Bodo Straub. Schlaglicht Libanon: Hat das konfessionelle Proporz-Modell noch eine Zukunft? Vortrag in Bad Boll am 4. Juli 2015. 1. Einleitung Meine Damen und Herren, guten Tag. Mein Vortrag trägt den Titel: „Schlaglicht Libanon: Hat das konfessionelle Proporz-Modell noch eine Zukunft?” Kurz gesagt geht es darum: 18 verschiedene Konfessionen leben zusammen und teilen die Macht untereinander auf – in einem Land mit nur vier Millionen Einwohnern und in einer Region, in der die Religion eine sehr große Rolle spielt. Beginnen möchte ich mit einem Zitat des libanesischen Dichters, Malers, Bildhauers und Philosophen Gibran Khalil Gibran, der schon 1932 sagte: „Pity the nation divided into fragments, each fragment deeming itself a nation.“ Dies ist die exzellente Beschreibung einer Staatsform, oder genauer eines Phänomens, das seit seiner Gründung und noch vorher die wichtigsten Bereiche von Gesellschaft und Politik des Libanon dominiert – des Konfessionalismus. Für Libanesen und Beobachter liegt hier der Schlüssel darin, dass der Libanon heute dort steht, wo er steht – im Guten wie im Schlechten. Was ist das Positive? - Seit dem Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1990 vergingen 25 Jahre, in denen die Politik und nicht die Gewalt als Konfliktlösungsstrategie dominierte. Punktuell gab es allerdings sehr wohl offene, gewaltsame Auseinandersetzungen, auch nach dem Abzug der israelischen und syrischen Besatzungstruppen in den Jahren 2000 beziehungsweise 2005. - Zwischenzeitlich erlebte der Libanon einen großen wirtschaftlichen Aufschwung. - Bis 2009 fanden relativ regelmäßige, freie und faire Wahlen statt mit relativ hoher politischer Partizipation. Regierungen haben in der Regel gewaltfrei gewechselt. - Weiterhin ist das Land relativ stabil trotz der Kämpfe in Syrien, die zunehmend auch eine kon- fessionelle Dimension bekommen und trotz des massiven Zustroms syrischer Geflüchteter; aktuell gehen wir von rund 1,4 Millionen Flüchtlingen aus Syrien und etwa 300.000 aus Palästina aus. Was ist negativ? - Das Parlament wurde 2009 letztmals gewählt, das nächste Mal wohl frühestens 2017 - Seit über einem Jahr hat das Land keinen Präsidenten - Seit 2009 vergingen insgesamt 15 Monate ohne Regierung; die aktuelle trifft sich zwar, be- wegt aber wenig - Ausufernde Korruption und Staatsverschuldung - Extreme sozioökonomische Ungleichheit - 2008 erlebte der Libanon eine Phase extremer politischer Instabilität, es gab Kämpfe und meh- rere Tote in Beirut und anderen Teilen des Landes. 1 Bodo Straub. Schlaglicht Libanon: Hat das konfessionelle Proporz-Modell noch eine Zukunft? Vortrag in Bad Boll am 4. Juli 2015. Die Frage ist also: Was für eine Zukunft hat dieses System? 1. Konfessionalismus: Definition, Kriterien, Charakteristiken Beginnen wir mit der Theorie: Jetzt ist schon mehrmals der Begriff „Konfessionalismus“ gefallen. Er ist aus dem Englischen Wort „confessionalism“ entlehnt. Alternativ könnte man, wie im Titel des Vortrags, vom „konfessionellen Proporzsystem“ sprechen. Auf Englisch ist auch der Begriff „sectarianism“ weit verbreitet. Andere sprechen sogar von einer „konfessionellen Oligarchie“ oder vom „konfessionellen Feudalismus“. Auf der theoretischen Ebene wurde das System, das wir heute im Libanon finden, zuerst von Arend Lijphart beschrieben, aber nicht als Konfessionalismus, sondern als Konkordanzdemokratie, als demokratisches System in gesellschaftlich segmentierten, aber stabilen Demokratien. Die Entscheidungen werden dabei möglichst einstimmig, nach Verhandlungen, getroffen. Vier Charakteristiken definiert Arend Lijphart für eine Konkordanz-Demokratie: 1. Regierung durch eine großen Koalition der Eliten aller wesentlichen Segmente der pluralen Gesellschaft; 2. Veto-Recht für die einzelnen Gruppen; 3. Proportionalität als wesentlicher Maßstab der politischen Vertretung; 4. Ein hoher Grad an Autonomie für jedes Segment bei internen Angelegenheiten. Die Macht wird dabei institutionell so aufgeteilt, dass keine Gruppe oder kein Interesse zu keiner Zeit dominieren kann. Wichtig ist, hier zu beachten: Es sind die Eliten, die miteinander interagieren, nicht die Bevölkerung. Die verschiedenen Gruppen kann man sich also wie viele kleine Pyramiden vorstellen – an der Spitze die Eliten und als Basis deren Anhänger; dies führt dazu, dass die politische Macht auch aufgrund von wirtschaftlichen Ressourcen in den Händen weniger konzentriert wird. 2. Konfessionalismus im Libanon Was hat das alles jetzt mit dem Libanon zu tun? Das möchte ich zeigen, indem ich die vier Kriterien Lijpharts am libanesischen Beispiel durchspiele. Ich will dabei zum einen die institutionellen Rahmenbedingungen aufzeigen, andererseits aber auch zeigen, wie sich das Ganze in der Praxis auswirken kann und zu welchen Problemen es führt. 2 Bodo Straub. Schlaglicht Libanon: Hat das konfessionelle Proporz-Modell noch eine Zukunft? Vortrag in Bad Boll am 4. Juli 2015. Eins muss man sich dabei vor Augen führen: Der Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1990 wurde zu großen Teilen als Konflikt zwischen Anhängern unterschiedlicher Konfessionen ausgetragen. Aber das Abkommen von Taif, das diesen Krieg beendete, schrieb den Konfessionalismus nur noch mehr fest. Das Problem wurde also zur Lösung – ein Phänomen, das uns auch später noch einmal begegnen wird. a. Regierung durch eine große Koalition der Eliten. Der Libanon erlangte seine Unabhängigkeit von der französischen Mandatsmacht im Jahr 1943, als der damalige Premierminister Riad el-Solh (Sunnit) und Staatspräsident Beshara el-Khoury (Maronit) ein Abkommen trafen, das als National Pact in die Geschichte einging. Die libanesische Unabhängigkeit war also nicht Ergebnis einer breiten Volksbewegung, sondern einer Abmachung zweier politischer Führer, die als Vertreter verschiedener Konfessionen auftraten. Diese Episode illustriert anschaulich die Rolle der Eliten in der libanesischen Politik. i. Institutionell: Ruling Troika, Kabinett Institutionell drückt sich diese große Koalition so aus, dass die wichtigsten politischen Ämter aufgrund der Konfession vergeben werden – der Staatspräsident ist Maronit, der Premierminister Sunnit und der Parlamentspräsident Schiit. Diese Praxis der „Ruling Troika“ ist aber nicht rechtlich, sondern traditionell legitimiert, und wird häufig als „unsaubere Konkordanz“ gewertet, weil sie Vertreter anderer Konfessionen außen vor lässt und die höchsten exekutiven Ämter auf Maroniten und Sunniten konzentriert. Auch die Zusammensetzung des Kabinetts, dem laut Verfassung (Art. 65) die exekutive Macht anvertraut ist, erfolgt nach konfessionellem und regionalem Proporz. Letztlich hängt die Effizienz des gesamten Systems von der Zusammenarbeit unter den Eliten ab. Der informelle Konsens ist in der Regel das Mittel der Regierung. Das führt dazu, dass formale Wege schnell verlassen werden – Beispiel Jahreshaushalt: Den gibt es nicht, stattdessen werden die Einnahmen durch Verhandlungen verteilt. Dieses Vorgehen ist enorm intransparent und öffnet so der Korruption alle Türen. ii. Informell: Parteien (konfessionell motiviert) Als Eliten sind in diesem System die Inhaber hoher politischer Ämter zu verstehen, sowie die Anführer von Parteien. Noch ein paar Gedanken zu den Parteien: Der Libanon verfügt traditionell über eine sehr vielfältige und kompetitive Parteienlandschaft; werfen wir mal einen Blick auf das aktuelle libanesische Parlament, und sie bekommen einen Eindruck: 3 Bodo Straub. Schlaglicht Libanon: Hat das konfessionelle Proporz-Modell noch eine Zukunft? Vortrag in Bad Boll am 4. Juli 2015. Democratic Left National Liberal Movement; 1 Party; 1 Armenian Islamic Group; 1 Democratic Liberal Party; 1 Independents; 11 Free Patriotic Movement; 19 Marada Movement; 3 Armenian Revolutionary Federation; 2 Social Democrat Hunchakian Party; 2 Murr Bloc; 2 Amal; 13 Kataeb; 5 Lebanese Democratic Party; 4 Future Movement; 26 Lebanese Forces; 8 Solidarity Party; 1 Syrian Social Nationalist Party; 2 Other; 1 Glory Progressive Movement; 2 Socialist Party; 7 Loyalty to the Resistance; 12 Arab Socialist Ba'ath Party; 2 (Grafik: Straub) Allerdings sind Parteien in der Regel das Ergebnis eines Phänomens, das zum Beispiel Robert A. Dahl so beschrieben hat: Gruppen lösen in pluralen Gesellschaften die (inhaltlich-programmatischen) Parteien ab – auch wenn sie sich theoretisch an alle Libanesen richten, sind die wichtigsten Parteien eindeutig konfessionell geprägt und vertreten die Interessen der jeweiligen Gruppe. Allerdings gibt es innerhalb einer Konfession häufig mehrere wichtige Parteien. Die Parteien sind in der Regel das Ergebnis komplexer Patronage-Beziehungen, die familiär, lokal, konfessionell, wirtschaftlich und persönlich motiviert sind. Im Endeffekt sind die meisten, mit Ausnahme der Hisbollah, Mittel, mit denen die jeweiligen Kandidaten ihre persönlichen Ziele verfolgen. Häufig sind diese Beziehungen streng hierarchisch und patriarchalisch organisiert, GeschlechterUngerechtigkeiten bestehen fort. Die Eliten sind überaltert, haben schon zum großen Teil am Bürgerkrieg teilgehabt und sind gerade dabei, ihre Söhne oder Schwiegersöhne an der Macht zu installieren – das System ist somit undurchlässig und nimmt teilweise feudale Züge an. So entsteht eine wechselseitige Abhängigkeit: Die Parteien mobilisieren ihre Anhängerschaft mit dem Argument der gemeinsamen Konfession, indem sie sich teilweise als Beschützer der jeweiligen Gemeinschaft inszenieren, die religiösen Gefühle der Bevölkerung manipulieren und so die Macht innerhalb der Gruppe monopolisieren. Viele der aktuell wichtigsten Politiker und Parteispitzen waren Milizenführer während des Bürgerkriegs oder stammen von ihnen ab. 4 Bodo Straub. Schlaglicht Libanon: Hat das konfessionelle Proporz-Modell noch eine Zukunft? Vortrag in Bad Boll am 4. Juli 2015. iii. Probleme, die dadurch entstehen: a. Aktuelle, zusätzliche Spaltung 8./14. März. Aktuell hat die Situation eine weitere Dynamik: Seit 2005 befinden sich zum ersten Mal seit langer Zeit keine ausländischen Besatzungstruppen mehr im Libanon (Syrien 1976 – 2005, Israel 1982 – 2000). Was zu Beginn als Chance für eine freie Entwicklung des Landes galt, hat die innerlibanesische Spaltung nur verschärft – aber zumindest hat es den Überblick vereinfacht: Change and Reform Bloc; 29 March 14; 58 March 8; 29 ProGovernment Independents; 10 (Grafik: Straub) Zwei etwa gleich große Parteienkoalitionen, die Bewegung des 8. März (außenpolitisch nahe am syrischen Präsidenten Bashar al-Assad und Iran) und des 14. März (außenpolitisch nahe an der syrischen Opposition, den USA und Saudi-Arabien), stehen sich seither unversöhnlich gegenüber. Ein Blick auf die Abgeordneten im Parlament macht die konfessionelle Dimension dieses Konflikts deutlich: 5 Bodo Straub. Schlaglicht Libanon: Hat das konfessionelle Proporz-Modell noch eine Zukunft? Vortrag in Bad Boll am 4. Juli 2015. 25 20 08. Mrz 14. Mrz 15 10 5 Alawiten Drusen Schiiten Sunniten Christl Minderheit Protestantisch Armenisch Katholisch Armenisch Orthodox Griechisch Katholisch Griechisch Orthodox Maroniten 0 Fast alle sunnitischen Abgeordneten gehören zum 14. März, und fast alle schiitischen zum 8. März. Auf beiden Seiten finden sich christliche Abgeordnete. Wenn ich also von der „Spaltung“ der libanesischen Bevölkerung spreche, so ist damit einerseits die Spaltung entlang von Parteigrenzen gemeint; da aber die Parteien insgesamt ebenfalls auseinander treiben, verschärft dies die spaltende Dynamik zusätzlich. b. Ruling Troika Ein Problem mit der Ämtervergabe nach Konfession ist auch, dass das Amt dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird und nur als Mittel zum Zweck gilt. Beispielsweise gilt der Präsident als Wahrer Maronitischer Interessen, kann damit aber eben nicht ein neutraler Präsident aller Libanesen sein. Der Vorschlag von Michel Aoun, selbst Kandidat, zeigt, was ich meine: Er will den Präsidenten in Zukunft vom Volk wählen lassen, aber in zwei Schritten: Im ersten Schritt sollen alle Christen abstimmen, und die beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen stellen sich dann der Gesamtbevölkerung zur Wahl. c. Parteien Problematisch wird es auch, wenn es den Parteien nicht gelingt, ihren Teil des Handels einzuhalten – bisher lautet das Prinzip: Wenn jede Konfession an sich denkt, ist an jede gedacht. Aber aktuell hat beispielsweise das sunnitisch geprägte Future Movement das Problem, dass es seit 2009 finanzielle 6 Bodo Straub. Schlaglicht Libanon: Hat das konfessionelle Proporz-Modell noch eine Zukunft? Vortrag in Bad Boll am 4. Juli 2015. Schwierigkeiten durchlebt. Deshalb konnte es, wie ein Parteioffizieller zugibt, nicht so viele Stipendien oder medizinische Infrastruktur bereitstellen oder Jobs im öffentlichen Sektor vermitteln, wie erwartet wurde. Selbst die Angestellten der Partei werden nur unregelmäßig bezahlt. Das führt einerseits zu einem Legitimationsproblem und bietet beispielsweise in diesem Fall auch den Nährboden für religiösen Extremismus, andererseits sorgt es aber auch für eine sozio-ökonomische Spaltung entlang konfessioneller Linien. b. Veto-Recht i. Formell nicht vorgesehen Ein zu Recht häufig genannter Vorteil des libanesischen Konkordanzsystems ist, dass es seit Gründung des Libanon eine strukturelle Garantie gegen eine totalitäre Regierung bietet, in der Vertreter einer Konfession über die anderen herrschen – gemäß dem Prinzip „La ghalib wa la maghlub“ (kein Sieger und kein Besiegter). Gesetze werden beispielsweise im von einem Sunniten geleiteten Kabinett initiiert, im von einem Schiiten geführten Parlament beschlossen und von einem christlichen Präsidenten unterzeichnet. Aber formell hat keine Konfession ein Veto-Recht. ii. Durch Spaltung vereinfacht: Beispiel Präsident De facto hat natürlich jede der bedeutenden Parteien durch ihre Verbündeten die Möglichkeit, den Prozess zu blockieren – wie aktuell im Fall der Präsidentschaftswahl: Samir Geagea und Michel Aoun, Politiker und frühere Warlords aus unterschiedlichen Allianzen, konkurrieren um das Amt. Allerdings haben beispielsweise Aouns Partei Free Patriotic Movement und deren Verbündete, die Hisbollah, beschlossen, an keiner Parlamentssitzung teilzunehmen, solange nicht ein „Konsenskandidat“ gefunden wurde, also: So lange nicht Aoun gewählt wird. Damit ist seit 15 Monaten der Prozess blockiert, der Kollateralschaden ist riesig – auch das ist eine Form des Veto. iii. Problem a. Außerdem: Hisbollah hat „militärisches Veto“ Ein Sonderfall ist in all dem die schiitische Partei Hisbollah. Im Jahr 2008 beschloss die Regierung zwei Gesetze, bei denen sich die „Partei Gottes“ übergangen fühlte. Die Miliz der Hisbollah besetzte handstreichartig Teile Beiruts und setzte im Abkommen von Doha durch, dass ihr im Kabinett eine Veto-Macht zugestanden wurde; damit machte sie deutlich, dass parlamentarische Mehrheiten im Libanon dem konfessionsübergreifenden Konsens unterzuordnen sind. Allerdings war das Kabinett mit dem Hisbollah-Veto quasi beschlussunfähig. Es kann zwar keine Konfession alleine über alle anderen dominieren, doch gibt es informell Möglichkeiten der Blockade. Zudem gilt das militärische Drohpotenzial der Hisbollah spätestens seit den Ereignissen von 2008 als informelles Veto, das keine der anderen Gruppen kontern kann. 7 Bodo Straub. Schlaglicht Libanon: Hat das konfessionelle Proporz-Modell noch eine Zukunft? Vortrag in Bad Boll am 4. Juli 2015. c. Proportionalität i. Parlament, Kabinett Die Vertretung der Konfessionen in den höchsten Ämtern habe ich schon angesprochen, außerdem ist das Parlament proportional zwischen den einzelnen Konfessionen aufgeteilt (je 50 Prozent für Christen und Muslime mit entsprechenden Unterteilungen). Auch im Kabinett ist die Verteilung entsprechend. ii. Problem: Entspricht nicht Realitäten, erleichtert ausländische Einmischung Dass dies aber nicht mehr den gesellschaftlichen Verhältnissen entspricht, ist ein offenes Geheimnis – es gilt als sicher, dass die Christen im Parlament überrepräsentiert sind im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung. Immer wieder werden Forderungen nach einer Neu-Aufteilung des Parlaments laut, aber bisher konnte sich keine davon durchsetzen. Außerdem wird häufig die bereits angesprochene Aufteilung der wichtigsten politischen Ämter kritisiert. Seit Jahren debattiert der Libanon über ein neues Wahlgesetz – mit teilweise völlig absurden Vorschlägen. So gilt als Favorit unter verschiedenen christlichen Parteien (selbst von verschiedenen Koalitionen) das „Orthodox Law Proposal“, bei dem man nur für Kandidaten der eigenen Konfessionen stimmen kann. Das System ist eigentlich auf Balance aus, selbst um den Preis der Verhältnismäßigkeit. Um aber die eigene Position im Vergleich zu den anderen aufzuwerten und die Balance zu umgehen, greifen die verschiedenen Gruppen in verfahrenen Situationen häufig auf ausländische Verbündete wie etwa mächtige Nachbarstaaten zurück, die somit eine gewaltige Rolle dabei spielen, Konflikte im Libanon hervorzurufen oder beizulegen. d. Autonomie in inneren Angelegenheiten Falls kulturelle Bruchlinien zu tief sind, schlägt beispielsweise Robert A. Dahl vor, die verschiedenen Gruppen in verschiedene politische Einheiten zu unterteilen und ihnen so eine gewisse Autonomie zuzugestehen, allerdings besteht auch hierin das fundamentale Problem der pluralistischen Demokratie: die Balance zwischen Autonomie und Kontrolle zu finden. i. Zivilrechtlich große Autonomie, große Macht für politische und religiöse Führer Tatsächlich ist von den libanesischen Sekten häufig die Rede als Staaten im Staate. Weil die Konfession den zivilrechtlichen Status der Libanesen bestimmt und eigene Zivilgerichte für fast alle der genannten Konfessionen existieren, können politische Führer großen Einfluss auf die Anhängerschaft ihrer jeweiligen Konfession ausüben – in Zusammenarbeit mit religiösen Persönlichkeiten wie beispielsweise dem sunnitischen Großmufti oder dem maronitischen Patriarchen. Damit überschreitet der Konfessionalismus die Grenze des Politischen und spielt auch im gesellschaftlichen Zusammenleben eine bedeutende Rolle; das zeigt zum Beispiel die Diskussion um die 8 Bodo Straub. Schlaglicht Libanon: Hat das konfessionelle Proporz-Modell noch eine Zukunft? Vortrag in Bad Boll am 4. Juli 2015. Zivilehe, die bisher im Land nahezu unmöglich zu schließen ist – auch durch den Druck religiöser Vertreter – oder die Tatsache, dass unterschiedliche Bildungseinrichtungen für die verschiedenen Konfessionen existieren. Und weil Konfessionen die Rolle des Staates zunehmend ersetzen, wird die Regierung so weit geschwächt, dass sowohl nicht-staatliche Akteure (wie der bewaffnete Arm der Hisbollah) als auch andere Staaten großen Einfluss gewinnen. ii. Problem: Z.B. Zivilehe, verhindert „cross-cutting cleavages“ Obwohl Lijphart davon ausgeht, dass eine Konkordanzdemokratie cross-cutting cleavages entwickeln kann, also die Konfessionsgrenzen überschneidende Identitäten schaffen, wird dies für den Libanon häufig bestritten; das konfessionelle System erreicht eher das Gegenteil. Zudem unterschätzt Lijpharts Theorie beispielsweise den transnationalen Charakter religiöser Identitäten, was im Libanon dazu führe, dass ausländische Akteure bedeutenden Einfluss auf die Anhänger der jeweiligen Konfessionen haben – etwa der Iran auf die Schiiten, wie ich 2010 erfahren habe, als Ahmadinejad zu Besuch war. iii. Identität Ein weiteres Problem, das damit zusammenhängt, ist, dass die konfessionelle Identität Gefahr läuft, wichtiger zu werden als die libanesische. 3. Welche Chance bleibt für die Zukunft? a. Wer will das System ändern? i. Verfassung Sowohl Artikel 95 als auch das Taif-Abkommen geben die Abschaffung des politischen Konfessionalismus als Ziel aus. ii. Zivilgesellschaftliche Akteure Es gibt auch eine kleine, aber sehr aktive Gruppe, die immer wieder Demos im Libanon abhält – gegen den Konfessionalismus, für Säkularisierung und gegen die alten, immer gleichen Eliten. Erst im Mai fand wieder eine Demo in Beirut für die Zivilehe statt – es nahmen aber nur ein paar Hundert Leute daran teil, wie schon seit Jahren. Dennoch hat der Libanon einen sehr aktiven NGO-Sektor und eine Zivilgesellschaft; darauf werden wir im Workshop noch genauer eingehen, und ich bin sicher, Raji kann zu dem Punkt in den Fragen auch gleich noch einiges sagen. Nur ein Beispiel: Die NGO LADE „Lebanese Association for Democratic Elections“ hat Wahlbeobachter bei Kommunalwahlen durchgesetzt, was wichtig ist - gerade weil Wahlen eben häufig sehr konfessionell aufgeladen sind. Im NGO-Bereich engagieren sich auch viele Jugendliche, die sie sich immer mehr von der aktiven Politik abwenden, wie jüngere Umfragen nahe- 9 Bodo Straub. Schlaglicht Libanon: Hat das konfessionelle Proporz-Modell noch eine Zukunft? Vortrag in Bad Boll am 4. Juli 2015. legen. Gerade über soz. Netzwerke ist aber die jüngere Generation auch extrem vernetzt, es gibt FBGruppen, die sich mit dem Thema beschäftigen, etc. b. Wer will es beibehalten? 1. Politische Elite durch Klientelismus, Medien In der Bevölkerung ist das System mehrheitlich akzeptiert, aber gerade in Beirut zunehmend umstritten – beispielsweise an der Frage des Wahlgesetzes. Wenn die politische Elite über den Konfessionalismus diskutiert, geht es eher um eine Überarbeitung des bestehenden Systems als um dessen Abschaffung – zu der ja, wie ich gezeigt habe, formal durchaus eine Absicht besteht. Aber sowohl die Koalition des 14. als auch die des 8. März stimmen darin überein, das System im Wesentlichen zu erhalten. Wichtig ist dabei auch zu betonen: Wir sprechen hier nicht nur über ein politisches System, es hat auch weit reichende gesellschaftliche Auswirkungen. Lediglich 2010 ging Parlamentspräsident Nabih Berri einmal soweit, ein Komitee zu fordern, das sich mit der Abschaffung des Konfessionalismus beschäftigen sollte. Der Aufschrei war groß, und das Projekt wurde nicht weiterverfolgt. Ein Mittel, durch das sich das politische System selbst stabilisiert, sind die Medien: Sender Politischer Akteur Konfession Pol. Allianz Future TV Future Movement Sunnitisch 14. März Murr TV Gabriel Murr GriechischOrthodox 14. März NBN Amal Schiitisch 8. März al-Manar Hisbollah Schiitisch 8. März OTV Free Patriotic Movement Maronitisch 8. März al-Jadeed nicht eindeutig (ehem. Anti-Future) nicht eindeutig eher 8. März LBCI nicht eindeutig (ehem. Lebanese Forces) nicht eindeutig, eher maronitisch eher 14. März Télé Liban Präsident, Regierung alle Acht Fernsehsender, fünf davon mit klarer konfessioneller Ausrichtung, tragen dazu bei, das System in seiner Charakteristik zu erhalten Wer soll Alternativen aufzeigen? Das System zerstört sich also und wiederholt sich dennoch, eine Schlange, die ihren eigenen Schwanz auffrisst. 10 Bodo Straub. Schlaglicht Libanon: Hat das konfessionelle Proporz-Modell noch eine Zukunft? Vortrag in Bad Boll am 4. Juli 2015. c. Weitere Einflussfaktoren wo stehen wir jetzt? i. Bürgerkrieg Syrien Der syrische Bürgerkrieg destabilisiert das Land jetzt schon. Es gab heftige Kämpfe in der Vergangenheit, zum Beispiel in Tripoli oder in Arsal an der östlichen Grenze. Zudem die drängende Flüchtlingsproblematik: Weit über eine Million Geflüchtete, dem Land fehlen aber auf allen Ebenen die erforderlichen Ressourcen. Zudem ist der Krieg in Syrien zunehmend konfessionell geprägt, das verstärkt auch das Problem im Libanon. Unterschiedliche Konfliktparteien haben natürlich auch unterschiedliche Interessen im Libanon – Assad eher pro Status Quo, Islamisten dagegen, die ursprüngliche syrische Opposition kämpft gegen die Hisbollah... ii. Internationale Akteure 1. Regionale Akteure – Iran, Saudi-Arabien, Türkei… All diese Akteure sind für Veränderungen in ihrem Sinne – aber im Rahmen des Status Quo, denn Stabilität hat Vorrang. Der Libanon verliert aber durch Syrien eher an Bedeutung im Vergleich zu vor fünf Jahren – zuvor galt er immer als Schauplatz für Stellvertreterkriege (Battleground of the Middle East), jetzt geht es in Syrien aber ums große Ganze. Dies ist bestimmt ein Faktor, der zur Stabilität beiträgt. 2. Westliche Akteure Sind de facto für Stabilität (auch Israel), loben den Libanon gelegentlich, verurteilen Hisbollah, sind aber jederzeit bereit, zur Hilfe zu eilen, wenn sie gerufen werden… 4. Fazit Welche Zukunft hat der Konfessionalismus also? Ich denke, das System in sich ist stabil, zumindest für die kommenden Jahre, insbesondere wenn die Lage in Syrien so bleibt wie jetzt. Die meisten Politiker der älteren Generation haben den Machtwechsel in ihren Reihen soweit vorbereitet, das Prinzip und zum Teil auch das System sind in großen Teilen der Gesellschaft anerkannt (Wahlbeteiligung 2009: 55 Prozent). Die Strukturen sind vorhanden und die Unsicherheit ist groß, was passiert, wenn man etwas anderes versucht, Motto: Keine Experimente. Aber: Auflösungserscheinungen sind erkennbar. Das System ist nicht mehr in der Lage, alle Gesellschaftsmitglieder mitzunehmen, es ist hochgradig ineffizient und scheint in einer Sackgasse angekommen – was aber nichts heißen muss, denn das dachten wir schon mehrmals im Libanon. Gut möglich, dass es noch einige Zeit lang so weitergeht, dennoch fehlt der politischen Elite die notwendige Flexibilität, die sie bräuchte, um sich dauerhaft selbst zu erhalten – langfristig ist das System zu sehr auf Klientelismus und Korruption ausgelegt, um wirklich effizient zu sein. 11 Bodo Straub. Schlaglicht Libanon: Hat das konfessionelle Proporz-Modell noch eine Zukunft? Vortrag in Bad Boll am 4. Juli 2015. Die Angst vor dem Krieg in Syrien und dem Islamismus verunsichert meiner Meinung nach gerade noch große Teile der Bevölkerung – ohne ihn würde ich auch eine Art Generalstreik in der Bevölkerung für möglich halten, eine Art Zedernrevolution 2.0 für echte Reformen. Das Potenzial dafür wäre jedenfalls vorhanden, die Unzufriedenheit habe ich oft als recht groß erlebt – wenn 12 Stunden am Tag der Strom ausfällt oder es zu wenige Schulen gibt; sowohl unter jungen Beirutis als auch beispielsweise in der verarmten Bevölkerung in Tripoli ist der Frust groß. Hinweis: Dieser Text ist das Manuskript des Vortrags von Bodo Straub bei der von Alsharq mitorganisierten Tagung „The State of the States. Stand und Chancen zivilgesellschaftlichen Handelns im Nahen Osten“ in der evangelischen Akademie Bad Boll vom 3. bis zum 5. Juli. Daher sind keine Quellenangaben vorhanden. Bei Rückfragen zu einzelnen Punkten oder mit der Bitte um weitere Informationen wenden Sie sich bitte per E-Mail an den Verfasser: [email protected] 12