Achtsamkeit

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Thomas Marquard
Februar 2010
im Rahmen des Grundkurses "Fragen nach Orientierung" von Prof. Dr. Michael Bongardt am
Institut für Vergleichende Ethik, FU Berlin, Wintersemester 2009/10
Zur Nutzung theatraler Mittel für die Kommunikation zwischen Lehrern
und Schülern
Meine Aufgabe in diesem Seminar ist es, theatrale Mittel vorzustellen und
erfahrbar zu machen, die für Auseinandersetzungen um ethische Fragen
hilfreich und sinnvoll sein könnten. Es ist offensichtlich (und am Anfang des
Semesters ausprobiert worden), dass durch Einbeziehung schauspielerischer
Elemente wie Szene und Rollenspiel, d.h. im weitesten Sinne körperlicher und
räumlicher Aspekte, Situationen und Fragen deutlicher und in höherer
Komplexität dargelegt werden können, als durch rein sprachliche Mittel. Wenn
jetzt am Ende des Semesters die Frage im Raum steht, wie man Menschen
erreicht, die sich Gesprächen über ethische Fragen zu verweigern scheinen,
sollen theatrale Mittel praktisch darauf überprüft werden, ob sie zu einer
Annäherung an Antworten auf diese Frage tauglich sind. Dazu einige
grundsätzliche Überlegungen:
Die bisher sinnvollste Definition von Theater stammt von Peter Brooks: "Ein
Mensch bewegt sich in einem Raum, und ein anderer schaut ihm dabei zu."
Vorausgesetzt, dass ein menschlicher Raum immer auch aus anderen
Menschen bestehen muss, da der Mensch ein wie auch immer geartetes
soziales Wesen ist, kann man diesen Satz sprachtheoretisch interpretieren und
umformulieren: "ICH (1.Person) sehe, wie DU (2.Person) dich in dem Raum
bewegst, der aus ER/SIE/ES//SIE (3.Person) besteht." Der entscheidende
Aspekt ist, dass ich nicht anders kann, als mich zu dem Menschen, den ich
sehe, in eine dialogische Beziehung zu setzen - kleine Kinder im
Kasperletheater warnen spontan den Kasper vor dem Krokodil, das sich in
seinem Rücken zeigt. Damit bin ich bereit, mich mit dem Menschen, den ich
sehe, zu identifizieren. Sowie dies geschieht, nehme ich empathisch seine
Umwelt als eigene an und setze mich mit ihr auseinander. Dadurch bin ich in
der Situation, zwei Umwelten - Räume - gleichzeitig zu erleben: meine
"bekannte", "konstante", "versicherte" und "reale" Lebenssituation und die
"neue", "situative", "spontan emotionale" und "fiktive" Situation des
Geschehens auf der "Bühne". Dies wiederum schafft in meinem Erleben einen
dritten "kritischen" Raum, der die beiden erstgenannten zueinander in
Beziehung setzt und auszugleichen versucht. So entsteht die Erregung beim
Zuschauen im Theater/im Kino (in ähnlicher Form auch beim Betrachten von
Bildern, beim Hören von Musik, beim Lesen von Texten), indem unser Hirn
ständig versucht, einen sinnvollen Zusammenhang zwischen dem spontan
Erlebten und der Erfahrung zu konstruieren.
Will man theatrale Mittel für kommunikative Zwecke nutzen, gilt es, sich die
hier angedeuteten Vorgänge grundsätzlich und situationsbezogen bewusst zu
machen. Wesentlich dafür ist das Entwickeln und Üben von Achtsamkeit.
Dieser Begriff hat nun in unserer Sprache nicht nur den Aspekt des Verstehens
beim Wahrnehmen ("auf etwas achten") sondern auch den des Respektes vor
der Eigenart des anderen ("jemanden/etwas achten") und sogar drittens den
des konformen Verhaltens ("(eine Regel) beachten"). Damit taugt
"Achtsamkeit" als zentraler Gesichtspunkt des ethischen Diskurses, vor allem
auch für die Rolle eines Lehrers.
Wichtigste Voraussetzung, einen Menschen bzw. eine Situation zu verstehen,
ist eine strukturell ähnliche eigene Erfahrung. Der Löwenanteil dieses
Vorwissens stammt natürlich aus der eigenen Biographie; allerdings kann ich
mein Wissen im willentlichen, "spielerischen" Agieren erweitern und vertiefen.
Dieses Agieren ist aus theatraler Sicht am besten formuliert als das "Ausführen
physischer Handlungen" (erfunden und im Extremen praktiziert von dem
polnischen Theatermacher und -lehrer Jerzy Grotowski). Indem ich bestimmte
körperliche Haltungen und Aktionen ausführe, erlebe ich bewusst die damit
verbundenen seelischen Regungen, mit denen ich dann zielgerichtet umgehen
kann. Ein Schauspieler gewinnt so ein Instrumentarium, sein Agieren in einem
kalkulierten Kontrast zum Rollentext zu gestalten. In solcher Arbeit sind stets
zwei Aspekte untrennbar verbunden: das eigene Ausführen der Handlung und
das Beobachten anderer, die die gleiche oder eine ähnliche Handlung
ausführen. Die notwendige dritte Komponente ist die kritische Reflexion des
Erlebten mit "Mitschülern" und Lehrern.
Dieser Ansatz geht auf die Einsicht zurück, dass jede "physische Handlung"
nicht nur ihre äußerlichen, sichtbaren Erscheinungen und den möglicherweise
vorhandenen Sprachanteil, sondern auch die darin aufgewendete Energie
kommuniziert. Ich kann eine Handlung "locker", "mühsam", "zärtlich",
"trotzig", "wütend", "verkniffen" etc.pp. ausführen, dies macht letztlich den
Impuls aus, den ich mit meiner Handlung weitergebe. Umgekehrt, d.h.
sprachtheoretisch betrachtet, ist dies der illokutionäre Aspekt des Sprechaktes
- das, was ich über den rein sachlichen, möglicherweise nicht einmal besonders
bedeutungsvollen Inhalt meiner Äußerung hinaus dem Gegenüber immer auch
mitteile, was jeder Äußerung einen Aufforderungscharakter verleiht, kurz
gesagt: das, was ich meinem Gegenüber mit meiner Äußerung antue bzw.
antun will.
Ein elementares Verständnis solcher Vorgänge sollte Wege der Kommunikation
ermöglichen, die jenseits des im Sprechen geäußerten "Argumentes" liegen,
ohne jedoch den Zusammenhang der konstituierenden Elemente der Sprache
zu verlassen. Durch die Kenntnis subtiler kommunikativer Strukturen, die in
der Sprachwissenschaft und Psychologie theoretisch und in theatralen Medien
empirisch erforscht werden, kann ich zum einen meinen Gesprächspartner
genauer verstehen, zum anderen Umwege erkennen, auf denen ich seine
Aufmerksamkeit gewinnen könnte. Ein Lehrer ist darauf angewiesen, sich mit
Menschen zu verständigen, deren Verständigungsfähigkeit er durch seine
Tätigkeit gerade entwickeln und fördern soll. Theatrale Arbeitsweisen können
dabei Ebenen eröffnen, auf denen eine scheinbar unmögliche Kommunikation
zum Gelingen gebracht werden kann.
Da die anfangs aufgestellte Frage jetzt wieder in den Blick gerückt ist, muss
noch ein weiterer Gesichtspunkt angesprochen werden. Das Theater in all
seinen Formen durch die Geschichte hindurch hat immer nur ein
Verständigungsangebot machen können. Ihm ist es durch seine ureigenste
Struktur, ein temporärer Guckkasten zu sein, unmöglich, nachhaltig zu
manipulieren, auch wenn es immer wieder dazu instrumentalisiert werden
sollte. Wenn man sich dies klar macht, ergibt sich auch für den Lehrer, dass er
in theatralen Mitteln keine Strategie gewinnt, die erfolgreiches Kommunizieren
garantiert. Andererseits ist der entscheidende Punkt in der Kommunikation mit
Schülern, Gesprächsangebote glaubhaft zu machen und aufrecht zu erhalten,
die vom Schüler an einem von ihm selbst zu bestimmenden Zeitpunkt
gebraucht und genutzt werden könnten.
Ein Mensch, der in den ihm vertrauten Wegen der Kommunikation für sich
keinen positiven Sinn mehr erkennt, ist darauf angewiesen, in ungewöhnlichen
Bahnen den Kontakt zu seiner Umwelt wiederzufinden - sonst hätten die vielen
Angebote zur Stärkung des Selbstbewusstseins, vom Friseur bis zu
Scientology, nicht so grandiosen Erfolg. Ebenso braucht ein Mensch, der sich
unter dem Druck seiner persönlichen Lebenswelt keinem irgendwie kritischen
Diskurs stellen kann oder darf, für den Fall, dass er den Druck nicht mehr
aushält, das Wissen um Gesprächsangebote, die ihm zu einem Ausweg
verhelfen könnten, bevor er Amok läuft, gegen sich oder andere.
Wenn hier vorher von Achtsamkeit die Rede war, so besteht diese nicht zuletzt
auch in dem Versuch, einen virtuellen Kommunikationsraum auf möglichst
vielen Ebenen glaubhaft zu vertreten. Dadurch erhält man sich auch die
Chance, den Moment nicht zu verpassen, in dem jede noch so hermetische
Blockade sich irgendwann öffnet.
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