Lebensbeginn und Menschenwürde

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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
EBERHARD SCHOCKENHOFF
Lebensbeginn und Menschenwürde
Eine Begründung für die lehramtliche Position der katholischen
Kirche
Originalbeitrag erschienen in:
Konrad Hilpert (Hrsg.): Kriterien biomedizinischer Ethik: Theologische Beiträge zum gesellschaftlichen
Diskurs.
Freiburg: Herder, 2006, S. 198-228
Lebensbeginn und Menschenwürde
Eine Begründung für die lehramtliche Position
der katholischen Kirche
Eberhard Schockenhoff
Die Frage nach dem Anfang des individuellen Menschenlebens und
seiner Schutzwürdigkeit stellt sich angesichts der Möglichkeiten der
modernen Molekularbiologie sowie der Entwicklung technologischer Verfahren in der Fortpflanzungsmedizin mit besonderer
Dringlichkeit. Da die Problematik des moralischen und rechtlichen
Status, den wir allen menschlichen Lebewesen vom Anfang ihrer
Existenz an einräumen müssen, dem Bereich menschenrechtlicher
Grundforderungen angehört, ist sie in einer weltanschaulich plural
verfassten demokratischen Gesellschaft dem Belieben einzelner
Gruppen und ihrer individuellen Wertpräferenzen entzogen; sie
kann daher auch nicht durch die dezisionistische Festlegung wechselnder gesellschaftlicher Mehrheiten entschieden werden. Entgegen einer häufig vorgetragenen Argumentation stellt die moralische und rechtliche Bewertung der frühen Entwicklungsphasen
des menschlichen Lebens auch keine religiöse oder konfessionsspezifische Glaubensfrage dar, so dass man dem Grundsatz, wonach
dem menschlichen Embryo die gleiche Achtung wie dem geborenen
Menschen in jeder späteren Phase seiner Existenz geschuldet ist, als
eine „katholische" Position ansehen dürfte. Ebenso gut könnte man
dieses Postulat als Anliegen einer ,,liberalen" Rechtspolitik bezeichnen, denn die Anerkennung der Rechtsträgerschaft des menschlichen Embryos verdankt sich historisch der Abkehr von den aristotelisch-scholastischen Beseelungstheorien der mittelalterlichen
Theologie und dem menschenrechtlichen Denken der Aufklärung.
Es war kein anderer als Immanuel Kant, der in seiner 1797 erschienenen „Metaphysik der Sitten" der drei Jahre zuvor erlassenen
Bestimmung des Allgemeinen Preußischen Landrechts (APL), wonach die „Rechte der Menschheit" auch den „noch ungeborenen
Kindern schon von der Zeit ihrer Empfängnis an" (§ 101,1) zukommen, die philosophische Begründung verlieh. Diese besteht im Wesentlichen in dem Nachweis, dass zwischen der Vorstellung der
Menschenwürde und dem Gedanken eines unveräußerlichen Lebensrechtes ein unauflöslicher Zusammenhang besteht, der sowohl
198
in der moralischen als auch in der rechtlichen Ordnung entsprechende Schutzpflichten für den Embryo begründet. Die Würde des
Menschen kann nämlich nur dann als ein realer, das Zusammenleben der Bürger in einem demokratischen Staatswesen bestimmender Begriff gedacht werden, wenn sie jedem menschlichen Individuum allein aufgrund seines Menschsein vom Ursprung seiner
Existenz an eigen ist. Da diese Erkenntnis Kants in der gegenwärtigen Debatte um den moralischen Status des Embryos als unverdächtiger Leitfaden zur Einordnung aller weiteren Einzelprobleme
dienen kann, sei sie den folgenden Erörterungen vorangestellt. Was
den Kreis derjenigen Mitmenschen anbelangt, denen gegenüber wir
in der Beurteilung unserer eigenen Handlungsabsichten zu moralischem Respekt verpflichtet sind, so heißt es im Abschnitt über
die persönlichen Rechte der Kinder und die aus dem Elternrecht
folgenden Pflichten der Eltern:
„Denn da das Erzeugte eine Person ist, und es unmöglich ist, sich
von der Zeugung eines mit Freiheit begabten Wesens durch eine
physische Operation einen Begriff zu machen: so ist es eine in
praktischer Hinsicht ganz richtige und auch notwendige Idee,
den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir
eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig ihn sie herüber gebracht haben; für welche Tat auf
den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit haftet, sie, soviel in ihren Kräften ist, mit diesem ihren Zustande zufrieden zu
machen. — Sie können ihr Kind nicht gleichsam als ihr Gemiichsel
(denn ein solches kann kein mit Freiheit begabtes Wesen sein)
und als ihr Eigentum zerstören oder es auch nur dem Zufall überlassen, weil an ihm nicht bloß ein Weltwesen, sondern auch ein
Weltbürger in einen Zustand herüber (ge)zogen, der ihnen nun
auch nach Rechtsbegriffen nicht gleichgültig sein kann. '
-
In einem theologischen Zusammenhang, in dem eine rationale Begründung für den lehramtlichen Standpunkt der katholischen Kirche gesucht werden soll, mag es überraschen, sich zur Exposition
des Problems ausgerechnet auf Kant zu berufen. Deshalb sei vorweg eingeräumt, was ohnehin far jeden philosophischen Begründungsansatz gelten würde: Weder kann die Zuhilfenahme von Einsichten der kritischen Philosophic Kants die Entwicklung einer
tragfähigen Argumentation im Ausgang von gegenwärtigen Fragestellungen ersetzen noch darf sie dazu dienen, offenkundige
' Kant, 1., Die Metaphysik der Sitten. § 28 (AB 112f.).
199
Probleme, unleugbare Brüche oder divergierende Standpunkte
der eigenen Tradition zu überspielen. Der Seitenblick auf Kant
zeigt indessen, dass die Schutzpflichten, die wir gegenüber
menschlichen Embryonen haben, deren Existenz die Folge unseres eigenen Handelns ist, unabhängig von divergierenden theoretischen oder metaphysischen Einstellungen aufgrund genuin praktischer Überlegungen erkennbar sind. Diese bedürfen auf der
moralischen Ebene keiner weiteren Voraussetzung als der, wonach
wir für das Wohlergehen derjenigen menschlichen Wesen (soweit
es in unserer Macht steht) Verantwortung tragen, die wir willentlich oder absichtslos, geplant oder unwissentlich in den Zustand
äußerer Verletzlichkeit und Abhängigkeit gebracht haben. Es ist
die von uns herbeigeführte Schwäche des Embryos als eines ohne
unsere Hilfe schutzlosen menschlichen Wesens, die unsere Schutzpflicht ihm gegenüber ohne weitere theoretische Zusatzannahmen
allein unter dem Gesichtspunkt der geforderten Gerechtigkeit und
der dem Embryo geschuldeten Achtung begründet.
Die rein praktische Erkennbarkeit des moralischen und rechtlichen Schutzanspruches menschlicher Embryonen steht dem nicht
entgegen, dass es weiterer philosophischer Überlegungen bedarf,
urn wesentliche Aspekte dieses praktischen Problemzusammenhangs wie den Schutzbereich der Menschenwürde, das Personsein
des Menschen oder die Bedeutung seiner leib-seelischen Einheit
zu verstehen. Um diese Verstehensleistungen zu erbringen, kann
sich eine moralische Argumentation auf unterschiedliche Traditionslinien der philosophischen Anthropologie (aristotelisch-scholastischer Hylemorphismus, Phänomenologie der Leiblichkeit,
dialogischer Personalismus usw.) berufen. Doch bedeutet dies
nicht, dass die Existenz der moralischen Schutzpflichten selbst
nur unter einseitigen (z. B. substanzontologischen) Prämissen hegrtindbar wäre, wohingegen unter anders gewählten theoretischen
Voraussetzungen (z. B. einer relationalen Ontologie oder der Prozessphilosophie) Zweifel an der Schutzwürdigkeit des Embryos
mit hinreichender Sicherheit positiv begründet werden könnten.
Damit wird auch deutlich, worin der heuristische Wert einer
moraltheologischen Bezugnahme auf Kant angesichts des gegenwärtigen Debattenstandes um den moralischen Status des Embryos besteht: Das Beispiel Kants zeigt, dass man unter den Bedingungen der kritischen Vernunftphilosophie der Neuzeit in dieser
für die Entwicklung der gegenwärtigen Wissenschaftspraxis entscheidenden Frage im Ergebnis zu den gleichen Schlussfolgerungen gelangen kann, die Lehramt und Theologie der katholischen
Kirche auf der Basis des biblischen Menschenbildes und ihm ent200
sprechender anthropologischer Verstehensmodel le vertreten.
Ebenso wie sich Kant auf die rein praktische Absicht seiner Überlegung beruft, betont auch das Lehramt der katholischen Kirche,
dass es sich „nicht ausdrücklich auf Aussagen philosophischer Natur festlegt" 2 , wenn es die Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens von Anfang an bekräftigt:
.,Deshalb erfordert die Frucht der menschlichen Zeugung vom
ersten Augenblick ihrer Existenz an, also von der Bildung der
Zygote an, jene unbedingte Achtung, die man dem menschlichen Wesen in seiner leiblichen und geistigen Ganzheit sittlich
schuldet. Ein menschliches Wesen muss vom Augenblick seiner
Empfängnis an als Person geachtet und behandelt werden und
infolge dessen muss man ihm von diesem selben Augenblick
an die Rechte der Person zuerkennen und darunter vor allem
das unverletzliche Recht jedes unschuldigen menschlichen Wesens auf Leben."'
1. Der anthropologische Bezugsralunen: Gottebenbildlichkeit,
Personseitz und Menschen würde
Entgegen der Behauptung, die Forderung nach einem konsequenten Schutz menschlicher Embryonen sei unabhängig von bestimmten philosophischen Denkmustern begründbar, wird einer derartigen Position häufig vorgehalten, sie repräsentiere ein religiöses
Sonderethos auf jüdisch-christlicher Grundlage (P. Singer, H. Kuhse, N. Hoerster) oder — in ihren metaphysischen Voraussetzungen
noch spezifischer — eine autoritätsorientierte katholische Binnenmoral naturrechtlicher Prägung (z. B. H. Kreß, U. Körtner u. a.).
Diese Argumentationsstrategie zielt darauf ab, die Eignung des genannten Postulats von der vollen Schutzwürdigkeit menschlicher
Embryonen zur Lösung bioethischer Konfliktfälle in einer säkularen Gesellschaft zu bestreiten und als Ausdruck eines abwägungsfähigen Rigorismus zu brandmarken, der den existentiellen Ernst
solcher Konflikte durch den Rückfall in einen längst überwunden
geglaubten „Fundamentalismus" überspielt. 4 Dazu macht sich die
Vgl. Kongregation tin die Glaubenslehre Instruktion uber die Achtung vor dem
beginnenden menschlichen Leben und die Wurde der Fortpflanzung „Donum vitae"
Li (zit. nach Wehowskv„S't. (Hrsg.), Lebensbeginn und menschliche Würde. Stellungnahmen zur Instruktion der Kongregation fur die Glaubenslehre vom 22.2.1987
(Gentechnologie. Chancen und Risken. Bd. 14), Frankfurt u.M., Munchen 1987, 11).
' Ebd.
Dies ist die gemeinsame Tendenz der rerschiedenen Beiträge protestantischer Au-
2
.
201
Kritik insbesondere an den zentralen Leitbegriffen Gottebenbildlichkeit, Personsein und Menschenwürde fest, denen dabei häufig
eine Bedeutung unterschoben wird, die ihrem ursprünglichen Sinn
im Kontext einer theologischen oder philosophischen Anthropologie nicht mehr entspricht oder geeignet ist, diesen bis zur Unkenntlichkeit zu verdunkeln. Beachtenswert erscheint allerdings, dass der
Vorwurf der Ideologieanfälligkeit oder der einseitigen Festlegung
auf einen religiösen Bedeutungsgehalt nicht nur gegenüber dem
theologischen Begriff der Gottebenbildlichkeit des Menschen, sondern auch gegenüber der Vorstellung der Menschenwürde vorgetragen wird, die in der modernen Verfassungsentwicklung zu einer Art
säkularer Ersatzformel für jene geworden ist.
1.1. Die normative Bedeutung der Bild Gottes Theologie
-
-
Diese Ausweitung erscheint aus der Sicht der biblischen Anthropologie insofern konsequent. als der Satz aus dem ersten Schöpfungsbericht, wonach Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat (vgl. Gen 1,26) das Menschsein als solches im Auge hat und
nicht etwas am Menschsein (z. B. seine aufrechte Gestalt oder seine
Vernunftbegabung) oder etwas darüber Hinausgehendes (z. B. eine
besondere religiöse Anlage) meint. Die fundamentale Aussage des
biblischen Schöpfungsglaubens von der Gottebenbildlichkeit des
Menschen beansprucht daher das Menschsein jedes Menschen: sie
gilt mit gleichem Ernst für alle, unabhängig von ihrem biologischen
Geschlecht, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrem sozialem Stand,
ihrer intellektuellen Entwicklung, ihrem äußeren Aussehen oder ihrer weltanschaulichen oder religiösen Überzeugung. Durch den Begriff des Bildes Gottes tönt von Anfang an ein polemischer Unterton
hindurch, der gegen die faktische Einteilung der Menschen in höhere und niedere, mächtige und schwache, gesellschaftlich anerkannte
und zur Rechtlosigkeit verurteilte auf eine Überwindung derartiger
Grenzziehungen zielt. Ein wichtiger Unterschied der biblischen
Rede vom Bild-Gottes-Sein des Menschen im Vergleich zur Agyptischen Königstheologie besteht gerade darin, dass nicht mehr der
Herrscher, also die herausgehobene Ausnahmeerscheinung gegenüber dem Volk, sondern jeder Mensch, auch der ärmste und
schwächste nach dem Bild Gottes geschaffen ist.'
-
toren in dem von Ameltn, R., Kcirtner, U.H.J. (Hrsg.), Sammelband, Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung Göttingen 2003.
Vgl. dazu Ebeling, G., Dogmatik des christlichen Glaubens I: Der Glaube an Gott
den Schöpfer der Welt. Tübingen 1979. 379.
.
202
Zwar steht im Alten Testament durchaus die Vorstellung eines
religiösen Bundesethos im Vordergrund, in dem sich die Erwählung Israels durch Jahwe manifestiert; dessen einzelne Inhalte
können daher nicht ohne weiteres zur Grundlage eines allgemeinen Menschheitsethos gemacht werden." Doch wirkt gerade die
priesterschriftliche Theologie der Genesis auf die Entgrenzung einer partikularen Stammesmoral auf ein universales Menschheitsethos hin, wie sie sich später auch in der stoischen Philosophie
vollzieht; neben der nachexilischen Prophetie stellt die Bild-Gottes-Theologie der Priesterschrift innerhalb des Alten Testamentes
die wichtigste Traditionslinie für eine derartige Ausweitungstendenz dar.' Sie erinnert bereits im 6. Jahrhundert vor Christus daran, das die Geschichte Jahwes mit seinem Volk im Horizont der
ganzen Schöpfung verläuft und somit auf ein Geschehen verweist,
das alle Menschen einschließt. Der Bibelwissenschaftler Claus
Westermann fasst die universale Blickrichtung von Gen 1,26 in
dem Anspruch zusammen: „Jeder Mensch in jeder Religion und
in jedem Bereich, in dem die Religionen nicht mehr anerkannt
werden, ist nach dem Bild Gottes geschaffen.'
Die biblische Überzeugung von der Gottebenbildlichkeit jedes
Menschen kann deshalb nicht als Ausdruck einer Selbstprivilegierung des religiösen Menschen gelten. Die Frage ist allerdings, ob
ihr sachlicher Gehalt im Blick auf das anthropologische Selbstverstdndnis des Menschen funktionslos wird, wenn in einer säkularen
oder nachchristlichen Zeit der Glaube an Gott als den transzendenten Grund menschlicher Würde nicht mehr allgemein vorausgesetzt
werden kann. Der Kürze wegen sei die Antwort darauf hier nur thesenartig genannt: Auch wenn die Wirklichkeit Gottes unter säkularen Voraussetzungen strittig bleibt, enthält die Bild-Gottes-Theologie einen wirkungsgeschichtlichen Überschuss an humanen
Intentionen, der selbst mit einer hypothetisch unterstellten Widerlegung des biblischen Gottesglaubens nicht abgegolten wäre.
Die Behauptung einer radikalen Diskontinuität zwischen der
christlichen Gottebenbildlichkeits-Vorstellung und der säkularen
Menschenwürde-Formel ist zudem historisch wenig wahrscheinlich. Auch wenn die eberlappung beider Konzeptionen begriffgeschichtlich keineswegs als bruchlose Kontinuität gedeutet werCrusemann, F.. Die Tota. Theologie und Sonalgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes. Munchen 1992.
Vgl. dazu Otte, L. Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart u. a. 1994,
258 und 267 und SchockenTio//, E.. Naturrecht und Mensehenwurde. Universale
Ethik in einer geschichtlichen Welt. Mainz 1996, 2541.
Wevermann, C.. Gen, 1/1, Neukirchen-Vluyn 2 1976, 218.
203
den kann — pointiert wurde die kirchliche Rezeption des modernen Menschenrechtsethos mit der nachträglichen Adoption eines
zunächst verstoßenen Kindes verglichen" — findet die eine doch in
der anderen eine Fortsetzung, die eine sachliche Anknüpfung erlaubt, ohne dass dafür eine völlige Deckungsgleichheit beider Vorstellungen notwendig wäre. Für diese Interpretation spricht nicht
zuletzt auch der Umstand, dass die Menschenwürde-Vorstellung
von ihren Kritikern als ein Kondensat ursprünglich religiöser Gehalte angesehen wird, das in einem säkularen Verfassungstext wie
ein Fremdkörper anmute. Ohne in systematischer Hinsicht einem
vorschnellen Brückenschlag zwischen der theologisch-biblischen
Kategorie der Gottebenbildlichkeit und dem philosophisch-ethischen Konzept der Menschenwürde das Wort zu reden oder die
unterschiedlichen, teilweise sogar gegensätzlichen innertheologischen Deutungsansätze der Bild-Gottes-Vorstellung zu harmonisieren,'" lässt sich mit K. Hilpert festhalten: Die biblische Vorstellung der Gottebenbildlichkeit des Menschen steht zur Idee der
Menschenwürde im Verhältnis einer sachlichen Entsprechung,
das jedoch weder eine einlinige historische Abhängigkeit noch
eine exklusive Begründbarkeit impliziert."
1.2. Die normative Bedeutung der Menschenwiirde-Vorstellung
Die hervorgehobene Stellung, die dem Gedanken der Menschenwürde in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch
die Vereinten Nationen und im Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschland zukommt, sichert freilich noch kein einheitliches Verständnis, auf das eine moralische Argumentation Bezug nehmen
könnte. Dazu ist vielmehr eine Unterscheidung im Begriff der Menschenwürde notwendig, die unter seinen denkbaren und im faktischen Gebrauch vorkommenden Bedeutungsvarianten diejenige
herausschält, die ihn zum Zwecke der moralischen Argumentation
unter säkularen Voraussetzungen brauchbar macht. Der Gedanke
der Menschenwürde kann, sofern er eine normative Funktion in
" Vgl. Böckenforde, E.-W., Spaemann, R. (Hrsg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen — säkulare Gestalt — christliches Verständnis .
Stuttgart 1987, 9.
I " Tanner, K., Vom Mysterium des Menschen. Ethische Urteilsbildung im Schnittleld
von Biologie, Rechtswissenschaft und Theologie, in: Am elm, Kcirtner, Biomedizin,
135-158, bes. 147ff. betont zurecht die Perspektionstülle und den metaphorischen
Charakter der Bild-Gottes-Vorstellung, doch folgt daraus keineswegs ihre Bedeutungslosigkeit für das normative Selbstverständnis des Menschen.
" Vgl. //i/pert, K., Die Menschenrechte. Geschichte-Theologie-Aktualität, Dusseldorf 1991, 189.
204
dem Sinn haben soll, dass er von jedem Standpunkt aus rational anerkennungsfähig ist, nur ein Minimalbegriff sein. 12 In seiner normativen Verwendung steckt er den gegenseitig unverfügbaren Lebensraum ab, den Menschen einander zugestehen, die sich als freie
Vernunftwesen achten; gehaltvollere Vorstellungen über ein gutes
Leben und die notwendigen Bedingungen, unter denen menschliches Leben gelingen kann, enthält er auf dieser Stufe dagegen
nicht. Der normative Kern der Menschenwürde-Vorstellung besteht also in nichts anderem als in dem, was den Menschen in moralischer Hinsicht zum Menschen macht: seiner Fähigkeit zum freien
Handeln und zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung.
Von dieser Beschränkung auf die moralische Handlungsfähigkeit als solche bleibt eine zweite Bedeutung des Wortes „Menschenwürde" zu unterscheiden, die auch kirchliche Lehrdokumente und Verkündigungstexte häufig im Blick haben, wenn sie von
der menschenwürdigen Gestaltung des öffentlich-politischen Raumes oder individueller Lebensphänomene wie Ehe und Familie,
Liebe und Sexualität, Krankheit, Sterben und Tod sprechen. Der
Begriff „Menschenwürde" erweitert sich dann über seinen normativen Mindestanspruch hinaus zu einer sprachlichen Verdichtung
für die anthropologischen Sinngehalte des christlichen Glaubens.
Beide Vorstellungen, die sich in unserer alltagssprachlichen Rede
von der Würde des Menschen überlagern, können sich im Blick
auf die moralische Aufgabe des Einzelnen oder den Aufbau einer
dem individuellen Wohlergehen förderlichen „guten" Gesellschaft
ergänzen, sie schließen sich in einem Punkt aber geradezu aus. In
seinem normativen Sinn benennt der Gedanke der Menschenwürde eine kategorische Grenze, die jedem Versuch ihrer Verwirklichung in der zweiten, erweiterten Bedeutung gesetzt ist.
Diesem Vorrang der normativen Grenzziehung kommt in demokratischen Gesellschaften entscheidende Bedeutung zu, weil diese
ihrem eigenen Selbstverständnis nach nicht mehr auf eine Tugendund Wahrheitsordnung im umfassenden Sinn gegründet sind, sondern der Herstellung und Bewahrung von Frieden und Gerechtigkeit gegenüber jedermann dienen.' Gerade weil wir uns in unseren
offenen Gesellschaften über verpflichtende Inhalte eines „menschwürdigen Lebens" nicht mehr verständigen können, müssen wir
dem Minimalbegriff der Würde eine verbindliche Rechtsform ge' 2 Vgl. Spaemmn, R Tiber den Begriff der Menschenwtirde, in: ders., Grenzen. Zur
ethischen Dimension des Handelns . Stuttgart 2001,107-122, bes. 115ff.
Vgl. Bockenforde, E.-W.. Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders.. Staat — Gesellschaft — Freiheit. Studien zur Staatstheorie und 7 um Verfassungsrecht, Frankfurt a.M. 1976,42-64, bes. 51.
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ben, der weder von einer gesellschaftlichen Übereinkunft abhängt
und durch kulturelle Zuschreibung entsteht, sondern von allen als
das der Rechtsordnung vorausliegende Fundament anerkannt werden muss. An diese einschränkende Bedingung, unter der aller Einsatz für das Wohl der Menschen und eine Verbesserung ihrer
Lebensverhältnisse steht, erinnert die Rede von der Selbstzwecklichkeit des Menschen und das grundlegende moralische Prinzip
des Instrumentalisierungsverbotes: Jeder Mensch ist um seiner
selbst willen zu achten und darf niemals ausschließlich als Mittel zu
einem seiner Existenz fremden Zweck gewollt werden»
1.3. Die normative Bedeutung des Person gedankens
In der Anerkennung dieser Grenze ist schließlich auch die unverzichtbare Bedeutung zu sehen, die dem Personbegriff in der gegenwärtigen bioethischen Debatte zukommt. Der nicht zu verleugnende Umstand, dass sich mit diesem in der Geschichte der
theologischen und philosophischen Anthropologie unterschiedliche metaphysische Vorstellungen verbinden, hindert nicht, dass
diese hinsichtlich ihrer praktischen Absicht im entscheidenden
Punkt übereinkommen. Ob man mit der scholastischen Tradition
(Boethius) unter „Person" den individuellen Selbststand einer vernünftigen Natur, mit der neuzeitlichen Vernunftkritik (Kant) das
moralische Subjektsein oder mit der modernen Existenzphilosophie (Kierkegaard) das reflektierte Selbstverhältnis des Menschen
versteht — immer ist darin die Unvergleichbarkeit und Unvertretbarkeit des einzelnen menschlichen Individuums angesprochen.
die in moralischer und rechtlicher Hinsicht seine besondere
Schutzwürdigkeit begründet. Wie der religiöse Würdetitel des Bildes Gottes und die säkulare Vorstellung der Menschenwürde ist
auch das Personsein des Menschen eine seine faktische Wirklichkeit überbietende Kategorie, die sich weder am Besitz empirischer
Merkmale ablesen lässt noch vom Nachweis faktischer Eigenschaften abhängig gemacht werden darf.
Aus theologischer Perspektive benennt die Kategorie der Person den Menschen in seinem Gegenüber zu Gott: es ist das Angerufen-Sein von Seiten Gottes, die Berufung zur Existenz im Angesicht des Schöpfers, wodurch sich das Personsein des Menschen
' 4 Vgl. da7u Schoekenhoff E., Zum moralischen und ontologischen Status des Embryos, in: G. Dumschen, D. Scluinecker (Hrsg.). Der moralische Status menschlicher
Embryonen. Pro und contra Spezies-, Kontinuums-, Identitats- und Potenziahtatsargument, Berlin. New York 2003,11-33. bes. 19ff.
206
konstituiert. Diese relationale Beziehung des Menschen zu Gott
bleibt auf der zwischenmenschlichen Ebene nicht folgenlos; sie
führt vielmehr dazu, dass die radikale Abhängigkeit von Gott auf
der geschöpflichen Ebene den kreatürlichen Selbststand des Menschen sichert. Die Kategorie der Person spricht den von Gott angerufenen Menschen in seinem eigenen Selbstsein an, das der Verfügung durch zwischenmenschliche Instanzen entzogen bleiben
muss. Sie antwortet nicht auf die Frage „ Was ist der Mensch", die
durch die Benennung artspezifischer Differenzen im Unterschied
zum Tier beantwortet werden kann, sondern auf die Frage: „Wer
ist der Mensch", die den unverrechenbaren Wert seiner Existenz
erst hervortreten lässt.'s
Der Persongedanke, auf dem eine theologische oder philosophische Anthropologie gegenüber allen Versuchen zur Reduktion
des Menschen auf partikulare Aspekte seines ganzheitlichen Seins
bestehen muss, erfüllt daher in moralischer Hinsicht ungeachtet
seiner Offenheit für unterschiedliche metaphysische Konnotationen eine unerlässliche Funktion. Ebenso wie das alte Wort „Seele"
umschreibt er das irreduzible Eigensein eines jeden menschlichen
Wesens, den „Brennpunkt seiner Freiheit", aus dem heraus jemand „Ich" sagen und sich in seiner Mitwelt darstellen kann)'
Die Begriffe „Person" und „Geistseele" meinen also jeden Menschen, insofern dieser kraft seiner Abkünftigkeit von Gott in sich
selbst steht und seine eigene Mitte bildet, um die herum sich alles
zu seiner besonderen Welt anordnet.''
Es beruht daher auf einem Missverständnis, wenn protestantischerseits noch immer behauptet wird, ein katholisches Menschenbild sei einseitig auf die „intrinsische Existenz" der Person fixiert
und blende die „relationale Komponente des Menschseins" aus.''
Die Pointe einer relationalen Begründung des Personseins durch
die schöpferische Außenbeziehung des Menschen zu Gott zielt nicht
darauf, die Entfaltung personaler Identität in der Begegnung mit
dem mitmenschlichen Du oder dem sozialen Wir in ihrer Bedeutung
zu relativieren. Sie will vielmehr sicherstellen, dass jeder Mensch als
Vgl. dazu Guardnu, I?.. Welt und Person. Versuche zur christlichen Lehre vom
Menschen, Mainz, Paderborn 6 1988, 121-128.
Welte, B.. Person und Welt. Überlegungen zur Stellung der Person in der modernen
Gesellschaft. in: ders.. Annette Schavan (Hrsg.). Person und Verantwortung. Zur Bedeutung und Begründung der Personalitat. Düsseldorf 1989, 12t.
'' Vgl. Guardim, Welt, 134.
im Kref3, H.. Ethischer Immobilismus oder rationale Abwagungen? Das Naturrecht
angesichts der Probleme des Lebensbeginns, Anselm, Körtner, Biornedizin,
111-134, hier: 125.
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ein den anderen unverfügbarer Beziehungspartner in das horizontale Relationsgefüge eintreten kann, so dass zwar die soziale Entfaltung, nicht aber der tragende Grund des Personseins von seiner Beziehungsdimension abhängt. Diese kann sich nur in freier und
gegenseitiger Anerkennung entwickeln, wenn die Begründung
menschlicher Personalität ihrer sozialen Akzeptanz vorausliegt.
Die Unterscheidung zwischen einem idem-Aspekt menschlicher
Identität, der die zeitüberdauernde ontologische Selbst-Ständigkeit
der Person meint, und ihrer ipse-Struktur, die auf die dialogische
Zeitlichkeit ihrer geschichtlichen Existenz verweist, stellt zweifellos
einen weiterführenden Ansatz zur Überwindung der angeblichen
Alternative zwischen einer substanzontologischen und einer relationalen Begründung des Personseins du. Doch kann diese begriffliche Differenzierung im Kontext einer theologischen Anthropologie, die ihre Aussagen über das Handeln des Menschen unter das
Vorzeichen einer durch das schöpferische Handeln Gottes verb ürgten Sinnvorgabe stellt, nicht dazu führen, dass die in der Unmittelbarkeit zu Gott gründende Anerkennungswiirdigkeit der Person
von ihrer faktischen Anerkennung durch die soziale Mitwelt abhängig gemacht und insofern dieser nachgeordnet wird.
Die beiden Aspekte der personalen Identität des Menschen stehen nämlich nicht einfach als parallele Variablen oder in einem
ungeklärten Begründungsverhältnis nebeneinander. Vielmehr entfaltet sich die geschichtlich-dialogische Existenz des Menschen (also seine ipse-Identität) auf dem durch die schöpferisch-vertikale
Relation Gottes zu ihm verbürgten Fundament seiner ontologischen Selbst-Ständigkeit (also der idem-Identität). Dem steht keineswegs entgegen, dass menschliches Personsein sich nur in einer
sozialen Anerkennungsgemeinschaft, also eingebettet in zwischenmenschliche Beziehungen entwickeln kann. Nimmt man den Anspruch ernst, dass Gottes Anrede des Menschen ein schöpferischer
Vorgang ist, dem wir in unseren zwischenmenschlichen Relationen
zu entsprechen haben, dann kann die Anerkennung des Personseins der anderen kein willkürlicher, quasi-kreatorischer Akt sein.
durch den diese aus Nicht-Person erst zu Personen gemacht warden. Vielmehr muss die geforderte Anerkennung als die angemessene Antwort auf ein Vorgegebenes, auf den Anspruch eines schon
Existierenden verstanden werden, dessen Wirklichkeit sich freilich
erst kraft der Anerkennung durch andere entfalten kann.'" In der
Vgl. ebd., 125.
" Vgl. dazu Spacmann, R.. Personen. Versuche uber den Unterschied 7WiSCIICI1 „etwas" und „jemand" Stuttgart 1996, 252f.
2
.
208
horizontalen Relation des Mitseins der Menschen untereinander
folgt daraus die gebieterische Aufgabe, jedem menschlichen Wesen entsprechend der Verantwortungsbeziehung, in der wir zu
ihm stehen, die Anerkennung, Fürsorge und Liebe zu gewähren,
auf die es zur gedeihlichen Entwicklung seiner geschichtlichen
Existenz angewiesen ist.
Diese unverzichtbare moralische Funktion des Personbegriffs
wird auch dort verfehlt, wo man mit dem empiristischen Personverständnis einer einflussreichen Strömung der angelsächsischen
Bioethik das Personsein an den faktischen Nachweis kognitiver
und volitiver Fähigkeiten, an aktuelle Eigenschaften oder das Vermögen bindet, selbstbewusste Interessen, Präferenzen und Wünsche zu haben. 2 ' Hinter der definitorischen Vorentscheidung, die
allein intellektuelle und expressive Fähigkeiten als moralisch relevante Eigenschaften anerkennt, von deren Vorhandensein der moralische Status eines Lebewesens abhängen soll, während dessen
körperliche Existenz als rein biologische Faktizität betrachtet
wird, steht ein unreflektierter anthropologischer Dualismus, der
angesichts des gegenwärtigen Problemstandes der philosophischen
Anthropologie als die Achillesferse der gesamten Konzeption angesehen werden muss. Ein Personverständnis, das der konkreten
Leiblichkeit des Menschen keine Beachtung schenkt, bleibt abstrakt. Es verfehlt die unhintergehbaren Existenzbedingungen konkreter Personen, zu denen — jedenfalls soweit es sich um menschliche Personen und nicht etwa Engel oder die innertrinitarischen
Relationen Gottes handelt — die konstitutiven Dimensionen der
Zeitlichkeit und Leiblichkeit gehören. Diese gründen in der anthropologischen Verfassung des Menschen und müssen daher von
jeder Ethiktheorie so reflektiert werden, dass sie den sittlichen
Selbstvollzug und das moralische Handlungsvermögen des Menschen in seinen unhintergehbaren Voraussetzungen angemessen
erklären können. Gerade in seiner Stellung als handelndem Wesen
kommt der leib-seelischen Einheit des Menschen jedoch unübersehbare Bedeutung zu. Zwar gilt der Respekt vor seiner Würde
dem Vermögen zur moralischen Selbstbestimmung, doch folgt daraus gerade nicht, dass Leiblichkeit und biologische Naturzugehörigkeit nichts anderes als bloße Faktizitäten wären, die in moralischer Hinsicht unberücksichtigt bleiben dürften. Da Leiblichkeit
Zur kritischen Auseinandersetzung vgl. Honnef elder, L. Der Streit um die Person
in der Ethik, in: Philosophisches Jahrbuch 100 (1993) 246-265; Poltner, G., Die konsequenzialistische Begründung des Lebensschutzes, in: Zeitschrift für philosophische
Forschung 476 (1993) 184-203 und Schockenhotf. Embryo, 2003, 14-19.
209
und Zeitlichkeit zu den unhintergehbaren Bedingungen der Subjekthaftigkeit und moralischen Handlungsfähigkeit des Menschen
gehören, darf der Respekt vor seiner Personwürde nicht erst der
vollen Ausprägung von Selbstbewusstsein und Rationalität sowie
seinen expliziten Willensäußerungen entgegengebracht werden.
Die von der Würde des Menschen geforderte Achtung muss vielmehr auch das gesamte zeitliche Kontinuum und das leibliche
Ausdrucksfeld umfassen, das die geistigen Selbstvollzüge der Person trägt und ermöglicht."
Die Begriffe Gottebenbildlichkeit, Person und Menschenwürde
sind theologische und philosophische Grundworte, die für das moralische Selbstverständnis des Menschen von unverzichtbarer Bedeutung sind und in ihrem normativen Kerngehalt von sozialpsychologischen Annäherungen wie „Ich", „Selbst" oder „Identität"
nicht erschöpfend erfasst werden können." Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Herkunft und der jeweiligen inhaltlichen Akzente,
die mit ihnen jeweils verbunden sind, benennen diese Grundworte
die normativen Rahmenvorstellungen, denen eine rational annehmbare Sicht der Schutzwürdigkeit menschlicher Embryonen
gerecht werden muss. Soll die Frage nach ihrem moralischen Status mit moralischen Argumenten beantwortet werden, darf die gesuchte Lösung nicht von einem partikularen Interessenstandpunkt
aus (z. B. den Zugriffsabsichten der Wissenschaft oder den Heilungschancen künftiger Generationen) oder durch den bloßen Appell an die Problemlosigkeit des Augenscheinlichen (z. B. die
schiere, nur mikroskopisch wahrnehmbare Größe des menschlichen Embryos) erfolgen. Sie kann vielmehr nur auf einer Ebene
gemeinsamer Vernunft und einer Plattform unparteiischer Gerechtigkeit zwischen ungeborenen und geborenen Menschen emschieden werden, wie sie durch den normativen Bezugsrahmen
der Begriffe Gottebenbildlichkeit, Personsein und Menschenwürde eröffnet wird.
" Vgl. dazu auch Bormann, F.-.I., Der Status des Embryos aus der Sicht der katholischen Moraltheologie, in: G. Mato, H. Just (Hrsg.), Die Forschung an embryonalen
Stamm7ellen in ethischer und rechtlicher Perspektive Baden-Baden 2003. 214 228,
bes. 215ff.
Vgl. dazu Pannenberg, W., Anthropologie in theologischer Perspektive, Gottingen
1983, 151-235.
.
210
2. Der Abschluss der Befruchtung als
biologischer Anknüpfungspunkt
Mit der Bereitstellung des normativen Bezugrahmens, dem die gesuchte Antwort gerecht werden muss, wenn sie menschenrechtlichen Grundforderungen und dem Selbstverständnis der modernen Demokratie entsprechen soll, ist diese Antwort keineswegs
schon vorgegeben. Konkrete moralische Urteile lassen sich nämlich weder einfach aus moralischen Überzeugungen ableiten noch
unmittelbar an biologischen Gegebenheiten ablesen. Sie gehen
vielmehr aus „gemischten" Schlussfolgerungen hervor, die normative Wertannahmen auf einen empirischen Sachverhalt beziehen.
Die strittige Frage nach dem Beginn der Schutzwtirdigkeit des individuellen Menschenlebens stellt einen klassischen Fall derartiger
gemischter Urteile dar. Das Datum des menschlichen Lebensbeginnes enthält zunächst nur eine biologische Auskunft, die erst
im Licht ethischer Prinzipien sowie grundlegender Einsichten in
die anthropologische Verfassung des Menschen interpretiert werden muss, um zu normativen Schlussfolgerungen zu führen. Umgekehrt bleiben ethische Wertannahmen wie das Achtungsgebot der
Menschenwürde oder die Forderung nach einer Gleichbehandlung,
aller Menschen in ihrem elementaren Menschsein auf der Prinzipienebene noch leer und unwirksam; sie entfalten ihre urteilsbildende und handlungsleitende Kraft erst, indem sie auf empirische
Prämissen bezogen werden. Diese können unter den Voraussetzungen der modernen Wissenschaftskultur nicht anders als durch
die interdisziplinäre Zusammenschau einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse gewonnen werden."
Es ist eine wissenschaftsgeschichtliche Ironie, dass die auf den
Biologen Ernst Haeckel zurückgehende epigenetische Annahme,
wonach die Ontogenese des individuellen Menschen in abgekürzter Form die Phylogenese der Menschheit rekapituliert, so dass
sich der Embryo erst allmählich aus infrahumanen Vorstufen zum
Menschen entwickelt, durch die bahnbrechenden Fortschritte der
modernen Genetik widerlegt wurde. Seit der Entdeckung des genetischen Codes gilt es als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis,
dass das individuelle Menschenleben mit der Verschmelzung der
Vorkerne von Ei- und Samenzelle — oder genauer: mit der Auflösung ihrer Kernmembranen — beginnt. Die Zweifel, die in jüngster Zeit von Entwicklungsbiologen, Philosophen und Juristen an
" Vgl. da7u Rager, G. (Hrsg.), Beginn, Personalitat und Würde des Menschen
(Grenzfragen 23), Freiburg, München 2 1999, 15-136.
211
der Tragweite dieser Einsicht geäußert werden, betreffen nicht das
biologische Faktum als solches, sondern seine normative Bedeutung im Blick auf den Beginn der Schutzwürdigkeit des neu entstandenen menschlichen Lebens. In Zweifel gezogen werden nicht
nur die Identität und Kontinuität der weiteren Entwicklung, sondern auch die Vollständigkeit des genetischen Entwicklungsprogramms." Schließlich wird der lange Zeit unangefochtenen
embryologischen Grundanschauung, die das Ende des Befruchtungsprozesses als Beginn des neu entstandenen Menschenlebens
wertet, eine „biologistische" Sichtweise unterstellt, welche die Bedeutung nicht-genetischer Faktoren für die Ausbildung der personalen Identität des Menschen unterschätzt.
Da konkrete ethische Schlussfolgerungen auf gemischten Urteilen beruhen, ist mit der Notwendigkeit von Korrekturen, die nicht
durch den Wandel unserer moralischen Überzeugungen, sondern
durch die Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisbasis erzwungen werden, grundsätzlich immer zu rechnen (wie
auch die Abkehr von den aristotelisch-scholastischen Beseelungstheorien in der Medizin des 18. und der Kanonistik des 19. Jahrhunderts belegt). 2 " Es fragt sich indessen, ob die Tragweite der angeführten neueren Erkenntnisse nicht überschätzt wird, wenn man
sie unter dem Druck interessengeleiteter Abwägungen als ausreichende Basis für die Absicht ansieht, dem Embryo in den Anfangsphasen seiner Existenz das Menschsein abzusprechen. Im Blick auf
die erforderliche Unparteilichkeit, welche die möglichen Interessen
der bereits Geborenen an einer späteren Festlegung des menschlichen Lebensbeginns mit größtmöglichster Sorgfalt ausblenden
muss, ist vielmehr zu überlegen, ob die Einsicht in die höhere Komplexität des gesamten Entwicklungsvorgangs nicht auch innerhalb
des bisherigen Paradigmas eine plausible Erklärung finden kann.
Die Annahme, wonach mit dem Ende der Befruchtung die einzigartige, genetisch unverwechselbare Existenz eines neuen
menschlichen Lebens gegeben ist, stützt sich auf gesicherte Erkenntnisse. Immerhin ist der Embryo von diesem Zeitpunkt an so" Vgl. Kummer, Chr., Extrauterine Abtreibung? Sachargumente für eine Bestimmung des embryonalen Lebensbeginns, in: Stimmen der Zeit 122 (1997), 11-16; ders.,
Stammzellkulturen — Ein brisantes Entwicklungspotential, in: Stimmen der Zeit 125
(2000) 547-554; Knoepfler, N., Forschung an menschlichen Embryonen. Was ist Verantwortung?, Stuttgart, Leipzig 1999,55; 82-89; 135ff und Wolhert, W., Du sollst nicht
töten. Systematische Überlegungen /um Tötungsverbot, Freiburg i.Ue. 2000.
150-155.
" Vgl. dazu Bruch, R., Der Schutz des yorpersonalen menschlichen Lebens im Mutterleib, in: ders., Moralia, 258-283, bes. 259ff.
212
wohl artspezifisch (als menschliches Lebewesen) wie auch individualspezifisch (als dieses menschliche Lebewesen) eindeutig
geprägt, ohne dass sich im Laufe seiner weiteren Entwicklung Abweichungen von diesem grundlegenden Entwicklungsprogramm ergeben würden. Von Anfang an ist das Geschlecht des neu entstandenen menschlichen Lebens festgelegt, etwaige numerische
Chromosomenanomalien lassen sich vom ersten Zeitpunkt an erkennen, später auftretende Chromosomenverluste können selbsttätig entsprechend dem ursprünglichen Entwicklungsmuster wieder
ausgeglichen werden. Mit der Befruchtung entsteht somit auf wunderbare Weise ein neues menschliches Lebewesen. Der qualitative
Sprung der Menschwerdung vollzieht sich aus biologischer Sicht
nicht irgendwann im Verlauf der Embryonalgenese , er steht vielmehr ganz am Anfang des gesamten Entwicklungsprozesses. In
den späteren Gefahrenzonen dieser Entwicklung, vor allem vor
und während der Nidation, geht es dagegen nicht mehr um den erstmaligen Schritt zur Menschwerdung, sondern darum, dass die Existenz des bereits entstandenen menschlichen Lebewesens erhalten
bleibt und sein Entwicklungspotential sich weiter entfalten kann.
Es liefe in der Tat auf das Missverständnis eines „Genetizismus"
oder einer _Mystik der Gene" hinaus, wollte man das individuelle
Genom als unmittelbaren Träger der Menschenwürde ansehen.
Solche abwegigen Einwände verfälschen jedoch die Überlegung,
die zu dem Ergebnis führt, dass das neu entstandene menschliche
Lebewesen vom biologischen Ursprung seiner Existenz an unter
dem Schutz der Menschenwürde steht. Anknüpfungspunkt für die
Anerkennung der Menschenwürde ist nicht die DNA-Struktur des
individuellen Genoms oder ein immaterielles Informationsprogramm, sondern der neu entstandene Embryo, der über ein individuelles Genom verfügt, das seine weitere Entwicklung im Zusammenspiel mit den erforderlichen Umgebungsbedingungen steuert.
Die Neukombination des individuellen Genoms, die nach dem Zufallsprinzip aus den mütterlichen und väterlichen Anteilen erfolgt,
stellt einen wunderbaren Vorgang dar, der einen Hinweis auf die
Einzigartigkeit jedes Menschen enthält und auch Biologen und
Genetiker das Staunen lehrt. Es wäre indessen eine Fehlinterpretation dieses wunderbaren Vorgangs, im „Würfeln der Gene" die
Geburt der menschlichen Seele zu sehen» Das entelechiale Le.
Auch das kirchliche Lehramt betont in seinen jungeren Stellungnahmen, dass „das
Vorhandensein einer Geistseele von keiner experimentellen Beobachtung ausgemacht werden kann" (Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre Quesho
de Ahortu procurato [18. November 1974] Nr. 12-13 [AAS GG, 7381; vgl. auch Johan-
213
bensprinzip im aristotelisch-scholastischen Sinn wohnt der Zygote
selbst inne, die ihre weitere Entwicklung freilich gemäß ihrem Genom vollzieht. 28 Das mit der Befruchtung entstandene menschliche
Lebewesen darf daher nicht auf sein Genom reduziert und als körperlose Entität betrachtet werden; der Umstand, dass sich die spätere Körperachse erst mit der Anlage des Primitivstreifens bildet,
berechtigt keinesfalls dazu, in der Zygote vor der Nidation so etwas wie ein immaterielles Phantomgebilde oder einen virtuellen
Informationsträger zu sehen. Vielmehr ist bereits der extrakorporale Embryo ein menschliches Lebewesen, das als konkrete leibseelische Einheit existiert, die sich kraft des ihr innewohnenden
Lebensprinzips entwickelt. Die Bedeutung des Genoms liegt dabei
darin, dass der Embryo vom Ende der Befruchtung an alle unverwechselbaren Anlagen in sich trägt, die er in einem kontinuierlichen Prozess ohne relevante Zäsuren entfalten wird, sofern er dafür die nötige Unterstützung erhält und nicht durch gewaltsame
Einwirkung von außen an der Verwirklichung seines Entwicklungspotentials gehindert wird." Träger der Menschenwürde ist jedoch weder das individuelle Genom noch die isoliert betrachtete,
aus der Verlaufsgeschichte ihrer Entwicklung herausgelöste Zygote, sondern das menschliche Individuum, dessen Existenz mit der
Verschmelzung der Vorkerne beginnt und mit dem Tod endet.
Der neuerdings hervorgehobene Umstand, dass die Expression
der genetischen Information im weiteren Entwicklungsverlauf nur
im Zusammenspiel mit äußeren, über die Zellmembran wirksamen Reizen erfolgt und die Ausbildung des Primitivstreifens sowie die Ausrichtung der späteren Körperachse auf Positionssignale antworten, die vom mütterlichen Organismus ausgehen, ist
mit der Annahme durchaus vereinbar, dass der Embryo von Anfang an über die vollständige Potenz zu seiner weiteren menschlichen Entwicklung verfügt. Die genannten neueren Forschungen
belegen im einzelnen, dass der Embryo auf die Anreize, die aus
ties Paul II., Enzyklika „Evangelium vitae", Nr. 60), was freilich keine Absage an die
Theorie der Simultanheseelung impliziert.
" Vgl. dazu Hennefrlder, L., Die Begründung des moralischen Status des menschlichen Embryos aus der Kontinuitat der Entwicklung des ungeborenen und ., eboteneu Menschen, in: Dam,%chen, Schonecker Status, 61-81, bes. 72.
" Als Ergebnis der embryologischen Betrachtung der menschlichen Ontogenese
Passt sich mit Roger, G.. Menschsein zwischen Lebensanfang und Lebensende. Grundzüge einer medizinischen Anthropologic, in: ders., L. Honnefelder (Hrsg.), Arztliches
Urteilen und Handeln. Zur Grundlegung einer medizinischen Ethik, Frankfurt a.M.
1994, 53-103, hier: 82 festhalten, dass „der Embryo von der Befruchtung an menschliches Leben darstellt und die Moglichkeit besitzt, dieses menschliche Leben voll
entfalten, wenn ihm die dafür nötigen Umgebungsbedingungen geboten werden".
-,
,
214
der symbiotischen Austauschbeziehung mit dem mütterlichen Organismus erwachsen, angewiesen ist, um sein Entwicklungspotential entfalten zu können. Dieses ist daher weder nach dem Modell
eines automatisch ablaufenden Programms noch als passive Reaktion auf die empfangenen Außenreize zu verstehen; auch nach der
Einnistung verwirklicht der Embryo in Wechselwirkung mit dem
mütterlichen Organismus sein Entwicklungsprogramm und nicht
das eines anderen Wesens oder eine neue, in seinen ursprünglichen Anlagen nicht enthaltene Entwicklungsmöglichkeit, die seine aktive Werdepotenz in eine andere Richtung lenken würde. Die
Sichtweise, die im Vorgang der Implantation weitgehend eine aktive Eigenleistung des Embryos sieht (er schaltet z. B. das „Abwehrsystem" der Gebärmutter gegen den fremden Eindringling
aus), muss durch den Nachweis mütterlicher Stimuli möglicherweise neu akzentuiert werden; aus der höheren Komplexität, die der
embryonal-maternale Dialog auf der Ebene physiologischer Austauschprozesse aufweist, folgt indessen weder die Unabgeschlossenheit der genetischen Information noch die Nivellierung der
Befruchtung zugunsten einer angeblichen gleichgewichtigen Stufenfolge, welche die Bedeutung des qualitativen Sprungs am Anfang durch den Hinweis auf die weiterhin erforderlichen Bedingungen (die auch bislang von niemandem in Abrede gestellt wurden)
relativiert. Vielmehr finden auch die besagten neueren Forschungsergebnisse eine zureichende Erklärung durch das biologische Prinzip, wonach der Embryo seine eigenen Entwicklungsmöglichkeiten
in einem geeigneten Medium kontinuierlich entfalten kann, sofern
ihm die dazu erforderlichen Umgebungsbedingungen nicht versagt
oder entzogen werden.
Im weiteren Verlauf der Embryogenese kann die sprachliche
Benennung unterschiedlicher Entwicklungsphasen deshalb nur
den Sinn haben, fließende Übergänge oder neu einsetzende Entwicklungsschübe zu kennzeichnen. Wenn wir von einer Zygote
(nach der Befruchtung), einem Embryo (nach der Einnistung)
oder einem Fötus (nach der Ausbildung seiner Gliedmaßen) sprechen, benennen diese Bezeichnungen keine unterschiedlichen
Entwicklungsstufen, auf denen der Embryo erst allmählich das
volle Menschsein erreichen würde, sondern verschiedene Reifungsvorgänge, die sich an ein und demselben menschlichen Wesen vollziehen.'" Von allen in Frage kommenden Vorschlägen (AbNach Roger, Personalitat, 86, legen diese Bezeichnungen „Parameter der Reitungsvorgange" fest, ohne indessen ein reales Durchschreiten diskreter Entwicklungsstuten oder eine Aufeinanderfolge getrennter Vorl'aufer-Stadien zit behaupten.
215
schluss der Befruchtungskaskade, Beginn des embryonal-maternalen Dialogs, Einnistung in die Gebärmutter, Auftreten erster
Herzbewegungen, Ausbildung von Gehirnstrukturen, Schmerzoder Empfindungsfähigkeit, extrauterine Oberlebensfähigkeit,
Durchschneiden der Nabelschnur bei der Geburt oder noch spätere Festlegungen) stellt der biologische Anfang der menschlichen
Existenz denjenigen Anknüpfungspunkt für die normative Wertpostulate der Menschenwürde und der gleichberechtigten Anerkennung dar, der am wenigsten willkürlich gewählt ist.
Die späteren Datierungsvorschläge erscheinen schon deshalb zu
unsicher, weil ihr Nachweis vom jeweiligen Entwicklungsstand
bildgebender oder anderer diagnostischer Verfahren abhängt.
Selbst der von seinem Ende her eindeutig feststellbare Vorgang
der Nidation gibt uns auf der biologischen Ebene kein hinreichend
sicheres Unterscheidungskriterium an die Hand, das eine Differenzierung zwischen schutzwürdigem und noch nicht schutzwiirdigem Leben rechtfertigen könnte. Im Verlauf der kontinuierlichen
Wechselwirkung zwischen Mutter und Kind bildet eine Phase dieser Interaktion die notwendige Voraussetzung für das Erreichen
der anderen, wobei ein stofflicher Austauschprozess, der über
Hormone und Signalfaktoren vermittelt wird, schon lange vor der
Einnistung, also bereits auf dem Weg des Embryos durch den Eileiter, anzunehmen ist. Wenn die von Anfang an bestehende
Wechselwirkung zwischen Embryo und weiblichem Organismus
durch den Vorgang der Einnistung eine feste lokale und temporäre
Grundlage findet, gewährleistet dies die notwendige Stabilität der
weiteren Entwicklung: dieser Vorgang stellt indessen nur ein herausgehobenes Moment innerhalb des bereits angebahnten Entwicklungsvorgangs, aber keinen qualitativen Sprung dar, der eine
normative Zäsur von solcher Tragweite rechtfertigen könnte. Der
Vorschlag, das Nidationskriterium zur Abgrenzung unterschiedlich schinzenswerter Lebensstadien heranzuziehen, ist insofern bereits in seinen biologischen Annahmen widersprüchlich, als er den
mehrere Tage dauernden Vorgang der Einnistung wie einen Fixpunkt behandelt, während er den spätestens nach vierundzwanzig
Stunden erreichten Abschluss der Befruchtungskaskade als eine
bloße Vorstufe zum Ereignis der Nidation ansieht, in dem sich —
Zu den sprachlichen Benennungsmoglichkeiten des Embryos und ihren versteckten
normativen Implikationen vgl. auch Breuer, C., Person von Anfang an? Der Mensch
aus der Retorte und die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens, Paderborn
u. a. 1995, 20-60: 7u den Gründen für die Ablehnung der Bereichnung „Pra-Lmbryo" vgl. Breiter, Person, 53-58.
216
so die Argumentation — erst die eigentliche Menschwerdung des
Embryos vollziehen soll. Wenn man das physiologische Geschehen, das die Kontaktnahme mit dem mütterlichen Organismus begleitet, schon als biologischen Parallelvorgang zu dem personalen
Grundakt der Annahme des Embryos durch die Mutter und seiner
moralischen Anerkennung durch die Rechtsgemeinschaft interpretiert, wäre es nur folgerichtig, den Beginn dieses Prozesses
(um den 3. oder 4. Tag) und nicht erst seinen Abschluss als terminus a quo der Schutzwürdigkeit anzusetzen.
3. Notwendige Differenzierungen und Klärungen
Die sich von Anfang an durchtragende Individualität, die zäsurlose Kontinuität und das einzigartige und vollständige Entwicklungspotential des Embryos benennen unterschiedliche Aspekte
ein und desselben Vorgangs, die sich jedoch nicht als getrennte
oder gar konkurrierende Argumente behandeln lassen, wie es in
der Diskussion um den moralischen Status des Embryos nicht selten geschieht. Vielmehr kommen alle drei Überlegungen, in dem
sie jeweils eine Seite der menschlichen Embryonalentwicklung
hervorheben, im entscheidenden Punkt überein. Es ist ein und dasselbe, mit sich identische menschliche Wesen, das alle Anlagen zu
seiner späteren Entwicklung bereits potentiell in sich trägt und das
sich in einem kontinuierlichen Prozess ohne relevante Einschnitte
von Anfang an als die Person entwickelt, der wir nach dem Gesetz
der Gleichursprünglichkeit und Gegenseitigkeit dieselbe Achtung
schulden, die wir für uns selbst in Anspruch nehmen.
Diese normative Schlussfolgerung beruht keinesfalls auf einem
ontologischen Fundamentalismus oder einem ethischen Immobilismus, der für die komplexen Entstehungsbedingungen des menschlichen Lebens blind wäre und sich infolge eines unbeweglichen Alles- oder Nichts-Standpunktes notwendige Abwägungsspielräume
verbaut.' Ebenso wenig setzt die bislang in ihren normativen Wertprämissen und in ihren empirischen Sachverhaltsannahmen aufgezeigte Argumentation ein eindimensionales Menschenbild
voraus, das die personale Identität eines Menschen auf seine genetische Basis reduziert. Im Rahmen einer theologischen Anthropologie, die sich aufgrund ihrer biblischen Wurzeln und auf dem Boden
der aristotelisch-scholastischen Anthropologie als ganzheitliches
Denken versteht, unterliegt es keinem Zweifel, dass auch die leibliSo der Vorwurf von Kreß, Immobilismus. 111-131, bes. 126ff.
217
che Daseinsweise des Menschen an der Würde seiner Gottebenbildlichkeit teilhat. Die Transzendenz der Person, die kraft ihres Geistes ihre materiellen Lebensbedingungen übersteigt, führt in einem
christlichen Menschenbild nicht zur Abwertung, sondern umgekehrt zur Aufwertung des Leibes, der von der Seele durchformt
und getragen wird.
Die Schutzwürdigkeit der leiblichen Anfangsphasen der
menschlichen Existenz ist aber auch unabhängig von diesen theologischen Prämissen durch eine Reflexion auf die unhintergehbaren Grundbedingungen des Menschseins erkennbar: Insofern
das Leben die notwendige Voraussetzung der geistigen Selbstvollzüge des Menschen ist und als die existenzielle Grundlage für das
Werden und die Entfaltung der Person angesehen werden muss,
kommen Würde, Lebensrecht und Schutz jedem Menschen vom
Ursprung seiner Existenz an zu. Weil der Mensch sich in seinem
Vermögen zur moralischen Selbstbestimmung nicht anders als in
seinem Leib und durch seinen Leib gegeben ist darf der Respekt
vor der Menschenwürde nicht erst der vollen Ausprägung von
Selbstbewusstsein. Rationalität und weiteren aktuellen Eigenschaften entgegengebracht werden; er muss vielmehr das gesamte
zeitliche Kontinuum und das leibliche Ausdrucksfeld umfassen,
das die geistigen Akte der Person trägt und ermöglicht.
Die Anerkennung der Menschenwürde muss daher, soll sie
überhaupt gelten und nicht bereits durch den Vorgang ihrer Anerkennung den Keim der Relativierung in sich tragen, für die ganze
individuelle Zeitspanne eines Menschenlebens gelten und alle
Entwicklungsstufen, Erscheinungsformen und Lebenszustände
umfassen, die in ihrer Summe die zeitliche Existenz dieses Menschen ausmachen." Werden am Lebensanfang oder am Lebensende bestimmte Situationen oder Zustände davon ausgenommen,
erfolgt der Akt der Anerkennung nicht mehr unbedingt, sondern
unter Voraussetzungen, die einseitig von denen definiert werden,
die diese Voraussetzungen erfüllen. Eben diese asymmetrischen
Zuschreibungen — wir befinden darüber, wem wir von welchem
Zeitpunkt an nach welchen Kriterien Menschenwürde zusprechen
wollen — ist mit der fundamentalen Gleichheit unvereinbar, die innerhalb demokratischer Gesellschaften alle umfassen muss. Damit
dieses „alle" nicht wiederum einseitig nach sozialen oder kulturellen Statuskriterien eingeschränkt werden kann, muss es entsprechend dem aufgezeigten Minimalbegriff, der den normativen
,
" Vgl. Stein, T., Recht und Politik im biotechnischen Zeitalter, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002) 855 —870, bes. 861ft.
218
Kerngehalt der Menschenwürde umschreibt, schlichtweg für alle
menschlichen Individuen gelten, die vom Menschen abstammen,
d. h. im biologischen Sinn Menschen sind. Daraus aber folgt: Was
die fundamentalen Rechte des Menschseins anbelangt, so schulden wir dem menschlichen Embryo — in diesem moralischen Postulat stimmen eine „katholische" Naturrechtsethik und Kants „kritische" Vernunftethik überein — die gleiche Achtung, die wir dem
geborenen Menschen entgegenbringen. Sofern die zeitliche Anfangsphase seiner Existenz zu den Herkunftsbedingungen jedes
Menschen zählt, muss er vom Ursprung seiner Existenz an über
Menschenwürde . Lebensrecht und Schutzwürdigkeit verfügen, da
diese normativen Wertprädikate ihm andernfalls nicht von sich
aus zu eigen, sondern zu einem späteren Zeitpunkt von anderen
verliehen wären.
3.1. Einwände gegenüber dem Aspekt der Identität
Nachdem die Argumentation zugunsten einer vollen Schutzwürdigkeit des Embryos von Anfang an in ihren Grundzügen vorgestellt ist, bleibt nun noch näher auf einige Gegenargumente einzugehen, die sie in der zurückliegenden und aktuellen bioethischen
Diskussion hervorgerufen hat. Gegen die unterstellte Identität des
Embryos in allen Phasen seiner Entwicklung wird eingewandt, aufgrund der Möglichkeit einer Mehrlingsbildung könne frühestens
mit dem Ausschluss der orthischen Teilbarkeit, also erst nach erfolgter Nidation am vierzehnten Tag von einem einzigen menschlichen Individuum ausgegangen werden. Solange die Auflösung einer vorläufigen Ganzheit und die Bildung neuer Individuen noch
möglich ist, kann demnach weder von der geschichtlichen Existenz
eines Menschen noch von seinem personalen Dasein die Rede sein.
Eine derartige Position wurde in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts auch von moraltheologischen Autoren wie F. Böckle, J. Grande! und J. Mahoney oder Medizinern
wie W. Ruff, K. Hinrichsen und H. Koester vertreten; in einer einprägsamen Formulierung fand sie auch Eingang in das renommierte Handbuch der christlichen Ethik: „Vor der biologischen Determinierung auf ein einziges und in sich unteilbares Individuum hin
wird man darum anthropologisch im strengen Sinn noch nicht von
einem real existierenden Menschen sprechen können:`"
'kickle, F., HchrE II, 43. Die genannten Autoren berufen sich allerdings zu Unrecht auf den Begriff der Selbsttranszendenz oder des „sich selbst überbietenden
Werdens", der ein Schlüsselwort der Theologie Karl Rahners ist. Dieser möchte das
219
Gemäß der Etymologie des Wortes Individuum (von in divisttm
= ungeteilt) geht dieser Einwand davon aus, dass nicht nur das aktuelle Ungeteiltsein eines Seienden, sondern auch seine zukünftige
Unteilbarkeit als notwendige Mindestvoraussetzung für das individuelle und personale Dasein eines konkreten Menschen anzusehen
ist. Dies trifft für den erwachsenen Menschen zweifellos zu. Es fragt
sich indessen, ob der statische Begriff der Unteilbarkeit den dynamischen Wachstumsprozessen, die den Anfang der menschlichen
Embryonalentwicklung prägen, tatsächlich gerecht wird. Während
nämlich das konkrete Dasein eines erwachsenen Menschen Individualität im numerischen Sinn voraussetzt, da seine Teilbarkeit den
sicheren Tod bedeuten würde, stellt die Teilung eines frühen Em-
Missverständnis abwehren, dass Gottes transzendente Erstursachlichkeit in die Reihe
geschöpflicher Zweitursachen eingreift und damit in Konkurrenz zu diesem steht.
Wenn sich das wunderbare Geschehen der Zeugung eines Menschen nicht anteilmäßig zwischen Gott und Mensch verrechnen lässt (etwa indem die Eltern den Leib
zeugen und die Erschaffung der Seele Gott vorbehalten bleibt). sondern ein und dieselbe Wirkung ganz von der transzendenten und darin eingeschlossen zugleich von
der kategorialen Ursache gesetzt ist, so dass die Eltern in der Kraft der g,ottlichen
Erstursache beim Zeugungsakt den ganzen Menschen in seine' leib-seelischen Einheit hervorbringen, steht diese metaphysisch-theologische Deutung der Annahme eines abgestuften Lebensschutzes von ihren eigentlichen Intentionen her chef entgegen. Es geht Rahner ja gerade um den Nachweis, dass im geschöpflichen 1 landeln
der Eltern von Anfang an em „Uberschuss" wirksam ist. durch den der physische
Zeugungsakt zum Ursprung einer neuen Person werden kann. Keinesw egs meint
das Theorem der „aktiven Selbsttranszendenz" dagegen, dass ein anlangs rein physisches Geschehen 7U einem bestimmten Zeitpunkt die personale Wirklichkeit des
Geistes hervorbringt, wie es die Interpretation des Embryos durch das abgestufte
Schutzkonzept unterstellt. Der Gedanke eines sich selbst uherbietenden Werdens
könnte — außerhalb des ursprünglich von Rahner gewählten Zusammenhangs — allenfalls dann für die Position eines abgestuften Lebensschutzes in Anspruch genommen
werden, wenn man die Individualentwicklung des Menschen nach dem Modell seine]
stammesgeschichtlichen Evolution aus dem Tierreich deuten durfte. Obwohl Rahner
selbst eine derartige Entsprechung von Ontogenese und Phylogenese (und somit eine
Entwicklung aus anfangs infrahumanen Vorstufen zum geistgeprägten Menschsein)
nach den Anschauungen der damaligen Embryologic als plausible Erklarung erschien, kann eine solche Annahme nach heutigem Erkenntnisstand nicht aufrechterhalten werden. Da die metaphysisch-theologische Theorie der aktiven Selbsttranszendenz geschöpflichei Ursachen von einer gradualistischen Deutung der
Individualentwicklung des Menschen unabhängig ist, lässt sie sich ebenso gut als Verstehensmodell zur Erklärung dafür heranziehen, wie der biologische Zeugungsakt.
dem die Eltern den ganzen Menschen in seiner leih-seelischen Einheit hervorbringen,
in der Weise zum Ursprung einer neuen Person werden kann, dass die Selbstüberschreitung der geschöpflichen Ursache schon den Anfang des ganzen Entvv icklungsprozesses bestimmt und nicht erst auf einer späteren Stufe zu lokalisieren ist. Vgl.
Overhage, P., Rahner, K., Das Problem der Hominisation. Heiburg i.Br 1961, 8111.
(die missverständliche Bemerkung zu Haeckels Entwicklungstheorie findet sich
a. a. 0., 79) und Vorgrunmler, H., Der Begriff der Selbsttranszendenz in der Theologic Karl Rahners, in: ders. (Hrsg.), Wagnis Theologie. Erfahrungen mit der I heologic Karl Rahners, Freiburg an Breisgau 1979.242-258, bes. 247.
220
bryos keine Vernichtungsteilung, sondern einen Wachstumsvorgang
und somit eine Lebensäußerung dar, wie sie in seltenen Fällen auch
beim Menschen natürlicherweise möglich ist.
Eine Deutung der menschlichen Zwillingsbildung, die den Tod
der ursprünglichen Zygote infolge ihrer Teilung annimmt, wobei
die beiden neuen Individuen dann aus deren Untergang hervorgehen müssten, ist zwar nicht ausgeschlossen, doch eher unwahrscheinlich. Angemessener erscheint die Erklärung, wonach zur Ursprungszygote durch Abspaltung eine weitere hinzutritt; in diesem
Fall wäre davon auszugehen, dass „das ursprünglich eine Individuum die Möglichkeit für eine Mehrzahl von Individuen in sich
trägt ' . Bei einer derartigen Interpretation des biologischen Geschehens stünde die Möglichkeit der Zwillingsbildung nicht im
Gegensatz zu den schon vor der Nidation angenommenen Individualität der sich entwickelnden Zygote. Die Begriffsgeschichte
zeigt nämlich, dass nicht nur auf der biologischen Bedeutungsebene dynamische Sichtweisen vorherrschen, sondern dass diese auch
dem philosophischen Bedeutungsgehalt von Individualität keineswegs fremd sind. Schon bei Thomas von Aquin liegt der Akzent
auf der einheitsstiftenden Funktion der menschlichen Seele; bei
Kant tritt der dynamische Aspekt noch stärker in den Vordergrund, insofern die Person sich selbst zu ihrer freien Verwirklichung aufgegeben ist. G. Rager fasst diesen Befund zusammen:
„Wenn das lebende Individuum nicht primär als etwas Unteilbares, sondern als ein Wesen verstanden wird, das ständig dynamisch seine Einheit herstellt, dann stellt die Entstehung von eineiigen Zwillingen keinen Widerspruch zu unserem Begriff von
Individuum und Person dar.""
Da auch eine noch teilbare Zygote genetisch eindeutig bestimmt ist, ist kein zwingender Grund erkennbar, warum wir ihr
die Individualität absprechen sollten. Zudem ist die entgegengesetzte Deutung mit erheblichen Inkonsistenzen verbunden. Sie
müsste 7. B. erklären können, warum sich die genetische Einzigartigkeit in 98 % der Fälle, in denen es nicht zur Zwillingsbildung
kommt, auch als numerische Individualität durchhält und wie aus
einem angenommen Nicht-Individuum vor der Teilung aus dieser
zwei oder mehrere Individuen entstehen können. Schließlich ist
nicht einzusehen, warum hinsichtlich der Schutzwürdigkeit des
Embryos durch die Möglichkeit der Mehrlingsbildung eine Änderung eintreten sollte. Wenn aus einer biologischen Einheit zwei
" Rager. Personalität, 89.
" Ebd., 88.
221
menschliche Individuen hervorgehen, spricht auf einer praktischen
Handlungsebene auch dann alles dafür, diese biologische Einheit
zu schützen, wenn auf der theoretischen Ebene Einzelheiten dieses Vorgangs unklar bleiben. Da in jeder Phase vor und nach der
Teilung ein oder mehrere menschliche Individuen existieren, so
dass zu keinem Zeitpunkt kein Individuum vorliegt, erscheint die
Schutzwürdigkeit sowohl des Ursprungsembryos wie auch des später entstandenen Zwillings in jedem Fall als eine plausible, im
Ganzen tragfähige und mit geringeren Risiken verbundene Annahme.
3.2. Einwände gegen den Aspekt der Potenzialität
In ähnlicher Weise wird das Potenzialitätsargument unbrauchbar,
wenn man ihm entweder eine zu enge oder eine zu weite Bedeutung unterstellt. Der Einwand, auch Eizellen und Samenzellen seien in ihrer getrennten Existenz bereits als potentielle Embryonen
anzusehen, verkennt die Bedeutung des Befruchtungsvorgangs,
aus dem die Zygote als ein individuelles neues Lebewesen erst hervorgeht. Der Vergleich des Embryos mit einem Kronprinzen, der
noch nicht über die vollen Rechte eines Königs verfügt, geht in
umgekehrter Richtung am Kern der Sache vorbei. Die Oberlegung, der Embryo sei nur ein „potentieller Mensch", wie auch
Prinz Charles bislang nur als „potentieller" König gelte, scheint
nur deshalb plausibel, weil sie einen starken mit einem schwachen
Begriff der Potenzialität verwechselt. Alle deutschen Bundesbürger haben die passive Möglichkeit, einmal Bundespräsident(in) zu
werden, obwohl die Chance hierzu für die allermeisten verschwindend gering ist. Von dieser passiven Fähigkeit, etwas zu werden.
was man noch nicht ist (nicht-deutsche Staatsangehörige erfüllen
diese Fähigkeit nicht), oder der materialen Potenz, derzufolge
eine Marmorstatue in einem noch unbehauenen Steinblock enthalten ist, muss aber die aktive Potenz unterschieden werden,
durch die bereits existierende Lebewesen sich als das entwickeln,
was sie ihrer Art nach sind und die spezifischen Fähigkeiten ausbilden, die für ihre Art charakteristisch sind." Wie bereits Aristoteles in seinen ontologischen Untersuchungen zum Begriff des
„Möglichen" gezeigt hat, gibt es neben dem logisch Möglichen,
das als das bloß Denkbare ein reiner Gegenbegriff zum realen Seienden ist, auch das bereits angelegte, schon im Entstehen begriffene „Mögliche", wofür er auf ein Haus, zu dem der Grundstein geVgl. Bormann, Status, 219.
222
legt ist oder eben auf das Kind verweist, das von seinen Eltern bereits gezeugt wurde. Nur das in diesem Sinn Mögliche erfüllt den
vollen Begriff der Potenzialität, der die aktive Entfaltungspotenz
eines bereits angelegten Seins meint. Von einem solchen Seienden
gilt nach Aristoteles, dass es das Prinzip seines Werdens, seine arche, in sich trägt und „wenn nichts von außen hindert, durch sich
selbst sein wird".
Da das Potenzialitätsargument die Fähigkeit des menschlichen
Embryos zur Entfaltung seiner Anlagen hervorhebt, wird sein Sinn
verfälscht, wenn man ihm nur die schwache Bedeutung einer passiven Potenz unterlegt, wie es in der angelsächsischen Bioethik und
neuerdings auch in der deutschsprachigen Debatte häufig geschieht." Schwerer wiegt dagegen der von entwicklungsbiologischer
Seite vorgetragene Einwand, der dem Embryo vor der Nidation
eben diese aktive Potenzialität abspricht oder zumindest die Fähigkeit des Embryos zur selbstgesteuerten Entwicklung in Zweifel
zieht. Die bereits genannten neueren Forschungen verweisen darauf, dass nach der Nidation weitere Faktoren wirksam werden,
die für die intrauterine Entwicklung erforderlich sind. Sollten sich
solche Annahmen bestätigen, würde man in der Tat besser von einer Ko-Programmierung der intrauterinen Entwicklung als von einer Selbststeuerung des Prozesses durch den Embryo sprechen. Daraus lässt sich jedoch keinesfalls die Schlussfolgerung ableiten, dass
dem Embryo erst durch die Annahme von Seiten seiner Mutter das
volle Menschsein im normativen Sinn übertragen würde. Eine derartige Konstruktion stünde im offenen Widerspruch zum Kern der
Menschenwürde-Vorstellung, wonach diese ihrem Träger von sich
aus zukommt und nicht erst durch Zuschreibung von außen verliehen wird. Auch stellt die Abhängigkeit von fremder Hilfe kein spezifisches Unterscheidungsmerkmal des Embryos, sondern eine anthropologische Grundsituation dar, die sich in jeder Lebensphase
anders akzentuiert. Da auch ein neugeborenes Kind sein weiteres
Entwicklungspotenzial nicht ohne die Annahme von Seiten seiner
Eltern oder anderer Bezugspersonen entfalten kann, ließe sich
auch sein Lebensrecht aus analogen Gründen bestreiten. Diese ungewollte Konsequenz belegt, dass eine normative Deutung der
menschlichen Embryonalentwicklung, die in der Annahme von Seiten der Mutter bei der Einnistung des Embryos einen statusverleihenden Akt sieht, nicht nur die moralischen AnerkennungsverhältVgl. Aristoteles, Metaphysik Buch 7, 1049 a 10 (hrsg. von II. Seidel; übersetzt von
H. Bomtz, Hamburg 1991).
So bei Schone -Seifert, B. in ihrem Artikel „Von Anfang an?", in: ZEIT Nr. 09/2(X)1, 2.
.
223
nisse auf den Kopf stellt, sondern obendrein zur klaren Abgrenzung
zwischen schutzwürdigen und nicht-schutzwürdigen Stadien dieses
Prozesses untauglich ist.
3.3. Einwände gegen den Aspekt der Kontinuität
In ähnlicher Weise wird die normative Bedeutung der biologischen
Kontinuität in der Entwicklung des Embryos durch eine philosophische Überlegung in Frage gestellt, die diesen erst zu einem späteren Zeitpunkt ein die Schutzwürdigkeit begründendes Oberlebensinteresse zubilligt. Durch die Tötung des Embryos wird
demnach nicht das Lebensrecht eines real existierenden menschlichen Wesens verletzt, sondern es wird, wie der Rechtsphilosoph
Norbert Hoerster formuliert, „verhindert, dass aus dem Fötus jemals ein Wesen mit einem Überlebensinteresse entsteht ' °. Abgesehen davon, dass fundamentale moralische Rechte auch dort bestehen können, wo subjektiv empfundene und aktuell geäußerte
Interessen noch nicht, nicht mehr oder auch nur vorübergehend
nicht vorhanden sind, stellen sich einer derartigen Lösung, die
sich des Problems gewissermaßen im Hau-Ruck-Verfahren entledigen will, erhebliche Schwierigkeiten in den Weg: Sie ist nur
scheinbar metaphysikneutral, denn sie setzt eine ereignisontologische Deutung der zeitlichen Struktur eines Seienden und die
Leugnung so genannter Kontinuanten voraus: 4 " sie bestreitet die
diachrone Identität von Lebewesen während der gesamten Dauer
ihrer Existenz; sie löst das geschichtliche Dasein eines Menschen
in ein Bündel von Personphasen auf, die aufeinander folgen,
ohne in die Ganzheit einer Biographie integriert zu sein; sie
schneidet den erwachsenen Menschen von der Möglichkeit ab,
die Reihe seiner eigenen Herkunftsbedingungen vollständig bis
zu ihrem Anfang zurück zu verfolgen. Schließlich deklariert dieser
Einwand den vormaligen Embryo in einem definitorischen Willkürakt zum bloßen Vorläufer eines erst später konkret existierenden Menschen, der zu dessen Sein und Werden auf zwar zwingend
notwendige, doch im Ergebnis normativ bedeutungslose Weise
beitragen soll.
" Hoerster, N., Abtreibung im säkularen Staat. Argumente gegen den § 218, Frankfurt a.M. 1991, 100.
4 " Zu einer solchen Konzeption, die das Sein der Person auf die psychologische Kontinuität der Selbstidentifikation reduziert, vgl. Parfit, D.. Reasons and Persons. Oxford 1984, 323. Eine kritische Auseinandersetzung findet sich bei Honnefelder, Streit,
256ff und Ranggaldier, E., Was sind Handlungen? Eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Naturalismus, Stuttgart 1996, 30f.
224
Die entgegengesetzte Deutung, die den Zeitpunkt der Befruchtung als den geschichtlichen Anfang der gesamten Zeitlinie einer
sich kontinuierlich entfaltenden Existenz ansieht, befindet sich dagegen in Übereinstimmung mit den Möglichkeiten unserer sprachlich artikulierten Selbstvergewisserung: Ich kann von dem Embryo, der ich einmal war, in der ersten Person Singular sprechen
und so den Anfang meiner Lebensgeschichte identifizieren, der
noch vor dem Auftauchen erster Erinnerungsinhalte im Gedächtnis liegt und somit die psychologische Kontinuität des Bewusstseins übersteigt. Dies ermöglicht die retrospektive Anwendung
normativer Prinzipien wie der Goldenen Regel oder des Gleichheitsgrundsatzes, in dem wir ausgehend von der dem erwachsenen
Menschen geschuldeten Achtung auch die Anfangsbedingungen
seiner individuellen Existenz dem Schutz der Menschenwürde unterstellen. Alle geborenen Menschen haben nämlich eines gemeinsam: Sie begannen ihre Existenz als Embryonen und die Tatsache,
dass sie heute sind, steht in einem unauflöslichen Zusammenhang
mit dem Umstand, dass ihnen von den damals Geborenen, allen
voran ihren Eltern und Erzeugern, die für ihre weitere Entwicklung notwendige Hilfe nicht verweigert wurde. Nach dem Gesetz
der Gleichursprünglichkeit aller Menschen folgt daraus, dass wir
denjenigen Mitgliedern der Menschheit, die sich gegenwärtig in
unserer Lage von damals befinden, die selbe Achtung entgegenzubringen haben, die uns damals erwiesen wurde und der wir die
eigene Existenz verdanken.
Die Annahme der diachronen Identität unserer Existenz, die
das Kontinuitätsargument voraussetzt, reduziert unsere geschichtliche Daseinsweise keineswegs auf eine krude physikalische Zeitlinie, wie der Einwand unterstellt. Die geschichtliche Existenz des
Menschen wird vielmehr als ein Prozess verstanden, der vom Zielpunkt seiner Entwicklung, dem Auftreten von Freiheit, sittlichem
Selbstsein und moralischer Verantwortungsfähigkeit her seine Einheit gewinnt und deshalb retrospektiv bis zu seinem Ursprung zurückverfolgt werden kann. Der biologische Lebensbeginn des
Menschen ist insofern immer schon mehr als eine bloße sinnneutrale Faktizität; in ihm manifestiert sich der Anfang einer personalen Freiheitsgeschichte, die in allen ihren Phasen dem Schutz der
Menschenwürde untersteht. 41
Zur Rechtfertigung der retrospektiven Anwendung moralischer Prinzipien vgl.
Schockenhoff E., Ethik des Lebens. Ein theologischer Grundriss, Maini '2000. 310.
41
225
3.4. Einwände gegen die Verwendung des Personbegriffs
Erhebliche Schwierigkeiten bereitet auch die Anwendung des Personbegriffs auf das frühe Lebensstadium des Menschen. Auf den
ersten Blick steht der Rede des Personseins des Embryos zweifellos der Eindruck sprachlicher Gewaltsamkeit entgegen. Zudem erfordert dieser Begriff in jeder seiner traditionellen Verwendungen
die Klärung ontologischer Voraussetzungen, die man nach dem
metaphysischen Sparsamkeitsprinzip in begründungstheoretischen
Kontexten normativer Ethik lieber vermeiden möchte. Sollten wir
daher in Bezug auf den Embryo nicht ganz auf diesen Begriff verzichten? Führt nicht die Verdoppelung der Begriffe „Mensch" und
„Person". die in der Philosophie lange Zeit als deckungsgleich verstanden wurden, nur zu unnötigen Konfusionen? Andererseits löst
der Verzicht auf einen als belastet geltenden Begriff noch kein
Sachproblem; er kann daher nur scheinbar Erleichterung verschaffen, zudem ist die Rede vom Embryo als einer „potentiellen" Person erst recht missverständlich.
Um der notwendigen Klarheit in der Sache willen ist deshalb
eine Auskunft darüber unverzichtbar, unter welchen Voraussetzungen der Embryo als Person angesprochen werden kann und unter welchen dies nicht möglich ist. Augenscheinlich ist ein Embryo
keine Person, wenn wir darunter eine ausgereifte menschliche Persönlichkeit oder ein aktuell handlungsfähiges Wesen verstehen; in
diesem Sinn dürften auch die Zweifel kaum auszuräumen sein , ob
ein neugeborener oder an Altersdemenz leidender Mensch als
Person anzusehen ist. Sofern das Personsein dagegen keine steigerungsfähige, an ein Mehr oder Weniger aktualer Eigenschaften gebundene Größe meint, sondern eine transempirische Wirklichkeit
bezeichnet, die innerhalb eines konkreten Relationsgefüges durch
Selbststand und Selbstursprünglichkeit gekennzeichnet ist, erscheint der Begriff „Person" auf menschliche Individuen unabhängig von ihrem Entwicklungsstand, ihrem Alter oder ihrer sichtbaren Gestalt sinnvoll anwendbar. Der Embryo ist unter diesen
ontologischen Voraussetzungen keine potentielle Person, die einmal werden kann, was sie noch nicht ist, sondern — da ein Mehr
oder Weniger nicht das Personsein selbst, sondern nur die Entfaltung seiner aktualen Merkmale betrifft — eine Person, die ihre spätere Gestalt und künftigen Eigenschaften der Anlage nach in sich
trägt.
226
3.5. Das Prinzip des Tutiorismus als Vorsichtsregel
Wie dieser Abschnitt zu zeigen versuchte, lassen sich die genannten Einwände mit Gegenargumenten konfrontieren, die je nach
Standpunkt als mehr oder weniger überzeugend erscheinen werden. Es bedarf daher einer hermeneutischen Verständigung darüber, wie mit offen bleibenden Fragen und theoretischen Restzweifeln umgegangen werden soll. Das Prinzip des Tutiorismus
versteht sich in diesem Sinn als eine Meta-Regel zur Verteilung
der Argumentationslasten, die eine Lösung für den Fall anbietet,
dass es auf der Sachebene nicht zu einer abschließenden Klärung
kommt. Im Blick auf die umstrittene Schutzwürdigkeit des Lebens
menschlicher Embryonen besagt diese Regel: Da das physische
Leben die unhintergehbare Voraussetzung sittlicher Freiheit ist
und sein Schutz somit die Grundlagen von Moral und Recht berührt, ist in Zweifelsfällen jeweils der sichere Weg zu wählen.
Nicht jeder am Ende möglich bleibende Einwand muss definitiv
ausgeschlossen werden, bevor die Schutzposition zugunsten der
Anfangsstadien menschlichen Lebens als hinreichend begründet
angesehen werden darf. um unser Handeln zu leiten. Vielmehr
muss derjenige. der den Zugriff auf das Leben menschlicher Embryonen fordert, mit moralischer Sicherheit nachweisen, dass er
es in diesem Fall nicht mit schützenswertem menschlichen Leben
zu tun hat. Aus der möglichen Unschärfe bei der Identifikation
der notwendigen Anfangsbedingungen des individuellen Menschenlebens (z. B. im Umkreis der Nidation) folgt nämlich keineswegs, dass es sich in der fraglichen Phase noch sicher nicht um
menschliches Dasein handelt.
Da von protestantischen Ethikern neuerdings wieder der Vorwurf erhoben wird, eine tutioristische Betrachtungsweise ungewisser Handlungskonstellationen laufe auf einen unbarmherzigen Rigorismus hinaus, der flexible Unterscheidungen und humane
Konfliktlösungen verhindert, 42 sei an dieser Stelle eine kurze Bemerkung zur grundsätzlichen Bedeutung des Tutiorismus angesichts schwieriger Abwägungsfragen in der Ethik angefügt. Vorweg ist dabei an eine spezifische Besonderheit praktischer Urteile
zu erinnern, die das tutioristische Prinzip keineswegs in Abrede
stellt, sondern im Gegenteil voraussetzt: Absolute Sicherheit ist
uns aufgrund der Endlichkeit unserer Erkenntnis und der Vielzahl
wandelbarer Handlungsumstände, die unser Handeln beeinflussen, auch in unseren sittlichen Urteilen versagt; es macht den
" So Kref3.1mmobilismus, 120.
227
Ernstfall der Ethik aus, dass wir häufig aufgrund von vorläufigen
Entscheidungen oder kontingenten Annahmen unter hohem Risiko handeln müssen. Solange wir die Konsequenzen dieser Entscheidungen kontrollieren und sie gegebenenfalls revidieren können, ist diese Unsicherheit zu ertragen. Risikoscheu und
übersteigertes Gefahrenbewusstsein stellen im Allgemeinen keine
erstrebenswerten Haltungen dar; oftmals sind Risikobereitschaft,
Mut und Einsatzfreude die besseren Ratgeber. Die tutioristische
Vorsichtsregel ist deshalb nur in denjenigen Fällen anzuwenden,
in denen irreversible Entscheidungen besonders verletzliche moralische Güter wie Vertrauen, Treue, Wahrhaftigkeit oder eben — als
das schlechthin fundamentale Gut — das Leben selbst betreffen.
Bei der Vernichtung menschlicher Embryonen handelt es sich
um einen solchen definitiven Schritt, der im Fall des Irrtums nicht
mehr rückgängig zu machen ist. Insofern mit diesem Eingriff in
den embryonalen Entwicklungsprozess der Anfang einer personalen Freiheitsgeschichte betroffen sein kann, müssen an den Nachweis zu seiner Berechtigung daher besonders hohe Anforderungen
gestellt werden. Eine Entscheidung unter Risiko ist in diesem Fall
nur für das Leben legitim. Verbleibende, im Augenblick des Handelns möglicherweise nicht auflösbare Zweifel sprechen zugunsten
des Embryos, zumal dieser ein schutzloses Wesen ist, das erst
durch unser eigenes Handeln in diese Situation gebracht wurde.."
Recht verstanden muss der Tutiorismus daher als notwendige Unterscheidungsregel innerhalb eines Ensembles flexibler Beurteilungsinstrumentarien angesehen werden, die Aufschluss darüber
gibt, in welcher Richtung Konfliktsituationen in Abhängigkeit
von den jeweils auf dem Spiel stehenden Gütern verantwortungsvoll bestanden werden können. Die in den einschlägigen kirchlichen Lehrdokumenten genannte Forderung, dass wir dem
menschlichen Embryo vom Zeitpunkt der Befruchtung an jene unbedingte moralische und rechtliche Achtung schulden, die jedem
menschlichen Wesen in der leib-seelischen Ganzheit seiner Existenz zukommt, müsste nach dieser Unterscheidungsregel auch
dann als zureichend begründete und gegenüber allen späteren
Festlegungen vorzugswürdige Position gelten, wenn sich einige
der ihr entgegengebrachten Zweifel nicht mit Sicherheit ausräumen ließen.
" Vgl. Vin, G., Das Menschenleben an seinem Beginn, in: .1. Gründel. Leben aus
christlicher Verantwortung: Em Grundkurs der Moi al. Bd. 3, Düsseldorf 1992.
90-108. bes. 93f.
228
Redaktionelle Anmerkung
Konrad Hi/pert
Das theologische Verständnis der vorgeburtlichen Stadien des Menschen war jahrhundertelang fast ausschließlich ein Thema von Spekulationen und Kontroversen unter den Theologen. Zu einem Gegenstand von Lehre und Entscheidungen des obersten kirchlichen
Amts wurde es erst mit den „Errores varii de rebus moralibus" Innozenz' XI. von 04.03.1679 und vor allem der Bulle „Apostolicae
Sedis moderationi" Pius' IX. vom 12.10.1869. Dieses sowie die in
der Folgezeit ergangenen Dokumente gelten aber nicht primär der
Darlegung einer Lehre oder der Entscheidung zwischen konkurrierenden Lehrmeinungen, sondern gehen Antworten auf praktische
Problemstellungen, nämlich mil' die Frage nach der Erlaubtheit der
operativen Tötung eines ungeborenen Kindes im Zuge einer schweren Geburt (Kranio- bzw. Embryotomie) und die medizinisch Mdizierte Einleitung einer Fehlgeburt der noch nicht lebensfähigen
Frucht zu einem früheren Zeitpunkt (procuratio abortus). Vor allein bezüglich der ersten Fallgruppe verdient die Behutsamkeit
den entsprechenden Formulierungen trotz der Grundsätzlichkeit
des Standpunktes (Verbot der Zulassung der Tötung der Frucht als
unvermeidlicher Nebenwirkung der Rettung der Mutter) Beachtang: Die Berechtigung zu einem tötenden Eingriff „könne nicht
mit Sicherheit gelehrt werden 'l• In Bezug auf die vorzeitige Extraktion des Fötus unterscheiden die Dekrete vom 04.05.1898' und vom
05.03.1902 zwischen erlaubter Einleitung einer vorzeitigen Geburt,
Kaiserschnitt und Bauchschnitt und der unerlaubten Provokation
eines Abgangs. Als entscheidendes Wertkriterium wird der Zeitpunkt und die Art der Durchführung angegeben, „in denen nach
dem gewöhnlichen Lauf der Dinge für das Leben der Mutter und
des Fötus gesorgt ist".
Sehr viel grundsätzlicher und auch auf andere als vitale
tionen bezogen wird die Frage der Abtreibung erst in der En: yklika
Pius XI. über die christliche Ehe „Casti Connubii" von 1930 behan.
' Congregatm S. Officii am 28.05.1884, am 19.08.1889 und am 24.07.1895: vgl. DH
3298.
= DH 3336-3339.
DH 3358.
229
delt4 . Zur Frage der so genannten medizinischen und therapeutischen Indikation heißt es hier unter anderem:
„... was für ein Grund könnte jemals gelten, in irgendeiner Weise
die direkte Tötung eines Unschuldigen zu entschuldigen? ... Eine
gleich heilige Sache nämlich ist das Leben beider ... auch gilt hier
kein Recht der blutigen Verteidigung gegen einen ungerechten Angreifer ... auch liegt kein so genanntes Recht der äußersten Notwendigkeit (=,Notstandsrecht) vor, das his zur direkten Tötung
eines Unschuldigen reichen könnte."'
Die Feststellung, dass in den genannten kirchenamtlichen Dokumenten das theologische Verständnis des ungeborenen menschlichen Lebens ausschlie Pilch im Zusammenhang der Verurteilung
der Abtreibung zur Sprache kommt, trifft auch für Dokumente aus
jüngerer Zeit zu. Genannt seien etwa einige Ansprachen Pius XII.
aus den Jahren 1944 und 1951 6 , die Pastoralkonstitution „Gaudium
et spec" des Zweiten Vatikanums, in der die Abtreibung als eine von
vielen Handlungen erscheint, die zum Leben selbst im Gegensatz
stünden 7 , und — wie dann auch in der Enzvklika „Humanae vitae"
von Paul VI. — als verwerfliche Weise, die Zahl der Kinder zu beschränken 6 , sowie die Erklärung der Glaubenskongregation zur
Abtreibung vom 18.11.1974'.
Die Kritik an der Praxis der Abtreibung wird auch in den Dokumenten aus dem Pontifikat Johannes Pauls II. fortgesetzt und durch
die Häufigkeit und Gewichtung dieses Anliegens verstärkt'. Freiitch stellt sich die Frage nach dem theologischen Verständnis des
menschlichen Embryos seit etwa zwei Jahrzehnten nicht mehr nur
in der Konfrontation mit der Abtreibung (sowie der artifiziellen Insemination), sondern auch im Zusammenhang der Gentechnik, der
künstlichen Befruchtung außerhalb des Mutterleibs, der Fötalmedizin, der molekularen Untersuchung auf Krankheitsdispositionen,
der Gewinnung von Stammzellen für Grundlagenforschung und
Anwendungen in der regenerativen Medizin und anderes mehr.
Die mit diesen neuen biotechnischen Möglichkeiten gegebenen HeDH 3719-372 1 .
' DH 3720.
" Siehe Utz-Groner 2239-2242: 1053-1055: 1111-1118.
' DH 4327.
• Art. 51 und DH 4476.
9 DH 4550-4552.
'" Siehe beispielsweise die Enzyklika „Evangelium vitae" ),, om 25.03.1995: DI-1
4991-4992.
230
rausforderungen sind zumindest insofern von völlig neuer Qualität,
als sie eine präzisierende Auskunft über den moralischen Status des
Embryos in den allerersten Tagen und noch vor der Nidation erfordern. Auch wenn die Instructio „Donum vitae" der Glaubenskongregation von 1987 und spätere, sie zitierende Dokumente mit der
Einforderung der Achtung des Enihryos und eines uneingeschränkten Lebensschutzes „vom Augenblick der Empfängnis an" einen
eindeutigen und frühestmöglichen Ausgangspunkt markieren wollen", bestehen — auch abgesehen von der zeitlichen Dehnung selbst
dieser genannten Zäsur „Empfängnis" — für die Hermeneutik dieser
Dokumente zwei grundlegende Probleme, die der weiteren theologischen Klärung bedürfen: Zum einen die Frage, wie weit der
Hinweis auf die Beständigkeit der moralischen Verurteilung jeder
vorsätzlichen Abtreibung die Rechtfertigungs„last" der ge.samten
Vorbehalte gegenüber den neuen bioniedizinischen Möglichkeiten,
die das Embrvonalstadium des Menschen betreffen, tragen kann.
Denn die Dokumente der Tradition .sprechen nur allgemein: etwa
von „Schwangerschaft", von der „Anwesenheit des Fötus in der Gebärmutter", vom „Kind im Mutterschoß" oder vom „Leben, das
noch verborgen mi Mutterschoß ruht" und Ähnlichem. Welches
Verhältnis besteht zwischen solchen kontextualisierten normativen
Anweisungen ,für das Handeln und der Lehre über den AnIiing de.s
Lebens in den ersten Tagen: ht näherhin die dieoretische Klärung
des moralischen Status die Basis der Handlungsregel oder verlangt
das Festhalten an einer bestellenden Regel ange.sichts neuer Handlungslagen die stillschweigende Erweiterung der Theorie?
Im Zusammenhang solcher Überlegungen wird dann auch die
andere Frage relevant, nämlich die, ob und wie der alte Streit 11177
den Zeitpunkt der Beseelung und das bedeutet nicht weniger als:
der Personwerdung des Menschen — von dem schon Augustinus bezweifelte, oh Menschen ihn je werden feststellen können'' 1117(1 (lie
auch in einigen Dokumenten aus jüngerer Zeit ausdrücklich offen
gehalten wire — ‚nit zwingenden theologischen und an
Gründen tatsächlich entschieden verden kann. Immerhin
war die bis 1869 vorherrschende Lehre yoll der Sukzessivbeseelung
nicht ganz folgenlos für die Bewertung einer im Frühstadium vorgenomnienen Abtreibung: Auch wenn am grundsätzlichen Verbot
festgehalten wurde, galt die A btreibung einer an beseelten Leibes" DH 4792-4793.
12 Opera t. VI: Enchnid. de fide. ,,pe et earitate c.86.
Erklärung der Glaubenskongregation uber den Schwangerschaftsabbruch ‘orn
18.11.1974. Fußnote 19: Donum vitae Ill; vgl. KKK 2274.
23 1
frucht nicht als homicidium, sondern „nur" als maleficium oder homicidium imperfectum bzw. anticipatum. Zumindest für den Fall
schwerwiegender therapeutischer Indikation gab es unter den Moraltheologen prominente Befürworter der Vertretbarkeit. Und das
kanonische Recht kannte bis zum Erscheinen des CIC 1918 unterschiedliche Straffolgen für die Abtreibung eines beseelten und die
eines nichtbeseelten Fetus»
e
14 Genauere Belege hei Bruch, R., Moralia varia.
gen zu moralgeschichtlichen Fragen Dasseldort 1981, .28 —283.
.
232
Untersuchun-
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