Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg EBERHARD SCHOCKENHOFF Lebensbeginn und Menschenwürde Eine Begründung für die lehramtliche Position der katholischen Kirche Originalbeitrag erschienen in: Konrad Hilpert (Hrsg.): Kriterien biomedizinischer Ethik: Theologische Beiträge zum gesellschaftlichen Diskurs. Freiburg: Herder, 2006, S. 198-228 Lebensbeginn und Menschenwürde Eine Begründung für die lehramtliche Position der katholischen Kirche Eberhard Schockenhoff Die Frage nach dem Anfang des individuellen Menschenlebens und seiner Schutzwürdigkeit stellt sich angesichts der Möglichkeiten der modernen Molekularbiologie sowie der Entwicklung technologischer Verfahren in der Fortpflanzungsmedizin mit besonderer Dringlichkeit. Da die Problematik des moralischen und rechtlichen Status, den wir allen menschlichen Lebewesen vom Anfang ihrer Existenz an einräumen müssen, dem Bereich menschenrechtlicher Grundforderungen angehört, ist sie in einer weltanschaulich plural verfassten demokratischen Gesellschaft dem Belieben einzelner Gruppen und ihrer individuellen Wertpräferenzen entzogen; sie kann daher auch nicht durch die dezisionistische Festlegung wechselnder gesellschaftlicher Mehrheiten entschieden werden. Entgegen einer häufig vorgetragenen Argumentation stellt die moralische und rechtliche Bewertung der frühen Entwicklungsphasen des menschlichen Lebens auch keine religiöse oder konfessionsspezifische Glaubensfrage dar, so dass man dem Grundsatz, wonach dem menschlichen Embryo die gleiche Achtung wie dem geborenen Menschen in jeder späteren Phase seiner Existenz geschuldet ist, als eine „katholische" Position ansehen dürfte. Ebenso gut könnte man dieses Postulat als Anliegen einer ,,liberalen" Rechtspolitik bezeichnen, denn die Anerkennung der Rechtsträgerschaft des menschlichen Embryos verdankt sich historisch der Abkehr von den aristotelisch-scholastischen Beseelungstheorien der mittelalterlichen Theologie und dem menschenrechtlichen Denken der Aufklärung. Es war kein anderer als Immanuel Kant, der in seiner 1797 erschienenen „Metaphysik der Sitten" der drei Jahre zuvor erlassenen Bestimmung des Allgemeinen Preußischen Landrechts (APL), wonach die „Rechte der Menschheit" auch den „noch ungeborenen Kindern schon von der Zeit ihrer Empfängnis an" (§ 101,1) zukommen, die philosophische Begründung verlieh. Diese besteht im Wesentlichen in dem Nachweis, dass zwischen der Vorstellung der Menschenwürde und dem Gedanken eines unveräußerlichen Lebensrechtes ein unauflöslicher Zusammenhang besteht, der sowohl 198 in der moralischen als auch in der rechtlichen Ordnung entsprechende Schutzpflichten für den Embryo begründet. Die Würde des Menschen kann nämlich nur dann als ein realer, das Zusammenleben der Bürger in einem demokratischen Staatswesen bestimmender Begriff gedacht werden, wenn sie jedem menschlichen Individuum allein aufgrund seines Menschsein vom Ursprung seiner Existenz an eigen ist. Da diese Erkenntnis Kants in der gegenwärtigen Debatte um den moralischen Status des Embryos als unverdächtiger Leitfaden zur Einordnung aller weiteren Einzelprobleme dienen kann, sei sie den folgenden Erörterungen vorangestellt. Was den Kreis derjenigen Mitmenschen anbelangt, denen gegenüber wir in der Beurteilung unserer eigenen Handlungsabsichten zu moralischem Respekt verpflichtet sind, so heißt es im Abschnitt über die persönlichen Rechte der Kinder und die aus dem Elternrecht folgenden Pflichten der Eltern: „Denn da das Erzeugte eine Person ist, und es unmöglich ist, sich von der Zeugung eines mit Freiheit begabten Wesens durch eine physische Operation einen Begriff zu machen: so ist es eine in praktischer Hinsicht ganz richtige und auch notwendige Idee, den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig ihn sie herüber gebracht haben; für welche Tat auf den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit haftet, sie, soviel in ihren Kräften ist, mit diesem ihren Zustande zufrieden zu machen. — Sie können ihr Kind nicht gleichsam als ihr Gemiichsel (denn ein solches kann kein mit Freiheit begabtes Wesen sein) und als ihr Eigentum zerstören oder es auch nur dem Zufall überlassen, weil an ihm nicht bloß ein Weltwesen, sondern auch ein Weltbürger in einen Zustand herüber (ge)zogen, der ihnen nun auch nach Rechtsbegriffen nicht gleichgültig sein kann. ' - In einem theologischen Zusammenhang, in dem eine rationale Begründung für den lehramtlichen Standpunkt der katholischen Kirche gesucht werden soll, mag es überraschen, sich zur Exposition des Problems ausgerechnet auf Kant zu berufen. Deshalb sei vorweg eingeräumt, was ohnehin far jeden philosophischen Begründungsansatz gelten würde: Weder kann die Zuhilfenahme von Einsichten der kritischen Philosophic Kants die Entwicklung einer tragfähigen Argumentation im Ausgang von gegenwärtigen Fragestellungen ersetzen noch darf sie dazu dienen, offenkundige ' Kant, 1., Die Metaphysik der Sitten. § 28 (AB 112f.). 199 Probleme, unleugbare Brüche oder divergierende Standpunkte der eigenen Tradition zu überspielen. Der Seitenblick auf Kant zeigt indessen, dass die Schutzpflichten, die wir gegenüber menschlichen Embryonen haben, deren Existenz die Folge unseres eigenen Handelns ist, unabhängig von divergierenden theoretischen oder metaphysischen Einstellungen aufgrund genuin praktischer Überlegungen erkennbar sind. Diese bedürfen auf der moralischen Ebene keiner weiteren Voraussetzung als der, wonach wir für das Wohlergehen derjenigen menschlichen Wesen (soweit es in unserer Macht steht) Verantwortung tragen, die wir willentlich oder absichtslos, geplant oder unwissentlich in den Zustand äußerer Verletzlichkeit und Abhängigkeit gebracht haben. Es ist die von uns herbeigeführte Schwäche des Embryos als eines ohne unsere Hilfe schutzlosen menschlichen Wesens, die unsere Schutzpflicht ihm gegenüber ohne weitere theoretische Zusatzannahmen allein unter dem Gesichtspunkt der geforderten Gerechtigkeit und der dem Embryo geschuldeten Achtung begründet. Die rein praktische Erkennbarkeit des moralischen und rechtlichen Schutzanspruches menschlicher Embryonen steht dem nicht entgegen, dass es weiterer philosophischer Überlegungen bedarf, urn wesentliche Aspekte dieses praktischen Problemzusammenhangs wie den Schutzbereich der Menschenwürde, das Personsein des Menschen oder die Bedeutung seiner leib-seelischen Einheit zu verstehen. Um diese Verstehensleistungen zu erbringen, kann sich eine moralische Argumentation auf unterschiedliche Traditionslinien der philosophischen Anthropologie (aristotelisch-scholastischer Hylemorphismus, Phänomenologie der Leiblichkeit, dialogischer Personalismus usw.) berufen. Doch bedeutet dies nicht, dass die Existenz der moralischen Schutzpflichten selbst nur unter einseitigen (z. B. substanzontologischen) Prämissen hegrtindbar wäre, wohingegen unter anders gewählten theoretischen Voraussetzungen (z. B. einer relationalen Ontologie oder der Prozessphilosophie) Zweifel an der Schutzwürdigkeit des Embryos mit hinreichender Sicherheit positiv begründet werden könnten. Damit wird auch deutlich, worin der heuristische Wert einer moraltheologischen Bezugnahme auf Kant angesichts des gegenwärtigen Debattenstandes um den moralischen Status des Embryos besteht: Das Beispiel Kants zeigt, dass man unter den Bedingungen der kritischen Vernunftphilosophie der Neuzeit in dieser für die Entwicklung der gegenwärtigen Wissenschaftspraxis entscheidenden Frage im Ergebnis zu den gleichen Schlussfolgerungen gelangen kann, die Lehramt und Theologie der katholischen Kirche auf der Basis des biblischen Menschenbildes und ihm ent200 sprechender anthropologischer Verstehensmodel le vertreten. Ebenso wie sich Kant auf die rein praktische Absicht seiner Überlegung beruft, betont auch das Lehramt der katholischen Kirche, dass es sich „nicht ausdrücklich auf Aussagen philosophischer Natur festlegt" 2 , wenn es die Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens von Anfang an bekräftigt: .,Deshalb erfordert die Frucht der menschlichen Zeugung vom ersten Augenblick ihrer Existenz an, also von der Bildung der Zygote an, jene unbedingte Achtung, die man dem menschlichen Wesen in seiner leiblichen und geistigen Ganzheit sittlich schuldet. Ein menschliches Wesen muss vom Augenblick seiner Empfängnis an als Person geachtet und behandelt werden und infolge dessen muss man ihm von diesem selben Augenblick an die Rechte der Person zuerkennen und darunter vor allem das unverletzliche Recht jedes unschuldigen menschlichen Wesens auf Leben."' 1. Der anthropologische Bezugsralunen: Gottebenbildlichkeit, Personseitz und Menschen würde Entgegen der Behauptung, die Forderung nach einem konsequenten Schutz menschlicher Embryonen sei unabhängig von bestimmten philosophischen Denkmustern begründbar, wird einer derartigen Position häufig vorgehalten, sie repräsentiere ein religiöses Sonderethos auf jüdisch-christlicher Grundlage (P. Singer, H. Kuhse, N. Hoerster) oder — in ihren metaphysischen Voraussetzungen noch spezifischer — eine autoritätsorientierte katholische Binnenmoral naturrechtlicher Prägung (z. B. H. Kreß, U. Körtner u. a.). Diese Argumentationsstrategie zielt darauf ab, die Eignung des genannten Postulats von der vollen Schutzwürdigkeit menschlicher Embryonen zur Lösung bioethischer Konfliktfälle in einer säkularen Gesellschaft zu bestreiten und als Ausdruck eines abwägungsfähigen Rigorismus zu brandmarken, der den existentiellen Ernst solcher Konflikte durch den Rückfall in einen längst überwunden geglaubten „Fundamentalismus" überspielt. 4 Dazu macht sich die Vgl. Kongregation tin die Glaubenslehre Instruktion uber die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Wurde der Fortpflanzung „Donum vitae" Li (zit. nach Wehowskv„S't. (Hrsg.), Lebensbeginn und menschliche Würde. Stellungnahmen zur Instruktion der Kongregation fur die Glaubenslehre vom 22.2.1987 (Gentechnologie. Chancen und Risken. Bd. 14), Frankfurt u.M., Munchen 1987, 11). ' Ebd. Dies ist die gemeinsame Tendenz der rerschiedenen Beiträge protestantischer Au- 2 . 201 Kritik insbesondere an den zentralen Leitbegriffen Gottebenbildlichkeit, Personsein und Menschenwürde fest, denen dabei häufig eine Bedeutung unterschoben wird, die ihrem ursprünglichen Sinn im Kontext einer theologischen oder philosophischen Anthropologie nicht mehr entspricht oder geeignet ist, diesen bis zur Unkenntlichkeit zu verdunkeln. Beachtenswert erscheint allerdings, dass der Vorwurf der Ideologieanfälligkeit oder der einseitigen Festlegung auf einen religiösen Bedeutungsgehalt nicht nur gegenüber dem theologischen Begriff der Gottebenbildlichkeit des Menschen, sondern auch gegenüber der Vorstellung der Menschenwürde vorgetragen wird, die in der modernen Verfassungsentwicklung zu einer Art säkularer Ersatzformel für jene geworden ist. 1.1. Die normative Bedeutung der Bild Gottes Theologie - - Diese Ausweitung erscheint aus der Sicht der biblischen Anthropologie insofern konsequent. als der Satz aus dem ersten Schöpfungsbericht, wonach Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat (vgl. Gen 1,26) das Menschsein als solches im Auge hat und nicht etwas am Menschsein (z. B. seine aufrechte Gestalt oder seine Vernunftbegabung) oder etwas darüber Hinausgehendes (z. B. eine besondere religiöse Anlage) meint. Die fundamentale Aussage des biblischen Schöpfungsglaubens von der Gottebenbildlichkeit des Menschen beansprucht daher das Menschsein jedes Menschen: sie gilt mit gleichem Ernst für alle, unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrem sozialem Stand, ihrer intellektuellen Entwicklung, ihrem äußeren Aussehen oder ihrer weltanschaulichen oder religiösen Überzeugung. Durch den Begriff des Bildes Gottes tönt von Anfang an ein polemischer Unterton hindurch, der gegen die faktische Einteilung der Menschen in höhere und niedere, mächtige und schwache, gesellschaftlich anerkannte und zur Rechtlosigkeit verurteilte auf eine Überwindung derartiger Grenzziehungen zielt. Ein wichtiger Unterschied der biblischen Rede vom Bild-Gottes-Sein des Menschen im Vergleich zur Agyptischen Königstheologie besteht gerade darin, dass nicht mehr der Herrscher, also die herausgehobene Ausnahmeerscheinung gegenüber dem Volk, sondern jeder Mensch, auch der ärmste und schwächste nach dem Bild Gottes geschaffen ist.' - toren in dem von Ameltn, R., Kcirtner, U.H.J. (Hrsg.), Sammelband, Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung Göttingen 2003. Vgl. dazu Ebeling, G., Dogmatik des christlichen Glaubens I: Der Glaube an Gott den Schöpfer der Welt. Tübingen 1979. 379. . 202 Zwar steht im Alten Testament durchaus die Vorstellung eines religiösen Bundesethos im Vordergrund, in dem sich die Erwählung Israels durch Jahwe manifestiert; dessen einzelne Inhalte können daher nicht ohne weiteres zur Grundlage eines allgemeinen Menschheitsethos gemacht werden." Doch wirkt gerade die priesterschriftliche Theologie der Genesis auf die Entgrenzung einer partikularen Stammesmoral auf ein universales Menschheitsethos hin, wie sie sich später auch in der stoischen Philosophie vollzieht; neben der nachexilischen Prophetie stellt die Bild-Gottes-Theologie der Priesterschrift innerhalb des Alten Testamentes die wichtigste Traditionslinie für eine derartige Ausweitungstendenz dar.' Sie erinnert bereits im 6. Jahrhundert vor Christus daran, das die Geschichte Jahwes mit seinem Volk im Horizont der ganzen Schöpfung verläuft und somit auf ein Geschehen verweist, das alle Menschen einschließt. Der Bibelwissenschaftler Claus Westermann fasst die universale Blickrichtung von Gen 1,26 in dem Anspruch zusammen: „Jeder Mensch in jeder Religion und in jedem Bereich, in dem die Religionen nicht mehr anerkannt werden, ist nach dem Bild Gottes geschaffen.' Die biblische Überzeugung von der Gottebenbildlichkeit jedes Menschen kann deshalb nicht als Ausdruck einer Selbstprivilegierung des religiösen Menschen gelten. Die Frage ist allerdings, ob ihr sachlicher Gehalt im Blick auf das anthropologische Selbstverstdndnis des Menschen funktionslos wird, wenn in einer säkularen oder nachchristlichen Zeit der Glaube an Gott als den transzendenten Grund menschlicher Würde nicht mehr allgemein vorausgesetzt werden kann. Der Kürze wegen sei die Antwort darauf hier nur thesenartig genannt: Auch wenn die Wirklichkeit Gottes unter säkularen Voraussetzungen strittig bleibt, enthält die Bild-Gottes-Theologie einen wirkungsgeschichtlichen Überschuss an humanen Intentionen, der selbst mit einer hypothetisch unterstellten Widerlegung des biblischen Gottesglaubens nicht abgegolten wäre. Die Behauptung einer radikalen Diskontinuität zwischen der christlichen Gottebenbildlichkeits-Vorstellung und der säkularen Menschenwürde-Formel ist zudem historisch wenig wahrscheinlich. Auch wenn die eberlappung beider Konzeptionen begriffgeschichtlich keineswegs als bruchlose Kontinuität gedeutet werCrusemann, F.. Die Tota. Theologie und Sonalgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes. Munchen 1992. Vgl. dazu Otte, L. Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart u. a. 1994, 258 und 267 und SchockenTio//, E.. Naturrecht und Mensehenwurde. Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt. Mainz 1996, 2541. Wevermann, C.. Gen, 1/1, Neukirchen-Vluyn 2 1976, 218. 203 den kann — pointiert wurde die kirchliche Rezeption des modernen Menschenrechtsethos mit der nachträglichen Adoption eines zunächst verstoßenen Kindes verglichen" — findet die eine doch in der anderen eine Fortsetzung, die eine sachliche Anknüpfung erlaubt, ohne dass dafür eine völlige Deckungsgleichheit beider Vorstellungen notwendig wäre. Für diese Interpretation spricht nicht zuletzt auch der Umstand, dass die Menschenwürde-Vorstellung von ihren Kritikern als ein Kondensat ursprünglich religiöser Gehalte angesehen wird, das in einem säkularen Verfassungstext wie ein Fremdkörper anmute. Ohne in systematischer Hinsicht einem vorschnellen Brückenschlag zwischen der theologisch-biblischen Kategorie der Gottebenbildlichkeit und dem philosophisch-ethischen Konzept der Menschenwürde das Wort zu reden oder die unterschiedlichen, teilweise sogar gegensätzlichen innertheologischen Deutungsansätze der Bild-Gottes-Vorstellung zu harmonisieren,'" lässt sich mit K. Hilpert festhalten: Die biblische Vorstellung der Gottebenbildlichkeit des Menschen steht zur Idee der Menschenwürde im Verhältnis einer sachlichen Entsprechung, das jedoch weder eine einlinige historische Abhängigkeit noch eine exklusive Begründbarkeit impliziert." 1.2. Die normative Bedeutung der Menschenwiirde-Vorstellung Die hervorgehobene Stellung, die dem Gedanken der Menschenwürde in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen und im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zukommt, sichert freilich noch kein einheitliches Verständnis, auf das eine moralische Argumentation Bezug nehmen könnte. Dazu ist vielmehr eine Unterscheidung im Begriff der Menschenwürde notwendig, die unter seinen denkbaren und im faktischen Gebrauch vorkommenden Bedeutungsvarianten diejenige herausschält, die ihn zum Zwecke der moralischen Argumentation unter säkularen Voraussetzungen brauchbar macht. Der Gedanke der Menschenwürde kann, sofern er eine normative Funktion in " Vgl. Böckenforde, E.-W., Spaemann, R. (Hrsg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen — säkulare Gestalt — christliches Verständnis . Stuttgart 1987, 9. I " Tanner, K., Vom Mysterium des Menschen. Ethische Urteilsbildung im Schnittleld von Biologie, Rechtswissenschaft und Theologie, in: Am elm, Kcirtner, Biomedizin, 135-158, bes. 147ff. betont zurecht die Perspektionstülle und den metaphorischen Charakter der Bild-Gottes-Vorstellung, doch folgt daraus keineswegs ihre Bedeutungslosigkeit für das normative Selbstverständnis des Menschen. " Vgl. //i/pert, K., Die Menschenrechte. Geschichte-Theologie-Aktualität, Dusseldorf 1991, 189. 204 dem Sinn haben soll, dass er von jedem Standpunkt aus rational anerkennungsfähig ist, nur ein Minimalbegriff sein. 12 In seiner normativen Verwendung steckt er den gegenseitig unverfügbaren Lebensraum ab, den Menschen einander zugestehen, die sich als freie Vernunftwesen achten; gehaltvollere Vorstellungen über ein gutes Leben und die notwendigen Bedingungen, unter denen menschliches Leben gelingen kann, enthält er auf dieser Stufe dagegen nicht. Der normative Kern der Menschenwürde-Vorstellung besteht also in nichts anderem als in dem, was den Menschen in moralischer Hinsicht zum Menschen macht: seiner Fähigkeit zum freien Handeln und zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung. Von dieser Beschränkung auf die moralische Handlungsfähigkeit als solche bleibt eine zweite Bedeutung des Wortes „Menschenwürde" zu unterscheiden, die auch kirchliche Lehrdokumente und Verkündigungstexte häufig im Blick haben, wenn sie von der menschenwürdigen Gestaltung des öffentlich-politischen Raumes oder individueller Lebensphänomene wie Ehe und Familie, Liebe und Sexualität, Krankheit, Sterben und Tod sprechen. Der Begriff „Menschenwürde" erweitert sich dann über seinen normativen Mindestanspruch hinaus zu einer sprachlichen Verdichtung für die anthropologischen Sinngehalte des christlichen Glaubens. Beide Vorstellungen, die sich in unserer alltagssprachlichen Rede von der Würde des Menschen überlagern, können sich im Blick auf die moralische Aufgabe des Einzelnen oder den Aufbau einer dem individuellen Wohlergehen förderlichen „guten" Gesellschaft ergänzen, sie schließen sich in einem Punkt aber geradezu aus. In seinem normativen Sinn benennt der Gedanke der Menschenwürde eine kategorische Grenze, die jedem Versuch ihrer Verwirklichung in der zweiten, erweiterten Bedeutung gesetzt ist. Diesem Vorrang der normativen Grenzziehung kommt in demokratischen Gesellschaften entscheidende Bedeutung zu, weil diese ihrem eigenen Selbstverständnis nach nicht mehr auf eine Tugendund Wahrheitsordnung im umfassenden Sinn gegründet sind, sondern der Herstellung und Bewahrung von Frieden und Gerechtigkeit gegenüber jedermann dienen.' Gerade weil wir uns in unseren offenen Gesellschaften über verpflichtende Inhalte eines „menschwürdigen Lebens" nicht mehr verständigen können, müssen wir dem Minimalbegriff der Würde eine verbindliche Rechtsform ge' 2 Vgl. Spaemmn, R Tiber den Begriff der Menschenwtirde, in: ders., Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns . Stuttgart 2001,107-122, bes. 115ff. Vgl. Bockenforde, E.-W.. Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders.. Staat — Gesellschaft — Freiheit. Studien zur Staatstheorie und 7 um Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 1976,42-64, bes. 51. 205 ben, der weder von einer gesellschaftlichen Übereinkunft abhängt und durch kulturelle Zuschreibung entsteht, sondern von allen als das der Rechtsordnung vorausliegende Fundament anerkannt werden muss. An diese einschränkende Bedingung, unter der aller Einsatz für das Wohl der Menschen und eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse steht, erinnert die Rede von der Selbstzwecklichkeit des Menschen und das grundlegende moralische Prinzip des Instrumentalisierungsverbotes: Jeder Mensch ist um seiner selbst willen zu achten und darf niemals ausschließlich als Mittel zu einem seiner Existenz fremden Zweck gewollt werden» 1.3. Die normative Bedeutung des Person gedankens In der Anerkennung dieser Grenze ist schließlich auch die unverzichtbare Bedeutung zu sehen, die dem Personbegriff in der gegenwärtigen bioethischen Debatte zukommt. Der nicht zu verleugnende Umstand, dass sich mit diesem in der Geschichte der theologischen und philosophischen Anthropologie unterschiedliche metaphysische Vorstellungen verbinden, hindert nicht, dass diese hinsichtlich ihrer praktischen Absicht im entscheidenden Punkt übereinkommen. Ob man mit der scholastischen Tradition (Boethius) unter „Person" den individuellen Selbststand einer vernünftigen Natur, mit der neuzeitlichen Vernunftkritik (Kant) das moralische Subjektsein oder mit der modernen Existenzphilosophie (Kierkegaard) das reflektierte Selbstverhältnis des Menschen versteht — immer ist darin die Unvergleichbarkeit und Unvertretbarkeit des einzelnen menschlichen Individuums angesprochen. die in moralischer und rechtlicher Hinsicht seine besondere Schutzwürdigkeit begründet. Wie der religiöse Würdetitel des Bildes Gottes und die säkulare Vorstellung der Menschenwürde ist auch das Personsein des Menschen eine seine faktische Wirklichkeit überbietende Kategorie, die sich weder am Besitz empirischer Merkmale ablesen lässt noch vom Nachweis faktischer Eigenschaften abhängig gemacht werden darf. Aus theologischer Perspektive benennt die Kategorie der Person den Menschen in seinem Gegenüber zu Gott: es ist das Angerufen-Sein von Seiten Gottes, die Berufung zur Existenz im Angesicht des Schöpfers, wodurch sich das Personsein des Menschen ' 4 Vgl. da7u Schoekenhoff E., Zum moralischen und ontologischen Status des Embryos, in: G. Dumschen, D. Scluinecker (Hrsg.). Der moralische Status menschlicher Embryonen. Pro und contra Spezies-, Kontinuums-, Identitats- und Potenziahtatsargument, Berlin. New York 2003,11-33. bes. 19ff. 206 konstituiert. Diese relationale Beziehung des Menschen zu Gott bleibt auf der zwischenmenschlichen Ebene nicht folgenlos; sie führt vielmehr dazu, dass die radikale Abhängigkeit von Gott auf der geschöpflichen Ebene den kreatürlichen Selbststand des Menschen sichert. Die Kategorie der Person spricht den von Gott angerufenen Menschen in seinem eigenen Selbstsein an, das der Verfügung durch zwischenmenschliche Instanzen entzogen bleiben muss. Sie antwortet nicht auf die Frage „ Was ist der Mensch", die durch die Benennung artspezifischer Differenzen im Unterschied zum Tier beantwortet werden kann, sondern auf die Frage: „Wer ist der Mensch", die den unverrechenbaren Wert seiner Existenz erst hervortreten lässt.'s Der Persongedanke, auf dem eine theologische oder philosophische Anthropologie gegenüber allen Versuchen zur Reduktion des Menschen auf partikulare Aspekte seines ganzheitlichen Seins bestehen muss, erfüllt daher in moralischer Hinsicht ungeachtet seiner Offenheit für unterschiedliche metaphysische Konnotationen eine unerlässliche Funktion. Ebenso wie das alte Wort „Seele" umschreibt er das irreduzible Eigensein eines jeden menschlichen Wesens, den „Brennpunkt seiner Freiheit", aus dem heraus jemand „Ich" sagen und sich in seiner Mitwelt darstellen kann)' Die Begriffe „Person" und „Geistseele" meinen also jeden Menschen, insofern dieser kraft seiner Abkünftigkeit von Gott in sich selbst steht und seine eigene Mitte bildet, um die herum sich alles zu seiner besonderen Welt anordnet.'' Es beruht daher auf einem Missverständnis, wenn protestantischerseits noch immer behauptet wird, ein katholisches Menschenbild sei einseitig auf die „intrinsische Existenz" der Person fixiert und blende die „relationale Komponente des Menschseins" aus.'' Die Pointe einer relationalen Begründung des Personseins durch die schöpferische Außenbeziehung des Menschen zu Gott zielt nicht darauf, die Entfaltung personaler Identität in der Begegnung mit dem mitmenschlichen Du oder dem sozialen Wir in ihrer Bedeutung zu relativieren. Sie will vielmehr sicherstellen, dass jeder Mensch als Vgl. dazu Guardnu, I?.. Welt und Person. Versuche zur christlichen Lehre vom Menschen, Mainz, Paderborn 6 1988, 121-128. Welte, B.. Person und Welt. Überlegungen zur Stellung der Person in der modernen Gesellschaft. in: ders.. Annette Schavan (Hrsg.). Person und Verantwortung. Zur Bedeutung und Begründung der Personalitat. Düsseldorf 1989, 12t. '' Vgl. Guardim, Welt, 134. im Kref3, H.. Ethischer Immobilismus oder rationale Abwagungen? Das Naturrecht angesichts der Probleme des Lebensbeginns, Anselm, Körtner, Biornedizin, 111-134, hier: 125. 207 ein den anderen unverfügbarer Beziehungspartner in das horizontale Relationsgefüge eintreten kann, so dass zwar die soziale Entfaltung, nicht aber der tragende Grund des Personseins von seiner Beziehungsdimension abhängt. Diese kann sich nur in freier und gegenseitiger Anerkennung entwickeln, wenn die Begründung menschlicher Personalität ihrer sozialen Akzeptanz vorausliegt. Die Unterscheidung zwischen einem idem-Aspekt menschlicher Identität, der die zeitüberdauernde ontologische Selbst-Ständigkeit der Person meint, und ihrer ipse-Struktur, die auf die dialogische Zeitlichkeit ihrer geschichtlichen Existenz verweist, stellt zweifellos einen weiterführenden Ansatz zur Überwindung der angeblichen Alternative zwischen einer substanzontologischen und einer relationalen Begründung des Personseins du. Doch kann diese begriffliche Differenzierung im Kontext einer theologischen Anthropologie, die ihre Aussagen über das Handeln des Menschen unter das Vorzeichen einer durch das schöpferische Handeln Gottes verb ürgten Sinnvorgabe stellt, nicht dazu führen, dass die in der Unmittelbarkeit zu Gott gründende Anerkennungswiirdigkeit der Person von ihrer faktischen Anerkennung durch die soziale Mitwelt abhängig gemacht und insofern dieser nachgeordnet wird. Die beiden Aspekte der personalen Identität des Menschen stehen nämlich nicht einfach als parallele Variablen oder in einem ungeklärten Begründungsverhältnis nebeneinander. Vielmehr entfaltet sich die geschichtlich-dialogische Existenz des Menschen (also seine ipse-Identität) auf dem durch die schöpferisch-vertikale Relation Gottes zu ihm verbürgten Fundament seiner ontologischen Selbst-Ständigkeit (also der idem-Identität). Dem steht keineswegs entgegen, dass menschliches Personsein sich nur in einer sozialen Anerkennungsgemeinschaft, also eingebettet in zwischenmenschliche Beziehungen entwickeln kann. Nimmt man den Anspruch ernst, dass Gottes Anrede des Menschen ein schöpferischer Vorgang ist, dem wir in unseren zwischenmenschlichen Relationen zu entsprechen haben, dann kann die Anerkennung des Personseins der anderen kein willkürlicher, quasi-kreatorischer Akt sein. durch den diese aus Nicht-Person erst zu Personen gemacht warden. Vielmehr muss die geforderte Anerkennung als die angemessene Antwort auf ein Vorgegebenes, auf den Anspruch eines schon Existierenden verstanden werden, dessen Wirklichkeit sich freilich erst kraft der Anerkennung durch andere entfalten kann.'" In der Vgl. ebd., 125. " Vgl. dazu Spacmann, R.. Personen. Versuche uber den Unterschied 7WiSCIICI1 „etwas" und „jemand" Stuttgart 1996, 252f. 2 . 208 horizontalen Relation des Mitseins der Menschen untereinander folgt daraus die gebieterische Aufgabe, jedem menschlichen Wesen entsprechend der Verantwortungsbeziehung, in der wir zu ihm stehen, die Anerkennung, Fürsorge und Liebe zu gewähren, auf die es zur gedeihlichen Entwicklung seiner geschichtlichen Existenz angewiesen ist. Diese unverzichtbare moralische Funktion des Personbegriffs wird auch dort verfehlt, wo man mit dem empiristischen Personverständnis einer einflussreichen Strömung der angelsächsischen Bioethik das Personsein an den faktischen Nachweis kognitiver und volitiver Fähigkeiten, an aktuelle Eigenschaften oder das Vermögen bindet, selbstbewusste Interessen, Präferenzen und Wünsche zu haben. 2 ' Hinter der definitorischen Vorentscheidung, die allein intellektuelle und expressive Fähigkeiten als moralisch relevante Eigenschaften anerkennt, von deren Vorhandensein der moralische Status eines Lebewesens abhängen soll, während dessen körperliche Existenz als rein biologische Faktizität betrachtet wird, steht ein unreflektierter anthropologischer Dualismus, der angesichts des gegenwärtigen Problemstandes der philosophischen Anthropologie als die Achillesferse der gesamten Konzeption angesehen werden muss. Ein Personverständnis, das der konkreten Leiblichkeit des Menschen keine Beachtung schenkt, bleibt abstrakt. Es verfehlt die unhintergehbaren Existenzbedingungen konkreter Personen, zu denen — jedenfalls soweit es sich um menschliche Personen und nicht etwa Engel oder die innertrinitarischen Relationen Gottes handelt — die konstitutiven Dimensionen der Zeitlichkeit und Leiblichkeit gehören. Diese gründen in der anthropologischen Verfassung des Menschen und müssen daher von jeder Ethiktheorie so reflektiert werden, dass sie den sittlichen Selbstvollzug und das moralische Handlungsvermögen des Menschen in seinen unhintergehbaren Voraussetzungen angemessen erklären können. Gerade in seiner Stellung als handelndem Wesen kommt der leib-seelischen Einheit des Menschen jedoch unübersehbare Bedeutung zu. Zwar gilt der Respekt vor seiner Würde dem Vermögen zur moralischen Selbstbestimmung, doch folgt daraus gerade nicht, dass Leiblichkeit und biologische Naturzugehörigkeit nichts anderes als bloße Faktizitäten wären, die in moralischer Hinsicht unberücksichtigt bleiben dürften. Da Leiblichkeit Zur kritischen Auseinandersetzung vgl. Honnef elder, L. Der Streit um die Person in der Ethik, in: Philosophisches Jahrbuch 100 (1993) 246-265; Poltner, G., Die konsequenzialistische Begründung des Lebensschutzes, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 476 (1993) 184-203 und Schockenhotf. Embryo, 2003, 14-19. 209 und Zeitlichkeit zu den unhintergehbaren Bedingungen der Subjekthaftigkeit und moralischen Handlungsfähigkeit des Menschen gehören, darf der Respekt vor seiner Personwürde nicht erst der vollen Ausprägung von Selbstbewusstsein und Rationalität sowie seinen expliziten Willensäußerungen entgegengebracht werden. Die von der Würde des Menschen geforderte Achtung muss vielmehr auch das gesamte zeitliche Kontinuum und das leibliche Ausdrucksfeld umfassen, das die geistigen Selbstvollzüge der Person trägt und ermöglicht." Die Begriffe Gottebenbildlichkeit, Person und Menschenwürde sind theologische und philosophische Grundworte, die für das moralische Selbstverständnis des Menschen von unverzichtbarer Bedeutung sind und in ihrem normativen Kerngehalt von sozialpsychologischen Annäherungen wie „Ich", „Selbst" oder „Identität" nicht erschöpfend erfasst werden können." Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Herkunft und der jeweiligen inhaltlichen Akzente, die mit ihnen jeweils verbunden sind, benennen diese Grundworte die normativen Rahmenvorstellungen, denen eine rational annehmbare Sicht der Schutzwürdigkeit menschlicher Embryonen gerecht werden muss. Soll die Frage nach ihrem moralischen Status mit moralischen Argumenten beantwortet werden, darf die gesuchte Lösung nicht von einem partikularen Interessenstandpunkt aus (z. B. den Zugriffsabsichten der Wissenschaft oder den Heilungschancen künftiger Generationen) oder durch den bloßen Appell an die Problemlosigkeit des Augenscheinlichen (z. B. die schiere, nur mikroskopisch wahrnehmbare Größe des menschlichen Embryos) erfolgen. Sie kann vielmehr nur auf einer Ebene gemeinsamer Vernunft und einer Plattform unparteiischer Gerechtigkeit zwischen ungeborenen und geborenen Menschen emschieden werden, wie sie durch den normativen Bezugsrahmen der Begriffe Gottebenbildlichkeit, Personsein und Menschenwürde eröffnet wird. " Vgl. dazu auch Bormann, F.-.I., Der Status des Embryos aus der Sicht der katholischen Moraltheologie, in: G. Mato, H. Just (Hrsg.), Die Forschung an embryonalen Stamm7ellen in ethischer und rechtlicher Perspektive Baden-Baden 2003. 214 228, bes. 215ff. Vgl. dazu Pannenberg, W., Anthropologie in theologischer Perspektive, Gottingen 1983, 151-235. . 210 2. Der Abschluss der Befruchtung als biologischer Anknüpfungspunkt Mit der Bereitstellung des normativen Bezugrahmens, dem die gesuchte Antwort gerecht werden muss, wenn sie menschenrechtlichen Grundforderungen und dem Selbstverständnis der modernen Demokratie entsprechen soll, ist diese Antwort keineswegs schon vorgegeben. Konkrete moralische Urteile lassen sich nämlich weder einfach aus moralischen Überzeugungen ableiten noch unmittelbar an biologischen Gegebenheiten ablesen. Sie gehen vielmehr aus „gemischten" Schlussfolgerungen hervor, die normative Wertannahmen auf einen empirischen Sachverhalt beziehen. Die strittige Frage nach dem Beginn der Schutzwtirdigkeit des individuellen Menschenlebens stellt einen klassischen Fall derartiger gemischter Urteile dar. Das Datum des menschlichen Lebensbeginnes enthält zunächst nur eine biologische Auskunft, die erst im Licht ethischer Prinzipien sowie grundlegender Einsichten in die anthropologische Verfassung des Menschen interpretiert werden muss, um zu normativen Schlussfolgerungen zu führen. Umgekehrt bleiben ethische Wertannahmen wie das Achtungsgebot der Menschenwürde oder die Forderung nach einer Gleichbehandlung, aller Menschen in ihrem elementaren Menschsein auf der Prinzipienebene noch leer und unwirksam; sie entfalten ihre urteilsbildende und handlungsleitende Kraft erst, indem sie auf empirische Prämissen bezogen werden. Diese können unter den Voraussetzungen der modernen Wissenschaftskultur nicht anders als durch die interdisziplinäre Zusammenschau einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse gewonnen werden." Es ist eine wissenschaftsgeschichtliche Ironie, dass die auf den Biologen Ernst Haeckel zurückgehende epigenetische Annahme, wonach die Ontogenese des individuellen Menschen in abgekürzter Form die Phylogenese der Menschheit rekapituliert, so dass sich der Embryo erst allmählich aus infrahumanen Vorstufen zum Menschen entwickelt, durch die bahnbrechenden Fortschritte der modernen Genetik widerlegt wurde. Seit der Entdeckung des genetischen Codes gilt es als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis, dass das individuelle Menschenleben mit der Verschmelzung der Vorkerne von Ei- und Samenzelle — oder genauer: mit der Auflösung ihrer Kernmembranen — beginnt. Die Zweifel, die in jüngster Zeit von Entwicklungsbiologen, Philosophen und Juristen an " Vgl. da7u Rager, G. (Hrsg.), Beginn, Personalitat und Würde des Menschen (Grenzfragen 23), Freiburg, München 2 1999, 15-136. 211 der Tragweite dieser Einsicht geäußert werden, betreffen nicht das biologische Faktum als solches, sondern seine normative Bedeutung im Blick auf den Beginn der Schutzwürdigkeit des neu entstandenen menschlichen Lebens. In Zweifel gezogen werden nicht nur die Identität und Kontinuität der weiteren Entwicklung, sondern auch die Vollständigkeit des genetischen Entwicklungsprogramms." Schließlich wird der lange Zeit unangefochtenen embryologischen Grundanschauung, die das Ende des Befruchtungsprozesses als Beginn des neu entstandenen Menschenlebens wertet, eine „biologistische" Sichtweise unterstellt, welche die Bedeutung nicht-genetischer Faktoren für die Ausbildung der personalen Identität des Menschen unterschätzt. Da konkrete ethische Schlussfolgerungen auf gemischten Urteilen beruhen, ist mit der Notwendigkeit von Korrekturen, die nicht durch den Wandel unserer moralischen Überzeugungen, sondern durch die Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisbasis erzwungen werden, grundsätzlich immer zu rechnen (wie auch die Abkehr von den aristotelisch-scholastischen Beseelungstheorien in der Medizin des 18. und der Kanonistik des 19. Jahrhunderts belegt). 2 " Es fragt sich indessen, ob die Tragweite der angeführten neueren Erkenntnisse nicht überschätzt wird, wenn man sie unter dem Druck interessengeleiteter Abwägungen als ausreichende Basis für die Absicht ansieht, dem Embryo in den Anfangsphasen seiner Existenz das Menschsein abzusprechen. Im Blick auf die erforderliche Unparteilichkeit, welche die möglichen Interessen der bereits Geborenen an einer späteren Festlegung des menschlichen Lebensbeginns mit größtmöglichster Sorgfalt ausblenden muss, ist vielmehr zu überlegen, ob die Einsicht in die höhere Komplexität des gesamten Entwicklungsvorgangs nicht auch innerhalb des bisherigen Paradigmas eine plausible Erklärung finden kann. Die Annahme, wonach mit dem Ende der Befruchtung die einzigartige, genetisch unverwechselbare Existenz eines neuen menschlichen Lebens gegeben ist, stützt sich auf gesicherte Erkenntnisse. Immerhin ist der Embryo von diesem Zeitpunkt an so" Vgl. Kummer, Chr., Extrauterine Abtreibung? Sachargumente für eine Bestimmung des embryonalen Lebensbeginns, in: Stimmen der Zeit 122 (1997), 11-16; ders., Stammzellkulturen — Ein brisantes Entwicklungspotential, in: Stimmen der Zeit 125 (2000) 547-554; Knoepfler, N., Forschung an menschlichen Embryonen. Was ist Verantwortung?, Stuttgart, Leipzig 1999,55; 82-89; 135ff und Wolhert, W., Du sollst nicht töten. Systematische Überlegungen /um Tötungsverbot, Freiburg i.Ue. 2000. 150-155. " Vgl. dazu Bruch, R., Der Schutz des yorpersonalen menschlichen Lebens im Mutterleib, in: ders., Moralia, 258-283, bes. 259ff. 212 wohl artspezifisch (als menschliches Lebewesen) wie auch individualspezifisch (als dieses menschliche Lebewesen) eindeutig geprägt, ohne dass sich im Laufe seiner weiteren Entwicklung Abweichungen von diesem grundlegenden Entwicklungsprogramm ergeben würden. Von Anfang an ist das Geschlecht des neu entstandenen menschlichen Lebens festgelegt, etwaige numerische Chromosomenanomalien lassen sich vom ersten Zeitpunkt an erkennen, später auftretende Chromosomenverluste können selbsttätig entsprechend dem ursprünglichen Entwicklungsmuster wieder ausgeglichen werden. Mit der Befruchtung entsteht somit auf wunderbare Weise ein neues menschliches Lebewesen. Der qualitative Sprung der Menschwerdung vollzieht sich aus biologischer Sicht nicht irgendwann im Verlauf der Embryonalgenese , er steht vielmehr ganz am Anfang des gesamten Entwicklungsprozesses. In den späteren Gefahrenzonen dieser Entwicklung, vor allem vor und während der Nidation, geht es dagegen nicht mehr um den erstmaligen Schritt zur Menschwerdung, sondern darum, dass die Existenz des bereits entstandenen menschlichen Lebewesens erhalten bleibt und sein Entwicklungspotential sich weiter entfalten kann. Es liefe in der Tat auf das Missverständnis eines „Genetizismus" oder einer _Mystik der Gene" hinaus, wollte man das individuelle Genom als unmittelbaren Träger der Menschenwürde ansehen. Solche abwegigen Einwände verfälschen jedoch die Überlegung, die zu dem Ergebnis führt, dass das neu entstandene menschliche Lebewesen vom biologischen Ursprung seiner Existenz an unter dem Schutz der Menschenwürde steht. Anknüpfungspunkt für die Anerkennung der Menschenwürde ist nicht die DNA-Struktur des individuellen Genoms oder ein immaterielles Informationsprogramm, sondern der neu entstandene Embryo, der über ein individuelles Genom verfügt, das seine weitere Entwicklung im Zusammenspiel mit den erforderlichen Umgebungsbedingungen steuert. Die Neukombination des individuellen Genoms, die nach dem Zufallsprinzip aus den mütterlichen und väterlichen Anteilen erfolgt, stellt einen wunderbaren Vorgang dar, der einen Hinweis auf die Einzigartigkeit jedes Menschen enthält und auch Biologen und Genetiker das Staunen lehrt. Es wäre indessen eine Fehlinterpretation dieses wunderbaren Vorgangs, im „Würfeln der Gene" die Geburt der menschlichen Seele zu sehen» Das entelechiale Le. Auch das kirchliche Lehramt betont in seinen jungeren Stellungnahmen, dass „das Vorhandensein einer Geistseele von keiner experimentellen Beobachtung ausgemacht werden kann" (Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre Quesho de Ahortu procurato [18. November 1974] Nr. 12-13 [AAS GG, 7381; vgl. auch Johan- 213 bensprinzip im aristotelisch-scholastischen Sinn wohnt der Zygote selbst inne, die ihre weitere Entwicklung freilich gemäß ihrem Genom vollzieht. 28 Das mit der Befruchtung entstandene menschliche Lebewesen darf daher nicht auf sein Genom reduziert und als körperlose Entität betrachtet werden; der Umstand, dass sich die spätere Körperachse erst mit der Anlage des Primitivstreifens bildet, berechtigt keinesfalls dazu, in der Zygote vor der Nidation so etwas wie ein immaterielles Phantomgebilde oder einen virtuellen Informationsträger zu sehen. Vielmehr ist bereits der extrakorporale Embryo ein menschliches Lebewesen, das als konkrete leibseelische Einheit existiert, die sich kraft des ihr innewohnenden Lebensprinzips entwickelt. Die Bedeutung des Genoms liegt dabei darin, dass der Embryo vom Ende der Befruchtung an alle unverwechselbaren Anlagen in sich trägt, die er in einem kontinuierlichen Prozess ohne relevante Zäsuren entfalten wird, sofern er dafür die nötige Unterstützung erhält und nicht durch gewaltsame Einwirkung von außen an der Verwirklichung seines Entwicklungspotentials gehindert wird." Träger der Menschenwürde ist jedoch weder das individuelle Genom noch die isoliert betrachtete, aus der Verlaufsgeschichte ihrer Entwicklung herausgelöste Zygote, sondern das menschliche Individuum, dessen Existenz mit der Verschmelzung der Vorkerne beginnt und mit dem Tod endet. Der neuerdings hervorgehobene Umstand, dass die Expression der genetischen Information im weiteren Entwicklungsverlauf nur im Zusammenspiel mit äußeren, über die Zellmembran wirksamen Reizen erfolgt und die Ausbildung des Primitivstreifens sowie die Ausrichtung der späteren Körperachse auf Positionssignale antworten, die vom mütterlichen Organismus ausgehen, ist mit der Annahme durchaus vereinbar, dass der Embryo von Anfang an über die vollständige Potenz zu seiner weiteren menschlichen Entwicklung verfügt. Die genannten neueren Forschungen belegen im einzelnen, dass der Embryo auf die Anreize, die aus ties Paul II., Enzyklika „Evangelium vitae", Nr. 60), was freilich keine Absage an die Theorie der Simultanheseelung impliziert. " Vgl. dazu Hennefrlder, L., Die Begründung des moralischen Status des menschlichen Embryos aus der Kontinuitat der Entwicklung des ungeborenen und ., eboteneu Menschen, in: Dam,%chen, Schonecker Status, 61-81, bes. 72. " Als Ergebnis der embryologischen Betrachtung der menschlichen Ontogenese Passt sich mit Roger, G.. Menschsein zwischen Lebensanfang und Lebensende. Grundzüge einer medizinischen Anthropologic, in: ders., L. Honnefelder (Hrsg.), Arztliches Urteilen und Handeln. Zur Grundlegung einer medizinischen Ethik, Frankfurt a.M. 1994, 53-103, hier: 82 festhalten, dass „der Embryo von der Befruchtung an menschliches Leben darstellt und die Moglichkeit besitzt, dieses menschliche Leben voll entfalten, wenn ihm die dafür nötigen Umgebungsbedingungen geboten werden". -, , 214 der symbiotischen Austauschbeziehung mit dem mütterlichen Organismus erwachsen, angewiesen ist, um sein Entwicklungspotential entfalten zu können. Dieses ist daher weder nach dem Modell eines automatisch ablaufenden Programms noch als passive Reaktion auf die empfangenen Außenreize zu verstehen; auch nach der Einnistung verwirklicht der Embryo in Wechselwirkung mit dem mütterlichen Organismus sein Entwicklungsprogramm und nicht das eines anderen Wesens oder eine neue, in seinen ursprünglichen Anlagen nicht enthaltene Entwicklungsmöglichkeit, die seine aktive Werdepotenz in eine andere Richtung lenken würde. Die Sichtweise, die im Vorgang der Implantation weitgehend eine aktive Eigenleistung des Embryos sieht (er schaltet z. B. das „Abwehrsystem" der Gebärmutter gegen den fremden Eindringling aus), muss durch den Nachweis mütterlicher Stimuli möglicherweise neu akzentuiert werden; aus der höheren Komplexität, die der embryonal-maternale Dialog auf der Ebene physiologischer Austauschprozesse aufweist, folgt indessen weder die Unabgeschlossenheit der genetischen Information noch die Nivellierung der Befruchtung zugunsten einer angeblichen gleichgewichtigen Stufenfolge, welche die Bedeutung des qualitativen Sprungs am Anfang durch den Hinweis auf die weiterhin erforderlichen Bedingungen (die auch bislang von niemandem in Abrede gestellt wurden) relativiert. Vielmehr finden auch die besagten neueren Forschungsergebnisse eine zureichende Erklärung durch das biologische Prinzip, wonach der Embryo seine eigenen Entwicklungsmöglichkeiten in einem geeigneten Medium kontinuierlich entfalten kann, sofern ihm die dazu erforderlichen Umgebungsbedingungen nicht versagt oder entzogen werden. Im weiteren Verlauf der Embryogenese kann die sprachliche Benennung unterschiedlicher Entwicklungsphasen deshalb nur den Sinn haben, fließende Übergänge oder neu einsetzende Entwicklungsschübe zu kennzeichnen. Wenn wir von einer Zygote (nach der Befruchtung), einem Embryo (nach der Einnistung) oder einem Fötus (nach der Ausbildung seiner Gliedmaßen) sprechen, benennen diese Bezeichnungen keine unterschiedlichen Entwicklungsstufen, auf denen der Embryo erst allmählich das volle Menschsein erreichen würde, sondern verschiedene Reifungsvorgänge, die sich an ein und demselben menschlichen Wesen vollziehen.'" Von allen in Frage kommenden Vorschlägen (AbNach Roger, Personalitat, 86, legen diese Bezeichnungen „Parameter der Reitungsvorgange" fest, ohne indessen ein reales Durchschreiten diskreter Entwicklungsstuten oder eine Aufeinanderfolge getrennter Vorl'aufer-Stadien zit behaupten. 215 schluss der Befruchtungskaskade, Beginn des embryonal-maternalen Dialogs, Einnistung in die Gebärmutter, Auftreten erster Herzbewegungen, Ausbildung von Gehirnstrukturen, Schmerzoder Empfindungsfähigkeit, extrauterine Oberlebensfähigkeit, Durchschneiden der Nabelschnur bei der Geburt oder noch spätere Festlegungen) stellt der biologische Anfang der menschlichen Existenz denjenigen Anknüpfungspunkt für die normative Wertpostulate der Menschenwürde und der gleichberechtigten Anerkennung dar, der am wenigsten willkürlich gewählt ist. Die späteren Datierungsvorschläge erscheinen schon deshalb zu unsicher, weil ihr Nachweis vom jeweiligen Entwicklungsstand bildgebender oder anderer diagnostischer Verfahren abhängt. Selbst der von seinem Ende her eindeutig feststellbare Vorgang der Nidation gibt uns auf der biologischen Ebene kein hinreichend sicheres Unterscheidungskriterium an die Hand, das eine Differenzierung zwischen schutzwürdigem und noch nicht schutzwiirdigem Leben rechtfertigen könnte. Im Verlauf der kontinuierlichen Wechselwirkung zwischen Mutter und Kind bildet eine Phase dieser Interaktion die notwendige Voraussetzung für das Erreichen der anderen, wobei ein stofflicher Austauschprozess, der über Hormone und Signalfaktoren vermittelt wird, schon lange vor der Einnistung, also bereits auf dem Weg des Embryos durch den Eileiter, anzunehmen ist. Wenn die von Anfang an bestehende Wechselwirkung zwischen Embryo und weiblichem Organismus durch den Vorgang der Einnistung eine feste lokale und temporäre Grundlage findet, gewährleistet dies die notwendige Stabilität der weiteren Entwicklung: dieser Vorgang stellt indessen nur ein herausgehobenes Moment innerhalb des bereits angebahnten Entwicklungsvorgangs, aber keinen qualitativen Sprung dar, der eine normative Zäsur von solcher Tragweite rechtfertigen könnte. Der Vorschlag, das Nidationskriterium zur Abgrenzung unterschiedlich schinzenswerter Lebensstadien heranzuziehen, ist insofern bereits in seinen biologischen Annahmen widersprüchlich, als er den mehrere Tage dauernden Vorgang der Einnistung wie einen Fixpunkt behandelt, während er den spätestens nach vierundzwanzig Stunden erreichten Abschluss der Befruchtungskaskade als eine bloße Vorstufe zum Ereignis der Nidation ansieht, in dem sich — Zu den sprachlichen Benennungsmoglichkeiten des Embryos und ihren versteckten normativen Implikationen vgl. auch Breuer, C., Person von Anfang an? Der Mensch aus der Retorte und die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens, Paderborn u. a. 1995, 20-60: 7u den Gründen für die Ablehnung der Bereichnung „Pra-Lmbryo" vgl. Breiter, Person, 53-58. 216 so die Argumentation — erst die eigentliche Menschwerdung des Embryos vollziehen soll. Wenn man das physiologische Geschehen, das die Kontaktnahme mit dem mütterlichen Organismus begleitet, schon als biologischen Parallelvorgang zu dem personalen Grundakt der Annahme des Embryos durch die Mutter und seiner moralischen Anerkennung durch die Rechtsgemeinschaft interpretiert, wäre es nur folgerichtig, den Beginn dieses Prozesses (um den 3. oder 4. Tag) und nicht erst seinen Abschluss als terminus a quo der Schutzwürdigkeit anzusetzen. 3. Notwendige Differenzierungen und Klärungen Die sich von Anfang an durchtragende Individualität, die zäsurlose Kontinuität und das einzigartige und vollständige Entwicklungspotential des Embryos benennen unterschiedliche Aspekte ein und desselben Vorgangs, die sich jedoch nicht als getrennte oder gar konkurrierende Argumente behandeln lassen, wie es in der Diskussion um den moralischen Status des Embryos nicht selten geschieht. Vielmehr kommen alle drei Überlegungen, in dem sie jeweils eine Seite der menschlichen Embryonalentwicklung hervorheben, im entscheidenden Punkt überein. Es ist ein und dasselbe, mit sich identische menschliche Wesen, das alle Anlagen zu seiner späteren Entwicklung bereits potentiell in sich trägt und das sich in einem kontinuierlichen Prozess ohne relevante Einschnitte von Anfang an als die Person entwickelt, der wir nach dem Gesetz der Gleichursprünglichkeit und Gegenseitigkeit dieselbe Achtung schulden, die wir für uns selbst in Anspruch nehmen. Diese normative Schlussfolgerung beruht keinesfalls auf einem ontologischen Fundamentalismus oder einem ethischen Immobilismus, der für die komplexen Entstehungsbedingungen des menschlichen Lebens blind wäre und sich infolge eines unbeweglichen Alles- oder Nichts-Standpunktes notwendige Abwägungsspielräume verbaut.' Ebenso wenig setzt die bislang in ihren normativen Wertprämissen und in ihren empirischen Sachverhaltsannahmen aufgezeigte Argumentation ein eindimensionales Menschenbild voraus, das die personale Identität eines Menschen auf seine genetische Basis reduziert. Im Rahmen einer theologischen Anthropologie, die sich aufgrund ihrer biblischen Wurzeln und auf dem Boden der aristotelisch-scholastischen Anthropologie als ganzheitliches Denken versteht, unterliegt es keinem Zweifel, dass auch die leibliSo der Vorwurf von Kreß, Immobilismus. 111-131, bes. 126ff. 217 che Daseinsweise des Menschen an der Würde seiner Gottebenbildlichkeit teilhat. Die Transzendenz der Person, die kraft ihres Geistes ihre materiellen Lebensbedingungen übersteigt, führt in einem christlichen Menschenbild nicht zur Abwertung, sondern umgekehrt zur Aufwertung des Leibes, der von der Seele durchformt und getragen wird. Die Schutzwürdigkeit der leiblichen Anfangsphasen der menschlichen Existenz ist aber auch unabhängig von diesen theologischen Prämissen durch eine Reflexion auf die unhintergehbaren Grundbedingungen des Menschseins erkennbar: Insofern das Leben die notwendige Voraussetzung der geistigen Selbstvollzüge des Menschen ist und als die existenzielle Grundlage für das Werden und die Entfaltung der Person angesehen werden muss, kommen Würde, Lebensrecht und Schutz jedem Menschen vom Ursprung seiner Existenz an zu. Weil der Mensch sich in seinem Vermögen zur moralischen Selbstbestimmung nicht anders als in seinem Leib und durch seinen Leib gegeben ist darf der Respekt vor der Menschenwürde nicht erst der vollen Ausprägung von Selbstbewusstsein. Rationalität und weiteren aktuellen Eigenschaften entgegengebracht werden; er muss vielmehr das gesamte zeitliche Kontinuum und das leibliche Ausdrucksfeld umfassen, das die geistigen Akte der Person trägt und ermöglicht. Die Anerkennung der Menschenwürde muss daher, soll sie überhaupt gelten und nicht bereits durch den Vorgang ihrer Anerkennung den Keim der Relativierung in sich tragen, für die ganze individuelle Zeitspanne eines Menschenlebens gelten und alle Entwicklungsstufen, Erscheinungsformen und Lebenszustände umfassen, die in ihrer Summe die zeitliche Existenz dieses Menschen ausmachen." Werden am Lebensanfang oder am Lebensende bestimmte Situationen oder Zustände davon ausgenommen, erfolgt der Akt der Anerkennung nicht mehr unbedingt, sondern unter Voraussetzungen, die einseitig von denen definiert werden, die diese Voraussetzungen erfüllen. Eben diese asymmetrischen Zuschreibungen — wir befinden darüber, wem wir von welchem Zeitpunkt an nach welchen Kriterien Menschenwürde zusprechen wollen — ist mit der fundamentalen Gleichheit unvereinbar, die innerhalb demokratischer Gesellschaften alle umfassen muss. Damit dieses „alle" nicht wiederum einseitig nach sozialen oder kulturellen Statuskriterien eingeschränkt werden kann, muss es entsprechend dem aufgezeigten Minimalbegriff, der den normativen , " Vgl. Stein, T., Recht und Politik im biotechnischen Zeitalter, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002) 855 —870, bes. 861ft. 218 Kerngehalt der Menschenwürde umschreibt, schlichtweg für alle menschlichen Individuen gelten, die vom Menschen abstammen, d. h. im biologischen Sinn Menschen sind. Daraus aber folgt: Was die fundamentalen Rechte des Menschseins anbelangt, so schulden wir dem menschlichen Embryo — in diesem moralischen Postulat stimmen eine „katholische" Naturrechtsethik und Kants „kritische" Vernunftethik überein — die gleiche Achtung, die wir dem geborenen Menschen entgegenbringen. Sofern die zeitliche Anfangsphase seiner Existenz zu den Herkunftsbedingungen jedes Menschen zählt, muss er vom Ursprung seiner Existenz an über Menschenwürde . Lebensrecht und Schutzwürdigkeit verfügen, da diese normativen Wertprädikate ihm andernfalls nicht von sich aus zu eigen, sondern zu einem späteren Zeitpunkt von anderen verliehen wären. 3.1. Einwände gegenüber dem Aspekt der Identität Nachdem die Argumentation zugunsten einer vollen Schutzwürdigkeit des Embryos von Anfang an in ihren Grundzügen vorgestellt ist, bleibt nun noch näher auf einige Gegenargumente einzugehen, die sie in der zurückliegenden und aktuellen bioethischen Diskussion hervorgerufen hat. Gegen die unterstellte Identität des Embryos in allen Phasen seiner Entwicklung wird eingewandt, aufgrund der Möglichkeit einer Mehrlingsbildung könne frühestens mit dem Ausschluss der orthischen Teilbarkeit, also erst nach erfolgter Nidation am vierzehnten Tag von einem einzigen menschlichen Individuum ausgegangen werden. Solange die Auflösung einer vorläufigen Ganzheit und die Bildung neuer Individuen noch möglich ist, kann demnach weder von der geschichtlichen Existenz eines Menschen noch von seinem personalen Dasein die Rede sein. Eine derartige Position wurde in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts auch von moraltheologischen Autoren wie F. Böckle, J. Grande! und J. Mahoney oder Medizinern wie W. Ruff, K. Hinrichsen und H. Koester vertreten; in einer einprägsamen Formulierung fand sie auch Eingang in das renommierte Handbuch der christlichen Ethik: „Vor der biologischen Determinierung auf ein einziges und in sich unteilbares Individuum hin wird man darum anthropologisch im strengen Sinn noch nicht von einem real existierenden Menschen sprechen können:`" 'kickle, F., HchrE II, 43. Die genannten Autoren berufen sich allerdings zu Unrecht auf den Begriff der Selbsttranszendenz oder des „sich selbst überbietenden Werdens", der ein Schlüsselwort der Theologie Karl Rahners ist. Dieser möchte das 219 Gemäß der Etymologie des Wortes Individuum (von in divisttm = ungeteilt) geht dieser Einwand davon aus, dass nicht nur das aktuelle Ungeteiltsein eines Seienden, sondern auch seine zukünftige Unteilbarkeit als notwendige Mindestvoraussetzung für das individuelle und personale Dasein eines konkreten Menschen anzusehen ist. Dies trifft für den erwachsenen Menschen zweifellos zu. Es fragt sich indessen, ob der statische Begriff der Unteilbarkeit den dynamischen Wachstumsprozessen, die den Anfang der menschlichen Embryonalentwicklung prägen, tatsächlich gerecht wird. Während nämlich das konkrete Dasein eines erwachsenen Menschen Individualität im numerischen Sinn voraussetzt, da seine Teilbarkeit den sicheren Tod bedeuten würde, stellt die Teilung eines frühen Em- Missverständnis abwehren, dass Gottes transzendente Erstursachlichkeit in die Reihe geschöpflicher Zweitursachen eingreift und damit in Konkurrenz zu diesem steht. Wenn sich das wunderbare Geschehen der Zeugung eines Menschen nicht anteilmäßig zwischen Gott und Mensch verrechnen lässt (etwa indem die Eltern den Leib zeugen und die Erschaffung der Seele Gott vorbehalten bleibt). sondern ein und dieselbe Wirkung ganz von der transzendenten und darin eingeschlossen zugleich von der kategorialen Ursache gesetzt ist, so dass die Eltern in der Kraft der g,ottlichen Erstursache beim Zeugungsakt den ganzen Menschen in seine' leib-seelischen Einheit hervorbringen, steht diese metaphysisch-theologische Deutung der Annahme eines abgestuften Lebensschutzes von ihren eigentlichen Intentionen her chef entgegen. Es geht Rahner ja gerade um den Nachweis, dass im geschöpflichen 1 landeln der Eltern von Anfang an em „Uberschuss" wirksam ist. durch den der physische Zeugungsakt zum Ursprung einer neuen Person werden kann. Keinesw egs meint das Theorem der „aktiven Selbsttranszendenz" dagegen, dass ein anlangs rein physisches Geschehen 7U einem bestimmten Zeitpunkt die personale Wirklichkeit des Geistes hervorbringt, wie es die Interpretation des Embryos durch das abgestufte Schutzkonzept unterstellt. Der Gedanke eines sich selbst uherbietenden Werdens könnte — außerhalb des ursprünglich von Rahner gewählten Zusammenhangs — allenfalls dann für die Position eines abgestuften Lebensschutzes in Anspruch genommen werden, wenn man die Individualentwicklung des Menschen nach dem Modell seine] stammesgeschichtlichen Evolution aus dem Tierreich deuten durfte. Obwohl Rahner selbst eine derartige Entsprechung von Ontogenese und Phylogenese (und somit eine Entwicklung aus anfangs infrahumanen Vorstufen zum geistgeprägten Menschsein) nach den Anschauungen der damaligen Embryologic als plausible Erklarung erschien, kann eine solche Annahme nach heutigem Erkenntnisstand nicht aufrechterhalten werden. Da die metaphysisch-theologische Theorie der aktiven Selbsttranszendenz geschöpflichei Ursachen von einer gradualistischen Deutung der Individualentwicklung des Menschen unabhängig ist, lässt sie sich ebenso gut als Verstehensmodell zur Erklärung dafür heranziehen, wie der biologische Zeugungsakt. dem die Eltern den ganzen Menschen in seiner leih-seelischen Einheit hervorbringen, in der Weise zum Ursprung einer neuen Person werden kann, dass die Selbstüberschreitung der geschöpflichen Ursache schon den Anfang des ganzen Entvv icklungsprozesses bestimmt und nicht erst auf einer späteren Stufe zu lokalisieren ist. Vgl. Overhage, P., Rahner, K., Das Problem der Hominisation. Heiburg i.Br 1961, 8111. (die missverständliche Bemerkung zu Haeckels Entwicklungstheorie findet sich a. a. 0., 79) und Vorgrunmler, H., Der Begriff der Selbsttranszendenz in der Theologic Karl Rahners, in: ders. (Hrsg.), Wagnis Theologie. Erfahrungen mit der I heologic Karl Rahners, Freiburg an Breisgau 1979.242-258, bes. 247. 220 bryos keine Vernichtungsteilung, sondern einen Wachstumsvorgang und somit eine Lebensäußerung dar, wie sie in seltenen Fällen auch beim Menschen natürlicherweise möglich ist. Eine Deutung der menschlichen Zwillingsbildung, die den Tod der ursprünglichen Zygote infolge ihrer Teilung annimmt, wobei die beiden neuen Individuen dann aus deren Untergang hervorgehen müssten, ist zwar nicht ausgeschlossen, doch eher unwahrscheinlich. Angemessener erscheint die Erklärung, wonach zur Ursprungszygote durch Abspaltung eine weitere hinzutritt; in diesem Fall wäre davon auszugehen, dass „das ursprünglich eine Individuum die Möglichkeit für eine Mehrzahl von Individuen in sich trägt ' . Bei einer derartigen Interpretation des biologischen Geschehens stünde die Möglichkeit der Zwillingsbildung nicht im Gegensatz zu den schon vor der Nidation angenommenen Individualität der sich entwickelnden Zygote. Die Begriffsgeschichte zeigt nämlich, dass nicht nur auf der biologischen Bedeutungsebene dynamische Sichtweisen vorherrschen, sondern dass diese auch dem philosophischen Bedeutungsgehalt von Individualität keineswegs fremd sind. Schon bei Thomas von Aquin liegt der Akzent auf der einheitsstiftenden Funktion der menschlichen Seele; bei Kant tritt der dynamische Aspekt noch stärker in den Vordergrund, insofern die Person sich selbst zu ihrer freien Verwirklichung aufgegeben ist. G. Rager fasst diesen Befund zusammen: „Wenn das lebende Individuum nicht primär als etwas Unteilbares, sondern als ein Wesen verstanden wird, das ständig dynamisch seine Einheit herstellt, dann stellt die Entstehung von eineiigen Zwillingen keinen Widerspruch zu unserem Begriff von Individuum und Person dar."" Da auch eine noch teilbare Zygote genetisch eindeutig bestimmt ist, ist kein zwingender Grund erkennbar, warum wir ihr die Individualität absprechen sollten. Zudem ist die entgegengesetzte Deutung mit erheblichen Inkonsistenzen verbunden. Sie müsste 7. B. erklären können, warum sich die genetische Einzigartigkeit in 98 % der Fälle, in denen es nicht zur Zwillingsbildung kommt, auch als numerische Individualität durchhält und wie aus einem angenommen Nicht-Individuum vor der Teilung aus dieser zwei oder mehrere Individuen entstehen können. Schließlich ist nicht einzusehen, warum hinsichtlich der Schutzwürdigkeit des Embryos durch die Möglichkeit der Mehrlingsbildung eine Änderung eintreten sollte. Wenn aus einer biologischen Einheit zwei " Rager. Personalität, 89. " Ebd., 88. 221 menschliche Individuen hervorgehen, spricht auf einer praktischen Handlungsebene auch dann alles dafür, diese biologische Einheit zu schützen, wenn auf der theoretischen Ebene Einzelheiten dieses Vorgangs unklar bleiben. Da in jeder Phase vor und nach der Teilung ein oder mehrere menschliche Individuen existieren, so dass zu keinem Zeitpunkt kein Individuum vorliegt, erscheint die Schutzwürdigkeit sowohl des Ursprungsembryos wie auch des später entstandenen Zwillings in jedem Fall als eine plausible, im Ganzen tragfähige und mit geringeren Risiken verbundene Annahme. 3.2. Einwände gegen den Aspekt der Potenzialität In ähnlicher Weise wird das Potenzialitätsargument unbrauchbar, wenn man ihm entweder eine zu enge oder eine zu weite Bedeutung unterstellt. Der Einwand, auch Eizellen und Samenzellen seien in ihrer getrennten Existenz bereits als potentielle Embryonen anzusehen, verkennt die Bedeutung des Befruchtungsvorgangs, aus dem die Zygote als ein individuelles neues Lebewesen erst hervorgeht. Der Vergleich des Embryos mit einem Kronprinzen, der noch nicht über die vollen Rechte eines Königs verfügt, geht in umgekehrter Richtung am Kern der Sache vorbei. Die Oberlegung, der Embryo sei nur ein „potentieller Mensch", wie auch Prinz Charles bislang nur als „potentieller" König gelte, scheint nur deshalb plausibel, weil sie einen starken mit einem schwachen Begriff der Potenzialität verwechselt. Alle deutschen Bundesbürger haben die passive Möglichkeit, einmal Bundespräsident(in) zu werden, obwohl die Chance hierzu für die allermeisten verschwindend gering ist. Von dieser passiven Fähigkeit, etwas zu werden. was man noch nicht ist (nicht-deutsche Staatsangehörige erfüllen diese Fähigkeit nicht), oder der materialen Potenz, derzufolge eine Marmorstatue in einem noch unbehauenen Steinblock enthalten ist, muss aber die aktive Potenz unterschieden werden, durch die bereits existierende Lebewesen sich als das entwickeln, was sie ihrer Art nach sind und die spezifischen Fähigkeiten ausbilden, die für ihre Art charakteristisch sind." Wie bereits Aristoteles in seinen ontologischen Untersuchungen zum Begriff des „Möglichen" gezeigt hat, gibt es neben dem logisch Möglichen, das als das bloß Denkbare ein reiner Gegenbegriff zum realen Seienden ist, auch das bereits angelegte, schon im Entstehen begriffene „Mögliche", wofür er auf ein Haus, zu dem der Grundstein geVgl. Bormann, Status, 219. 222 legt ist oder eben auf das Kind verweist, das von seinen Eltern bereits gezeugt wurde. Nur das in diesem Sinn Mögliche erfüllt den vollen Begriff der Potenzialität, der die aktive Entfaltungspotenz eines bereits angelegten Seins meint. Von einem solchen Seienden gilt nach Aristoteles, dass es das Prinzip seines Werdens, seine arche, in sich trägt und „wenn nichts von außen hindert, durch sich selbst sein wird". Da das Potenzialitätsargument die Fähigkeit des menschlichen Embryos zur Entfaltung seiner Anlagen hervorhebt, wird sein Sinn verfälscht, wenn man ihm nur die schwache Bedeutung einer passiven Potenz unterlegt, wie es in der angelsächsischen Bioethik und neuerdings auch in der deutschsprachigen Debatte häufig geschieht." Schwerer wiegt dagegen der von entwicklungsbiologischer Seite vorgetragene Einwand, der dem Embryo vor der Nidation eben diese aktive Potenzialität abspricht oder zumindest die Fähigkeit des Embryos zur selbstgesteuerten Entwicklung in Zweifel zieht. Die bereits genannten neueren Forschungen verweisen darauf, dass nach der Nidation weitere Faktoren wirksam werden, die für die intrauterine Entwicklung erforderlich sind. Sollten sich solche Annahmen bestätigen, würde man in der Tat besser von einer Ko-Programmierung der intrauterinen Entwicklung als von einer Selbststeuerung des Prozesses durch den Embryo sprechen. Daraus lässt sich jedoch keinesfalls die Schlussfolgerung ableiten, dass dem Embryo erst durch die Annahme von Seiten seiner Mutter das volle Menschsein im normativen Sinn übertragen würde. Eine derartige Konstruktion stünde im offenen Widerspruch zum Kern der Menschenwürde-Vorstellung, wonach diese ihrem Träger von sich aus zukommt und nicht erst durch Zuschreibung von außen verliehen wird. Auch stellt die Abhängigkeit von fremder Hilfe kein spezifisches Unterscheidungsmerkmal des Embryos, sondern eine anthropologische Grundsituation dar, die sich in jeder Lebensphase anders akzentuiert. Da auch ein neugeborenes Kind sein weiteres Entwicklungspotenzial nicht ohne die Annahme von Seiten seiner Eltern oder anderer Bezugspersonen entfalten kann, ließe sich auch sein Lebensrecht aus analogen Gründen bestreiten. Diese ungewollte Konsequenz belegt, dass eine normative Deutung der menschlichen Embryonalentwicklung, die in der Annahme von Seiten der Mutter bei der Einnistung des Embryos einen statusverleihenden Akt sieht, nicht nur die moralischen AnerkennungsverhältVgl. Aristoteles, Metaphysik Buch 7, 1049 a 10 (hrsg. von II. Seidel; übersetzt von H. Bomtz, Hamburg 1991). So bei Schone -Seifert, B. in ihrem Artikel „Von Anfang an?", in: ZEIT Nr. 09/2(X)1, 2. . 223 nisse auf den Kopf stellt, sondern obendrein zur klaren Abgrenzung zwischen schutzwürdigen und nicht-schutzwürdigen Stadien dieses Prozesses untauglich ist. 3.3. Einwände gegen den Aspekt der Kontinuität In ähnlicher Weise wird die normative Bedeutung der biologischen Kontinuität in der Entwicklung des Embryos durch eine philosophische Überlegung in Frage gestellt, die diesen erst zu einem späteren Zeitpunkt ein die Schutzwürdigkeit begründendes Oberlebensinteresse zubilligt. Durch die Tötung des Embryos wird demnach nicht das Lebensrecht eines real existierenden menschlichen Wesens verletzt, sondern es wird, wie der Rechtsphilosoph Norbert Hoerster formuliert, „verhindert, dass aus dem Fötus jemals ein Wesen mit einem Überlebensinteresse entsteht ' °. Abgesehen davon, dass fundamentale moralische Rechte auch dort bestehen können, wo subjektiv empfundene und aktuell geäußerte Interessen noch nicht, nicht mehr oder auch nur vorübergehend nicht vorhanden sind, stellen sich einer derartigen Lösung, die sich des Problems gewissermaßen im Hau-Ruck-Verfahren entledigen will, erhebliche Schwierigkeiten in den Weg: Sie ist nur scheinbar metaphysikneutral, denn sie setzt eine ereignisontologische Deutung der zeitlichen Struktur eines Seienden und die Leugnung so genannter Kontinuanten voraus: 4 " sie bestreitet die diachrone Identität von Lebewesen während der gesamten Dauer ihrer Existenz; sie löst das geschichtliche Dasein eines Menschen in ein Bündel von Personphasen auf, die aufeinander folgen, ohne in die Ganzheit einer Biographie integriert zu sein; sie schneidet den erwachsenen Menschen von der Möglichkeit ab, die Reihe seiner eigenen Herkunftsbedingungen vollständig bis zu ihrem Anfang zurück zu verfolgen. Schließlich deklariert dieser Einwand den vormaligen Embryo in einem definitorischen Willkürakt zum bloßen Vorläufer eines erst später konkret existierenden Menschen, der zu dessen Sein und Werden auf zwar zwingend notwendige, doch im Ergebnis normativ bedeutungslose Weise beitragen soll. " Hoerster, N., Abtreibung im säkularen Staat. Argumente gegen den § 218, Frankfurt a.M. 1991, 100. 4 " Zu einer solchen Konzeption, die das Sein der Person auf die psychologische Kontinuität der Selbstidentifikation reduziert, vgl. Parfit, D.. Reasons and Persons. Oxford 1984, 323. Eine kritische Auseinandersetzung findet sich bei Honnefelder, Streit, 256ff und Ranggaldier, E., Was sind Handlungen? Eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Naturalismus, Stuttgart 1996, 30f. 224 Die entgegengesetzte Deutung, die den Zeitpunkt der Befruchtung als den geschichtlichen Anfang der gesamten Zeitlinie einer sich kontinuierlich entfaltenden Existenz ansieht, befindet sich dagegen in Übereinstimmung mit den Möglichkeiten unserer sprachlich artikulierten Selbstvergewisserung: Ich kann von dem Embryo, der ich einmal war, in der ersten Person Singular sprechen und so den Anfang meiner Lebensgeschichte identifizieren, der noch vor dem Auftauchen erster Erinnerungsinhalte im Gedächtnis liegt und somit die psychologische Kontinuität des Bewusstseins übersteigt. Dies ermöglicht die retrospektive Anwendung normativer Prinzipien wie der Goldenen Regel oder des Gleichheitsgrundsatzes, in dem wir ausgehend von der dem erwachsenen Menschen geschuldeten Achtung auch die Anfangsbedingungen seiner individuellen Existenz dem Schutz der Menschenwürde unterstellen. Alle geborenen Menschen haben nämlich eines gemeinsam: Sie begannen ihre Existenz als Embryonen und die Tatsache, dass sie heute sind, steht in einem unauflöslichen Zusammenhang mit dem Umstand, dass ihnen von den damals Geborenen, allen voran ihren Eltern und Erzeugern, die für ihre weitere Entwicklung notwendige Hilfe nicht verweigert wurde. Nach dem Gesetz der Gleichursprünglichkeit aller Menschen folgt daraus, dass wir denjenigen Mitgliedern der Menschheit, die sich gegenwärtig in unserer Lage von damals befinden, die selbe Achtung entgegenzubringen haben, die uns damals erwiesen wurde und der wir die eigene Existenz verdanken. Die Annahme der diachronen Identität unserer Existenz, die das Kontinuitätsargument voraussetzt, reduziert unsere geschichtliche Daseinsweise keineswegs auf eine krude physikalische Zeitlinie, wie der Einwand unterstellt. Die geschichtliche Existenz des Menschen wird vielmehr als ein Prozess verstanden, der vom Zielpunkt seiner Entwicklung, dem Auftreten von Freiheit, sittlichem Selbstsein und moralischer Verantwortungsfähigkeit her seine Einheit gewinnt und deshalb retrospektiv bis zu seinem Ursprung zurückverfolgt werden kann. Der biologische Lebensbeginn des Menschen ist insofern immer schon mehr als eine bloße sinnneutrale Faktizität; in ihm manifestiert sich der Anfang einer personalen Freiheitsgeschichte, die in allen ihren Phasen dem Schutz der Menschenwürde untersteht. 41 Zur Rechtfertigung der retrospektiven Anwendung moralischer Prinzipien vgl. Schockenhoff E., Ethik des Lebens. Ein theologischer Grundriss, Maini '2000. 310. 41 225 3.4. Einwände gegen die Verwendung des Personbegriffs Erhebliche Schwierigkeiten bereitet auch die Anwendung des Personbegriffs auf das frühe Lebensstadium des Menschen. Auf den ersten Blick steht der Rede des Personseins des Embryos zweifellos der Eindruck sprachlicher Gewaltsamkeit entgegen. Zudem erfordert dieser Begriff in jeder seiner traditionellen Verwendungen die Klärung ontologischer Voraussetzungen, die man nach dem metaphysischen Sparsamkeitsprinzip in begründungstheoretischen Kontexten normativer Ethik lieber vermeiden möchte. Sollten wir daher in Bezug auf den Embryo nicht ganz auf diesen Begriff verzichten? Führt nicht die Verdoppelung der Begriffe „Mensch" und „Person". die in der Philosophie lange Zeit als deckungsgleich verstanden wurden, nur zu unnötigen Konfusionen? Andererseits löst der Verzicht auf einen als belastet geltenden Begriff noch kein Sachproblem; er kann daher nur scheinbar Erleichterung verschaffen, zudem ist die Rede vom Embryo als einer „potentiellen" Person erst recht missverständlich. Um der notwendigen Klarheit in der Sache willen ist deshalb eine Auskunft darüber unverzichtbar, unter welchen Voraussetzungen der Embryo als Person angesprochen werden kann und unter welchen dies nicht möglich ist. Augenscheinlich ist ein Embryo keine Person, wenn wir darunter eine ausgereifte menschliche Persönlichkeit oder ein aktuell handlungsfähiges Wesen verstehen; in diesem Sinn dürften auch die Zweifel kaum auszuräumen sein , ob ein neugeborener oder an Altersdemenz leidender Mensch als Person anzusehen ist. Sofern das Personsein dagegen keine steigerungsfähige, an ein Mehr oder Weniger aktualer Eigenschaften gebundene Größe meint, sondern eine transempirische Wirklichkeit bezeichnet, die innerhalb eines konkreten Relationsgefüges durch Selbststand und Selbstursprünglichkeit gekennzeichnet ist, erscheint der Begriff „Person" auf menschliche Individuen unabhängig von ihrem Entwicklungsstand, ihrem Alter oder ihrer sichtbaren Gestalt sinnvoll anwendbar. Der Embryo ist unter diesen ontologischen Voraussetzungen keine potentielle Person, die einmal werden kann, was sie noch nicht ist, sondern — da ein Mehr oder Weniger nicht das Personsein selbst, sondern nur die Entfaltung seiner aktualen Merkmale betrifft — eine Person, die ihre spätere Gestalt und künftigen Eigenschaften der Anlage nach in sich trägt. 226 3.5. Das Prinzip des Tutiorismus als Vorsichtsregel Wie dieser Abschnitt zu zeigen versuchte, lassen sich die genannten Einwände mit Gegenargumenten konfrontieren, die je nach Standpunkt als mehr oder weniger überzeugend erscheinen werden. Es bedarf daher einer hermeneutischen Verständigung darüber, wie mit offen bleibenden Fragen und theoretischen Restzweifeln umgegangen werden soll. Das Prinzip des Tutiorismus versteht sich in diesem Sinn als eine Meta-Regel zur Verteilung der Argumentationslasten, die eine Lösung für den Fall anbietet, dass es auf der Sachebene nicht zu einer abschließenden Klärung kommt. Im Blick auf die umstrittene Schutzwürdigkeit des Lebens menschlicher Embryonen besagt diese Regel: Da das physische Leben die unhintergehbare Voraussetzung sittlicher Freiheit ist und sein Schutz somit die Grundlagen von Moral und Recht berührt, ist in Zweifelsfällen jeweils der sichere Weg zu wählen. Nicht jeder am Ende möglich bleibende Einwand muss definitiv ausgeschlossen werden, bevor die Schutzposition zugunsten der Anfangsstadien menschlichen Lebens als hinreichend begründet angesehen werden darf. um unser Handeln zu leiten. Vielmehr muss derjenige. der den Zugriff auf das Leben menschlicher Embryonen fordert, mit moralischer Sicherheit nachweisen, dass er es in diesem Fall nicht mit schützenswertem menschlichen Leben zu tun hat. Aus der möglichen Unschärfe bei der Identifikation der notwendigen Anfangsbedingungen des individuellen Menschenlebens (z. B. im Umkreis der Nidation) folgt nämlich keineswegs, dass es sich in der fraglichen Phase noch sicher nicht um menschliches Dasein handelt. Da von protestantischen Ethikern neuerdings wieder der Vorwurf erhoben wird, eine tutioristische Betrachtungsweise ungewisser Handlungskonstellationen laufe auf einen unbarmherzigen Rigorismus hinaus, der flexible Unterscheidungen und humane Konfliktlösungen verhindert, 42 sei an dieser Stelle eine kurze Bemerkung zur grundsätzlichen Bedeutung des Tutiorismus angesichts schwieriger Abwägungsfragen in der Ethik angefügt. Vorweg ist dabei an eine spezifische Besonderheit praktischer Urteile zu erinnern, die das tutioristische Prinzip keineswegs in Abrede stellt, sondern im Gegenteil voraussetzt: Absolute Sicherheit ist uns aufgrund der Endlichkeit unserer Erkenntnis und der Vielzahl wandelbarer Handlungsumstände, die unser Handeln beeinflussen, auch in unseren sittlichen Urteilen versagt; es macht den " So Kref3.1mmobilismus, 120. 227 Ernstfall der Ethik aus, dass wir häufig aufgrund von vorläufigen Entscheidungen oder kontingenten Annahmen unter hohem Risiko handeln müssen. Solange wir die Konsequenzen dieser Entscheidungen kontrollieren und sie gegebenenfalls revidieren können, ist diese Unsicherheit zu ertragen. Risikoscheu und übersteigertes Gefahrenbewusstsein stellen im Allgemeinen keine erstrebenswerten Haltungen dar; oftmals sind Risikobereitschaft, Mut und Einsatzfreude die besseren Ratgeber. Die tutioristische Vorsichtsregel ist deshalb nur in denjenigen Fällen anzuwenden, in denen irreversible Entscheidungen besonders verletzliche moralische Güter wie Vertrauen, Treue, Wahrhaftigkeit oder eben — als das schlechthin fundamentale Gut — das Leben selbst betreffen. Bei der Vernichtung menschlicher Embryonen handelt es sich um einen solchen definitiven Schritt, der im Fall des Irrtums nicht mehr rückgängig zu machen ist. Insofern mit diesem Eingriff in den embryonalen Entwicklungsprozess der Anfang einer personalen Freiheitsgeschichte betroffen sein kann, müssen an den Nachweis zu seiner Berechtigung daher besonders hohe Anforderungen gestellt werden. Eine Entscheidung unter Risiko ist in diesem Fall nur für das Leben legitim. Verbleibende, im Augenblick des Handelns möglicherweise nicht auflösbare Zweifel sprechen zugunsten des Embryos, zumal dieser ein schutzloses Wesen ist, das erst durch unser eigenes Handeln in diese Situation gebracht wurde.." Recht verstanden muss der Tutiorismus daher als notwendige Unterscheidungsregel innerhalb eines Ensembles flexibler Beurteilungsinstrumentarien angesehen werden, die Aufschluss darüber gibt, in welcher Richtung Konfliktsituationen in Abhängigkeit von den jeweils auf dem Spiel stehenden Gütern verantwortungsvoll bestanden werden können. Die in den einschlägigen kirchlichen Lehrdokumenten genannte Forderung, dass wir dem menschlichen Embryo vom Zeitpunkt der Befruchtung an jene unbedingte moralische und rechtliche Achtung schulden, die jedem menschlichen Wesen in der leib-seelischen Ganzheit seiner Existenz zukommt, müsste nach dieser Unterscheidungsregel auch dann als zureichend begründete und gegenüber allen späteren Festlegungen vorzugswürdige Position gelten, wenn sich einige der ihr entgegengebrachten Zweifel nicht mit Sicherheit ausräumen ließen. " Vgl. Vin, G., Das Menschenleben an seinem Beginn, in: .1. Gründel. Leben aus christlicher Verantwortung: Em Grundkurs der Moi al. Bd. 3, Düsseldorf 1992. 90-108. bes. 93f. 228 Redaktionelle Anmerkung Konrad Hi/pert Das theologische Verständnis der vorgeburtlichen Stadien des Menschen war jahrhundertelang fast ausschließlich ein Thema von Spekulationen und Kontroversen unter den Theologen. Zu einem Gegenstand von Lehre und Entscheidungen des obersten kirchlichen Amts wurde es erst mit den „Errores varii de rebus moralibus" Innozenz' XI. von 04.03.1679 und vor allem der Bulle „Apostolicae Sedis moderationi" Pius' IX. vom 12.10.1869. Dieses sowie die in der Folgezeit ergangenen Dokumente gelten aber nicht primär der Darlegung einer Lehre oder der Entscheidung zwischen konkurrierenden Lehrmeinungen, sondern gehen Antworten auf praktische Problemstellungen, nämlich mil' die Frage nach der Erlaubtheit der operativen Tötung eines ungeborenen Kindes im Zuge einer schweren Geburt (Kranio- bzw. Embryotomie) und die medizinisch Mdizierte Einleitung einer Fehlgeburt der noch nicht lebensfähigen Frucht zu einem früheren Zeitpunkt (procuratio abortus). Vor allein bezüglich der ersten Fallgruppe verdient die Behutsamkeit den entsprechenden Formulierungen trotz der Grundsätzlichkeit des Standpunktes (Verbot der Zulassung der Tötung der Frucht als unvermeidlicher Nebenwirkung der Rettung der Mutter) Beachtang: Die Berechtigung zu einem tötenden Eingriff „könne nicht mit Sicherheit gelehrt werden 'l• In Bezug auf die vorzeitige Extraktion des Fötus unterscheiden die Dekrete vom 04.05.1898' und vom 05.03.1902 zwischen erlaubter Einleitung einer vorzeitigen Geburt, Kaiserschnitt und Bauchschnitt und der unerlaubten Provokation eines Abgangs. Als entscheidendes Wertkriterium wird der Zeitpunkt und die Art der Durchführung angegeben, „in denen nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge für das Leben der Mutter und des Fötus gesorgt ist". Sehr viel grundsätzlicher und auch auf andere als vitale tionen bezogen wird die Frage der Abtreibung erst in der En: yklika Pius XI. über die christliche Ehe „Casti Connubii" von 1930 behan. ' Congregatm S. Officii am 28.05.1884, am 19.08.1889 und am 24.07.1895: vgl. DH 3298. = DH 3336-3339. DH 3358. 229 delt4 . Zur Frage der so genannten medizinischen und therapeutischen Indikation heißt es hier unter anderem: „... was für ein Grund könnte jemals gelten, in irgendeiner Weise die direkte Tötung eines Unschuldigen zu entschuldigen? ... Eine gleich heilige Sache nämlich ist das Leben beider ... auch gilt hier kein Recht der blutigen Verteidigung gegen einen ungerechten Angreifer ... auch liegt kein so genanntes Recht der äußersten Notwendigkeit (=,Notstandsrecht) vor, das his zur direkten Tötung eines Unschuldigen reichen könnte."' Die Feststellung, dass in den genannten kirchenamtlichen Dokumenten das theologische Verständnis des ungeborenen menschlichen Lebens ausschlie Pilch im Zusammenhang der Verurteilung der Abtreibung zur Sprache kommt, trifft auch für Dokumente aus jüngerer Zeit zu. Genannt seien etwa einige Ansprachen Pius XII. aus den Jahren 1944 und 1951 6 , die Pastoralkonstitution „Gaudium et spec" des Zweiten Vatikanums, in der die Abtreibung als eine von vielen Handlungen erscheint, die zum Leben selbst im Gegensatz stünden 7 , und — wie dann auch in der Enzvklika „Humanae vitae" von Paul VI. — als verwerfliche Weise, die Zahl der Kinder zu beschränken 6 , sowie die Erklärung der Glaubenskongregation zur Abtreibung vom 18.11.1974'. Die Kritik an der Praxis der Abtreibung wird auch in den Dokumenten aus dem Pontifikat Johannes Pauls II. fortgesetzt und durch die Häufigkeit und Gewichtung dieses Anliegens verstärkt'. Freiitch stellt sich die Frage nach dem theologischen Verständnis des menschlichen Embryos seit etwa zwei Jahrzehnten nicht mehr nur in der Konfrontation mit der Abtreibung (sowie der artifiziellen Insemination), sondern auch im Zusammenhang der Gentechnik, der künstlichen Befruchtung außerhalb des Mutterleibs, der Fötalmedizin, der molekularen Untersuchung auf Krankheitsdispositionen, der Gewinnung von Stammzellen für Grundlagenforschung und Anwendungen in der regenerativen Medizin und anderes mehr. Die mit diesen neuen biotechnischen Möglichkeiten gegebenen HeDH 3719-372 1 . ' DH 3720. " Siehe Utz-Groner 2239-2242: 1053-1055: 1111-1118. ' DH 4327. • Art. 51 und DH 4476. 9 DH 4550-4552. '" Siehe beispielsweise die Enzyklika „Evangelium vitae" ),, om 25.03.1995: DI-1 4991-4992. 230 rausforderungen sind zumindest insofern von völlig neuer Qualität, als sie eine präzisierende Auskunft über den moralischen Status des Embryos in den allerersten Tagen und noch vor der Nidation erfordern. Auch wenn die Instructio „Donum vitae" der Glaubenskongregation von 1987 und spätere, sie zitierende Dokumente mit der Einforderung der Achtung des Enihryos und eines uneingeschränkten Lebensschutzes „vom Augenblick der Empfängnis an" einen eindeutigen und frühestmöglichen Ausgangspunkt markieren wollen", bestehen — auch abgesehen von der zeitlichen Dehnung selbst dieser genannten Zäsur „Empfängnis" — für die Hermeneutik dieser Dokumente zwei grundlegende Probleme, die der weiteren theologischen Klärung bedürfen: Zum einen die Frage, wie weit der Hinweis auf die Beständigkeit der moralischen Verurteilung jeder vorsätzlichen Abtreibung die Rechtfertigungs„last" der ge.samten Vorbehalte gegenüber den neuen bioniedizinischen Möglichkeiten, die das Embrvonalstadium des Menschen betreffen, tragen kann. Denn die Dokumente der Tradition .sprechen nur allgemein: etwa von „Schwangerschaft", von der „Anwesenheit des Fötus in der Gebärmutter", vom „Kind im Mutterschoß" oder vom „Leben, das noch verborgen mi Mutterschoß ruht" und Ähnlichem. Welches Verhältnis besteht zwischen solchen kontextualisierten normativen Anweisungen ,für das Handeln und der Lehre über den AnIiing de.s Lebens in den ersten Tagen: ht näherhin die dieoretische Klärung des moralischen Status die Basis der Handlungsregel oder verlangt das Festhalten an einer bestellenden Regel ange.sichts neuer Handlungslagen die stillschweigende Erweiterung der Theorie? Im Zusammenhang solcher Überlegungen wird dann auch die andere Frage relevant, nämlich die, ob und wie der alte Streit 11177 den Zeitpunkt der Beseelung und das bedeutet nicht weniger als: der Personwerdung des Menschen — von dem schon Augustinus bezweifelte, oh Menschen ihn je werden feststellen können'' 1117(1 (lie auch in einigen Dokumenten aus jüngerer Zeit ausdrücklich offen gehalten wire — ‚nit zwingenden theologischen und an Gründen tatsächlich entschieden verden kann. Immerhin war die bis 1869 vorherrschende Lehre yoll der Sukzessivbeseelung nicht ganz folgenlos für die Bewertung einer im Frühstadium vorgenomnienen Abtreibung: Auch wenn am grundsätzlichen Verbot festgehalten wurde, galt die A btreibung einer an beseelten Leibes" DH 4792-4793. 12 Opera t. VI: Enchnid. de fide. ,,pe et earitate c.86. Erklärung der Glaubenskongregation uber den Schwangerschaftsabbruch ‘orn 18.11.1974. Fußnote 19: Donum vitae Ill; vgl. KKK 2274. 23 1 frucht nicht als homicidium, sondern „nur" als maleficium oder homicidium imperfectum bzw. anticipatum. Zumindest für den Fall schwerwiegender therapeutischer Indikation gab es unter den Moraltheologen prominente Befürworter der Vertretbarkeit. Und das kanonische Recht kannte bis zum Erscheinen des CIC 1918 unterschiedliche Straffolgen für die Abtreibung eines beseelten und die eines nichtbeseelten Fetus» e 14 Genauere Belege hei Bruch, R., Moralia varia. gen zu moralgeschichtlichen Fragen Dasseldort 1981, .28 —283. . 232 Untersuchun-