiel unter vielen zu nennen: “In the refugee example, the person is faced with what is clearly
a conflict of duties, for he has a duty to help the refugee and a duty to tell the truth. In this case, it should be easy
to resolve the conflict, but Kant’s theory cannot handle it […] Kant’s theory cannot handle conflicts of duty”
(Cornman, James W. / Lehrer, Keith: Philosophical Problems and Arguments: An Introduction, Indianapolis
1992, S. 340).
1152
Einen guten Überblick über diese Debatte einschließlich der Vorgeschichte der Kontroverse zwischen
Constant und Kant bietet der Band: Geismann, Georg/Oberer, Hariolf (Hrsg.): Kant und das Recht der Lüge,
Würzburg 1986.
- 220 -
dass Kant der Lüge eine erhebliche Aufmerksamkeit in seinem Gesamtwerk beimisst.1153
Wichtige Textstellen zur Lüge sind zunächst in Kants reifen Hauptwerken zur Moral- und
Rechtsphilosophie zu finden. Dazu gehören etwa die Grundlegung1154 sowie die Rechts-1155
und Tugendlehre1156 der Metaphysik der Sitten. Einige interessante Textstellen lassen sich
ebenfalls in den kleineren Schriften Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in
der Theodizee1157 aus dem Jahre 1791 sowie in der Verkündigung des nahen Abschlusses
eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie1158 aus dem Jahre 1796 finden. Im hier
diskutierten Zusammenhang soll außerdem auf die Friedensschrift hingewiesen werden, selbst
wenn der Begriff der Lüge dort gar nicht ausdrücklich vorkommt.1159 Weitere wichtige
Textquellen für eine möglichst umfassende Auseinandersetzung mit Kants Behandlung der
Lüge finden sich letztlich in seinen Briefen1160 wie auch in seinem handschriftlichen
Nachlass1161 oder in den Nachschriften seiner Vorlesungen über Moralphilosophie.
Diesen verschiedenen Textquellen kommt wohlgemerkt nicht dieselbe Bedeutung zu.
Unter den kleinen, meist populäreren Schriften nimmt der Lügenaufsatz einen besonderen
Stellenwert ein, da sich Kant dort spezifisch und vor allem am ausführlichsten dem
rechtsphilosophischen Problem der Lüge widmet. Auf den folgenden Seiten soll deshalb
ausführlich auf Kants Argumentation im Lügenaufsatz eingegangen werden. Zugleich soll
jedoch versucht werden eine möglichst breite Textgrundlage heranzuziehen, um mögliche
Verschiebungen oder Selbstkorrekturen bezüglich des Kantischen Gedankens zum Problem
der Lüge und des Pflichtenkonflikts deutlich zu machen. Dies erklärt, dass neben den noch zu
Kants Lebzeiten veröffentlichten Werken auch der handschriftliche Nachlass und die
Vorlesungsnachschriften herangezogen werden.
Auf der Grundlage dieser breiten, heterogenen Textgrundlage soll die (nicht immer
einheitliche) Einstellung Kants zum Problem der Lüge erläutert werden. In Anlehnung an die
Arbeit von Julius Ebbinghaus und Georg Geismann soll in einem ersten Schritt gezeigt
werden, dass Kants Ablehnung eines bedingten Rechts zu lügen keinesfalls auf ein
rigoristisches Vorurteil gegen die Lüge zurückzuführen ist, sondern konsistent
rechtsphilosophisch begründet ist. In einem zweiten Schritt soll entgegen einer weit
verbreiteten Kritik gezeigt werden, dass Kant sich sehr wohl dem Problem der
Pflichtenkollision bewusst war und dass seine notorisch ignorierte Antwort hierauf alles
anderes als abwegig ist. Abschließend soll gezeigt werden, dass Kant mit der Begründung der
Vorrangigkeit der vollkommenen Rechtspflichten vor den unvollkommenen Tugendpflichten
ein stichhaltiges theoretisches Instrument entwickelt, um einen möglichen Widerstreit der
Pflichten zu vermeiden.
1.1 Kants Definition
„Wahrhaftigkeit“
der
Lüge:
Die
Unterscheidung
von
„Wahrheit“
und
Es besteht zunächst Erklärungsbedarf darüber, was genau unter dem Begriff der Lüge
überhaupt zu verstehen ist. Die erste Frage, die es vor diesem Hintergrund zu beantworten
gilt, ist die, ob die Lüge bloß mit einer unwahren Aussage gleichzusetzen ist. Anders
1153
Dies bestätigt ein flüchtiger Blick auf die von Andreas Roser und Thomas Mohrs herausgegebene KantKonkordanz: Unter dem Stichwort „lügen“ werden dort nicht weniger als 109 Einträge verzeichnet.
1154
Vgl. GMS: IV, 389, 402f., 422, 429f., 441
1155
Vgl. RL: VI, 238
1156
Vgl. TL: VI, 428ff.
1157
Vgl. Theodizee: XXII, 238f.
1158
Vgl. Verkündigung: VIII, 421f.
1159
Vgl. Frieden: VIII, 355, 374f.
1160
Vgl. Der Brief an Fräulein Maria von Herbert im Frühjahr 1792 (XI, 331ff.)
1161
Vgl. Kants Reflexionen zur Moral- (XIX, 92-317) und Rechtsphilosophie (XIX, 442-613).
- 221 -
formuliert heißt es: Kann der Begriff der Lüge anhand von dem gegensätzlichen Begriffspaar
Wahrheit und Unwahrheit überhaupt verstanden werden?
Gleich zu Beginn seiner Entgegnung auf Benjamin Constant in der Schrift Über ein
vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen schreibt Kant diesbezüglich: „Zuerst ist
anzumerken, daß der Ausdruck: ein Recht auf die Wahrheit haben, ein Wort ohne Sinn
ist“.1162 Im unmittelbaren Anschluss daran führt Kant folgendermaßen fort: „Man muß
vielmehr sagen: der Mensch habe ein Recht auf seine eigene Wahrhaftigkeit (veracitas), d. i.
auf die subjective Wahrheit in seiner Person. Denn objectiv auf eine Wahrheit ein Recht
haben, würde so viel sagen als: es komme [...] auf seinen Willen an, ob ein gegebener Satz
wahr oder falsch sein solle; welches dann eine seltsame Logik abgeben würde“.1163 Kant trifft
hier eine grundsätzliche, begriffliche Unterscheidung zwischen „Wahrheit“ und
„Wahrhaftigkeit“. Unter formaler Wahrheit ist die Übereinstimmung der Gedanken mit den
Gesetzen des Verstandes zu verstehen. Im Unterschied dazu bezeichnet die Wahrhaftigkeit
die Übereinstimmung des Geäußerten mit dem Denken oder, um es anders zu formulieren, die
Übereinstimmung dessen, was (äußerlich) gesagt wird mit dem was (innerlich) gedacht wird.
Die Frage, ob das Gesagte auch der Gesetzmäßigkeit des Verstandes entspricht, ist hier ohne
Belang. Um wahrhaft zu sein, reicht es aus, wenn das Gesagte dem Denken entspricht.
Erklärungsbedürftig ist hier, warum Kant den Ausdruck eines „Rechts auf die Wahrheit
haben“ für sinnlos hält. Hierzu gibt Kant folgende Antwort: Der Mensch kann nur ein Recht
auf Wahrhaftigkeit, jedoch nicht auf Wahrheit haben, weil er ein endliches Vernunftwesen ist,
welches sich immer irren kann. Da der Mensch begrenzt und fehlbar ist, kann von ihm nicht
erwartet werden, dass er immer die Wahrheit sagt. Die Menschen können etwas Falsches
sagen und dennoch der Überzeugung sein, dass sie die Wahrheit sagen. Den Menschen ein
Gesetz aufzuerlegen, jederzeit die Wahrheit zu sagen, hieße somit, ihnen etwas Unmögliches
abzuverlangen. Es zeigt sich, dass die Menschen kein Recht auf Wahrheit haben können, weil
es keine korrespondierende Pflicht geben kann.
Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen lässt sich die Lüge allgemein als eine
vorsätzlich unwahre Deklaration definieren. Eine genauere Definition der Lüge gibt Kant in
der kleinen Schrift Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden
in der Philosophie. Dort heißt es: „Eine Lüge […] ist zwiefacher Art: 1) wenn man das für
wahr ausgiebt, dessen man sich doch als unwahr bewußt ist, 2) wenn man etwas für gewiß
ausgiebt, wovon man sich doch bewußt ist, subjectiv ungewiß zu sein“.1164 Die Lüge im zuvor
definierten Sinne kann sowohl innerlich als auch äußerlich sein.1165 Eine innerliche Lüge liegt
dann vor, wenn man sich selbst, aus welchem Grund auch immer, belog. Eine äußerliche
Lüge dagegen liegt vor, wenn eine unwahrhaftige Aussage vor mindestens einer dritten
Person ausgesprochen ist. Die Lüge im zuvor definierten Sinne unterscheidet sich von der
Täuschung dadurch, dass letztere keine Aussage voraussetzt. Die Lüge ist spezifisch auf
Sprache angewiesen, nicht aber die Täuschung. Dies lässt sich an einem einfachen Beispiel
festhalten: Man täuscht, wenn man vorgibt zu schlafen, um die Anderen heimlich zu
beobachten. Man lügt wiederum, wenn man anschließend sagt, man habe geschlafen. Die
Lüge setzt also immer eine Aussage voraus. Dies hat wiederum zu bedeuten, dass die
Enthaltung bei der Kommunikation nicht als Lüge betrachtet werden kann.
Bisher wurde gesehen, dass es kein Recht auf Wahrheit geben kann, weil der Mensch
als ein endliches Vernunftwesen niemals sicher sein kann, keine Unwahrheit aus Irrtum zu
sagen. Wenn eine Unwahrheit immer irrtümlich ausgesprochen werden kann, kann dies
jedoch nicht der Fall für eine Lüge sein. Eine Lüge erfolgt immer wissentlich und willentlich.
1162
Vermeintes Recht: VIII, 426
Vermeintes Recht: VIII, 426
1164
Verkündigung: VIII, 421f.
1165
Vgl. Verkündigung: VIII, 421f.
1163
- 222 -
Die Tatsache, dass man den Menschen die Verantwortung für irrtümliche Aussagen nicht
übertragen kann, hat längst noch nicht zu bedeuten, dass sie verantwortungslose Aussagen
machen dürfen. Die Menschen sind dazu verpflichtet, wenn sie eine Aussage machen
möchten, vor ihrem Gewissen zu prüfen, ob das, was sie sagen möchten tatsächlich dem
entspricht, was sie für die Wahrheit halten. Es liegt in ihrer Verantwortung nur das zu sagen,
was sie ehrlich für wahr halten. Kant nennt diese Gewissensbefragung die „formale
Gewissenhaftigkeit“.1166 Jene besteht in der Sorgfalt, „kein Fürwahrhalten vorzugeben, dessen
man sich nicht bewußt ist“.1167 In der Theodizee führt Kant zusammenfassend aus: „Daß das,
was Jemand sich selbst oder einem Andern sagt, wahr sei: dafür kann er nicht jederzeit stehen
(denn er kann irren); dafür aber kann und muß er stehen, daß sein Bekenntniß oder Geständnis
wahrhaft sei: denn dessen ist er sich unmittelbar bewußt. Er vergleicht nämlich im erstern
Falle seine Aussage mit dem Object im logischen Urtheile (durch den Verstand); im zweiten
Fall aber, da er sein Fürwahrhalten bekennt, mit dem Subject (vor dem Gewissen)“.1168
Im Folgenden soll kurz auf die Problematik der äußerlichen (besser: öffentlichen)
Lüge eingegangen werden. Dabei wird der Blick auf die berühmte Kontroverse zwischen
Benjamin Constant und Immanuel Kant gerichtet.
1.2 Kants Antwort auf Benjamin Constant in der Schrift Über ein vermeintes Recht, aus
Menschenliebe zu lügen
Kants Schrift Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen hat eine
philosophische Diskussion ausgelöst, die bis heute kontrovers geführt wird. Für manche
Kommentatoren war dabei die Versuchung offenbar zu groß, Kants These mit Argumenten zu
diskreditieren, welche dem Reflexionsniveau seiner dortigen Argumentation nicht gerecht
wird. Gemeint sind etwa jene Versuche, die Kants These auf seine vermeintliche
Altersschwäche zurückführen möchten.1169 Als zweifelhaften Beleg hierfür wird auf Kants
anfängliche Anmerkung im Lügenaufsatz hingewiesen, er könne sich erinnern, dass er an
irgend einer Stelle die Lüge gegenüber einem Mörder als Verbrechen bezeichnet habe, ohne
sich jedoch darauf besinnen zu können, wo er dies getan hat.1170 Nach dieser allzu einfachen
Interpretation wird Kants These als Ergebnis seines fortgeschrittenen Alters erklärt.
Gleichermaßen greift jene Kritik zu kurz, die Kants Ablehnung der Lüge als Ergebnis seiner
Erziehung auffasst. Abgesehen von diesen wenig überzeugenden Kritiken, sieht sich Kants
These dennoch schwerwiegender Kritik ausgesetzt. Darauf soll im nächsten Abschnitt näher
eingegangen werden.
a) Constants Begründung einer bedingten Pflicht auf Wahrheit
Die Veröffentlichung des Aufsatzes Über ein vermeintes Recht wurde bekanntlich
unmittelbar von Benjamin Constants Abhandlung Des réactions politiques hervorgerufen. Im
Kapitel VII dieser im März 1797 veröffentlichten Schrift unter der Überschrift Des principes
stellt Constant die These einer bedingten Pflicht auf Wahrheit auf. In dieser Schrift widmet
sich Constant jedoch nicht dem Problem der Lüge im Speziellen. Das Problem der Lüge wird
dort lediglich im Rahmen einer viel weitreichenderen Diskussion zum Verhältnis von
1166
Theodizee: VIII, 268
Theodizee: VIII, 268
1168
Theodizee: VIII, 267
1169
Dieser Erklärungsversuch ist selbst bei Herbert J. Paton zu finden. Vgl. Paton, Herbert J.: An alleged right to
lie. A problem in Kantian ethics, in: Kant und das Recht der Lüge, hrsg. v. Georg Geismann und Hariolf Oberer,
Würzburg 1986, S. 58f.
1170
Vgl. Vermeintes Recht: VIII, 425
1167
- 223 -
allgemeinen Grundsätzen und empirischer Wirklichkeit erörtert. Um Kants These besser
verstehen zu können, scheint es zunächst angebracht Constants Argumentation in seinen
Grundzügen darzustellen.
In seiner Schrift Des réactions politiques zeigt sich Benjamin Constant als ein
entschlossener Verteidiger des aufklärerischen Projekts einer prinzipiengeleiteten Politik.
Dabei geht es Constant allerdings nicht um die Begründung der abstrakten Prinzipien der
Moral und Politik, sondern vielmehr um die Frage nach deren konkreten Anwendung auf
vorkommende Fälle. Constants Hauptanliegen besteht somit in einer Vermittlung von
Normativität und Faktizität. Dieses Vorhaben lässt sich vor dem historischen Hintergrund der
Wende der französischen Revolution erklären: Nach der Terrorherrschaft aus dem Jahre 1793
hatten sich viele Zeitgenossen von der zunächst euphorisch gefeierten Revolution abgewendet
und das aufklärerische Projekt einer Politik nach Prinzipien der Vernunft aufgegeben. Auch
Constant teilt die Ansicht, dass die folgenblinde Anwendung von abstrakten Prinzipien zur
Terrorherrschaft der Jakobiner geführt hat. Constant verwirft jeden legalistischen Rigorismus,
der den Vernunftprinzipien widerspricht und letztlich in einem blanken Despotismus zu
münden droht. Ihm zufolge würde die bedingungslose Anwendung der abstrakten Prinzipien
der Moral und Politik das Zusammenleben der Menschen unmöglich machen. Zugleich sieht
er jedoch ein, dass eine bedingungslose Verwerfung derselben Prinzipien ebenso das
Zusammenleben der Menschen unmöglich machen würde. Aus diesem Grund verwirft
Constant die damals weit verbreitete Auffassung, wonach die als wahr erwiesenen, abstrakten
Prinzipien der Moral und der Politik verlassen werden sollen, weil sie unanwendbar scheinen.
Wenn man die abstrakten Prinzipien der Moral und Politik verwirft, weil es sich dabei um
weltfremde Theorien handelt, die aufgrund ihrer möglichen Folgen nicht für die Praxis gelten
können, dann stellt man alles der Willkür anheim. Man sollte also kein als wahr anerkanntes
Prinzip deshalb verwerfen, weil dessen möglichen Folgen für inakzeptabel gehalten werden.
Weiterhin unternimmt Constant den Versuch zwischen den abstrakten Prinzipien und
der konkreten menschlichen Wirklichkeit, durch „Zwischenprinzipien“ (principes
intermédiaires) zu vermitteln. Es geht also Constant nicht darum zu leugnen, dass es abstrakte
Prinzipien der Moral überhaupt gibt. Es geht ihm auch nicht darum zu zeigen, dass die
abstrakten Prinzipien der Moral nicht anwendbar sind. Constant geht vielmehr davon aus,
dass die Prinzipien der Moral die Möglichkeit ihrer Anwendung in sich tragen. Im Wortlaut
Constants heißt es: „[T]out principe renferme, soit en lui-même, soit dans son rapport avec un
autre principe, son moyen d’application. Un principe, reconnu vrai, ne doit donc jamais être
abandonné, quels que soient ses dangers apparents. […] La doctrine opposée est absurde dans
son essence et désastreuse dans ses effets“.1171
Für Constant besteht der scheinbare Widerspruch, welcher in jedem Prinzip liegt, das
sich als wahr erwiesen hat und gleichzeitig unanwendbar scheint, nur so lange bis ein
mittlerer Grundsatz gefunden ist, der definiert wie das Prinzip auf den einzelnen Fall
anzuwenden sei. Diesbezüglich schreibt Constant folgendes: „Toutes les fois qu’un principe,
démontré vrai, paraît inapplicable, c’est que nous ignorons le principe intermédiaire qui
contient le moyen d’application“.1172 Constant gibt allerdings nur wenige Hinweise, wie diese
mittleren Grundsätze zu finden sind. Constant zufolge sollte das abstrakte Prinzip zunächst
definiert werden. In dieser Definition sollte man den Verweis auf ein anderes Prinzip finden.
Die Verbindung zwischen beiden Prinzipien sollte dann das Mittel zur Anwendung enthalten.
Wenn dies nicht der Fall ist, sollte man diese Vorgehensweise mit einem weiteren Prinzip
wiederholen. Das Zwischenprinzip sollte früher oder später gefunden werden, wenn man das
neugefundene Prinzip seinerseits definiert und in Zusammenhang zu anderen Prinzipien stellt.
1171
1172
Constant, Benjamin: Des réactions politiques, Paris 2002, S. 95
Constant, Benjamin: Des réactions politiques, Paris 2002, S. 96
- 224 -
Im Rahmen seiner Erörterung zum Verhältnis von abstrakten Prinzipien und
empirischer Wirklichkeit kommt Constant dazu die Problematik der Lüge zu diskutieren. Dort
vertritt er die These, dass ein absolutes Lügenverbot das gesellschaftliche Zusammenleben
unmöglich machen würde. Er spricht sich demnach für eine bedingte Wahrheitspflicht aus.
An dieser Stelle besteht Erklärungsbedarf darüber, wie Constant seiner These einer bedingten
Wahrheitspflicht begründet. In seiner Abhandlung führt Constant seine Argumentation
folgendermaßen aus: „Dire la vérité est un devoir. Qu’est-ce qu’un devoir? L’idée de devoir
est inséparable de celle de droits : un devoir est ce qui, dans un être, correspond aux droits
d’un autre. Là où il n’y a pas de droits, il n’y a pas de devoirs. Dire la vérité n’est donc un
devoir qu’envers ceux qui ont droit à la vérité. Or nul homme n’a droit à la vérité qui nuit à
autrui“.1173 Dieser prägnante Argumentationsgang lässt sich folgendermaßen erläutern:
Constant zufolge gibt es grundsätzlich eine Pflicht zur Wahrheit. Auf die Frage, was eine
Pflicht ist, antwortet Constant, dass der Pflichtbegriff nur im Zusammenhang mit dem
Rechtsbegriff verstanden werden kann. Dies liegt darin begründet, dass es immer eine
Korrespondenz von Recht und Pflicht gibt: Die Pflicht des Einen entspricht dem Recht des
Anderen. Daraus folgt wiederum, dass es keine Pflicht gibt, wo es kein korrespondierendes
Recht gibt. Man kann allerdings kein Recht beanspruchen, wenn dadurch die Rechte eines
Anderen verletzt werden. Folglich hat man auch keine Pflicht gegenüber jemanden, wenn die
Erfüllung dieser Pflicht zur Verletzung der Rechte einer dritten Person führt.
In Bezug auf die Wahrheit bedeutet dies, dass jeder Pflicht, die Wahrheit zu sagen, ein
korrespondierendes Recht, die Wahrheit zu hören, entsprechen muss. Ohne Recht auf
Wahrheit gibt es auch keine entsprechende Pflicht zur Wahrheit. Dies bedeutet mit anderen
Worten, dass die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, nur für diejenigen gilt, die ein Recht darauf
haben. Kein Mensch aber habe das Recht auf Wahrheit, wenn er diese benutzt, um anderen zu
schaden. Es gibt also keine Pflicht jemanden die Wahrheit zu sagen, wenn er die Wahrheit
verwendet um einer dritten Person Schaden zuzufügen. Um zu beurteilen, ob in einem
bestimmten Fall ein Mensch A die Pflicht hat, die Wahrheit zu sagen, muss erst geprüft
werden, ob der Mensch B das Recht hat, die Wahrheit zu verlangen. Ist dies nicht der Fall,
zum Beispiel weil der Mensch B einem anderen schaden möchte, so ist der Mensch A nicht
verpflichtet die Wahrheit zu sagen.
Hiermit glaubt Constant das Bindeglied gefunden zu haben, welches den zuvor
unakzeptablen Grundsatz der Wahrheitspflicht anwendbar macht. Dies wird jedoch von Kant
entschieden bestritten. Kant zufolge liegt der grundsätzliche Irrtum, aus welchem sich im
weiteren Verlaufe des Beweises andere falsche Aussagen ergeben, in dem Satz: „Die
Wahrheit zu sagen ist eine Pflicht, aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die
Wahrheit hat“. Der mittlere Grundsatz darf mit dem allgemeinen Grundsatz, im hier
diskutierten Fall, jener der Wahrhaftigkeit, nicht konkurrieren, sondern lediglich die
Bedingungen seiner Anwendung bestimmen. Andernfalls würde die gesamte
innersystematische Kohärenz der Rechtslehre verloren gehen. Der mittlere Grundsatz sollte
keine Ausnahme des oberen Grundsatzes schaffen. Für Kant ist jedoch dies bei Constants
Argumentation gerade der Fall.
Im folgenden Abschnitt soll nun auf Kants Kritik an Constants Argumentation näher
eingegangen werden.
b) Kants Begründung einer unbedingten Pflicht auf Wahrhaftigkeit
In der Schrift Des réactions politiques stellt Constant die These auf, dass der
Grundsatz der Gleichheit, nach welchem kein Menschen anders als durch solche Gesetze
1173
Constant, Benjamin: Des réactions politiques, Paris 2002, S. 95
- 225 -
gebunden werden kann, zu deren Bildung er mit beigetragen hat, allgemeine Gültigkeit hat.
Dieser Grundsatz kann jedoch nur auf kleine Gesellschaften unmittelbar angewendet werden.
Um den Grundsatz der Gleichheit auf größere Gesellschaften anwendbar zu machen, stellt
ihm Constant einen mittleren Grundsatz an die Seite. Nach diesem Zwischenprinzip können
die Menschen zur Bildung der Gesetze entweder in eigener Person oder durch Stellvertreter
beitragen. Im Lügenaufsatz schreibt Kant diesbezüglich, dass er das Bemühen Constants für
„[w]ohldenkend und zugleich richtig“1174 hält. Im Falle des Grundsatzes der Gleichheit ist die
Bestimmung eines mittleren Prinzips möglich. Hier kann problemlos aus einer Metaphysik
des Rechts (welche von allen Erfahrungsbedingungen abstrahiert) ein Grundsatz der Politik
(welcher die Begriffe der Metaphysik des Rechts auf die Erfahrungsfälle anwendet)
entwickelt werden.1175
Kant könnte Constants Schlussfolgerung durchaus zustimmen, dass ein als wahr
anerkannter Grundsatz niemals verlassen werden darf, auch wenn er Gefahren in sich
birgt.1176 Dennoch verwirft Kant Constants Argumentation, wonach es ein bedingtes Recht zu
lügen gibt. Was Kant an Constant kritisiert, ist, dass er gerade den unbedingten Grundsatz der
Wahrhaftigkeit wegen der Gefahr, die er für die Gesellschaft mit sich führe, verlassen
habe.1177 Was Kant also kritisiert ist Constants Inkonsistenz. Für Kant dient ein mittlerer
Grundsatz für die nähere Bestimmung der Anwendung eines ersten Grundsatzes auf
vorkommende Fälle. Dabei darf der mittlere Grundsatz niemals Ausnahmen vom ersten
Grundsatz enthalten. Kant wirft Constant vor den unbedingten Grundsatz der Wahrhaftigkeit
verlassen zu haben. Constant hätte dies im Widerspruch zu seinen eigenen
Absichtserklärungen gemacht, „weil er keinen mittleren Grundsatz entdecken konnte, der
diese Gefahr zu verhüten diente, und hier auch wirklich keiner einzuschieben ist“.1178 Mit dem
Grundsatz der bedingten Wahrhaftigkeit entwickelt Constant keinen mittleren Grundsatz für
die Anwendung auf vorkommende Fälle, sondern schafft eine Ausnahme vom ersten
Grundsatz. Eine derartige Absicht widerspricht jedoch dem Anspruch des Grundsatzes auf
Allgemeingültigkeit und bedeutet somit die Vernichtung des Grundsatzes als solches. Für
Kant zeigt Constant dadurch, dass „er die Wahrhaftigkeit nicht für Pflicht an sich selbst
anerkenne, sondern sich Ausnahmen vorbehält von einer Regel, die ihrem Wesen nach keiner
Ausnahme fähig ist, weil sie sich in dieser geradezu selbst widerspricht“.1179
Nachdem die Kritik an Constants Argumentation kurz erläutert wurde, stellt sich die
weitere Frage, wie Kant die unbedingte Pflicht auf Wahrhaftigkeit begründet. Die
Kontroverse zwischen Constant und Kant dreht sich um das konkrete Beispiel einer
möglichen Rettung eines Menschen vor einem Mörder durch eine Lüge. Es ist nicht das erste
Mal, dass Kant in seinen Werken wichtige Gedanken anhand von konkreten Beispielen
diskutiert. Bereits in der Grundlegung hatte er so wichtige Gedanken, wie etwa das Handeln
aus Pflicht1180 oder das Verfahren des kategorischen Imperativs in seinen verschiedenen
Formen1181 anhand von Beispielen verdeutlicht. Bereits die Tatsache, dass Kant Beispiele
verwendet, um die praktischen Regeln anschaulich zu machen, spricht gegen den verbreiteten
1174
Vermeintes Recht: VIII, 427
Vgl. Vermeintes Recht: VIII, 429
1176
Vgl. Constant, Benjamin: Des réactions politiques, Paris 2002, S. 97
1177
Vgl. Vermeintes Recht: VIII, 428
1178
Vermeintes Recht: VIII, 428
1179
Vermeintes Recht: VIII, 430
1180
Vgl. GMS: IV, 397
1181
Vgl. GMS: IV, 421ff.
1175
- 226 -
Vorwurf, dass seine praktische Philosophie kein Bezug zu den konkreten Problemen der
Menschen hat.1182
An den Geschehnissen sind drei Personen beteiligt: Ein Mensch A kommt an die Tür
von einem anderen Menschen B, in dessen Wohnung sich sein Freund C verbirgt, weil er vom
Menschen A verfolgt wird. Der Mensch A fragt den Menschen B, ob der Mensch C, den er
offenbar ermorden will, im Hause sei. Vor dem Hintergrund dieser klaren Ausgangssituation
stellt Kant zwei Fragen. Die erste Frage ist, ob der Mensch A, wenn er einer Antwort mit Ja
oder Nein nicht ausweichen kann, das Recht habe (aus Menschenliebe gegenüber C) zu lügen.
Die zweite Frage ist, ob der Mensch A nicht sogar die Pflicht zu lügen hat, wenn er dadurch
vielleicht eine Missetat verhindern könnte. Diese extreme Ausgangssituation wird dadurch
zugespitzt, dass der Gefragte weder schweigen noch dilatorisch antworten kann. Über diese
beiden Auswegmöglichkeiten äußert sich Kant weder negativ noch positiv. Diese
Einschränkung trägt erheblich zur Klarheit der Debatte bei. Im weiteren Verlauf der Schrift
Über ein vermeintes Recht werden beide Fragen von Kant kompromisslos verneint. Es wird
die These vertreten, dass sofern man eine Aussage zu einem bestimmten Sachverhalt nicht
umgehen kann, es eine unbedingte Pflicht zur Wahrhaftigkeit beim Aussagen gibt.
Für ein angemessenes Verständnis von Kants Argumentation soll gleich an dieser
Stelle darauf aufmerksam gemacht werden, dass Kant hier ausschließlich auf einer rechtlichen
und nicht moralischen Ebene argumentiert. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass Kant
auch ein bedingungsloses moralisches Verbot der Lüge vertritt. Neben einschlägigen Stellen
in der Grundlegung bezeichnet er die Lüge in der Tugendlehre unmissverständlich als „die
größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst“.1183 Im Lügenaufsatz geht es
allerdings nicht um die Erörterung der Lüge als Tugendpflicht. Wie es in der zweiten Fußnote
der Schrift unmissverständlich zu lesen ist, ist hier lediglich von einer Rechtspflicht die Rede.
Gemäß der systematischen Gliederung der Metaphysik der Sitten in Tugend- und Rechtslehre,
sei darauf aufmerksam gemacht diese beiden Ebenen nicht zu vermischen.1184
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Kants absolute Ablehnung eines Rechts zu
lügen auf dem Begriff des Rechts der Menschheit beruht. Im Lügenaufsatz schreibt er
diesbezüglich, dass ich durch eine Lüge „im wesentlichsten Stücke der Pflicht überhaupt
Unrecht [tue]: d. i. ich mache, so viel an mir ist, daß Aussagen (Declarationen) überhaupt
keinen Glauben finden, mithin auch alle Rechte, die auf Verträgen gegründet werden,
wegfallen und ihre Kraft einbüßen; welches ein Unrecht ist, das der Menschheit überhaupt
zugefügt wird“.1185 Im Anschluss daran führt Kant aus, dass das hier angesprochene Unrecht,
welches der Menschheit zugefügt wird, darauf zurückzuführen ist, dass die Lüge „die
Rechtsquelle unbrauchbar macht“.1186 Ferner führt Kant im Text aus, dass „Wahrhaftigkeit
eine Pflicht ist, die als die Basis aller auf Vertrag zu gründenden Pflichten angesehen werden
muß, deren Gesetz, wenn man ihr auch nur die geringste Ausnahme einräumt, schwankend
und unnütz gemacht wird“.1187 Erklärungsbedürftig ist an dieser Stelle, wie Kant sein
Argument begründet, dass alle Lügen – somit auch die Notlüge – alle auf Vertrag gegründeten
Pflichten aufhebt und somit der Menschheit überhaupt ein Unrecht zufügt.
1182
Einen guten Überblick über die Funktion von Beispielen in Kants praktischer Philosophie bietet die folgende
Lektüre: Höffe, Otfried: „Königliche Völker“. Zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie,
Frankfurt a. M 2001, S. 68ff.
1183
TL: VI, 429
1184
Vgl. Geismann, Georg: Versuch über Kants rechtliches Verbot der Lüge, in: Kant. Analysen - Probleme Kritik, hrsg. v. Hariolf Oberer und Gerhard Seel, Würzburg 1988, S. 297; Höffe, Otfried, Kant, München 2004,
S. 195.
1185
Vermeintes Recht: VIII, 426 (meine Hervorhebungen)
1186
Vermeintes Recht: VIII, 426
1187
Vermeintes Recht: VIII, 427
- 227 -
Um diese Frage beantworten zu können, soll zunächst an dem von Kant erhobenen
Einwand erinnert werden, nach welchem Constant die Lüge nur insofern erwägt, als sie einem
anderen Schaden zufügt. Constant sieht sich von Kant dem Vorwurf ausgesetzt, er mache
keinen Unterschied zwischen einer Handlung, wodurch jemand einem anderen schadet
(nocet) und einer Handlung, wodurch er diesem Unrecht tut (laedit).1188 Kant lehnt diese
Vorgehensweise deshalb ab, weil die positiven oder negativen Folgen, welche sich aus der
strikten Erfüllung der absoluten Rechtspflicht zur Wahrhaftigkeit ergeben können reiner
Zufall sind. Wenn die Rechtspflichten absolute Notwendigkeit haben, dann hat dies zu
bedeuten, dass die Menschen ihre Pflichten in jeder Situation ganz unabhängig von den
möglichen Folgen (und das heißt sowohl für die Anderen als auch für den Handelnden selbst)
beachten sollen. Die Frage, ob aus der Befolgung einer Rechtspflicht möglichen Schäden
(zum Beispiel eine Ermordung) oder Nutzen (zum Beispiel die Rettung eines hilfsbedürftigen
Menschen) zu erwarten sind, ist hier gänzlich irrelevant. Es handelt sich dabei um bloß
zufällige, empirische Sachverhalte, die als solche bei der Wahl der Handlungsmaximen nicht
in Betracht gezogen werden dürfen.
Wenn es nun eine Rechtspflicht auf Wahrhaftigkeit gibt, dann ist die Lüge (als
Verletzung dieser Rechtspflicht) pflichtwidrig und deshalb schlechterdings verboten. Der sich
daraus ergebende Schaden ist ein rechtlicher Schaden (praeiudicium). Kant scheint sich
jedoch selbst zu widersprechen und den Fehler zu begehen, Schaden und Unrecht miteinander
zu verwechseln, wenn er anschließend schreibt: „Die Lüge […] bedarf nicht des Zusatzes, daß
sie einem Anderen schaden müsse […] Denn sie schadet jederzeit einem Anderen, wenn
gleich nicht einem andern Menschen, doch der Menschheit überhaupt“.1189 Ein näherer Blick
auf die zitierte Textstelle lässt jedoch erkennen, dass der Schaden, von dem hier geredet wird,
kein empirisch feststellbarer, materialer Schaden ist, welcher von einer bestimmten Lüge
verursacht wäre. Es handelt sich vielmehr um einen rechtlichen, mithin formalen Schaden,
welcher der Lüge überhaupt innewohnt und sich daraus ergibt, dass jede Lüge notwendig eine
Verletzung des Rechts der Menschheit zur Folge hat. An dieser Stelle kann festgestellt
werden, dass Kants Bestimmung der Lüge als ein juridisches Unrecht von der Bestimmung
der Juristen grundsätzlich abweicht. Für diese wird die Lüge erst dann zu einem Problem des
Rechts, wenn aus dieser Lüge einem anderen Schaden geschieht. Im Gegensatz dazu ist es
Kant zufolge nicht nötig, dass empirisch festgestellt wird, dass eine bestimmte Lüge jemand
anderem Schaden zugefügt hat, um diese Lüge als Unrecht zu bezeichnen. Unrecht ist für
Kant nicht ein bestimmter Gebrauch der Lüge, sondern die Lüge per se oder anders
ausgedrückt die Lüge überhaupt. Die Lüge stellt also selbst dann ein Unrecht dar, wenn sie
dem Angelogenen keinen unmittelbaren Schaden zugefügt hat. Die Lüge überhaupt stellt ein
Unrecht dar, weil sie dem Recht der Menschheit Abbruch tut. Wenn Kant schreibt, dass jede
Lüge immer der Menschheit in ihrer Gesamtheit ein Unrecht zufügt, dann ist es klar, dass es
sich nicht um einen empirisch feststellbaren Schaden handelt, sondern um eine Verletzung des
apriorischen Rechts der Menschheit. Es besteht hier Erklärungsbedarf darüber, wie Kant seine
These begründet, dass die Lüge alle auf Vertrag gegründeten Pflichten schwankend macht
und somit immer eine Verletzung des Rechts der Menschheit darstellt. Die hier vorgetragene
Argumentation stützt sich im Wesentlichen auf die Arbeit von Georg Geismann, in welcher
die von Julius Ebbinghaus vorgeschlagene Interpretation der Kantischen Argumentation
präzisiert wird.1190
1188
Vgl. Vermeintes Recht: VIII, 427
Vermeintes Recht: VIII, 426
1190
Vgl. Ebbinghaus, Julius: Kants Ableitung des Verbotes der Lüge aus dem Rechte der Menschheit, in:
Gesammelte Schriften, Bd. 1: Sittlichkeit und Recht. Praktische Philosophie 1929-1954, hrsg. v. Hariolf Oberer /
Georg Geismann, Bonn 1986, S. 407-420; Geismann, Georg: Kant und kein Ende. Studien zur
Rechtsphilosophie, Band 2, Würzburg 2010, S. 229-248.
1189
- 228 -
Es soll in einem ersten Schritt darauf aufmerksam gemacht werden, dass Kants These
sich keinesfalls auf irgendeinen positiven Vertrag bezieht. Dies lässt sich an zweierlei
Gründen festhalten. Erstens: Das oben diskutierte Beispiel wäre damit gar nicht betroffen, da
der Mensch A in keinem besonderen Vertragsverhältnis zu dem Mensch B steht. Zweitens:
Kant spricht hier von „Rechtsquelle“ und nicht von „Vertragsrecht“. Es zeigt sich also, dass
Kant hier keinesfalls ein durch einen positiven Vertrag begründetes, spezifisches Recht im
Sinne hat. Hier geht es vielmehr um das Recht überhaupt und um die Lüge überhaupt. Der
Kantische Argumentationsgang erfolgt im Wesentlichen in vier Schritten:
Wie bereits im ersten Hauptteil der vorliegenden Dissertation angeführt wurde, kommt
jedem Menschen kraft seines Menschseins ein Recht auf den rechtsgesetzlichen Gebrauch
seiner äußeren Freiheit zu. Dieses Recht der Menschheit in der Person jedes einzelnen
Menschen ist, um es mit anderen Worten zu formulieren, das Recht auf den beliebigen
Gebrauch seiner freien Willkür, insofern (und nur insofern) dieser mit der Freiheit von allen
anderen nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann.1191 Dieses Recht ist das
einzige Recht, welches jedem Menschen ursprünglich zukommt.
Die Einschränkung der äußeren Freiheit eines jeden Menschen auf die Bedingung ihrer
Übereinstimmung mit der äußeren Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz
setzt notwendigerweise die Idee des Vertrages voraus. Wenn die Einschränkung der äußeren
Freiheit eines jeden Menschen nicht freiwillig durch Vertrag geschieht, dann bleibt nur noch
die Möglichkeit einer erzwungenen Freiheitseinschränkung durch Gewalt übrig. Die Maxime
einer solchen erzwungenen Einschränkung der äußeren Freiheitssphären taugt jedoch nicht zu
einem allgemeinen Gesetz, weil der Gewaltanwender notwendig aus ihr ausgenommen bleibt.
Die Anerkennung eines bedingten Rechts zu lügen würde den Abschluss von
Verträgen unter Menschen unmöglich machen. Wenn man die Maxime der bedingten Lüge
als allgemeines Gesetz denkt, dann kann aus rechtlichen Gründen niemand jemals sicher sein,
dass die anderen Vertragsparteien keinen (notwendig geheim gehaltenen) Rechtsgrund zu
lügen haben. Damit Verträge überhaupt zustande kommen können, bedarf es an einem
Mindestmaß an Vertrauen bezüglich der Absichtserklärung aller Vertragsparteien. Das
Vertrauen in die Wahrhaftigkeit der Aussagen aller Vertragsparteien ist die notwendige
Bedingung dafür, dass jene überhaupt untereinander Verträge schließen. Nun würde das in
Verträge gesetzte Vertrauen keine Grundlage mehr besitzen, wenn man beim Abschluss eines
Vertrages mit anderen Menschen, einen immer möglichen geheimen Rechtsgrund zu lügen
einrechnen müsste.
Um Missverständnisse zu vermeiden, soll an dieser Stelle betont werden, dass Kant
nicht auf einer empirischen Ebene argumentiert. Seine Ablehnung eines bedingten Rechts zu
lügen ergibt sich nicht aus der empirisch möglichen Konsequenz, dass keine Verträge mehr
geschlossen werden. Kant hat keine empirisch bedingte Unsicherheit im Sinne. Gemeint ist
vielmehr eine apriorische Rechtsunsicherheit, welche den Abschluss von Verträgen zu einer
rein empirisch-zufälligen Möglichkeit werden lässt. Es besteht zwar weiterhin die empirische
Möglichkeit Verträge abzuschließen, aber diese bieten keine grundsätzliche rechtliche
Verlässlichkeit mehr. Kant-Kritiker könnten an dieser Stelle den Einwand gelten machen,
dass es Constant nur darum ging, das Recht zu lügen auf bestimmte Notlagen, denen der
Mensch nur mittels einer Unwahrheit entgehen kann, einzuschränken. Der Fehler dieses
Ansatzes liegt jedoch darin, dass es dem Belogenen in jedem Fall das Vorliegen oder
Nichtvorliegen eines Rechtsgrundes zu einer Lüge unbekannt bleibt.
Ein bedingtes Recht auf Lüge würde die gesetzliche Übereinstimmung der äußeren
Freiheit aller Menschen unmöglich machen und ist somit eine Verletzung des Rechts der
Menschheit. Aus der unaufhebbaren Rechtsunsicherheit, welche sich notwendigerweise aus
1191
Vgl. RL: VI, 237
- 229 -
einem bedingten Recht zu lügen ergibt, folgt dass die Menschen aus einem rechtlichen Grund
(und nicht aus empirischen, mithin bloß zufälligen Gründen) ebenso notwendigerweise den
Absichten der anderen Menschen immer misstrauen müssen, was hingegen den Vertrag (der
Idee nach) unbrauchbar macht. Das Vertrauen in die Absichtserklärung der anderen ist die
notwendige Bedingung, unter welcher die Menschen überhaupt die Möglichkeit haben,
Verträge abzuschließen und somit überhaupt Rechte zu haben. Insofern die bedingte Lüge den
Abschluss von Verträgen und somit die Möglichkeit von Rechten überhaupt unmöglich
macht, fügt sie nicht notwendigerweise dem Angelogenen im Speziellen Schaden zu, wohl
aber der Menschheit im Allgemeinen, zu welcher auch der Angelogene zählt.
Bisher wurde Kants Argumentation ausschließlich als Antwort auf Benjamin Constant
im Lügenaufsatz erörtert. In philosophiegeschichtlicher Perspektive stellt sich anschließend
die Frage nach der Stellung des Lügenaufsatzes in Kants Gesamtwerk, insbesondere im
Vergleich zu früheren Stellungnahmen Kants zum selben Thema.
1.3 Kants Argumentation zum rechtsphilosophischen Problem der Lüge in den weiteren
Schriften
Kants Argumentation im Lügenaufsatz hat äußerst wenig Zustimmung von den KantKommentatoren gefunden. Die Frage, welche sich vor diesem Hintergrund aufdrängt, ist zu
wissen, ob Kants Argumentation im Lügenaufsatz als isolierte These betrachtet werden kann,
welche sich nur als Reaktion auf die von Constant ausgeübte Kritik erklären lässt. Um diese
Frage zu beantworten, soll im Folgenden auf Kants Erörterungen in der Rechtslehre, in Zum
ewigen Frieden und in der Vorlesungsnachschrift Moralphilosophie Collins eingegangen
werden.
a) Die Argumentation in der Rechtslehre: Wahrhaftigkeit als Rechtspflicht gegen die
Menschheit
Nebst der Erörterung der Lüge als moralphilosophisches Problem in der
Tugendlehre1192 findet sich auch in der Rechtslehre1193 eine Erörterung der Lüge als
rechtsphilosophisches Problem. Die Rechtslehre wurde im Januar 1797 also noch vor dem
Lügenaufsatz veröffentlicht. Eine aufmerksame Analyse des von Kant vorgetragenen
Arguments in Über ein vermeintes Recht und in der Rechtslehre kommt zu dem Schluss, dass
es zwischen den beiden Schriften keine erhebliche Meinungsänderung gibt.1194
In der Rechtslehre lassen sich Stellen finden, wo Kant die These einer bedingten
Pflicht zur Wahrhaftigkeit zu verteidigen scheint. Dies ist zum Beispiel dort der Fall, wo zu
lesen ist, dass das angeborene Recht der Menschheit auf dem allgemeinen gesetzlichen
Gebrauch der äußeren Freiheit, auch das Recht enthält, anderen seine Gedanken mitzuteilen,
unabhängig davon, ob sie wahr und aufrichtig oder unwahr und unaufrichtig sind, weil die
Entscheidung darüber, ob dem Sprecher zu glauben ist, stets dem Hörer vorbehalten bleibt.1195
Ferner ist im Text ebenfalls zu lesen, dass im rechtlichen Sinne nur diejenige Unwahrheit
Lüge genannt wird, welche dem Recht des Belogenen unmittelbar Abbruch tut.1196 Kant
1192
Vgl. TL: VI, 428ff.
Vgl. RL: VI, 238
1194
Zu einem ähnlichen Schluss kommen auch Annen und Geismann. Vgl. Annen, Martin: Das Problem der
Wahrhaftigkeit in der Philosophie der deutschen Aufklärung. Ein Beitrag zur Ethik und Naturrecht des 18.
Jahrhunderts, Würzburg 1997, S. 116; Geismann, Georg: Versuch über Kants rechtliches Verbot der Lüge, in:
Kant. Analysen - Probleme - Kritik, hrsg. v. Hariolf Oberer und Gerhard Seel, Würzburg 1988, S. 298f.
1195
Vgl. RL: VI, 238
1196
Vgl. RL: VI, 238
1193
- 230 -
scheint sich zunächst zu widersprechen, wenn er schreibt, dass die Lüge schlechterdings
verboten ist, und dass das angeborene Recht erlaubt, etwas unaufrichtig zu versprechen.
Eine nähere Prüfung der Argumentation in der Rechtslehre lässt allerdings erkennen,
dass Kant dort (freilich nur andeutungsweise) jene Argumente kritisiert, die er wenige Monate
später ausdrücklich im Lügenaufsatz verwerfen wird. Den rechtlichen Unterschied zwischen
Unwahrheit und Lüge hält Kant deshalb für „nicht unbegründet“, weil es „bei der bloßen
Erklärung seiner Gedanken immer dem andern frei bleibt, sie anzunehmen wofür er will,
obgleich die gegründete Nachrede, daß dieser ein Mensch sei, dessen Reden man nicht
glauben kann, so nahe an den Vorwurf, ihn einen Lügner zu nennen, streift, daß die
Grenzlinie, die hier das, was zum Ius gehört, von dem, was der Ethik anheim fällt, nur so eben
zu unterscheiden ist“.1197 Eine klare Unterscheidung von Recht und Ethik könne den
Unterschied von Unwahrheit und Lüge nicht rechtfertigen, da auch die moralisch verwerfliche
Unwahrhaftigkeit dem Vorwurf der Lügenhaftigkeit ausgesetzt ist.
Kants Ausführungen zur Lüge in der Rechtslehre haben für einige Missverständnisse
gesorgt. Auf der Grundlage dieser Ausführungen sowie einiger Stellen zur Höflichkeitslüge
versuchte zum Beispiel Herbert J. Paton seine These zu begründen, dass Kant nur diejenigen
Unwahrheiten für Lügen hält, die einem anderen schaden, fruchtbar zu machen.1198
b) Die Argumentation in der Friedensschrift: Kants Zurückweisung der Lüge als
berechtigtes Mittel der Politik
In der im Jahre 1795 erschienen Friedensschrift weist Kant die Lüge als berechtigtes
Mittel der Politik ebenso bedingungslos zurück wie zwei Jahre später im Lügenaufsatz. Kant
fügt hier allerdings dem apriorischen Argument bezüglich der absoluten Rechtswidrigkeit der
Lüge ein überzeugendes, empirisches Argument hinzu, demzufolge der Rückgriff auf die
Lüge als Mittel der Politik nicht einmal als hypothetischer Imperativ gedeutet werden kann.
Entsprechend handeln Politiker unklug, wenn sie lügen.
Kant widmet sich gleich im ersten Präliminarartikel der Friedensschrift indirekt dem
Problem der Lüge. Dieser Artikel verbietet den Abschluss eines Friedensvertrages mit dem
geheimen Vorbehalt einer künftigen Revision, geschweige eines Bruches desselben.1199 In
diesem Artikel wird das Substantiv „Lüge“ nicht verwendet. Kant spricht lediglich von
„Vorbehalt (reservatio mentalis)“.1200 Dabei handelt es sich aber um eine besondere Art der
Lüge: Der Politiker gibt seinen Friedenswillen für wahr aus, obwohl er sich dessen bewusst
ist, dass es sich dabei um eine bloße Täuschung handelt, und dass er bei der erstbesten
Gelegenheit versuchen wird, den abgeschlossenen Vertrag zu revidieren. Es wurde bereits
gesehen, dass für Kant das Zustandekommen eines definitiven Friedensvertrages zwischen
den Staaten von dem vorbehaltlosen, also ehrlichen Willen aller Vertragspartner abhängt,
allen Feindseligkeiten ein tatsächliches Ende zu setzen. Es wird also ein Mindestmaß an
Vertrauen und Zuverlässigkeit unter den Staaten vorausgesetzt. Sollte es bei einem
Vertragspartner geheim gehaltene Vorbehalte geben, welche anschließend zur
Nichteinhaltung der einmal zugestimmten Verpflichtungen führen sollten, so wird das
notwendige Vertrauen in die Denkungsart des Gegenübers unmöglich. Die Lüge als Mittel der
Politik macht somit den Vertrag als Instrument wechselseitiger Rechtsbestimmung prinzipiell
unmöglich.
1197
RL: VI, 238
Vgl. Paton, Herbert J.: An alleged right to lie. A problem in Kantian ethics, in: Kant und das Recht der Lüge,
hrsg. v. Georg Geismann und Hariolf Oberer, Würzburg 1986, S. 55.
1199
Vgl. Frieden: VIII, 343
1200
Frieden: VIII, 344
1198
- 231 -
Kants Auseinandersetzung mit dem Problem der Lüge in der Friedensschrift
beschränkt sich allerdings nicht auf den ersten Präliminarartikel. Auch im weiteren Verlauf
des Textes lassen sich interessante Überlegungen zu diesem Thema finden. Im zweiten
Definitivartiel zum ewigen Frieden stellt Kant die Behauptung auf, dass der Bezug auf die
Idee des Rechts immer gegeben ist und zwar selbst für denjenigen Politiker, welcher der
Moral jede objektiv praktische Realität, also ihre Ausführbarkeit entzieht. Dort schreibt er,
dass es „sehr zu verwundern [ist], daß das Wort Recht aus der Kriegspolitik noch nicht als
pedantisch ganz hat verwiesen werden können, und sich noch kein Staat erkühnt hat, sich für
die letztere Meinung öffentlich zu erklären“.1201 Ferner weist er auf die „Huldigung, die jeder
Staat dem Rechtsbegriffe (wenigstens den Worten nach) leistet“.1202 Letztlich ist im ersten
Teil des Anhangs zu lesen, dass „die Menschen, eben so wenig in ihren Privatverhältnissen
als in ihren öffentlichen dem Rechtsbegriff entgehen können und sich nicht getrauen, die
Politik öffentlich bloß auf Handgriffe der Klugheit zu gründen, mithin dem Begriffe eines
öffentlichen Rechts allen Gehorsam aufzukündigen […], sondern ihm an sich alle gebührende
Ehre widerfahren lassen, wenn sie auch hundert Ausflüchte und Bemäntelungen aussinnen
sollten, um ihm in der Praxis auszuweichen“.1203
Die hier vorgetragene Kritik richtet sich vornehmlich gegen das Handeln des
sogenannten politischen Moralisten. Ein Politiker wird zu einem politischen Moralisten, wenn
er gegenüber der Öffentlichkeit seine Handlungen moralisch zu rechtfertigen versucht,
obwohl er sich ausschließlich an den Ratschlägen der Klugheit orientiert. Die Politiker
können nicht riskieren die Existenz der Moral als solche öffentlich zu leugnen, sondern
müssen stets Bezug auf den Rechtsbegriff nehmen. Wichtig ist an dieser Stelle festzuhalten,
dass der Bezug auf die Idee des Rechts bei dem politischen Moralisten ausschließlich
rhetorischer Natur ist. Tatsächlich wird er gegen die moralischen Prinzipien verstoßen, die er
bei der Begründung seines Handelns in Anspruch genommen hatte. Zu hinterfragen ist hier,
warum für Kant der Bezug auf die Idee des Rechts - sei er bloß rhetorisch - selbst für den
politischen Moralisten notwendig ist, obwohl dieser das Recht aller objektiven Realität
abstreitet. Die Gründe hierfür werden von Kant nicht thematisiert, lassen sich jedoch leicht
finden.
Erstens: Der sich allein an Klugheit orientierende Politiker kann öffentlich nicht von
seinen Maximen sprechen, da dies seinem Ziel widersprechen würde. Würde er öffentlich von
der Machtpolitik sprechen, die er tatsächlich betreiben möchte, dann würde er auf den
Widerstand seines Gegenübers stoßen. Wenn er also Erfolg haben will, muss der politische
Moralist seine Absichten geheim halten.
Zweitens: Unter den Bedingungen der Öffentlichkeit ist das politische Handeln stets
auf Begründung und Zustimmung angewiesen (freilich nicht notwendigerweise auf
Unterstützung, die eine aktive Dimension enthält). Es fällt auf, dass Zustimmung für das
eigene Tun allein in Bezug auf Klugheit nur schwer zu erlangen ist. Um sein Handeln zu
begründen und somit Zustimmung zu erhalten, muss der politische Moralist deshalb stets den
Rechtsbegriff in Anspruch nehmen, obwohl er diesen insgeheim für ein sachleeres und
unausführbares Ideal hält.
Für Kant gerät aber der politische Moralist notwendigerweise in Widerspruch, wenn er
bloß rhetorisch Bezug auf die Idee des Rechts nimmt. Kant unterstellt nämlich dem Handeln
des politischen Moralisten die drei Maximen: fac et excusa; si fecisti, nega und divide et
impera.1204 Die Kommentare Kants zu diesen drei „sophistischen Maximen“ sind vor allem
für ihre polemische Brillanz von Wert. Vor dem Hintergrund des obigen Zitates verdient
1201
Frieden: VIII, 355
Frieden: VIII, 355 (meine Hervorhebung)
1203
Frieden: VIII, 376
1204
Vgl. Frieden: VIII, 374f.
1202
- 232 -
dagegen folgende Pointe besondere Aufmerksamkeit. Für Kant gilt nämlich: „Durch diese
politische Maximen wird nun zwar niemand hintergangen; denn sie sind insgesammt schon
allgemein bekannt“.1205 In diesem Satz wird nicht nur die Popularität und die Banalität dieser
Maximen hervorgehoben wie es gelegentlich zu lesen ist.1206 Entscheidend ist vielmehr, dass
Kant hier die Lüge als Mittel der Politik diskreditiert. Hierfür führt er nicht länger
apriorische, sondern pragmatische Argumente an. Seine Begründung lautet wie folgt: Da die
Maximen, die dem Handeln des politischen Moralisten zugrunde liegen, allgemein bekannt
sind, macht der bloße rhetorische Bezug auf die Idee des Rechts die Politik in zweierlei
Hinsicht selbstwidersprüchlich. Der erste Widerspruch besteht darin, dass der politische
Moralist niemals wirklich einlöst, was er in seiner Rhetorik bezüglich Moral und Recht
angibt. Darüber hinaus gerät der sich allein an Klugheit orientierende Politiker in
Widerspruch, weil jeder weiß, dass der Bezug auf Moral und Recht in der Begründung seines
Handelns bloß vorgetäuscht ist. Jeder weiß, dass das wahrhafte Ziel der politischen
Moralisten in der „Vergrößerung ihrer Macht, auf welchem Wege sie auch erworben sein
mag“1207 besteht. Der politische Moralist gerät somit letztlich in die Position eines
öffentlichen Lügners. Zu Recht schreibt Volker Gerhardt dazu: „Das Handeln des „politischen
Moralisten“ widerspricht dem Wesen eines sowohl auf personale Glaubwürdigkeit wie auf
öffentliche Konsequenz angewiesenen politischen Handelns und führt somit zur
Selbstaufhebung der Politik“.1208 Die negativen Folgen der Lüge sind allerdings nicht nur für
den betroffenen Politiker spürbar, sondern fallen auf die gesamte Gesellschaft zurück.
c) Die Argumentation in der Moralphilosophie Collins: Kants ausdrückliche Anerkennung
eines bedingten Rechts zu lügen
Viele Verwirrungen über Kants Position zur Lüge sind darauf zurückzuführen, dass
Kant in seiner Ethikvorlesung jene Lüge ausdrücklich für erlaubt hält, welche er im
Lügenaufsatz ebenso ausdrücklich verwirft.
In der sogenannten Moralphilosophie Collins spricht er sich ausdrücklich für ein
bedingtes Recht auf Lüge im Notfall aus. Dort ist folgendes zu lesen, „z. E. es fragt mich
jemand, der da weiß dass ich Geld habe, hast du denn Geld bei dir? – Schweige ich still, so
schließt der andre daraus, dass ich es habe, sage ich ja, so nimmt er mir es ab, sage ich nein,
so lüge ich, was ist hiebei zu tun? So ferne ich gezwungen werde durch Gewalt, die gegen
mich ausgeübt wird, ein Geständnis von mir zu geben und von meiner Aussage ein
unrechtmäßiger Gebrauch gemacht wird, und ich mich durch Stillschweigen nicht retten kann,
so ist die Lüge eine Gegenwehr“.1209 Im unmittelbaren Anschluss daran schreibt Kant, dass
„die abgenötigte Deklaration, die gemissbraucht wird, erlaubt mir mich zu verteidigen, denn
ob er mir mein Geständnis aber mein Geld ablockt, ist einerlei. Also ist kein Fall, wo eine
Notlüge stattfinden soll, als wenn die Deklaration abgezwungen wird und ich auch überzeugt
bin, daß der andere einen unrechtmäßigen Gebrauch machen will“.1210 Hinzu kommt, dass
Kant die tradierte Unterscheidung von „mendacium“ und „falsiloquium“ übernimmt.1211 Auf
Grundlage dieser Unterscheidung vertritt Kant die These, dass „nicht jede Unwahrheit [...]
1205
Frieden: VIII, 375
Siehe zum Beispiel: De Castillo, Monique: Moral und Politik, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg.
v. Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 204.
1207
Frieden: VIII, 375
1208
Gerhardt, Volker: Immanuel Kants Entwurf »Zum ewigen Frieden«. Eine Theorie der Politik, Darmstadt
1995, S. 171.
1209
Moralphilosophie Collins: XXVII, 448f.
1210
Moralphilosophie Collins: XXVII, 448f.
1211
Vgl. Moralphilosophie Collins: XXVII, 446f.
1206
- 233 -
Lüge [ist], sondern wenn man sich äußerlich declariert, daß man dem andern seinen Sinn
wolle zu verstehen geben“.1212
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Kant zwei Situationen identifiziert, in
welchen einem Menschen erlaubt ist unwahrhaftig zu sein. Erstens: Ein Befragter soll
lediglich dann die Wahrheit sagen, wenn er einem anderen gegenüber deutlich erklärt, dass er
seine Meinung äußern will. Falls er jedoch nicht angibt, dass er sich äußern will, dann handelt
es sich bei der Falschaussage zwar um ein „falsiloquium“, nicht aber um ein
„mendacium“.1213 Zweitens: Ein Befragter darf ebenfalls eine Falschaussage machen, wenn
der Fragende offensichtlich die Wahrheit missbrauchen wird. In einem derartigen Fall, in
welchem dem Fragenden kein Recht zukommt, die Wahrhaftigkeit zu fordern, kann der
Fragende die Unwahrhaftigkeit des Befragten voraussetzen. Der Fragende weiß, dass der
Befragte seine Gedanken zurückhalten wird und dass er kein Recht hat die Wahrheit zu
fordern.1214
Wenn man diese Unterschiede einen kurzen Moment beiseitelässt, lassen sich viele
Gemeinsamkeiten zwischen dem Lügenaufsatz und der Moralphilosophie Collins finden. In
den beiden Texten ist ausdrücklich zu lesen, dass eine Lüge dem Belogenen kein Unrecht im
Speziellen tut. In den beiden Texten wird die Lüge ebenfalls als eine Verletzung des „Rechts
der Menschheit“1215 bezeichnet. Man sollte also jede strikte Entgegensetzung der
Moralphilosophie Collins und des Lügenaufsatzes ein wenig relativieren. Es darf außerdem
nicht übersehen werden, dass an unterschiedlichen Stellen seiner Vorlesung Kant das Gebot
der Wahrhaftigkeit als eine absolute Verpflichtung darstellt. Auch dort ist unmissverständlich
zu lesen, dass das Lügenverbot „kein problematischer Imperativus [ist], denn sonst müsste es
heißen: Wenn es dir keinen Schaden bringt, denn sollst du nicht lügen, sondern es imperiert
categorisch und schlechthin: du sollst nicht lügen“.1216 Ferner im Text heißt es, dass „wahrhaft
zu seyn an sich selbst gut [ist], und in aller Absicht gut, und die Unwahrheit ist an sich selbst
schändlich“.1217
Es besteht jedoch Erklärungsbedarf darüber, wie diese erheblichen Unterschiede zu
deuten sind. Diesbezüglich weist Julius Ebbinghaus zu Recht darauf hin, dass in der
Argumentation der Moralphilosophie Collins der Zusammenhang von Pflicht zur
Wahrhaftigkeit und Möglichkeit von Vertragsabschluss noch nicht vorkommt.1218 An dieser
Stelle soll daran erinnert werden, dass die Nachschrift von Collins aus dem Wintersemester
1784/85 stammt, also mehr als zehn Jahre vor der Veröffentlichung des Lügenaufsatzes und
der Rechtslehre. Vor diesem Hintergrund mag es dagegen sehr verwundern, wie Herbert J.
Paton dazu kommt, der von Kant in der Moralphilosophie Collins vertretenen These, den
Vorrang vor seiner These im Lügenaufsatz einzuräumen. Und dies selbst, wenn er selber
einräumt, dass man den Nachschriften nicht dieselbe Autorität geben kann, wie seinen
veröffentlichten Werken.1219
Kants These, dass die Pflicht zur Wahrhaftigkeit selbst dann keine Ausnahme zulässt,
wenn man durch eine Lüge ein mögliches Verbrechen verhindern könnte, wird in der
1212
Moralphilosophie Collins: XXVII, 448
Vgl. Moralphilosophie Collins: XXVII, 447
1214
Vgl. Moralphilosophie Collins: XXVII, 447
1215
Moralphilosophie Collins: XXVII, 447
1216
Moralphilosophie Collins: XXVII, 246f.
1217
Moralphilosophie Collins: XXVII, 257
1218
Vgl. Paton/Ebbinghaus, Briefwechsel, in: Kant und das Recht der Lüge, hrsg. v. Georg Geismann und
Hariolf Oberer, Würzburg 1986, S. 70.
1219
Patons These ist nur ein Beispiel unter zahlreichen für die Versuchung die Texte aus dem Nachlass und aus
den Vorlesungsnachschriften zu benützen, um sie als Gegenargument zu den von Kant veröffentlichen Werken
anzuführen. Vgl. Paton, Herbert J.: An alleged right to lie. A problem in Kantian ethics, in: Kant und das Recht
der Lüge, hrsg. v. Georg Geismann und Hariolf Oberer, Würzburg 1986, S. 57.
1213
- 234 -
Sekundärliteratur gerne als Beispiel für die Widersprüchlichkeit der Kantischen Rechtslehre
und ihre fehlende Antwort auf das Problem der Pflichtenkonflikte angeführt.
1.4 Das Problem der Pflichtenkollision am Beispiel des Lügenverbotes und des
Hilfsgebotes
Auf den folgenden Seiten soll einleitend kurz erläutert werden, was unter einem
Pflichtenkonflikt überhaupt zu verstehen ist. Im Anschluss daran soll auf die nicht besonders
ernst genommene Argumentation Kants eingegangen werden, wonach Pflichtenkonflikte
undenkbar sind. Letztlich soll gezeigt werden, dass Kant mit der Anerkennung des Vorrangs
der Rechtspflichten vor den Tugendpflichten ein stichhaltiges theoretisches Instrument
entwickelt hat, um jeden intra-Pflichtenkonflikt zu vermeiden.
a) Die Kritik an Kants mangelnder Beachtung der Pflichtenkonflikte
Um die Kritik an Kants mangelnder Beachtung der Pflichtenkonflikte verstehen zu
können, soll zunächst geklärt werden, was unter dem Begriff eines Pflichtenkonflikts
überhaupt zu verstehen ist. Pflichtenkonflikte (Kant spricht eher von einem „Widerstreit der
Pflichten“1220) beziehen sich auf Situationen, in welchen die Menschen zu zwei oder mehreren
Handlungen verpflichtet sind, welche für sich selbst möglich, jedoch nicht zugleich
durchführbar sind und sich somit wechselseitig ausschließen. Dies bedeutet, dass die
Erfüllung der einen Pflicht notwendig mit der Verletzung einer anderen Pflicht einhergeht. Es
handelt sich also um eine Situation, in der gilt:
(i.) Ich soll X tun
(ii.) Ich soll Y tun
(iii.) Ich kann nicht zugleich X und Y tun.
Das Bestehen eines Pflichtenkonflikts setzt voraus, dass die gebotenen Handlungen X und Y
(insofern sie wirkliche Pflichten sind) nicht alternativ, sondern kumulativ gelten. Dies ergibt
sich aus der Definition einer Pflicht als die objektive praktische Notwendigkeit gewisser
Handlungen. Ein Pflichtenkonflikt liegt somit dann vor, wenn in einer bestimmten Situation
der Handelnde sowohl die kategorisch gebotene Handlung X als auch die ebenso kategorisch
gebotene Handlung Y tun soll. Der Konflikt liegt darin, dass der Handelnde in dieser Situation
nicht zugleich X und Y tun kann und sich daher für eine der beiden Optionen X oder Y
entscheiden muss. Nach einer weit verbreiteten Lesart gibt es im oben diskutierten Beispiel
einen klaren Widerstreit zwischen einer Rechtspflicht und einer Tugendpflicht. Die gemeinte
Rechtspflicht ist die absolute Pflicht auf Wahrhaftigkeit. Der im vorliegenden Fall als
Tugendpflicht gebotene Zweck ist die Förderung der Glückseligkeit anderer Menschen, hier
durch die Rettung des hilfsbedürftigen Menschen. Dieser Widerstreit wäre in dem Sinne nicht
lösbar, als der Handelnde gezwungen wäre, eine bestehende Pflicht zu verletzen und damit
etwas zu tun, was er vernünftigerweise nicht tun sollte. Pflichtenkonflikte zeichnen sich somit
dadurch aus, dass es keine moralisch richtige Lösung bezüglich des Entscheidungskonflikts
zwischen X und Y gibt.
In der gegenwärtigen Philosophie wird die Möglichkeit von Pflichtenkonflikte häufig
für unvermeidbar gehalten. Im Gegensatz dazu schließt Kant ausdrücklich die Möglichkeit
von Pflichtenkonflikten aus. Bis heute findet seine These jedoch wenig Zustimmung. Auf
seine These soll im folgenden Abschnitt nun näher eingegangen werden.
1220
RL: VI, 224
- 235 -
b) Kants Argumentation bezüglich der Unmöglichkeit von Pflichtenkonflikten
Für Kant sind Pflichtenkonflikte prinzipiell ausgeschlossen. Seine einfache wie
überzeugende Begründung dieser These beruht auf der Annahme, dass die absolute
Notwendigkeit des Sittengesetzes dessen Ausführbarkeit impliziert.1221 Wenn das moralische
Gesetz eine Handlung gebietet, dann müssen die Menschen auch fähig sein, jene umzusetzen,
weil im Sollen bereits das Können beinhaltet ist. In der Religionsschrift schreibt Kant explizit
dazu: „[W]enn das moralische Gesetz gebietet: wir sollen jetzt bessere Menschen sein, so
folgt unumgänglich: wir müssen es auch können“.1222 Kategorisch gebotene Handlungen sind
nur jene Handlungen, welche die Menschen auch zu leisten imstande sind. Niemand kann die
Pflicht haben etwas (logisch oder faktisch) Unmögliches zu tun. An dieser Stelle ist es wichtig
zu betonen, dass dieses Argument der Möglichkeit von Pflichtenkonflikten widerspricht.
Denn, wenn erstens der Handelnde die Handlungen X und Y tun soll, und wenn zweitens jedes
Sollen ein Können impliziert, dann folgt drittens daraus, dass er X und Y tun kann. Dies steht
jedoch in Widerspruch zu den Voraussetzungen des Pflichtenkonflikts als eine Situation, in
welcher der Handelnde die moralisch gebotenen Handlungen X und Y nicht zugleich tun kann.
Es lassen sich zwei Auswegmöglichkeiten aus diesem Widerspruch denken:
Man kann zunächst an der Behauptung festhalten, dass Pflichtenkonflikte durchaus
möglich sind. In diesem Fall muss man allerdings (nach dem Prinzip der
Widerspruchsfreiheit) entweder auf die Annahme verzichten, dass jedes Sollen ein Können
voraussetzt, oder muss man sich damit einverstanden erklären, dass zwei gegensätzliche
Pflichten nicht kumulativ, sondern alternativ gelten.
Wenn man jedoch die beiden zuvor erwähnten Auswegmöglichkeiten für irreführend
hält, dann muss man der Auffassung sein, dass Pflichtenkonflikte weder tatsächlich noch
möglich sein können. Wenn also zwei (scheinbare) Pflichten in Konflikt geraten, dann ist eine
davon keine Pflicht. Dies entspricht gerade der von Kant vertretenen Position.
In der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« vertritt Kant die These, dass eine
Kollision von Pflichten überhaupt nicht denkbar ist. Gegen die Möglichkeit einer Kollision
zwischen mehreren Pflichten führt Kant folgendes Argument an: „Ein Widerstreit der
Pflichten (collisio officiorum s. obligationum) würde das Verhältniß derselben sein, durch
welches eine derselben die andere [...] aufhöbe. – Da aber Pflicht und Verbindlichkeit
überhaupt Begriffe sind, welche die objective praktische Nothwendigkeit gewisser
Handlungen ausdrücken, und zwei einander entgegengesetzte Regeln nicht zugleich
nothwendig sein können, sondern, wenn nach einer derselben zu handeln es Pflicht ist, so ist
nach der entgegengesetzten zu handeln nicht allein keine Pflicht, sondern sogar pflichtwidrig:
so ist eine Collision von Pflichten und Verbindlichkeiten gar nicht denkbar (obligationes non
colliduntur)“.1223
Im unmittelbaren Anschluss daran unterscheidet er die „Verbindlichkeit“ vom „Grund
der Verbindlichkeit“. Ein Konflikt von zwei Verbindlichkeiten kann es nicht geben. Wenn
dagegen zwei Gründe der Verbindlichkeit einander widerstreiten, so erklärt Kant, dass der
stärkere Verbindlichkeitsgrund den Vorrang verdiene. Im Wortlaut Kants heißt es: „Es
können aber gar wohl zwei Gründe der Verbindlichkeit (rationes obligandi), deren einer aber
1221
W. A. Hart bezeichnet dies zutreffend als den „ought-implies-can principle“ und kommt zu dem folgenden
Schluss: „A moral agent cannot think of himself as having incompatible duties, because he would have to think
of himself as at one and the same time able to carry them out (because they are duties) and not able to carry them
out (because they are incompatible)“ (Hart, W. A.: Nussbaum, Kant and Conflicts between Duties, in:
Philosophy 73, 1998, S. 611).
1222
Religion: VI, 50
1223
RL: VI, 224 (meine Hervorhebungen)
- 236 -
oder der andere zur Verpflichtung nicht zureichend ist (rationes obligandi non obligantes), in
einem Subject und der Regel, die es sich vorschreibt, verbunden sein, da dann der eine nicht
Pflicht ist. – Wenn zwei solcher Gründe einander widerstreiten, so sagt die praktische
Philosophie nicht: daß die stärkere Verbindlichkeit die Oberhand behalte (fortior obligatio
vincit), sondern der stärkere Verpflichtungsgrund behält den Platz (fortior obligandi ratio
vincit)“.1224 Kant schließt somit ausdrücklich die Möglichkeit einer Kollision zwischen
mehreren Pflichten aus.
Die Kantische Argumentation, deren Stringenz unbestreitbar ist, wird vielerlei
abgelehnt, weil sie angeblich der Komplexität des konkreten Handelns und der menschlichen
Entscheidungsprobleme nicht gerecht wird.1225 Im Folgenden soll kurz auf die gedrängte
Argumentation Kants eingegangen werden. Die oben zitierte Argumentation aus der
»Einleitung in die Metaphysik der Sitten« beruht auf der Unterscheidung von rationes
obligandi und rationes obligans. Ein rationes obligandi ist ein Verpflichtungsgrund, aus dem
erst nach Abwägung mit anderen Verpflichtungsgründen eine verbindliche Pflicht, mithin ein
rationes obligans, werden kann. Einer sich im Notfall befindlichen Person zu helfen, ist
zunächst nichts weiter als ein Verpflichtungsgrund. Pflicht wird daraus erst dann, wenn ich
die Mittel, die mir zugänglich sind, um den hilfsbedürftigen Menschen zu retten, einsetzen
kann ohne damit einem stärkeren Verpflichtungsgrund entgegenzutreten.1226 Ein rationes
obligandi kann somit zur Verpflichtung unzureichend sein (rationes obligandi non
obligantes). Ein rationes obligans ist dagegen zur Verpflichtung stets ausreichend.1227 Kant
zufolge kann es nur einen Widerstreit zwischen rationes obligandi geben, nicht zwischen
rationes obligantes.1228 Wichtig ist an dieser Stelle zu bemerken, dass der Ausschluss einer
Kollision von Pflichten an zwei wichtige Voraussetzungen gebunden ist: Nur die
Verpflichtung mit dem jeweils stärksten Grund wird zur Pflicht. Im Falle widerstreitenden
rationes obligandi kann es ausschließlich einen Grund geben, der stärker als alle anderen ist.
Vor diesem Grund stellt sich die gewichtige Frage, ob es theoretische Instrumente
gibt, um die widerstreitenden rationes obligandi in eine hierarchische Rangfolge zu bringen,
die es ermöglicht, jene gegeneinander abzuwägen und letztlich einen Pflichtenkonflikt zu
vermeiden.
c) Der Vorrang der Rechtspflichten vor den Tugendpflichten
Es wurde gesehen, dass es der Urteilskraft die Rolle zukommt, einander
entgegengesetzte rationes obligandi abzuwägen und dadurch Pflichtenkonflikte zu vermeiden.
Um die erforderliche Abwägung vornehmen zu können, ist die Urteilskraft auf
Prioritätsregeln angewiesen. Eine erste Prioritätsregel, um einander entgegengesetzte
Verbindlichkeitsgründe abzuwägen, übernimmt Kant aus der Tradition, indem er zwischen
vollkommenen und unvollkommenen Pflichten unterscheidet.
1224
RL: VI, 224
Hingewiesen sei lediglich auf die exemplarische Stellungnahme von Alen W. Wood: „Kant clearly says too
little here about a highly controversial issue. He makes things too easy for himself by considering duty only
under the aspect of the necessity of an action – thus making a conflict of duties look like merely a modal (or
rather a deontic) contradiction. [...] He also does not say how he proposes to deal with cases (which plainly can
come up on any plausible theory of obligation) in which, through the commission of an action (which may itself
be transgression), I put myself in a situation where I cannot act in any way that is not contrary to an obligation
(for example, by contracting to sell the same piece of property to two different buyers). And if such cases can
occur as a result of my action, why may they not also occur as a result of someone else’s action, or of other
circumstances I did not create?” Vgl. Wood, Alen W: Kant’s Doctrine of Rights: Introduction, in: Immanuel
Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1999, S. 32.
1226
Vgl. Reflexion 6720: XIX, 140
1227
Vgl. Moralphilosophie Collins: XXVII, 259
1228
Vgl. Moralphilosophie Collins: XXVII, 280
1225
- 237 -
Die Unterscheidung von vollkommenen Rechtspflichten und unvollkommenen
Tugendpflichten in der »Einleitung zur Tugendlehre«1229 darf nicht mit der Einteilung in
juridische und ethische Gesetze in der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten«1230
verwechselt werden. Um Klarheit zu gewinnen, soll kurz auf diese ersten begrifflichen
Unterscheidungen eingegangen werden. An dieser Stelle soll zunächst daran erinnert werden,
dass das allgemeine Rechtsgesetz ein negatives Prinzip ist, anhand von welchem die
menschlichen Handlungen auf ihre Rechtsmäßigkeit hin geprüft werden können.
Entsprechend sind nur jene Handlungen rechtmäßig, welche der negativen Bedingung „einem
Gesetz überhaupt nicht zu widerstreiten“1231 genügen. Dies hat zweierlei zu bedeuten. Es
bedeutet zunächst, dass nur solche Handlungen rechtmäßig sind, die mit der Freiheit von
jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen können. Es bedeutet
ebenfalls, dass nur solche Handlungen rechtswidrig sind, die mit der Freiheit von jedermann
nach einem allgemeinen Gesetz nicht zusammen bestehen können. Die Rechtmäßigkeit einer
Handlung ist jedoch nicht mit dem Pflichtcharakter einer Handlung gleichzusetzen. Wenn
nämlich eine Handlung rechtswidrig ist, dann sind die Menschen dazu verpflichtet, diese
Handlung zu unterlassen. Wenn jedoch eine Handlung rechtsmäßig ist, dann hat dies noch
nicht zu bedeuten, dass die Menschen dazu verpflichtet sind, diese Handlung zu begehen.
Wenn eine Handlung als rechtmäßig identifiziert wurde, dann stellt sich in einem zweiten
Schritt die Frage, ob diese Handlung bloß freigestellt oder auch geboten (also Pflicht) ist. Um
festzustellen, ob eine rechtmäßige Handlung auch Rechtspflicht ist, muss ich mich fragen, ob
das praktische Gegenteil derselben Handlung rechtswidrig ist.1232 Der Unterschied zwischen
einer bloß freigestellten und einer gebotenen Handlung besteht darin, dass bei der bloß
freigestellten Handlung auch deren praktisches Gegenteil rechtmäßig (erlaubt) ist, während
das praktische Gegenteil der gebotenen Handlung rechtswidrig (verboten) ist.1233 Im
Gegensatz zu den Tugendpflichten sind somit die Rechtspflichten keine positiven
Begehungspflichten, sondern negative Unterlassungspflichten. Dies bedeutet, dass der
Gegenstand jeder Rechtspflicht immer eine Unrechtsunterlassung ist.
Kants erste Einteilung der Pflichten findet sich in der Grundlegung. Dort übernimmt
er die herkömmliche Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen
Pflichten. Dies tut er allerdings nur vorläufig, um die Anwendungsbeispiele des kategorischen
Imperativs zu ordnen. Er führt ausdrücklich aus, dass eine systematische Einteilung der
Pflichten für eine künftige Metaphysik der Sitten vorbehalten werden muss.1234 Wichtig ist
dabei zu sehen, dass Kant die Erzwingbarkeit als das herkömmliche definitorische Merkmal
der vollkommenen Rechtspflichten nicht übernimmt. In der natürlichen Pflichtenlehre des 18.
Jahrhunderts wurden nämlich die vollkommenen Rechtspflichten als solche genannt, weil die
Pflicht des Einen immer dem Recht eines Anderen entspricht, wobei die Erfüllung dieser
Pflicht gesetzlich erzwungen werden kann. Unvollkommene Pflichten sind dagegen solche,
die nicht erzwungen werden dürfen (und können), das heißt deren Erfüllung allein von der
Bereitschaft des Verpflichteten abhängt. Aus diesem Grund wird auch von geschuldeten
(vollkommenen) Rechtspflichten und verdienstlichen (unvollkommenen) Tugendpflichten
geredet. In dieser naturrechtlichen Tradition sind die geschuldeten Rechtspflichten den
verdienstlichen Tugendpflichten hierarchisch übergeordnet, weil nur den Rechtspflichten
absolute Notwendigkeit zukommt. In Abgrenzung dazu führt Kant in der Grundlegung aus,
1229
Vgl. TL: VI, 379ff.
Vgl. RL: VI, 214ff.
1231
TL: VI, 389
1232
Vgl. Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt
a. M. 1984, Paderborn 3. Aufl. 2007, S. 144f.
1233
Vgl. Ebert, Theodor: Kants kategorischer Imperativ und die Kriterien gebotener, verbotener und freigestellter
Handlungen, in: Kant-Studien 67, 1976, S. 570-583.
1234
Vgl. GMS: IV, 421
1230
- 238 -
dass er unter einer vollkommenen Pflicht diejenige Pflicht versteht, die „keine Ausnahme zum
Vortheil der Neigung verstatte“.1235 Diese Bestimmung der vollkommenen Pflichten bringt
allerdings ernsthafte Probleme mit sich. Wenn man nämlich dieses definitorische Kriterium
der vollkommenen Pflichten übernehmen würde, dann würde die Abgrenzung von
vollkommenen und unvollkommenen Pflichten unbestimmt bleiben, da eine Pflicht (sei sie
vollkommen oder unvollkommen) per definitionem die objektive praktische Notwendigkeit
gewisser Handlungen ausdrückt. Es ist widersprüchlich sich eine Pflicht zu denken, die eine
Ausnahme zum Vorteil der Neigung billigt und somit unterschiedliche Grade der
Notwendigkeit zulässt. Dass Kant sich diesem Problem hinreichend bewusst war, zeigt sich in
der Selbstkorrektur, die er in der Metaphysik der Sitten vornimmt.
In der »Einleitung zur Tugendlehre«1236 bietet Kant ein ganz anderes Kriterium zur
Unterscheidung der vollkommenen und unvollkommenen Pflichten. Dieses Kriterium geht
auf seine weitere Unterscheidung vom formalen und materiellen Prinzip zurück. So hat die
Rechtslehre bloß mit der formalen Bedingung der äußeren Freiheit zu tun. Im Gegensatz dazu
liegt der Tugendlehre ein materiales Prinzip zugrunde, welches den Menschen verpflichtet
objektive-notwendige Zwecke zu verfolgen.1237 Kant unterscheidet zwei Zwecke, die zugleich
Pflichten sind. Gemeint sind die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit.1238
Es ist jedoch unmöglich a priori zu bestimmen, welche genauen Handlungen die eigene
Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit befördern. Aus diesem Grund kann die
Tugendlehre keine Gesetze für die Handlungen geben, sondern nur für die Maximen der
Handlungen. Dies bedeutet, dass die Tugendgesetze einen gewissen Spielraum bezüglich ihrer
Befolgung zulassen. Diesbezüglich führt Kant folgendes aus: „[W]enn das Gesetz nur die
Maxime der Handlungen, nicht die Handlungen selbst gebieten kann, so ist’s ein Zeichnen,
daß es der Befolgung (Observanz) einen Spielraum (latitudo) für die freie Willkür überlasse,
d.i. nicht bestimmt angeben könne, wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der
zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle“.1239 Aus dem erwähnten Spielraum bei der
Befolgung der Tugendpflichten ergibt sich wiederum die Gefahr des Irrtums, weil die
Menschen niemals vor einem falschen Gebrauch ihrer Urteilskraft sicher sein können. Wie die
Tugendpflichten zu erfüllen sind, steht weitgehend offen und hängt von empirischen, mithin
zufälligen Bedingungen ab. Dies trifft jedoch nur für die unvollkommenen Tugendpflichten
zu. Die vollkommenen Rechtspflichten fordern dagegen unmittelbar, also ohne Bezugnahme
auf einen bestimmten Zweck, bestimmte Handlungen. Sie lassen somit für ihre Erfüllung
deutlich weniger Spielraum zu.
Der wesentliche Unterschied von Tugendpflicht und Rechtspflicht liegt somit in ihrer
verschiedenen Reichweite und ihrem Grad der Bestimmtheit. Auf die Frage „Was soll ich
tun?“ gebietet das Rechtsgesetz unmittelbar präzise Handlungen, welche wenig Spielraum für
den Grad und die Art der Befolgung zulassen (wie etwa: „Du sollst nicht lügen“). Das
Tugendgesetz bestimmt dagegen materiale Zwecke, die zugleich Pflicht sind, und dessen
Befolgung sich an die jeweilige Situation anpassen muss (wie etwa: „Du sollst einem sich im
Notfall befindlichen Menschen helfen“). Für Kant sind die Rechtspflichten deshalb
vollkommen, weil sie sich bestimmt und unmittelbar auf Handlungen beziehen. Ihre
Befolgung ist somit von keiner Bedingung abhängig. Die Tugendpflichten sind dagegen
unvollkommen, weil sie sich nicht auf die Handlungen selbst, sondern auf die ihnen zugrunde
liegenden Maximen beziehen. Daraus folgt wiederum, dass die Tugendpflichten nur unter der
Bedingung ihrer Konformität mit dem Rechtsgesetz zu erfüllen sind. Die Verwirklichung
1235
GMS: IV, 421
Vgl. TL: VI, 379ff.
1237
Vgl. TL: VI, 380
1238
Vgl. TL: VI, 385ff.
1239
TL: VI, 390
1236
- 239 -
einer Tugendpflicht ist an die Bedingung ihrer Rechtmäßigkeit gebunden. Mit anderen
Worten heißt es, dass die Rechtmäßigkeit eine notwendige Bedingung jeder Tugendhandlung
ist. Dies erklärt, dass die vollkommenen Rechtspflichten von enger Verbindlichkeit sind,
während die unvollkommenen Tugendpflichten von weiter Verbindlichkeit sind. In den
Vorarbeiten zu der Metaphysik der Sitten ist folgendes zu lesen: „Alle Verbindlichkeit setzt
nämlich ein Gesetz voraus. Geht dieses Gesetz bestimmt und unmittelbar auf die Handlung so
daß die Art wie? und der Grad wie viel? in ihr ausgeübt werden soll im Gesetz bestimmt ist so
ist die Verbindlichkeit vollkommen (obligatio perfecta) und das Gesetz ist stricte
obligans“.1240 Im unmittelbaren Anschluss daran führt Kant folgendermaßen fort: „Gebietet
aber das Gesetz nur nicht unmittelbar die Handlung sondern nur die M a x i m e der Handlung
läßt es dem Urteil des Subjekts frei die Art wie und das Mass in welchem Grad das Gebotene
ausgeübt werden solle nur daß so viel als uns unter den gegebenen Bedingungen möglich ist
davon zu tun notwendig sei so ist die Verbindlichkeit unvollkommen und das Gesetz nicht
von enger sondern nur weiter Verbindlichkeit late obligans“.1241
Festzuhalten ist hier, dass der absolute Vorrang der Rechtspflichten vor den
Tugendpflichten jeden Konflikt zwischen beiden Pflichtarten vermeidet. Eine solche ist nur
denkbar, wenn die Rechtsgesetze und die Tugendgesetze gleichermaßen bestimmt sein
würden und sich unmittelbar auf die Handlungen beziehen würden. Dies entsprach mit
Sicherheit der Ansicht Kants in seinen früheren Werken. In der Grundlegung scheint Kant
davon auszugehen, dass der Tugendlehre sowie der Rechtslehre ein einziges formales Prinzip
zugrunde liegen. In der Metaphysik der Sitten dagegen geht Kant davon aus, dass der
Rechtslehre einerseits und der Tugendlehre andererseits zwei verschiedenen Prinzipien
zugrunde liegen. Gemeint sind einerseits das formale Prinzip sowie andererseits das materiale
Prinzip. Dieser Dualismus von formalem und materialem Prinzip, welcher erst in der
Friedensschrift Erwähnung findet1242, ermöglicht es Pflichtenkonflikte zu vermeiden. Um
Missverständnisse zu vermeiden soll allerdings gleich darauf aufmerksam gemacht werden,
dass es sich in beiden Fällen um Pflichten handelt. Die Tugendpflicht ist in keiner Weise
weniger Pflicht als die Rechtspflicht. Sowohl dem allgemeinen Tugendgesetz als auch dem
allgemeinen Rechtsgesetz kommt (als Vernunftgesetz) absolute Notwendigkeit, strenge
Allgemeinheit und die sich daraus ergebende objektive Geltung zu. Kants Einteilung der
Pflichten wehrt sich somit gegen die Gefahr ihrer Abstufung. Für Kant kann es nicht
verschiedene Grade der Verbindlichkeit von Pflichten geben. Die Gefahr einer
Pflichtenkollision ist ausgeschlossen, aber nicht aufgrund einer dem Rechtspflicht allein
zukommenden absoluten Notwendigkeit, sondern weil es sich jene unmittelbar auf
Handlungen bezieht und nicht auf die ihr zugrunde liegende Maxime.
Kants Argumentation in der Schrift Über ein vermeintes Rechts, aus Menschenliebe zu
lügen hat eine philosophische Debatte ausgelöst, die bis heute kontrovers geführt wird. Die
überwiegende Mehrheit der Kant-Kommentatoren steht dabei Kants These distanziert
gegenüber. Die einsichtigen Kommentatoren müssen jedoch einräumen, dass Kants These
ernst zu nehmen ist. Es ist unter anderem der Verdienst von Julius Ebbinghaus und Georg
Geismann entgegen einer weit verbreiteten Ansicht gezeigt zu haben, dass Kants Ablehnung
eines bedingten Rechts zu lügen keinesfalls auf ein rigoristisches Vorurteil gegen die Lüge
zurückzuführen ist, sondern konsistent rechtsphilosophisch begründet ist. Des Weiteren wird
Kants Position zur Lüge vielerlei vorgeworfen, dass sie zu einer ausweglosen
Pflichtenkollision zwischen dem rechtlichen Gebot der Wahrhaftigkeit und dem moralischen
Gebot der Hilfe zur bedürftigen Menschen führt. Es wurde jedoch gesehen, dass die
Vorrangstellung der Rechtspflichten vor den Tugendpflichten die Möglichkeit von intra1240
Vorarbeit: XXIII, 394
Vorarbeit: XXIII, 394
1242
Vgl. Frieden: VIII, 376f.
1241
- 240 -
Pflichtenkonflikte ausschließt. Konkret ergibt sich in Bezug auf das rechtliche Verbot der
Lüge folgendes: Anderen wohlzutun ist eine weite Tugendpflicht, die wir verpflichtet sind in
unsere Maxime aufzunehmen. Dieser weiten Tugendpflicht sollen wir jedoch nur soweit
nachkommen, als deren Befolgung nicht mit einer engeren Rechtspflicht kollidiert. Wenn die
weite Tugendpflicht zum Schutz des Leben anderer in Widerspruch mit der engeren
Rechtspflicht zur Wahrhaftigkeit steht, dann behält allein die Rechtspflicht die Oberhand.
Des Weiteren wurde gesehen, dass ein bedingtes Recht zu lügen die Gesellschaft eben
nicht aufrecht erhält, sondern sie vielmehr unmöglich machen würde und somit das Recht der
Menschheit verletzen würde. Damit hat Kant mitnichten einen weltfremden, folgenblinden
Rigorismus vertreten, sondern vielmehr die konsequente These der absoluten und
ausnahmslosen Notwendigkeit des Rechts. Kants wohlbegründete These, dass die Verletzung
einer Rechtspflicht unter keinen Umständen zu erlauben sei, vor allem eben auch nicht aus
einem gutartigen Motiv heraus, wie es das Gefühl des Mitleides darstellt, trägt erheblich zur
Rechtssicherheit und Rechtsgewissheit bei. Das Recht darf keine Ausnahme zugunsten des
Mitleids zulassen. Für Kant ist das Gefühl des Mitleids eine gutartige Leidenschaft, die jedoch
jederzeit „blind“, d. h. unvernünftig ist. In ihr erblickt er eine Gefahr, welche dazu verleiten
kann, wider der Pflicht zu verstoßen. In der Kritik der praktischen Vernunft führt Kant
folgendes aus: „Neigung ist blind und knechtisch, sie mag nun gutartig sein oder nicht, und
die Vernunft, wo es auf Sittlichkeit ankommt, muß nicht blos den Vormund derselben
vorstellen, sondern, ohne auf sie Rücksicht zu nehmen, als reine praktische Vernunft ihr
eigenes Interesse ganz allein besorgen. Selbst dies Gefühl des Mitleids und der weichherzigen
Theilnehmung, wenn es vor der Überlegung, was Pflicht sei, vorhergeht und
Bestimmungsgrund wird, ist wohldenkenden Personen selbst lästig, bringt ihre überlegte
Maximen in Verwirrung und bewirkt den Wunsch, ihrer entledigt und allein der
gesetzgebenden Vernunft unterworfen zu sein“.1243
Der Mensch hat also eine unbedingte Rechtspflicht zur Wahrhaftigkeit. Im Falle einer
Lüge ist der Mensch „für alle Folgen, die daraus entspringen möchten, auf rechtliche Art
verantwortlich“.1244 Er kann sich keinesfalls auf ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe
zu lügen berufen, um sein Handeln zu rechtfertigen. Worauf sich der Lügner jedoch sehr wohl
berufen kann ist das uns schon bekannte Notrecht (ius necessitatis), welches freilich kein
Recht ist. Einige Autoren wie Hans Wagner argumentieren plausibel, dass die Argumentation
aus der Rechtslehre sich auf den Notfall des Lügenden übertragen lässt.1245 Es wird
argumentiert, dass es auch in einem derartigen Fall prinzipiell keine richterliche Entscheidung
geben kann, weder zugunsten des Angelogenen (der kein Recht auf die Wahrhaftigkeit hat)
noch zugunsten des Lügners (der seinerseits kein Recht zu lügen hat). Nichts spricht dagegen
die hier anzutreffende rechtliche Offenheit voll zugunsten des Lügners zu nutzen, insofern
dieser sich in der zuvor beschriebenen Zwangslage befunden hat. Die subjektive Straflosigkeit
des Lügners würde mitnichten ein objektives Recht zu lügen begründen. Die absolute Pflicht
zu Wahrhaftigkeit in Aussagen würde somit nach wie vor bestehen bleiben. Diese These
scheint außerdem durch Kants Ausführungen in der Praktische Philosophie Powalski
bekräftigt zu werden. Dort ist zu lesen, dass im Notfall die Lüge „nicht gerechtfertigt obgleich
verziehen werden kann, obgleich sie an und vor sich nicht gerechtfertigt werden kann“.1246
Der Notfall wäre zwar vor dem Höchsten Wesen jederzeit unverzeihlich, jedoch vor dem
1243
KpV: V, 118
Vermeintes Recht: VIII, 427
1245
Vgl. Wagner, Hans: Kant gegen ein vermeintes Rechts, aus Menschenliebe zu lügen, in: Kant-Studien 69,
1978, S. 90-96.
1246
Praktische Philosophie Powalski: XXVII, 231ff.
1244
- 241 -
„Menschlichen Richter Stuhle“ könne die Gültigkeit durch die Not überwogen werden, so
dass „in Ansehung mancher Lüge [...] es oft der fragilitati humanae zu verzeihen“1247 ist.
Die vorherigen Ausführungen beziehen sich auf den Fall eines Konflikts zwischen
einer unvollkommenen Tugendpflicht und einer vollkommenen Rechtspflicht. Schwieriger zu
beantworten, ist die Frage, an welchen weiteren Kriterien sich die Urteilskraft orientieren
kann, um zu wissen, welcher Verpflichtungsgrund den Platz behalten soll (fortior obligandi
ratio vincit), wenn zwei Gründe der Verbindlichkeit prima facie gleich stark scheinen. Die
Urteilskraft kann sich hierfür an verschiedenen empirischen Kriterien orientieren. Solche
Kriterien sind uns bereits aus dem vorhergehenden Kapitel bekannt. Gemeint sind zum
Beispiel die Anzahl der Betroffenen1248, die Dringlichkeit der gebotenen Handlungen, die
Einsetzbarkeit der eigenen Kapazitäten, usw.
2. Kants Erlaubnisgesetze der reinen Vernunft vor dem Hintergrund seiner Theorie der
Politik
Kant verwendet an einigen bedeutenden Stellen seiner rechtsphilosophischen Schriften
den Begriff eines Erlaubnisgesetzes (lex permissiva). Dies ist zunächst der Fall in zwei
Fußnoten am Ende des ersten Abschnittes sowie im ersten Anhang der Friedensschrift.1249 In
der zwei Jahre später erschienenen Rechtslehre benutzt Kant den Begriff des
Erlaubnisgesetzes wiederum an drei Stellen. Eine erste Stelle findet sich im § 2 bezüglich des
Postulats der praktischen Vernunft.1250 Außerdem findet sich eine andere Stelle im § 16
bezüglich des Sachenrechts1251 sowie letztlich im § 22 bezüglich des Eherechts.1252
Bemerkenswert ist dagegen die Tatsache, dass die Verwendung des Begriffs des
Erlaubnisgesetzes nicht in Kants früheren geschichts- und moralphilosophischen Werken
vorkommt. Außerdem geht Kant in der Friedensschrift mit diesem Begriff noch
ausgesprochen vorsichtig um. Dies deutet darauf hin, dass Kant bis noch zu Beginn der
1790er Jahren sich hinsichtlich der Möglichkeit und dem Inhalt eines Erlaubnisgesetzes
unsicher war.
Dies erklärt vielleicht, weshalb über einen langen Zeitraum hinweg den
Erlaubnisgesetzen in der Kant-Forschung ausgesprochen wenig Aufmerksamkeit geschenkt
wurde. Es ist schließlich der Verdienst von Reinhard Brandt auf die gewichtige Rolle der lex
permissiva hingewiesen zu haben.1253 In einem einflussreichen Aufsatz vertrat er die These,
dass Kants Umgang mit dem Begriff eines Erlaubnisgesetzes, wie jener in der Friedensschrift
angeführt ist, auch maßgeblich für das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft gilt,
welches auf diese Weise zu einer provisorischen Bestätigung des faktischen Besitzes im
Hinblick auf künftige gerechte Zustände darstelle. Diese Interpretation der Erlaubnisgesetze
war der Anlass einer bis einschließlich heute anhaltenden Auseinandersetzung mit dem
1247
Praktische Philosophie Powalski: XXVII, 231ff.
Vgl. Cummiskey, David: Kantian Consequentialism, New-York 1996, Kapitel 8, insbesondere S. 141-143.
1249
Vgl. Frieden: VIII, 347f., 373f.
1250
Vgl. RL: VI, 247
1251
Vgl. RL: VI, 267f.
1252
Vgl. RL: VI, 276f.
1253
Vgl. Brandt, Reinhard: Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre, in:
Rechtsphilosophie der Aufklärung. Symposium Wolfenbüttel, hrsg. v. Reinhardt Brandt, Berlin – New York
1982, S. 233-285. Eine stark gekürzte Version findet sich in: Ders.: Das Problem der Erlaubnisgesetz im
Spätwerk Kants, in: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S.
69-86.
1248
- 242 -
Begriff des Erlaubnisgesetzes.1254 Die teilweise heftige Debatte, welche sich über die Deutung
durch Reinhard Brandt entflammte, kann hier nicht im Einzelnen wiedergeben werden.
Es ist jedoch festzuhalten, dass die Debatte sich vornehmlich auf die Erlaubnisgesetze
im Zusammenhang mit dem Privatrecht konzentriert hat, wobei der genauen Funktion der
Erlaubnisgesetze innerhalb Kants Rechtstheorie vom Weltfrieden weniger Aufmerksamkeit
geschenkt wurde. Mit Sicherheit handelt es sich hier um ein bislang zu wenig beachtetes
Thema, das häufig missverstanden wird und schon deshalb eine nähere Betrachtung verdient.
Das Thema, welches im Folgenden behandelt wird, soll genauer gesagt auf die Frage nach
den Erlaubnisgesetzen vor dem Hintergrund des politischen Handelns beschränkt sein. Es
handelt sich dabei um jenen Zusammenhang, in welchem Kant diesen Begriff in der
Friedensschrift eingeführt hat. Kants Erörterungen in der Rechtslehre bezüglich des
Privatrechts werden dahingegen weitgehend außer Acht gelassen.
In den folgenden Ausführungen soll die These vertreten werden, dass Kant in der
Friedensschrift einen Freiraum für die Politik anerkennt, welcher selbst einen
vernunftrechtlichen Grund hat.
2.1 Die Widersprüchlichkeit eines Gesetzes in Bezug auf bloß erlaubte Handlungen
In einem zu wenig beachteten Aufsatz aus den 1970er Jahren macht Theodor Ebert
darauf aufmerksam, dass Kant in der Einleitung der Rechtslehre zwischen zwei Bedeutungen
des Erlaubtseins unterscheidet.1255 In einem allgemeinen Sinne ist eine Handlung erlaubt,
wenn sie nicht verboten ist. Mit Kants eigenen Worten heißt es: „Erlaubt ist eine Handlung
(licitum), die der Verbindlichkeit nicht entgegen ist“.1256 In diesem allgemeinen Sinne
gehören auch gebotene Handlungen zu den erlaubten Handlungen. In einem spezifischeren
Sinne ist eine Handlung ebenfalls erlaubt, wenn sie weder geboten noch verboten ist. Kant
spricht dann von bloß erlaubten Handlungen. In Kants eigenen Worten: „Eine Handlung, die
weder geboten noch verboten ist, ist bloß erlaubt, weil es in Ansehung ihrer gar kein die
Freiheit (Befugniß) einschränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht giebt. Eine solche
Handlung heißt sittlich-gleichgültig (indifferens, adiaphoron, res merae facultatis)“.1257 Im
Gegensatz zu diesen sittlich-gleichgültigen, also bloß erlaubten Handlungen können erlaubte
Handlungen auch Pflicht sein. Zu hinterfragen ist hier, in welchem systematischen
Zusammenhang praktische Gesetze zu Handlung stehen können, die weder geboten noch
verboten sind und deren Begehung oder Unterlassung also keine Pflicht ist.
In der Friedensschrift führt Kant aus, dass der Begriff einer lex permissiva „sich einer
systematisch-eintheilenden Vernunft von selbst darbietet“.1258 Wie diese Einteilung genau
aussehen soll, wird von Kant in der Friedensschrift allerdings nicht direkt erörtert. Wenn aber
alle menschlichen Handlungen entweder geboten, verboten oder sittlich-gleichgültig sind und
wenn alle diese Handlungen jeweils unter einem Gesetz stehen müssen, dann scheint es für
jede Art von Handlungen auch ein entsprechendes Gesetz geben zu müssen, welches den
Menschen eine entsprechende Pflicht auferlegt. Gemeint sind hier Gebotsgesetze,
Verbotsgesetze und Erlaubnisgesetze. Nun soll in Erinnerung behalten werden, dass im
1254
Vgl. Oberer, Hariolf: Sittengesetz und Rechtsgesetz a priori, in: Kant. Analysen – Probleme – Kritik, hrsg. v.
Hariolf Oberer, Bd. III, Würzburg 1997, S. 157-200. In jüngerer Vergangenheit wurde diese Thematik wieder
intensiver diskutiert. Vgl. Hruschka, Joachim: The permissive law of practical reason in Kant’s “Metaphysics of
Morals”, in: Law and Philosophy 23, 2004, S. 45-72; Kaufmann, Matthias: Was erlaubt das Erlaubnisgesetz und wozu braucht es Kant?, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 13, 2005, S. 195-219.
1255
Vgl. Ebert, Theodor: Kants kategorischer Imperativ und die Kriterien gebotener, verbotener und freigestellter
Handlungen, in: Kant-Studien 67, 1976, S. 571ff.
1256
RL: VI, 222
1257
RL: VI, 223
1258
Frieden: VIII, 348
- 243 -
zweiten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Kant eine allgemeine Formel
sowie drei besondere Formeln des kategorischen Imperativs anführt – die Formel des
Naturgesetzes, die Formel der Menschheit als Zweck an sich selbst und die Formel des Reichs
der Zwecke als ein Reich der Natur. Wichtig ist dabei festzuhalten, dass alle diese Formeln
ausschließlich strikte Gebote oder Verbote aussprechen. Diese haben wiederum praktischobjektive Notwendigkeit, das heißt sie schreiben allen Menschen verbindlich vor etwas zu tun
oder zu unterlassen. Alle Maximen, welche unserem Handeln zugrunde liegen, sollen nämlich
den Charakter der Vernunftnotwendigkeit besitzen, wenn sie moralisch gelten sollen.
Aus diesen Ausführungen scheint die Schlussfolgerung hervorzugehen, dass es
innerhalb der Kantischen Rechtslehre widerspruchsfrei kein Erlaubnisgesetz geben kann. Eine
bestimmte Handlung ist nämlich bloß erlaubt, wenn es jemandem freisteht, diese Handlung
nach seinem Belieben zu tun oder zu unterlassen. Wie bereits gesehen gibt es in Bezug auf
bloß erlaubte Handlungen „gar kein die Freiheit […] einschränkendes Gesetz und also auch
keine Pflicht“1259 und somit auch keine Nötigung. Aus diesem Grunde wäre ein Gesetz in
Bezug auf solche bloß erlaubte Handlungen – also ein Erlaubnisgesetz – widersprüchlich, da
dieses Gesetz eine Nötigung zu einer Handlung enthalten würde, wozu jemand nicht genötigt
werden kann.1260 In den Vorarbeiten zur Friedensschrift bringt Kant dies folgendermaßen auf
den Punkt: „Sonst überall braucht man kein Gesetz um sagen zu können, dass etwas erlaubt
sei“.1261 Kant ist sich diesem Einwand durchaus bewusst. In der Friedensschrift schreibt er
folgendes dazu: „Ob es außer dem Gebot (leges praeceptivae) und Verbot (leges prohibitivae)
noch Erlaubnißgesetze (leges permissivae) der reinen Vernunft geben könne, ist bisher nicht
ohne Grund bezweifelt worden“.1262
Nichtsdestoweniger benutzt Kant den Begriff eines Erlaubnisgesetzes an zwei Stellen
in der Friedensschrift. Aus den vorhergehenden Ausführungen sollte deutlich geworden sein,
dass das Erlaubnisgesetz sich nicht auf sittlich-gleichgültige Handlungen beziehen kann.
Tatsächlich benutzt Kant den Begriff eines Erlaubnisgesetzes in Bezug auf sittlich nicht
gleichgültige Handlungen, das heißt auf verbotenen Handlungen.
In einem weiteren Schritt soll also auf die Frage eingegangen werden, was
Erlaubnisgesetze überhaupt sind, worauf sich diese genau beziehen und wie Kant die
Zulässigkeit solcher Gesetze begründet.
2.2 Kants Bestimmung und Begründung der Erlaubnisgesetze der reinen Vernunft
Kant führt den Begriff eines Erlaubnisgesetzes in einer langen Fußnote am Ende des
ersten Abschnitts der Friedensschrift ein. An dieser Stelle weist er zunächst darauf hin, dass
alle sechs Präliminarartikel „lauter Verbotsgesetzte (leges prohibitivae)“1263 sind, welche
bestimmte kriegsverursachende oder friedensverhindernde staatliche Handlungen und
Institutionen untersagen. Zur Erinnerung seien die sechs Verbote, die in den
Präliminarartikeln enthalten sind, kurz aufgeführt: (1) Das Verbot des geheimen Vorbehalts
bei Friedensschlüssen, (2) das Verbot der Erwerbung eines für sich bestehenden Staates, (3)
das Verbot des Wettrüstens, (4) das Verbot der Staatsverschuldung in Beziehungen auf äußere
Konflikte, (5) das Verbot gewaltsamer Intervention in die inneren Angelegenheiten eines
anderen Staates, und (6) das Verbot ehrloser Kriegshandlungen. Alle diese sechs Verbote
haben objektiv-praktische Notwendigkeit, das heißt sie binden unbedingt und ausnahmslos
jeden Machthabenden. Es ist also eine unbedingte Rechtspflicht diesen normativen Sätzen
1259
RL: VI, 223
Vgl. Frieden: VIII, 348
1261
Vorarbeit: XXIII, 157
1262
Frieden: VIII, 347f.
1263
Frieden: VIII, 347
1260
- 244 -
gemäß zu handeln. Jene bestimmen nämlich die notwendigen Bedingungen, unter denen der
Abschluss eines definitiven Friedensvertrages zur Überwindung des Naturzustandes
überhaupt erst möglich ist. Letzterer lässt sich wiederum erst auf Grundlage der drei
Definitivartikel erreichen, welche die positiven Rechtsbedingungen der Möglichkeit des
ewigen Friedens enthalten.
Anschließend teilt Kant dennoch die Präliminarartikel in zwei Gruppen ein. Er
unterscheidet zwischen leges strictae (Artikel Nr. 1, 5, 6) und leges latae (Artikel Nr. 2, 3, 4).
Während die ersteren unter allen Umständen und sofort zu erfüllen sind, hängt die Befolgung
der zweiten von den Umständen ab und kann somit zeitweilig aufgeschoben bzw. allmählich
geleistet werden. Derartige Rechtsgesetze sind Erlaubnisgesetze (leges permissivae) der
reinen Vernunft. Unter dem Begriffe eines Erlaubnisgesetzes sind hier also jene Gesetze zu
verstehen, die zwar objektiv-praktische Notwendigkeit haben, aber dennoch keinen
unverzüglichen Vollzug vorschreiben. Entsprechend erlauben sie die vorläufige
Weiterführung eines an sich unrechtmäßigen faktischen Zustandes. Wie aber begründet Kant
diese Verzögerung bei der Anwendung unbedingt gebotener Gesetze? Denn die
Vernunftgesetze sind in der Regel hier und sofort zu befolgen.
Wichtig ist an dieser Stelle festzuhalten, dass Kant sich hier mit einer spezifisch
rechtsphilosophischen Problematik auseinandersetzt. Mit Kants eigenen Worten könnte man
sagen, dass die Erlaubnisgesetze nicht generell ethische (d.h. zur Tugendlehre gehörige),
sondern spezifisch juridische (d.h. das Recht der Menschen und Staaten in ihren äußeren
Verhältnissen betreffende) Gesetze sind. Deshalb werden ausschließlich Rechtsgründe
angeführt, um die Verzögerung bei der Anwendung der unbedingt gebotenen Gesetze zu
begründen. Kant schreibt zunächst nur, dass die Verzögerung bei der Einhaltung der leges
latae erlaubt sein soll „damit sie nicht übereilt und so der Absicht selbst zuwider
geschehe“.1264 Weiteren Aufschluss gibt uns der folgende Passus: „Dies sind Erlaubnißgesetze
der Vernunft, den Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts noch so
lange beharren zu lassen, bis zur völligen Umwälzung alles entweder von selbst gereift, oder
durch friedliche Mittel der Reife nahe gebracht worden: weil doch irgend eine rechtliche,
obzwar nur in geringem Grade rechtmäßige, Verfassung besser ist als gar keine, welches
letztere Schicksal (der Anarchie) eine übereilte Reform treffen würde“.1265
Die provisorische Duldung des im Naturzustand unter den Staaten bereits Gegebenen
ist nur in jenen Fällen begründet, wo die sofortige Erfüllung einer aus der Vernunft
hergeleiteten Rechtspflicht zu einem Selbstwiderspruch führen würde, weil dadurch gegen
Recht verstoßen würde, welches selbst Ausdruck der Vernunft ist. Das Erlaubnisgesetz
gestattet also, dass unter bestimmten historischen Bedingungen, welche der Durchführung
eines Gesetzes derart entgegenstehen, dass jeder Versuch seiner sofortigen Befolgung
notwendigerweise ein Rechtsverstoß zur Folge hat, man sich der Befolgung enthalten muss.
Dies ist insofern folgerichtig, dass die unmittelbare Begehung eines Unrechts durch die
sofortige Durchführung einer gebotenen Handlung, um dadurch wiederum mittelbar einen
gebotenen Zustand zu erzeugen, selbstwidersprüchlich und somit unvernünftig ist.1266 Das
Erlaubnisgesetz ist letztlich das vernunftrechtliche Instrument, anhand von welchem eine
Pflichtkollision (freilich nicht eine Pflichtenkollision) vermieden wird. Es geht nicht darum,
eine Kollision zwischen zwei einander entgegengesetzter Pflichten zu vermeiden, sondern es
geht vielmehr darum zu vermeiden, dass eine besondere Pflicht selbstwidersprüchlich wird,
das heißt, dass ihre Erfüllung aufgrund der empirischen Gegebenheiten zu einem
umgekehrten Ergebnis führt.
1264
Frieden: VIII, 347
Frieden: VIII, 373
1266
Vgl. Oberer, Hariolf: Sittengesetz und Rechtsgesetz a priori, in: Kant. Analysen – Probleme – Kritik, hrsg. v.
Hariolf Oberer, Bd. III, Würzburg 1997, S. 199.
1265
- 245 -
An dieser Stelle soll daran erinnert werden, dass es das Postulat der reinen praktischen
Vernunft ist, welches mit apodiktischer Gewissheit besagt, dass die Staaten sowie die
Menschen den rechtlosen Naturzustand verlassen und in einen bürgerlich-gesetzlichen
Zustand eintreten sollen. Einerseits sind die Staaten dazu verpflichtet etwa ihr stehendes Heer
oder ihre Staatsschulden zur Kriegsführung abzuschaffen. Andererseits sind aber die Staaten
dem unbedingten Gebot der Selbsterhaltung verpflichtet. Genauer gesagt, sind sie an die
strenge Rechtspflicht gebunden, weiterhin ihre innere Rechtssicherheit und damit die Freiheit
ihrer Bürger zu garantieren. Genau gesehen stellen die zwei letztgenannten Pflichten die zwei
Seiten einer und derselben Pflicht dar. Es handelt sich dabei um die unbedingte Rechtspflicht
aus dem rechtlosen Naturzustand herauszutreten. Es würde ein Widerspruch entstehen, wenn
die überstürzte Erfüllung eines Präliminarartikels die eigene Existenz als Staat und das mit ihr
im Inneren bereits erreichte Maß an Rechtssicherheit und somit an bürgerlicher Freiheit
gefährden würde.1267 Die überstürzte Erfüllung der Rechtspflichten durch die Staaten, um den
Naturzustand zu verlassen, würde sich selbst widersprechen, wenn die Staaten gerade aus
diesem Grund ihre eigene Existenz gefährden müssten. Aus rechtlichen Gründen ist es also
den Staaten verboten die aus der reinen praktischen Vernunft entspringenden
Rechtsprinzipien bedingungslos in die Wirklichkeit umzusetzen. Obwohl die Staaten
unbedingten Rechtspflichten unterliegen, können sie – und dürfen sie – diesen jedoch nicht
immer sofort nachkommen.
2.3 Kants Ablehnung von Ausnahmen von den praktischen Gesetzen
Kants Forderung nach einer bedingungslosen Regelbefolgung hat ein gewisses
Unbehagen, wenn nicht sogar eine starke Ablehnung auf der Seite vieler Kommentatoren
hervorgerufen. Mit seiner strikten Beharrung auf die absolute Verbindlichkeit der
Vernunftgesetze erhebt Kant eine Gegenstimme zum vorherrschenden, empirischpragmatischen Denken in der gegenwärtigen Moral- und Rechtsphilosophie. Entgegen Kants
Beharrung auf die absolute Verbindlichkeit der Vernunftgesetze sprechen sich viele Autoren
für flexible Einzelfallentscheidungen aufgrund pragmatischer Erwägungen aus. Kant wird
unter anderem für seinen (vermeintlichen) legalistischen Rigorismus sowie für seine
Unfähigkeit die Ausnahme zu denken kritisiert. Dagegen würde Kant den Einspruch erheben,
dass die Zulassung von Ausnahmen den sanften Tod der Moral verursachen würde.
In der Kritik der reinen Vernunft unterscheidet Kant zwischen „komparativer“
(relativer) und „strenger“ (absoluter) Allgemeinheit.1268 Die erste lässt Ausnahmen zu, die
zweite jedoch nicht. Das Unterscheidungskriterium besteht für Kant in der Abhängigkeit von
der Erfahrung. Wenn eine Regel von der Erfahrung abgeleitet ist, dann lässt sie nur
komparative, mithin relative Allgemeinheit zu. Diesbezüglich ist in der ersten Kritik
folgendes zu lesen: Die Erfahrung gibt ihren Urteilen nie „wahre oder strenge, sondern nur
angenommene und komparative Allgemeinheit (durch Induction), so daß es eigentlich heißen
muß: so viel wir bisher wahrgenommen haben, findet sich von dieser oder jener Regel keine
Ausnahme“.1269 Eine Regel muss somit gänzlich von den empirischen Bedingungen
abstrahieren, um strenge, mithin absolute Allgemeinheit beanspruchen zu können. In Kants
eigenen Worten heißt es: „Wird also ein Urtheil in strenger Allgemeinheit gedacht, d. i. so,
daß gar keine Ausnahme als möglich verstattet wird, so ist es nicht von der Erfahrung
abgeleitet, sondern schlechterdings a priori gültig“.1270 Um diesen Unterschied deutlich zu
machen unterscheidet Kant ebenfalls die strenge Allgemeinheit (universalitas) einer Regel
1267
Vgl. Frieden: VIII, 373; Streit: VII, 93
Vgl. KrV: III, 29
1269
KrV: III, 29
1270
KrV: III, 29
1268
- 246 -
von ihrer bloßen Allgemeingültigkeit (generalitas).1271 Im ersten Fall ist die Geltung der
Regel universell, im zweiten nur generell.
In der empirischen Naturwissenschaft kommt man nicht ohne Ausnahmen aus. Dies ist
im Wesentlichen auf zweierlei Gründe zurückzuführen. Ein erster Grund besteht schließlich
darin, dass ihre Erkenntnisse aus unvollständigen Induktionen gewonnen wurden. Ein
weiterer Grund besteht darin, dass die Erfahrung uns vielleicht lehren kann, wie etwas
beschaffen ist, jedoch nicht, dass es nicht anders sein könnte. In der empirischen
Naturwissenschaft sind somit Ausnahmen unvermeidlich. Sie müssen jedoch selten bleiben,
weil sie sonst den Charakter der Regel als solche untergraben würden. Was dagegen die
Moral betrifft, so wurde bereits gesehen, dass sie nicht auf bloßer Allgemeingültigkeit
(generalitas), sondern nur auf strenger Allgemeinheit (universalitas) begründet werden kann.
Umso größer ist jedoch dabei die Versuchung vom „Gesetz [...] zum Vortheil unserer
Neigung [...] eine Ausnahme zu machen“1272 und dadurch die strenge Allgemeinheit des
Gesetzes in eine bloße Allgemeingültigkeit herabstufen. Insbesondere glauben die Politiker
sich sehr wohl dazu berechtigt Ausnahmen von den Vernunftgesetzen zu schaffen. Aufgrund
ihrer besonderen Stellung beanspruchen sie die Anwendungsbedingungen der
Vernunftgesetze besser zu kennen als alle anderen Menschen. Deshalb glauben sie auch
besser zu wissen, ob die Anwendung der Gesetze von Fall zu Fall angemessen sei oder nicht.
In seinen Werken hat sich Kant wiederholt dagegen ausgesprochen, weil dies die
Allgemeinheit des Gesetzes aufheben würde. Jeder hätte dann nur sein eigenes Wohlbefinden
im Auge und jeder würde sich Ausnahmen erfinden, „weil die Ausnahmen, die man
gelegentlich zu machen befugt ist, endlos sind und gar nicht bestimmt in eine allgemeine
Regel befaßt werden können“.1273 Im Lügenaufsatz schreibt Kant unmissverständlich, dass die
Erlaubnis von Ausnahmen die Regel „schwankend und unnütz“1274 machen würde. Ferner
heißt es noch, dass man die Allgemeinheit der sittlichen Grundsätze vernichten würde, wenn
man ihr auch nur die geringste Ausnahme einräumt, derentwegen allein sie den Namen der
Grundsätze führen.1275
Ausnahmen werden jedoch von Kants praktischer Philosophie nicht vollständig
verbannt. Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen mag es zunächst überraschen, dass
Kant ausdrücklich zugesteht, dass man im Feld der Tugendpraxis „einen gewissen Raum zu
Ausnahmen (latitudinen) nicht verweigern“1276 kann. In der Tugendlehre schreibt Kant
ebenfalls folgendes: „[W]enn das Gesetz nur die Maxime der Handlungen, nicht die
Handlungen selbst gebieten kann, so ist‘s ein Zeichnen, daß es der Befolgung (Observanz)
einen Spielraum (latitudo) für die freie Willkür überlasse, d. i. nicht bestimmt angeben könne,
wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden
solle“.1277 Der erwähnte Spielraum darf jedoch nicht als eine „Erlaubniß zu Ausnahmen von
der Maxime der Handlungen, sondern nur die der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch
die andere“1278 verstanden werden.
Weitere Einsichten gewinnen wir aus der Tafel der Kategorien der Freiheit. Dort
werden unter der Kategorie der Qualität die „praktische[n] Regeln der Ausnahmen
(exceptivae)“1279 erwähnt. Solche Regeln zu formulieren ist jedoch, Kant zufolge, schwer und
erfordert Weltkenntnis: „Was [...] wahren, dauerhaften Vortheil bringe, ist allemal, wenn
1271
Vgl. GMS: IV, 424
GMS: IV, 424
1273
KpV: V, 28
1274
Vermeintes Recht: VIII, 427
1275
Vgl. Vermeintes Recht: VIII, 430
1276
RL: VI, 233
1277
TL: VI, 390
1278
TL: VI, 390
1279
KpV: V, 66
1272
- 247 -
dieser auf das ganze Dasein erstreckt werden soll, in undurchdringliches Dunkel eingehüllt
und erfordert viel Klugheit, um die praktische darauf gestimmte Regel durch geschickte
Ausnahmen auch nur auf erträgliche Art den Zwecken des Lebens anzupassen“.1280 Im
Gegensatz zur Weltklugheit, die nicht von jedermann zu erwarten ist, kann die Befolgung des
Sittengesetzes selbst vom gemeinsten Verstand ohne Schwierigkeiten erwartet werden.1281 Es
darf also der Weltklugheit keine Ausnahme eingeräumt werden, es sei denn, wenn sie
praktische Regeln der Ausnahmen (exceptivae) formulieren kann. Mit anderen Worten heißt
dies, dass Ausnahmen nur insoweit berechtigt sind, als sie selbst zu Regeln werden. Die
Ausnahme ist also nur dann einzuhalten, wenn sie zur Regel wird.
2.4 Die Erlaubnisgesetze der reinen Vernunft und die Gefahr der Willkür
Es sei nun zweierlei festzuhalten. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Lesart
stellen die Erlaubnisgesetze keine Ausnahme zu einem Verbotsgesetz dar, mithin keine
Abweichung von einer Rechtsregel.1282 Sie sind somit universale Gesetze (die allgemein
gelten) und nicht bloß generelle Gesetze (die im Allgemeinen gelten).1283 Dies mag zunächst
widersprüchlich erscheinen aber die Erlaubnisgesetze bleiben Verbotsgesetze, die als solche
für jeden unbedingt und ausnahmslos verbindlich sind. Es handelt sich also nicht um Gesetze
von loser Verbindlichkeit. Es kann auch nicht Wolfgang Kersting zugestimmt werden, wenn
er behauptet, dass die Erlaubnisgesetze „als die Gültigkeit vorausgesetzter Gesetze
einschränkende Normen auftreten“.1284 Die Erlaubnisgesetze sind unbedingt geltende Gesetze,
deren Durchführung ebenso verbindlich ist wie für alle anderen Vernunftgesetze. Es geht
somit nicht um die Frage, ob die Politiker die Gesetze anwenden wollen oder nicht
(schließlich handelt es sich um eine Pflicht), sondern wie und wann jene angewandt werden
sollen. Mit welchen Mitteln und unter welchen Umständen auch immer die Vernunftgesetze
in der Realität verwirklicht werden sollen, wird von Kant nicht ausführlich thematisiert. Dies
liegt im freien Ermessen der Politiker.
Im Gegensatz zu dem was in der Sekundärliteratur noch häufig zu lesen ist, räumt
Kant der Politik einen gewissen Spielraum ein, welcher jedoch nicht zu einem Raum der
Willkür werden darf. Unter dem Begriff der Willkür sind hier die Entscheidung und das
Handeln bloß nach Gutdünken zu verstehen. Das willkürliche Handeln hebt die Bindung an
die Vernunftgesetze auf. Es läuft somit Gefahr gegen die Vernunftgesetze zu verstoßen. Für
Kant soll dagegen die Moral und das Recht stets die Oberhand behalten. Dies hat wiederum
zu bedeuten, dass selbst bei der Anwendung der Rechtsgesetze in der Wirklichkeit der
Politiker nicht bloß nach freiem Wunsch, also willkürlich, handeln darf. Der Politiker darf
seine Entscheidungen nicht willkürlich, sondern stets im Einklang mit dem allgemeinen
Sittengesetz treffen. Selbst für die Herbeiführung eines gebotenen Zwecks sind also nicht alle
Mittel tauglich. Es dürfen nicht beliebige Mittel verwendet werden, um ein Vernunftgesetz in
der Wirklichkeit anzuwenden. Die eingesetzten Mittel müssen vielmehr mit dem Grund für
die Befolgung dieses Gesetzten, also mit dem allgemeinen Sittengesetz widerspruchsfrei
1280
KpV: V, 36
Vgl. GMS: IV, 403; KpV: V, 36; VT: VIII, 402
1282
Siehe zum Beispiel die Deutung durch Joachim Hruschka in: Ders.: The permissive law of practical reason in
Kant’s “Metaphysics of Morals”, in: Law and Philosophy 23, 2004, S. 46 und noch S. 51.
1283
Vgl. Frieden: VIII, 348. Eine abweichende Interpretation findet sich bei Reinhard Brandt für den die
Erlaubnisgesetze „eine provisorische Duldung von etwas in eine lex generalis – nicht universalis – Verbotenem“
darstellen. Vgl. Brandt, Reinhardt: Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre, in:
Rechtsphilosophie der Aufklärung. Symposium Wolfenbüttel, hrsg. v. Reinhardt Brandt, Berlin – New York
1982, S. 248.
1284
Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt a.
M. 1984, Paderborn 3. Aufl. 2007, S. 195.
1281
- 248 -
zusammenstimmen. Vor diesem Hintergrund lässt es sich leicht einsehen, dass die Revolution
ebenso wie der Krieg zu ächten sind, insofern beide Mittel die Gefahr eines gebotswidrigen
Rückfalls in den zwischenmenschlichen Naturzustand enthalten. Der moralische Politiker darf
somit keinesfalls ein weltfremder Utopist sein, sondern muss umgekehrt ein geduldiger
Reformer sein.
Es ist ebenfalls wichtig zu sehen, dass Kant keine empirischen, sondern lediglich
vernunftrechtlichen Gründe anführt, um die Erlaubnis einer Verzögerung bei der
Durchführung unbedingt gebotener Gesetze zu begründen. Andersfalls würde Kants
Rechtsphilosophie vom Weltfrieden in den Empirismus übergehen. Die Erlaubnis ergibt sich
nicht zufällig aus den in der Erfahrung vorkommenden Fällen, sondern ist ein folgerichtiger
Bestandteil Kants prinzipientheoretischer Überlegungen. Die Erlaubnis ist als eine a priori
determinierbare einschränkende Bedingung der Verbotsgesetze zu verstehen.1285 Das
Erlaubnisgesetz enthält somit eine Befugnis je nach historischen Bedingungen ein
Verbotsgesetz einschränkend, das will heißen vernünftig anzuwenden. Die einschränkende
Bedingung muss in „die Formel des Verbotsgesetzes mit hineingebracht werden [...], wodurch
es dann zugleich ein Erlaubnißgesetze [wird]“.1286 Der Grund der Erlaubnis liegt also nicht in
den empirischen Gegebenheiten, sondern allein in der reinen praktischen Vernunft. Es ist
deshalb ungereimt zu behaupten, dass Kant hier die vernunftrechtliche Ebene seiner
Argumentation verlässt und sich für einen Mittelweg zwischen apriorischer Ausgangslage und
pragmatischen Überlegungen ausspricht. Zu erinnern sei hier, dass es bei Kant gar kein
Erlaubnisgesetz in Abgrenzung zum Sittengesetz gibt – und überhaupt geben kann. Die
Erlaubnis der Verzögerung wird durch das Sittengesetz selbst gegeben. Anders formuliert: Es
ist die reine praktische Vernunft selbst, welche die Verzögerung bei der Vollführung ihrer
Gebote und Verbote erlaubt. Die Staatswirklichkeit wird unter bestimmten zeitlichen
Bedingungen von der reinen praktischen Vernunft selbst – also a priori – in den
Rechtsgesetzen berücksichtigt und einbezogen. Die unvernünftige materiale Wirklichkeit und
die aus der reinen praktischen Vernunft entspringenden Rechtsprinzipien stehen sich somit
nicht starr gegenüber.
Die Vernunftgesetze sind per definitionem Gesetze, die zeitlos formuliert sind.
Darunter soll verstanden werden, dass sie nicht aus den empirischen Gegebenheiten einer
bestimmten Epoche abgeleitet sind, und dass sie nicht nur für eine besondere Epoche gelten.
Ein Problem der Politik ergibt sich erst dann, wenn diese Vernunftgesetze in eine
Zeitperspektive gesetzt werden. Ein großer Beitrag von Kant besteht somit vielleicht darin,
dass er die Zeitperspektive in seiner Rechtstheorie vom Weltfrieden einbringt. Im Gegensatz
zu dem was manchmal zu lesen ist, verliert Kants Rechtsphilosophie dadurch noch nicht ihren
apriorischen Charakter. Wie bereits gesehen wurde, stellt der Gebrauch der äußeren Freiheit
eines jeden Menschen überhaupt ein juridisches Problem dar, weil der Mensch nicht
vermeiden kann in raum-zeitlichen Gemeinschaften mit Seinesgleichen zusammenzuleben.
Die räumliche Begrenztheit der Erde und die zeitliche Begrenztheit des Lebens auf derselben
gehören zu den grundlegenden Prämissen, die das Problem überhaupt erst konstituieren,
welches Kant in der Rechtslehre zu lösen versucht. Wichtig ist an dieser Stelle zu beachten,
dass bei der Lösung des Problems Kant dagegen jegliche empirische Bedingung wie etwa
anthropologische Annahmen außer Acht lässt.
In Bezug auf die Erlaubnisgesetze fügt Kant zwei einschränkende Bedingungen hinzu.
Zum einen darf der Zweck des ewigen Friedens nicht aus den Augen verloren werden. Die
Durchführung der Verbotsgesetze, z.B. durch die Wiedererstattung der gewissen Staaten
entzogenen Freiheit oder durch den Abbau der Institution des stehenden Heeres, darf „nicht
1285
1286
Vgl. Frieden: VIII, 347
Frieden: VIII, 347
- 249 -
auf den Nimmertag (wie August zu versprechen pflegte, ad calendas graecas)“1287 ausgesetzt
werden. Ganz im Gegenteil steht das provisorisch Erlaubte stets unter der Bedingung einer
zukünftigen Stiftung eines Zustandes des Weltfriedens. Die Erlaubnisgesetze enthalten
weiterhin die unbedingte Rechtspflicht der Durchführung des Verbots. Dies bedeutet dass, die
leges latae die Erlaubnis eines bloßen Aufschubes ihrer Durchführung enthalten und zwar nur
bis sich die erste Möglichkeit einer friedlichen Änderung ergibt. Es soll daher ein
kontinuierliches Bestreben zur allmählichen Veränderung des widerrechtlichen Bestehenden
vorhanden sein.
Zum anderen bezieht sich die Erlaubnis ausschließlich auf das Ergebnis bereits
vollzogener Handlungen oder bereits vorhandener Institutionen. Sie erstreckt sich allerdings
keinesfalls auf zukünftige Handlungen, die im Rechtszustand schlechterdings Unrecht wären.
Die temporäre Beibehaltung etwa eines stehenden Heeres lässt sich keinesfalls völkerrechtlich
legitimieren, sondern bloß provisorisch dulden, und zwar nur bis sich ohne Rechtsverstoß eine
Möglichkeit der Abschaffung finden lässt. Die Institution des stehenden Heeres ist nicht mehr
als ein erlaubtes Provisorium zu betrachten. Dieser bloß provisorische Moment der Erlaubnis
wird von Kant hervorgehoben, indem er zwischen dem Besitzstand und der Erwerbungsart
unterscheidet. Kant erläutert dazu: „[D]as Verbot betrifft hier nur die Erwerbungsart, die
fernerhin nicht gelten soll, aber nicht den Besitzstand, der, ob er zwar nicht den erforderlichen
Rechtstitel hat, doch zu seiner Zeit (der putativen Erwerbung) nach der damaligen
öffentlichen Meinung von allen Staaten für rechtmäßig gehalten wurde“.1288
Die Erlaubnis bezieht sich somit ausschließlich auf den gegenwärtigen Besitzstand,
das heißt auf den unrechtmäßigen aber bereits vollzogenen Erwerb eines äußeren
Gegenstandes. Sie erstreckt sich aber nicht auf die zukünftige Erwerbungsart desselben. Dies
lässt sich dadurch erklären, dass der gegenwärtige Besitzstand das Ergebnis vergangener
Handlungen ist, die zu jenem Zeitpunkt allgemein akzeptiert wurden und sich nicht sofort
Rückgängig machen lassen. Die zukünftige Erwerbungsart bezieht sich dagegen auf
Handlungen, die noch nicht stattgefunden haben und auf welche man heute ein Einfluss hat.
In diesem Zusammengang ist Volker Gerhardt zuzustimmen, wenn er auf folgendes
aufmerksam macht: „Sieht man genau hin, was Kant mit dem ‚Erlaubnisgesetz’ eigentlich
anerkennt, dann sind es die befristete Geltung alten Rechts und der die Zukunft eröffnende
Handlungsspielraum. Damit respektiert er die Geschichtlichkeit gegebener Tatbestände in eins
mit der Zukunftsorientierung des politischen Tuns“.1289
2.5 Die Erlaubnisgesetze im Zusammenhang mit Kants Reformkonzept
Das Erlaubnisgesetz steht in einem engen Zusammenhang mit Kants
Reformkonzept.1290 Seine Rechtstheorie vom Weltfrieden zeichnet sich nämlich durch ein
Spannungsverhältnis zwischen der Zeitlosigkeit der rein rationalen Rechtsgesetze einerseits
und der Zeitbedingtheit ihrer unbedingt gebotenen Anwendung in der geschichtlichen
Wirklichkeit andererseits aus. Obwohl die jeweiligen Staaten ihre Existenz als solche
unbedingt bewahren sollen, um einen gebotswidrigen Rückfall in den zwischenmenschlichen
Naturzustand zu vermeiden, ist der zwischenstaatliche Naturzustand gleichzeitig so zu
gestalten, dass am Ende die Freiheit eines jeden Staates mit der Freiheit eines jeden anderen
unter einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann. Einerseits ist es also den Staaten
1287
Frieden: VIII, 347
Frieden: VIII, 347
1289
Gerhardt, Volker: Immanuel Kants Entwurf »Zum ewigen Frieden«. Eine Theorie der Politik, Darmstadt
1995, S. 72.
1290
Dazu siehe u.a.: Langer, Claudia: Reform nach Prinzipien. Untersuchungen zur politischen Theorie
Immanuel Kants, Stuttgart 1986.
1288
- 250 -
verboten, selbst einen unrechtmäßigen Zustand überhastet überwinden zu suchen, wenn sie
dadurch ihre eigene staatliche Existenz gefährden würden. Andererseits sind die gebotenen
Reformen trotzdem unbedingt durchzuführen, um den rechtlosen Naturzustand zu verlassen
und in einen bürgerlich-gesetzlichen Zustand einzutreten.
Das Erlaubnisgesetz ist das vernunftrechtliche Mittel, anhand von welchem dieses
Spannungsverhältnis aufgehoben wird. Das Erlaubnisgesetz öffnet nämlich einen zeitlichen
Spielraum für die Befolgung der Vernunftgesetze, indem es den Machthabenden die Befugnis
verleiht sich je nach Umständen der sofortigen Anwendung der Rechtsprinzipien zu enthalten.
Es ermöglicht somit eine langsame und unablässige, das heißt in Reformprozessen
voranschreitende friedliche Entwicklung vom Naturzustand in den Rechtszustand. In diesem
Zusammenhang ist somit Reinhard Brandt uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er schreibt:
„Das Erlaubnisgesetz Kants ermöglicht die Anwendung natur- oder vernunftrechtlicher
Normen auf die Wirklichkeit im Modus einer allmählichen Reform“.1291
Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die von Kant insbesondere in der
Friedensschrift mehrmalige Verwendung der Begriffe „allmählich“1292, „langsam“1293 und
„nach und nach“.1294 Ganz in diesem Sinne führt Kant auch in der Rechtslehre aus, dass das
Staatsoberhaupt dazu verpflichtet ist, die Regierungsart in Einklang mit der Idee des
ursprünglichen Vertrages zu bringen, und so sie, „wenn es nicht auf einmal geschehen kann,
allmählich und continuirlich dahin zu verändern, daß sie mit der einzig rechtmäßigen
Verfassung, nämlich der einer reinen Republik, ihrer Wirkung nach zusammenstimme“.1295
Wenn die republikanische Verfassung „nicht revolutionsmäßig, durch einen Sprung […],
sondern durch allmähliche Reform nach festen Grundsätzen versucht und durchgeführt wird“,
so kann jene „in continuirlicher Annäherung zum höchsten politischen Gut, zum ewigen
Frieden“1296 führen. Durch die Verwendung der Begriffe „allmählich“, „kontinuierlich“,
„langsam“ und „nach und nach“ betont Kant, dass die gebotenen Reformen in einer langsam
fortschreitenden und ununterbrochenen Zeitfolge geschehen sollen. Der moralische Politiker
soll die gebotenen Reformen allgemach und unablässig durchführen.
Die konkrete Anwendung der Vernunftgesetze in der Wirklichkeit bedeutet aber nicht
ihre Anpassung an die geschichtliche Wirklichkeit: „Das Recht muß nie der Politik, wohl aber
die Politik jederzeit dem Recht angepaßt werden“.1297 Das Gebotene ist schlechterdings
unantastbar. Überdies sei daran erinnert, dass die bloße Erkenntnis der Vernunftgesetze nicht
ausreicht, damit Politik erfolgreich sein kann. Wie bereits ausführlich angeführt wurde, liegt
dies darin begründet, dass die Kenntnis der Vernunftgesetze sowie die Kompetenz jene in
concreto anzuwenden nicht dasselbe sind.1298 Aus diesem Grunde kann eine als ausübende
Rechtslehre konzipierte Politik nicht auf Urteilskraft und Klugheit verzichten, wenn es darum
geht diese Vernunftgesetze in der Wirklichkeit umzusetzen. Im hier diskutierten
Zusammenhang besteht die wesentliche Funktion der Urteilskraft darin zu unterscheiden, in
welchen Fällen die Erlaubnisgesetze anzuwenden sind und in welchem nicht. Im Anschluss
stellt sich noch die Frage, wie diese Erlaubnisgesetze am ehesten erfüllt werden können. Der
moralische Politiker soll unter Berücksichtigung der günstigen Umstände (und durch die
Schaffung derselben) entscheiden, wann und wie die Vernunftprinzipien am besten
umzusetzen sind. Er soll den richtigen Moment und den richtigen Rhythmus für die gebotenen
1291
Brandt, Reinhard: Das Problem der Erlaubnisgesetz im Spätwerk Kants, in: Immanuel Kant. Zum ewigen
Frieden, hrsg. v. Otfried Höffe, Berlin 1995, 2. Aufl. 2004, S. 85.
1292
Vgl. Frieden: VIII, 353, 356, 367, 373
1293
Vgl. Frieden: VIII, 379, 380
1294
Vgl. Frieden: VIII, 373, 386
1295
RL: VI, 340
1296
RL: VI, 355
1297
Vermeintes Recht: VIII, 429
1298
Vgl. Gemeinspruch: VIII, 275
- 251 -
Reformen finden. Es zeigt sich, dass der Politiker nicht den Inhalt der Rechtsgesetze
bestimmt, jedoch für ihre fallgerechte Anwendung in der geschichtlichen Wirklichkeit sorgt.
Die Moral und das Recht geben den Rahmen verbindlich vor, in welchem sich die Politik zu
bewegen hat. Innerhalb dieses verbindlichen Rahmens steht es aber der Politik frei über Mittel
und Wege zu entscheiden. Es muss hier ausdrücklich festgehalten werden, dass es keine
Autonomie der Politik im etymologischen Sinne des Wortes, das heißt keine
Selbstgesetzgebung gibt, wohl aber eine Eigenständigkeit.
Die entscheidende Funktion der Erlaubnisgesetze lässt sich am Beispiel des drittens
Präliminarartikels deutlich festhalten. Wie bereits im ersten Hauptteil gesehen wurde, fordert
Kant dort die vollständige Auflösung der Institution des stehenden Heeres. Dies heißt im
Wortlaut: „Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören“.1299
Unbestritten ist also, dass das stehende Heer abgeschafft werden soll. Zugleich soll in
Erinnerung behalten werden, dass das politische Handeln am Gebot der Staatserhaltung
auszurichten ist. Kant ist sich dessen bewusst, dass unter der Bedingungen internationaler
Anarchie die überstürzte und vollständige Abschaffung des stehenden Heeres in einem
einzigen Staat gegen das Gebot der Staatserhaltung stoßen würde. Außerdem könnte eine
allgemeine Abrüstung nur recht langsam geschehen. Aus diesem Grunde gibt Kant dem
dritten Präliminarartikel die Form eines Erlaubnisgesetzes. Eine zeitliche Verschiebung bei
der Ausführung des Verbots ist somit erlaubt. Die Redewendung „mit der Zeit“ deutet schon
allein darauf hin, dass die Abschaffung des stehenden Heeres ein mittelfristiges Ziel darstellt.
Mit welchen Mitteln und unter welchen Umständen auch immer diese Gebote in der Realität
verwirklicht werden sollen, wird von Kant nicht thematisiert. Er plädiert lediglich für den
korrespondierenden Aufbau von Bürgermilizen1300, welche den partikularen
Sicherheitsinteressen der jeweiligen Staaten und dem Ziel des universellen Friedens
gleichermaßen dienen. Erneut zeigt sich hier, dass Kant in der Friedensschrift stets um eine
Vermittlung zwischen apriorischer Ausgangslage und den historisch-faktischen Bedingungen
bemüht ist und dass er dabei einen ausgeprägten politischen Realitätssinn aufweist.
1299
1300
Frieden: VIII, 345
Vgl. Frieden: VIII, 345
- 252 -
SCHLUSSFOLGERNDE BETRACHTUNG:
DIE PUBLIZITÄT ALS PRÜFSTEIN MORALISCHER POLITIK
Es wurde gesehen, dass im ersten Teil des Anhangs der Friedensschrift Kant das
Problem der Misshelligkeit zwischen Politik und Moral durch die systematische
Unterwerfung der Politik unter der Moral löst. Im zweiten Teil des Anhangs unter der
Überschrift »Von der Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transscendentalen
Begriffe des öffentlichen Rechts« widmet sich Kant der Frage, wie geprüft werden kann, ob
die Handlungsmaximen der politisch Handelnden mit den Prinzipien der Moral und des
Rechts übereinstimmen. Als Kriterium hierfür nennt er die „Publizität“.1301 Gemeint ist die
Tauglichkeit zur öffentlichen Kundgabe einer Handlungsmaxime. Mit Hilfe dieses Kriteriums
können die Handlungsmaximen der politisch Handelnden auf ihre Rechtsmäßigkeit
(juridische Legalität) hin überprüft werden. Zugleich kann auf diesem Weg das Handeln des
moralischen Politikers von jenem des politischen Moralisten unterschieden werden.
Kant gelangt zu diesem Kriterium, indem er die gesamte Materie vom öffentlichen
Recht (also vom empirischen und somit kontingenten Inhalt des positiven Rechts) abstrahiert.
Übrig bleibt dann nur dessen bloße Form, nämlich die Publizität. Im Wortlaut heißt es:
„Wenn ich von aller Materie des öffentlichen Rechts (nach den verschiedenen empirischgegebenen Verhältnissen der Menschen im Staat oder auch der Staaten unter einander), so wie
es sich die Rechtslehrer gewöhnlich denken, abstrahire, so bleibt mir noch die Form der
Publicität übrig, deren Möglichkeit ein jeder Rechtsanspruch in sich enthält, weil ohne jene es
keine Gerechtigkeit (die nur als öffentlich kundbar gedacht werden kann), mithin auch kein
Recht, das nur von ihr ertheilt wird, geben würde“.1302
Das Kriterium der Publizität bezieht sich ausschließlich auf das öffentliche Recht. Es
sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Kant in der Rechtslehre das Privatrecht (als der
„Inbegriff derjenigen Gesetze, die keiner äußeren Bekanntmachung bedürfen“), dem
öffentlichen Recht (als den „Inbegriff derjenigen Gesetze, die einer öffentlichen
Bekanntmachung bedürfen“) begrifflich gegenüber stellt.1303 Das erste ist ein bloß
provisorisches Recht. Es handelt sich um ein gültiges, jedoch im Streitfall durch keine
öffentliche Zwangsgewalt gesichertes Recht. Aus ihm leitet Kant die absolute Pflicht ab, in
den bürgerlichen Zustand einzutreten. Das Recht erlangt seine volle Wirksamkeit, erst wenn
die Gesetze öffentlich bekannt sind und ihre Einhaltung durch eine öffentliche Zwangsgewalt
gesichert ist. Das öffentliche Recht soll (der Idee nach) allen Individuen bekannt sein, die von
ihm betroffen sind. Ein Individuum kann nämlich nicht zur Einhaltung eines Rechtsgesetzes
gezwungen werden, welches nicht veröffentlicht wurde. Publizität ist somit eine notwendige
Bedingung des öffentlichen Rechts.
Kant entwickelt das Prinzip der Publizität in zwei sogenannten transzendentalen
Formeln des öffentlichen Rechts.
Die erste transzendentale Formel des öffentlichen Rechts lautet: »Alle auf das Recht
anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publicität verträgt,
sind Unrecht«.1304 Kant bezeichnet dieses erste Prinzip der Publizität als bloß negativ. Die
negative Formel des öffentlichen Rechts gibt lediglich Auskunft darüber, dass gewisse
politische Handlungsmaximen mit der Moral und dem Recht unvereinbar sind. In Kants
eigenen Worten heißt es: „[E]s dient nur, um vermittelst desselben, was gegen Andere nicht
1301
Frieden: VIII, 381
Frieden: VIII, 381
1303
Vgl. RL: VI, 210
1304
Frieden: VIII, 381
1302
- 253 -
recht ist, zu erkennen“.1305 Kant spricht in diesem Zusammenhang von einem „Experiment
der reinen Vernunft“.1306 Es geht darum sich vorzustellen, was geschehen würde, wenn die
Maximen meines Handelns zuvor öffentlich bekannt wären. Eine Handlung ist unrecht, wenn
mit guten Gründen angenommen werden kann, dass ihre vorhergehende allgemeine
Bekanntmachung auf Widerstand stoßen würde. Um es einfach auszudrücken: Jede
Handlungsmaxime, die nicht eine öffentliche Bekanntmachung vertragen würde, also
„verheimlicht werden muß, wenn sie gelingen soll“1307, ist unrecht. Im Wortlaut heißt es:
„Denn eine Maxime, die ich nicht darf lautwerden lassen, ohne dadurch meine eigene Absicht
zugleich zu vereiteln, […] kann diese nothwendige und allgemeine, mithin a priori
einzusehende Gegenbearbeitung Aller gegen mich nirgend wovon anders, als von der
Ungerechtigkeit her haben, womit sie jedermann bedroht“.1308
Nach einer Handlungsmaxime zu handeln, die dem Test der allgemeinen
Bekanntmachung nicht standhält, mithin geheim gehalten werden muss, um ihr Ziel zu
erreichen, ist somit rechtswidrig. Dies hat wiederum nicht zu bedeuten, dass jede
Handlungsmaxime, welche die Publizität verträgt, gerecht sei. Der Grund hierfür ist, dass
derjenige, welcher „die entschiedene Obermacht hat, seiner Maximen, nicht hehl haben
darf“.1309 Wenn ein Staat beispielsweise eine hegemoniale Stellung hat, also allen übrigen
Staaten zusammen militärisch und wirtschaftlich überlegen ist, dann kann er öffentlich die
Missachtung des Völkerrechts ankündigen. Das negative Prinzip der Publizität ist somit zwar
eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung der Rechtmäßigkeit.
Bevor sich dem positiven Prinzip der Publizität gewidmet wird, soll darauf
hingewiesen werden, dass Kant für das Prinzip der Publizität apodiktische Gewissheit
beansprucht. In der Friedensschrift heißt es eindeutig und unmissverständlich, dass das
Prinzip der Publizität ein „a priori in der Vernunft anzutreffendes Kriterium“ sowie „ein
Experiment der reinen Vernunft“1310 sei. Ferner führt Kant aus, dass dieses Prinzip „gleich
einem Axiom unerweislich-gewiß“1311 ist. Dies hat wiederum zu bedeuten, dass es nicht
unbedingt einer tatsächlichen, empirischen Öffentlichkeit bedarf. Denn eine tatsächliche
Öffentlichkeit ist manipulierbar und kann von dem Diskurs kontingenter Interessengruppen
beeinflusst werden, welcher gerade nicht mit den Geboten der Vernunft übereinstimmt. Georg
Cavallar stellt zutreffend fest, dass die politisch Handelnden dieses „Experiment der reinen
Vernunft […] schon dort durchführen [können], wo sich eine faktische Öffentlichkeit noch
nicht gebildet hat“.1312
Die zweite, nun positive transzendentale Formel des öffentlichen Rechts lautet
entsprechend: »Alle Maximen, die der Publicität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu
verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen«.1313 Eine Handlungsmaxime,
die notwendigerweise auf Publizität angewiesen ist, um ihr Ziel zu erreichen, steht
notwendigerweise in Übereinstimmung mit dem Recht und der moralischen Politik. Wichtig
ist an dieser Formel festzuhalten, dass Kant hier „Recht und Politik“ schreibt und somit
ausdrücklich die eigenständige Existenz der Politik anerkennt. Hier zeigt sich erneut mit aller
wünschenswerten Deutlichkeit, dass Recht und Politik nicht identisch sind: Es gibt bei Kant
keine Identität von Recht und Politik. Hier geht es nicht mehr allein um die Frage der
1305
Frieden: VIII, 381 (meine Hervorhebung)
Frieden: VIII, 381
1307
Frieden: VIII, 381
1308
Frieden: VIII, 381
1309
Frieden: VIII, 385
1310
Frieden: VIII, 381
1311
Frieden: VIII, 382
1312
Cavallar, Georg: Pax Kantiana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs »Zum ewigen Frieden«
(1795) von Immanuel Kant, Wien/Köln/Weimar 1992, S. 364.
1313
Frieden: VIII, 386
1306
- 254 -
Einschränkung der äußeren Freiheit eines jeden Menschen auf die Bedingungen ihrer
Übereinstimmung mit der äußeren Freiheit aller anderen nach einem allgemeinen Gesetz, also
um die Frage des Rechts. Es geht nun, um das, was Kant in dem direkt anschließenden Satz
als die „eigentliche Aufgabe der Politik“ bezeichnet: „Denn, wenn sie [die Maximen; F.R.]
nur durch die Publizität ihren Zweck erreichen können, so müssen sie dem allgemeinen
Zweck des Publicums (der Glückseligkeit) gemäß sein, womit zusammen zu stimmen (es mit
seinem Zustande zufrieden zu machen), die eigentliche Aufgabe der Politik ist“.1314 In seinen
Vorarbeiten zum Öffentlichen Recht definiert Kant die Politik (als Wissenschaft) ganz in
diesem Sinne als „das System der Gesetze zur Sicherung der Rechte und Zufriedenheit des
Volks mit seinem inneren und äußeren Zustande“.1315
Kant bietet hier eine entscheidende, dennoch bislang ausgesprochen wenig beachtete
Definition der genuinen Aufgabe der Politik. Mit seiner Behauptung, dass die „eigentliche
Aufgabe der Politik“ darin bestehen soll, die Menschen „zufrieden zu machen“, scheint Kant
alles, was er zuvor bezüglich der Vorrangstellung des formalen Rechtsprinzips vor dem
materiellen sowie bezüglich der Kontingenz des Glückseligkeitsbegriffs geschrieben hat,
rückgängig zu machen. Dieser Auslegung liegt aber ein grundsätzliches Missverständnis
zugrunde. Kant würde sich tatsächlich widersprechen, wenn materielle und formale Prinzipien
sich gegenüberstehen würden. Davon kann aber bei Kant schlechterdings nicht die Rede sein.
Um Kants Definition der eigentlichen Aufgabe der Politik zu verstehen, ist es erforderlich auf
die zu Beginn der vorliegenden Arbeit angeführte Definition des Menschen als ein mit
praktischer Vernunft begabten Naturwesen zurückzugreifen.1316 Dabei soll nicht übersehen
werden, dass der Mensch als Naturwesen, dies will heißen als Sinnenwesen, bezeichnet wird.
Als solches strebt er unerlässlich und unaufhörlich nach der Befriedung seiner Bedürfnisse,
das heißt nach seiner wie auch immer definierten Glückseligkeit.
Ein Problem des Rechts und der Politik tritt überhaupt nur dort auf, wo das Streben
nach Glückseligkeit mindestens zweier Menschen in Konflikt miteinander steht und den
Forderungen des allgemeinen Rechtsgesetzes zuwider läuft. Erst im Streitfall soll das formale
Prinzip Vorrang vor dem materiellen haben. Die Vorrangstellung des formalen Prinzips vor
dem materiellen bedeutet jedoch keinesfalls eine Entgegensetzung der beiden Prinzipien oder
eine Unterdrückung des naturbedingten Strebens nach Glückseligkeit. Anders formuliert: Die
Vorrangstellung des formalen Prinzips hat nicht zu bedeuten, dass das materielle Prinzip
aufgegeben werden soll. Im ersten Abschnitt vom Gemeinspruch unter dem Titel »Von dem
Verhältniß der Theorie zur Praxis in der Moral überhaupt« schreibt Kant, dass er „nicht
verabsäumt anzumerken [hatte], daß dadurch [durch die Moral; F. R.] dem Menschen nicht
angenommen werde, er solle, wenn es auf Pflichtbefolgung ankommt, seinem natürlichen
Zwecke, der Glückseligkeit, entsagen; denn das kann er nicht, so wie kein endliches
vernünftiges Wesen überhaupt“.1317 Das formale Prinzip bestimmt lediglich den Rahmen, in
dem dieses Streben sich der Vernunft gemäß zu vollziehen hat. Das allgemeine Rechtsgesetz
bestimmt nichts anderes als die Bedingungen unter denen der Mensch seine Glückseligkeit
verfolgen kann.
Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen lässt es sich leicht einsehen, von welcher
Tragweite die positive Formel des öffentlichen Rechts ist. Das positive Prinzip der Publizität
dient nämlich der Prüfung, ob die Handlungsmaximen des politischen Handelnden dem Recht
gemäß sind (formale Prinzip). Im ersten Hauptteil der vorliegenden Arbeit wurde ausführlich
1314
Frieden: VIII, 386
Vorarbeit: XXIII, 346 (meine Hervorhebung). An den zitierten Textstellen ist festzuhalten, dass Kant nicht
von „glücklich machen“ und „Glückseligkeit“ spricht, sondern (weniger anspruchsvoll) von „zufrieden machen“
und „Zufriedenheit“ spricht.
1316
Vgl. Anthropologie: VII, 322
1317
Gemeinspruch: VIII, 278; Vgl. Anfang: VIII, 116
1315
- 255 -
gezeigt, dass die bloße Erfüllung der Rechtspflichten, unangesehen der Bewegungsgründe
derselben, die notwendige und hinreichende Bedingung der Möglichkeit des ewigen Friedens
ist. Erst wenn Frieden wahrhaft gegeben ist, das heißt wenn die Menschen in einer sich
weltweit erstreckenden öffentlichen Rechtsordnung leben, ist a priori gesichert, dass sie ihre
jeweiligen Zwecke (materiale Prinzip) unabhängig von der nötigenden Willkür der anderen
verfolgen können. Diese Menschen können jeweils beliebige Zwecke verfolgen: Ob diese
moralisch oder unmoralisch sind, ist rechtlich ohne jede Bedeutung, solange (und nur
solange) die für die Erreichung dieser Zwecke jeweils erforderliche Handlungen mit der
Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen können. Die
Politik als ausübende Rechtslehre sorgt dafür, dass alle Menschen ihre je eigene wie auch
immer definierte Glückseligkeit unabhängig von der nötigenden Willkür anderer verfolgen
können.1318 In diesem ganz präzisen Sinne ist es Volker Gerhardt zuzustimmen, dass die
Politik dem Glück der Menschen verpflichtet bleibt.1319 Die eigentliche Aufgabe der Politik
als ausübende Rechtslehre besteht also letztlich darin, die Bedingungen zu schaffen, unter
denen die Staatsbürger nach ihrer je eigene Glückseligkeit frei nach Belieben streben können,
solange ihre Handlungen nur mit der Freiheit aller anderen nach einem allgemeinen Gesetz
zusammen bestehen können.
1318
Gemeinspruch: VIII, 291
Vgl. Gerhardt, Volker: Das Recht in weltbürgerlicher Absicht. Kants Zweifel am föderalen Weg zum
Frieden, in: Kant im Streit der Fakultäten, hrsg. v. Volker Gerhardt und Thomas Meyer, Berlin/New York 2005,
S. 288.
1319
- 256 -
LITERATURVERZEICHNIS
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Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (VII 117-334)
Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (VIII 33-42)
Der Streit der Fakultäten (VII 1-116)
Die Metaphysik der Sitten, I. Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (VI 203372)
Die Metaphysik der Sitten, II. Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (VI 373492)
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (VI 1-202)
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (IV 385-464)
Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (VIII 15-31)
Kritik der praktischen Vernunft (V 1-163)
Kritik der reinen Vernunft (A: IV 1-252; B: III 1-552)
Kritik der Urtheilskraft (V 165-485)
Moralphilosophie Collins (XXVIII 237-473)
Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (VIII 107-123)
Praktische Philosophie Powalski (XXVII 91-236)
Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten
können (IV 253-384)
Reflexionen (XIX ff.)
Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee (XXIII 255-271)
Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis
(VIII 273-313)
Über die Pädagogik (IX 437-500)
Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (VIII 423-430)
Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie
(VIII 411-422)
Von einem neuerdings erhobenen Ton in der Philosophie (VIII 387-406)
Zum ewigen Frieden (VIII 341-386)
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