T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE Menschenrechtsverletzungen (IV) Gregg Bloche Menschenrechte und die Problematik der Todesstrafe Die Vereinigten Staaten von Amerika sind fast das einzige demokratische Industrieland, in dem die Todesstrafe – wie sich gerade im abgelaufenen Jahr wieder zeigte – noch aktiv praktiziert wird. Dieser Artikel soll in erster Linie über die kontroverse Diskussion in den USA zur ethischen Problematik einer ärztlichen Beteiligung an der Vollstreckung der Toeit den sechziger Jahren werden amerikanische Ärzte häufig im eigenen Land dafür kritisiert, ihren Beruf auf eine Weise auszuüben, die die Entscheidungsfreiheit von Patienten über ihren Körper und ihr Leben nicht respektiert (1). Ob diese Kritik nun berechtigt ist oder nicht, so hat sie doch viele Amerikaner dazu gebracht, das Fachwissen und die kulturelle Autorität von Ärzten in einem negativen Licht zu betrachten, das heißt eher als Hindernis denn als Instrument zur Erfüllung der Menschenrechte. 1986 gründete eine Gruppe von amerikanischen Ärzten, die das Potential ihres Berufes zur Förderung der Menschenwürde optimistischer bewerteten, die Organisation PHR. Die Gründer von PHR hatten verschiedene Schlüsselziele im Auge. Erstens hat PHR bewirkt, daß medizinisches Fachwissen in die Problematik der Dokumentation von Folter und anderen Verletzungen der Menschenrechte und des Völkerrechts Eingang fand. Zweitens untersuchte PHR Fälle von angeblicher Komplizenschaft von Angehörigen der medizinischen Berufe bei Menschenrechtsverletzungen in vielen Ländern. Drittens führte PHR zahlreiche Aufklärungsprogramme in den USA und anderen Ländern durch. desstrafe berichten. Darüber hinaus werden die Aktivitäten von Physicians for Human Rights (PHR) beschrieben, einer amerikanischen Organisation, die im Protest gegen eine ärztliche Beteiligung an der Todesstrafe und in der Berichterstattung über die medizinischen Dimensionen der Menschenrechte auf der ganzen Welt eine wichtige Rolle spielt. S Gregg Bloche ist Professor für Recht an der Georgetown University, Co-Director des Georgetown-Johns Hopkins Joint Program in Law and Public Health und Mitglied des Vorstands von Physicians for Human Rights. Übersetzung und Bearbeitung: Angela Drösser, Astrid Geese, Torsten Lucas A-172 Ärzte als Opfer und Täter – das Titelbild von Heft 37/1995 zeichnete Tinos Otto. Diese Programme haben folgende Ziele: ! Sensibilisierung von Ärzten für die physischen und psychischen Folgen von Folter und anderen Mißhandlungen, um damit die Betreuung dieser Opfer zu verbessern. ! Aufklärung von Angehörigen der medizinischen Berufe und Menschenrechtsaktivisten über die ethischen und gesetzlichen Pflichten von medizinischem Personal, das in Situationen arbeitet, in denen die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen besteht. Schließlich hat PHR auch führende Wissenschaftler und Experten motiviert, sich mit bisher ungelösten Problemen der biomedizinischen Ethik und rechtlichen Fragen in diesem Zusammenhang auseinanderzusetzen. PHR hat inzwischen international eine führende Position, wenn es um gerichtsmedizinische Gutachten zur Dokumentation von Verletzungen (32) Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 4, 26. Januar 1996 der Menschenrechte und des Völkerrechts geht. PHR-Teams haben in Bosnien-Herzegowina Massengräber ausgegraben, Autopsien durchgeführt und pathologisches Beweismaterial für die Ankläger des Tribunals zusammengetragen. Von PHR organisierte Untersuchungsteams haben über die verheerende Wirkung von Landminen in vielen Ländern der Welt, die Vergewaltigung von Frauen und Kindern durch die Kriegsparteien im Bürgerkrieg in Liberia und unzulässige Zustände in Gefängnissen in vielen Ländern, auch in den USA, berichtet. Umstrittene Todesstrafe Die Arbeit von PHR in Zusammenhang mit der Beteiligung von Ärzten an der Vollstreckung der Todesstrafe ist eines der größten Projekte der Organisation seit ihrer Gründung. Die Todesstrafe selbst kann bislang noch nicht als Verletzung allgemeingültiger Menschenrechtsnormen angesehen werden. Deutschland und alle anderen westeuropäischen Länder sind Unterzeichnerstaaten eines regionalen Menschenrechtsabkommens, das die Todesstrafe in Friedenszeiten verbietet (2). Außerhalb Europas haben jedoch nur wenige Länder ein derartiges Abkommen unterzeichnet, und in über 100 Ländern wird die Todesstrafe aktiv praktiziert (3). Es wird manchmal behauptet, die Todesstrafe stelle eine „grausame, unmenschliche oder erniedrigende Be- T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE handlung oder Bestrafung“ dar (die von den universell bindenden Menschenrechtsvereinbarungen verboten wird [4]) und verletze das allgemein anerkannte „Recht auf Leben“. Auch wenn einige Menschenrechtsorganisationen (einschließlich amnesty international und PHR) diese Position vertreten, ist diese Ansicht noch nicht weit genug verbreitet, um bindendes Völkerrecht zu werden (5). Deshalb könnte der Status der Todesstrafe im Völkerrecht aus der Sicht von Gegnern der Todesstrafe in den USA im günstigsten Fall als problematisch bezeichnet werden. Darüber hinaus hat die Beteiligung von Ärzten an der Vollstreckung von Todesurteilen eine lange Geschichte. Ein Arzt erfand die Guillotine als Instrument, das menschlicher sein sollte als die Axt, und der elektrische Stuhl wurde von einem Zahnarzt erfunden. Während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts haben Henker häufig Ärzte um Rat gefragt, wie lang ihre Stricke sein sollten. Ein zu kurzer Strick bedeutete Tod durch Erwürgen, verbunden mit dem entsprechenden Todeskampf. Ein zu langer Strick führte häufig zur Enthauptung. Interessanterweise gab es in der Literatur über medizinische Ethik aus dieser Zeit kaum Kritik an diesen Formen der ärztlichen Tätigkeit. Die amerikanische Debatte über die Beteiligung von Ärzten an der Vollstreckung der Todesstrafe ist eine neuere Entwicklung. Sie begann mit der zunehmenden Verhängung der Todesstrafe Ende der siebziger Jahre. 1976 erklärte ein eher konservativ geprägter U.S. Supreme Court, die Todesstrafe verletze die Bundesverfassung nicht, solange bestimmte Bedingungen eingehalten würden. Fast unmittelbar danach führten mehrere Bundesstaaten neue Bestimmungen zur Todesstrafe ein, die den Anforderungen des Supreme Court entsprachen. Einige dieser Staaten führten eine neue Methode der Hinrichtung – die tödliche Injektion – ein, um damit die Todesstrafe als eine Strafe darzustellen, die humaner als je zuvor vollstreckt werden könnte. Ärzte waren an der Entwicklung dieser neuen Methode beteiligt, und Ärzte wurden aufgefordert, auch bei ihrer Anwendung mitzuwirken. A-174 Ärzte als Vollstrecker Diese bisher nie dagewesene Beteiligung von Medizinern an Hinrichtungen löste harte Kritik von führenden Vertretern des Berufsstandes und Ethikexperten in den USA und anderen Ländern aus (6). Anfangs richtete sich diese Kritik ausschließlich gegen die tödliche Injektion. Es hieß, durch Verabreichung von tödlichen Pharmaka, Legen von Injektionskathetern und Schulung von Gefängnispersonal für diese und ähnliche Aufgaben verletzten Angehörige der Heilberufe ihre Pflicht, „keinen Schaden zuzufügen“. Die Kritik an der Mitwirkung von Ärzten an Hinrichtungen richtete sich jedoch bald auch gegen andere Tätigkeiten. Ärzten, die nach Hinrichtungen den Tod feststellten, wurde vorgehalten, unethisch zu handeln, weil die ärztliche Feststellung, daß der Verurteilte noch lebte, einen weiteren Tötungsversuch nach sich ziehen würde. 1986 – als Hinrichtungen in den USA immer häufiger wurden – spitzte sich die Situation durch eine Entscheidung des U.S. Supreme Court zu, eine Hinrichtung von geistig unzurechnungsfähigen Menschen verstoße gegen das verfassungsmäßige Verbot von grausamer und ungewöhnlicher Bestrafung (7). Da eine gerichtliche Feststellung der Unzurechnungsfähigkeit von Personen sich in der Regel auf ein psychiatrisches Gutachten stützt, sprach diese Gerichtsentscheidung dem Arztberuf bei der Beurteilung der Exekutionsfähigkeit von Gefangenen eine zentrale Rolle zu. Diese Entscheidung erweckte darüber hinaus die makabre Vision einer psychiatrischen Behandlung zur Wiederherstellung der Exekutionsfähigkeit. Einige amerikanische Gefängnispsychiater behaupten jedoch, daß keine dieser Tätigkeiten unethisch sei: Zur Feststellung der Exekutionsfähigkeit sagen sie, daß gerichtsmedizinische Experten nicht für das Wohlergehen der von ihnen beurteilten Personen verantwortlich seien und damit ethisch auch nicht für Schäden zur Rechenschaft gezogen werden könnten, die sich aus der klinischen Beurteilung ergeben. Was die Behandlung zur Wiederherstellung der Exekutions- (34) Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 4, 26. Januar 1996 fähigkeit betrifft, so vertreten sie die Ansicht, daß sich ihre Verantwortung für das Wohlergehen der Patienten nur auf die Beseitigung der psychiatrischen Symptome bezieht und die tödliche rechtliche Konsequenz des Behandlungs-„Erfolgs“ ethisch nicht relevant ist. In den letzten Jahren wurden diese Formen einer Beteiligung von Psychiatern zum Gegenstand einer besonders harten Auseinandersetzung. Aber auch das Problem der ärztlichen Feststellung des Todes in der Todeszelle setzte eine hitzige Debatte in Gang. PHR, die American Medical Association und das American College of Physicians vertreten die Ansicht, daß diese Tätigkeit unethisch sei (8). Die für den Berufsstand zuständigen staatlichen Behörden haben sich jedoch generell geweigert, diese Position durchzusetzen. Darüber hinaus wurden Gefängnisärzte, die sich weigerten, bei Hinrichtungen den Tod festzustellen, von Gefängnisbeamten mit Disziplinarstrafen belegt. Sogar die direkte ärztliche Beteiligung an der Verabreichung von tödlichen Injektionen bleibt kontrovers. Auch wenn sie von medizinischen Ethikkommissionen allgemein verurteilt wird, ist eine derartige Beteiligung immer noch in einigen Bestimmungen über die Todesstrafe vorgeschrieben. So werden im Bundesstaat Illinois die Personalien von Ärzten, die an der Verabreichung von tödlichen Injektionen beteiligt sind, von den Gefängnisbeamten vertraulich behandelt, um Maßnahmen von ärztlichen Berufsorganisationen zu verhindern. Folge der bioethischen Revolution Was bedeuten diese Kontroversen in Zusammenhang mit der Beteiligung von Ärzten an der Todesstrafe? Erstens nehme ich stark an, daß wir dieses Thema weder in den USA noch sonstwo diskutieren würden, wenn es nach dem 2. Weltkrieg nicht die bioethische Revolution gegeben hätte. Man kann mit gewisser Berechtigung sagen, daß die bioethische Revolution in Deutschland begann, und zwar als Reaktion auf die von Naziärz- T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE ten verübten Greuel. Die Enthüllung dieser Schrecken führte zur Abfassung des Nürnberger Kodex für medizinische Versuche und zur allgemeinen Auffassung, daß eine klare Definition der ärztlichen Verantwortung in ethisch problematischen Situationen erforderlich sei. Die Gerichtsverfahren gegen führende Naziärzte schafften auch einen Präzedenzfall von wände in der Regel mit der Maxime, „keinen Schaden zuzufügen“, oder mit der Idee des Hippokrates, daß sich Ärzte ihren Patienten gegenüber uneingeschränkt loyal verhalten sollen. Als Patienten erwarten wir diese persönliche Loyalität. Gleichzeitig erwarten wir jedoch als Gesellschaft, daß Ärzte ihren Sachverstand und ihre kulturelle Autorität für eine Reihe Opfer und Täter Im Rahmen der Serie „Menschenrechtsverletzungen“ ist zuletzt ein Interview über die Lage in Honduras erschienen (Heft 49/1995). Frühere Beiträge behandelten die Themen „Auch Ärzte sind an Folterungen beteiligt“ (Heft 43/1995) und „Lektionen aus den Erfahrungen von amnesty international“ (Heft 37/1995). Die beiden letztgenannten sowie der hier vorliegende Artikel gehen zurück auf ein Symposium „Menschenrechtsverletzungen – Ärzte als Opfer und Täter“ (Näheres dazu in Heft 37/1995). Die Serie wird in loser Folge fortgesetzt. NJ großer Tragweite für die juristische und soziale Beurteilung von ärztlichem Verhalten. Die Bewegung für einen klareren ethischen Diskurs und eine verstärkte öffentliche Überwachung des Verhaltens von Ärzten erhielt in den USA Unterstützung, als in den sechziger Jahren bekannt wurde, daß auch amerikanische Mediziner in ihren Forschungsprojekten häufig gegen die ethischen Prinzipien verstoßen hatten (9). Während der folgenden drei Jahrzehnte wurden in den USA und Europa zahlreiche bioethische Kommentare und ethische und juristische Richtlinien für die medizinische Forschung und Praxis entwickelt. Als diese das ärztliche Verhalten leitende Revolution in vollem Gang war, kam es zum jüngsten Wiederaufleben der Todesstrafe in den USA. Es war daher nur natürlich, daß sich Experten zum Thema Arztberuf und Bioethik wie nie zuvor mit den ethisch problematischen Situationen auseinandersetzten, die sich aus dieser Situation für Angehörige der medizinischen Berufe ergaben. Die noch andauernde Debatte über die Beteiligung von Ärzten bei der Vollstreckung der Todesstrafe zeigt jedoch ernste Schwächen des derzeitigen Diskurses über biomedizinische Ethik auf. Die Gegner verschiedener Formen einer ärztlichen Beteiligung an der Todesstrafe begründen ihre Ein- von öffentlichen Zwecken einsetzen, auch wenn hierdurch den vom Arzt untersuchten oder behandelten Personen Schaden erwächst. Banale Beispiele für diese eindeutig gegen den hippokratischen Eid verstoßende Tätigkeit sind die klinischen Untersuchungen zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit und der Berechtigung zur Inanspruchnahme der entsprechenden Leistungen sowie die Beurteilung der Vertragsfähigkeit oder der Fähigkeit, ein Testament zu machen. Andere Beispiele, bei denen der potentielle Schaden größer sein könnte, sind die psychiatrische Beurteilung der Schuldfähigkeit eines Angeklagten und das Stellen einer „medizinischen Indikation“ zum Schwangerschaftsabbruch (10). Der Vorwurf der Komplizenschaft von Ärzten bei Menschenrechtsverletzungen konzentriert sich häufig auf eine ärztliche Untersuchung oder Behandlung, die Entscheidungen der eigentlichen Täter zur Folter oder zu anderen Mißhandlungen nach sich zieht (11). Die Beteiligung von Ärzten bei der Todesstrafe ist ein Extrem eines breiten Spektrums von Tätigkeiten, die von Angehörigen medizinischer Berufe im Dienst von Staat und Öffentlichkeit erwartet werden. Unsere Erwartungen an die Medizin als Patienten und als Mitglieder der Gesellschaft stehen häufig in starkem Kon- flikt zueinander. Dieser Widerspruch wird jedoch nur selten angesprochen. Statt dessen gehen wir in Diskussionen über medizinische Ethik oft von der Vorstellung aus, daß Ärzte sich ausschließlich einzelnen Patienten widmen. Im Hinblick auf die Frage der Beteiligung von Ärzten bei der Todesstrafe tragen diese Vorstellungen und die Maxime „keinen Schaden zuzufügen“ jedoch wenig zur Analyse der Situation bei. Vor allem berücksichtigen diese Ideale nicht, daß die Arbeit von Medizinern in der Regel dem Staat und öffentlichen Zwecken dient, manchmal auf Kosten der Patienten. Für uns besteht eine entscheidende ethische Herausforderung darin, den Forderungen von Staat und Gesellschaft an die Medizin sinnvolle Grenzen zu setzen, um so die Fähigkeit von Angehörigen der Heilberufe zu erhalten, vertrauenswürdige und engagierte Betreuer zu sein (12). PHR, das American College of Physicians und die American Medical Association sind zu der Schlußfolgerung gekommen, daß die obengenannten Formen einer Beteiligung von Ärzten an der Vollstreckung der Todesstrafe diese sinnvollen Grenzen überschreiten. Ich bin ebenfalls dieser Ansicht, möchte aber darüber hinaus betonen, daß in der Diskussion über medizinische Ethik – und die Komplizenschaft von Ärzten bei Menschenrechtsverletzungen – die widersprüchlichen persönlichen und gesellschaftlichen Erwartungen an die Medizin angesprochen werden müssen. Nur wenn wir diesen Widerspruch offen angehen, können wir moralisch plausible Richtlinien für die unzähligen Konfliktsituationen entwickeln, mit denen wir konfrontiert werden. Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärztebl 1996; 93: A-172–175 [Heft 4] Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über die DÄ-Redaktion. Anschrift des Verfassers: Gregg Bloche, MD Georgetown University Law Center 600 New Jersey Ave. N. W. Washington, D.C. 20001, USA Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 4, 26. Januar 1996 (35) A-175