Wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des Magister Artiums der Shanghai International Studies University Von der Verrücktheit bis zur Auslöschung —— Analyse zu den Künstlerfiguren in Thomas Bernhards Dramen Vorgelegt von Yang Kai Betreut von Herrn Prof. Dr. Xie Jianwen Shanghai, Mai 2010 Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde im Februar 2010 abgeschlossen und im März 2010 der deutschen Fakultät der SISU als Abschlussarbeit des Magisterstudiums für Germanistik vorgelegt. Meine bescheidene Arbeit über die Künstlerfiguren in Thomas Bernhards Theaterstücken wäre ohne die Anleitung und Betreuung von Herrn Prof. Dr. Xie Jianwen nicht zustande gekommen. Dank der wertvollen und aufschlussreichen Anregungen und Vorschläge von Herrn Prof. Dr. Xie Jianwen ist mir die Abhandlung gelungen. Hiermit möchte ich mich vor allem beim Herrn Prof. Dr. Xie Jianwen für seine Hilfe bedanken. Mein herzlicher Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Wei Maoping, Herrn Prof. Dr. Chen Xiaochun, Herrn Prof. Dr. Chen Zhuangying, Herrn Prof. Dr. Wang Zhiqiang, nicht zuletzt auch Frau Sandra Holtermann vom DAAD, die mir während des Magisterstudiums Forschungsmethoden für wissenschaftliche Studien beigebracht haben. Im weiteren bin ich meiner Kommilitonin im Bachelorstudium Zhang Lu, die zur Zeit an der Universität Göttingen studiert, sehr zu Dank verpflichtet. Ohne ihre unermüdliche Hilfe wäre ich nicht imstande, die Abschlussarbeit zu verfassen. Zum Schluss möchte ich meinen lieben Eltern und Kommilitonen, die mich während deszt Studiums unterstützt haben, meinen herzlichen Dank aussprechen. Ihnen allen nochmals herzlichen Dank! I 摘要 托马斯·伯恩哈德是奥地利当代最著名、也是最有争议的作家之一。他在小说、 诗歌和戏剧等均取得了巨大成就,但其独特的作品风格也令其备受批评与争议。 在 20 世纪 70 至 80 年代,托马斯·伯恩哈德创作了大量的戏剧作品,其中许多 戏剧的主角都是艺术家。在这些以艺术家作为主角的戏剧中没有跌宕起伏的情节变 化,大段的个人独白则占据主导地位。这种独特的戏剧结构是对传统戏剧模式的一种 挑战。这些艺术家们或是生理上残缺、畸形,或是心理上病态、癫狂,或是二者皆有, 总之伯恩哈德笔下是一个非正常的、病态的世界。剧作中艺术家们的独白无论在语言 表达还是内容都极为阴暗和极端,他们大都病态的追求艺术的完美。一方面他们无可 自拔的陷入艺术的“陷阱”之中,他们无法摆脱艺术的控制,无法停止追求这永远无 法企及的完美艺术,因此他们憎恨艺术;另一方面他们又无力与艺术决裂。这种极端、 病态的追求完美亦贯穿在艺术家们的每日生活之中,除了艺术方面,他们对周围环境、 对世界、对别人的要求亦是如此。艺术家们极端以自我为中心,认为整个世界都应该 服从于自己,无法容忍任何与他们的期待不符合的“偏差”,这使得戏剧中人物之间、 人物与环境之间、人物与艺术之间的关系都是对立的。这种对立决定了他们的命运, 他们必将走向疯狂、绝望和毁灭。而造成这种对立的则是无所不在的“自然”力量, 它类似于叔本华的“意志”,它是一种盲目、非理性的冲动,支配人类的一切行动且 无法被克服。人类无法摆脱“自然”力量的控制,因为人类本身是“自然”的一部分。 本文主要针对戏剧中的艺术家形象进行分析,试图对他们的特点进行总结,对戏 剧作品以及作家本人进行深层次的解读。托马斯·伯恩哈德为何运用如此极端的创作 手法来进行艺术家形象的塑造,而作者本人的创作理念又是如何形成的,这些问题都 会在本文中进行探讨和整理。 关键词:托马斯·伯恩哈德,戏剧,艺术家形象,疯狂,毁灭 II Abstrakt Thomas Bernhard gilt als einer der größten und umstrittensten Schriftsteller in Österreich und hat zahlreiche Gedichte, Romane und Theaterstücke geschrieben. Sein charakteristischer Schreibstil zeichnet ihn aus, aber auch zieht ihm Kritiken und Einwände zu. In den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts schrieb Bernhard viele Theaterstücke, deren Hauptrolle Künstler sind. In diesen Theaterstücken ist nicht die Handlung mit Tiefund Höhepunkt im traditionellen Sinne, sondern spärliche Handlung zu finden. Statt der Handlung treten die Monologe der Künstlerfiguren in den Vordergrund und machen den größten Teil des Textes aus. Die Abweichung von der Tradition gilt als eine Herausforderung. Die Künstlerfiguren in Bernhards Dramen sind entweder physisch oder psychisch krank. Alles in allem ist die Welt in Bernhards Theaterstücken anormal und krank. Die Monologe von den Künstlerfiguren hinsichtlich der Sprache und des Inhalts sind düster und extrem. Sie streben am rücksichtslosesten nach der Vollkommenheit der Kunst. Einerseits sind sie in die Falle der Kunst geraten und können nicht heraus gehen. Deshalb hassen sie die Kunst. Andererseits können sie ein solches Leben nicht loswerden. Nicht nur der Kunst, sondern auch der Umwelt, der Welt und den anderen Menschen gegenüber sind sie rücksichtslos und extrem. Ihrer Meinung nach sollen sich die Welt und andere Menschen ihm unterwerfen. Eine Abweichung von der Forderung der Künstlerfiguren können sie nicht dulden. Der Gegensatz zwischen ihrem Ideal und der Realität führt zu ihrer Verrücktheit und Auslöschung. Die allumfassende Naturmacht führt zu diesem Gegensatz und allen sinnlosen Aktivitäten der Menschheit, ähnlich wie der „Wille“ bei Arthur Schopenhauer. Die Naturkmacht übt ihre beherrschende Kraft überall aus und bestimmt das Schicksal der Menschen. In der Arbeit werden die Künstlerfiguren analysiert und ihre Besonderheiten werden zusammengefasst. Auf den Schreibstil und die Gründe, warum Thomas Bernhards die Künstlerfiguren so gestaltet hat, wird auch eingegangen. Schlüsselwörter: Thomas Bernhard, Theaterstück, Künstler, Verrücktheit, Auslöschung III Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 2 1.1 Motivation und Zielsetzung 1.2 Aufbau der Arbeit 2 3 2 Leben und Werke von Thomas Bernhard 2.1 Biographie 2.2 Provokation und Skandal 2.3 Thomas Bernhard und Österreich 2.4 Isolation, Unbestimmtheit und Übertreibung beim Drama 2.5 Thomas Bernhard und Schopenhauer 3 Die Künstlerfiguren in den Theaterstücken 3.1 Überblick 3.2 Der Theatermacher 3.2.1 Entstehungsgeschichte 3.2.2 Inhaltsangabe 3.2.3 Bruscon, ein Theatermacher mit Größenwahn 3.3 Minetti 3.3.1 Inhaltsangabe 3.3.2 Kunst als die Stütze des Lebens 3.3.3 Minetti und Lear 3.3.4 Minetti und Prospero 3.3.5 Minetti und Bernhard Minetti 3.4 Die Macht der Gewohnheit 3.4.1 Inhaltsangabe 3.4.2 Über das Thema 3.4.3 Caribaldi: Untertan oder Tyrann? 3.5 Der Ignorant und der Wahnsinnige 3.5.1 Inhaltsangabe 3.5.2 Leiden der Opernsängerin 3.6 Der Schein trügt 3.6.1 Inhaltsangabe 3.6.2 Leben als Panne 4 Analyse zu den Künstlerfiguren 5 5 9 11 13 15 20 20 21 21 21 22 27 27 28 31 32 33 34 34 35 35 38 38 38 43 43 44 49 4.1 Natur als Bedrohung 4.2 Krankheit und Tod 4.3 Isolation 4.4 Leben als Theater 4.5 Scheitern an der Kunst 49 50 51 52 55 5 Resümee Literaturverzeichnis 58 59 1 1 Einleitung 1.1 Motivation und Zielsetzung Wirft man einen Blick auf die österreichische Literatur, mag man den Eindruck haben, dass die Satire einen größeren Stellenwert einnimmt als in der gesamten deutschsprachigen Literatur. Die österreichische Literaturgeschichte ist gekennzeichnet durch das sukzessive Auftreten dreier antagonistischer Schriftsteller-Paare. Im 19. Jahrhundert finden wir das Paar Raimund-Nestroy, am Beginn des 20. Jahrhunderts Hofmannsthal und Kraus, am Ende Handke und Bernhard. 1 Einer der bedeutendsten Vertreter der österreichischen Literatur ist Thomas Bernahard. Thomas Bernhard wird als „Zerstörer“, „Beschimpfungsvirtuose“, „Nestbeschmutzer“ usw. bezeichnet. Bernhard bestätigt das auch. In dem Fernsehinterview Drei Tage machte er folgende Aussage: Was mich betrifft, ich bin kein Schriftsteller, ich bin jemand, der schreibt...kein Geschichtenerzähler […] ein Geschichtenzerstörer. 2 Es ist aber nicht zu verleugnen, dass der Stil Bernhards mit deutlichstem Kennzeichen ist. Er wird als der größte zeitgenössische österreichische Schriftsteller und der unerbittliche Kritiker der „korrupten“ österreichischen Kulturpolitik betrachtet. Die Faszination von Bernhard, die er auf seine Leser auszuüben vermag, liegt vermutlich darin, dass das Vanitas- Motiv aus dem Barock in seinem Schreiben ersteht und es dem Zeitgeist des 20. Jahrhunderts passt. Bernhards „Es ist alles lächerlich“ 3 erinnert einen an „Es ist alles eitel“ von Andreas Gryphius. Es versteht sich, dass es sich in Bernhards Werken um massive Anhäufung von Beschimpfungen, Flüchen und Aussagen im Superlativ handelt. Einen Kompromiss duldet Bernhard nicht. Denn er eignet sich eine kompromisslose satirische Weltsicht an. Die absolute Satire von Bernhard ist ein entschiedenes Nein zur Welt. Der Sprache und der Welt gegenüber hat er Misstrauen, gerade aus diesem Grund treibt er skrupellos seine Satire sowohl formal als auch inhaltlich zur Spitze. Formal gesehen zeigt es sich in den unzähligen Superlative und zerstörerischen Verben sowie der strukturellen Besonderheiten. Inhaltlich liegt es vor allem darin, dass der Rote Faden im traditionellem Sinne in seinen Werken verschwindet. Die traditionelle Ordnung wird 1 Jeanne, Stieg, Gerald (Hrsg.): Österreich (1945-2000) Das Land der Satire. Peterlang Verlag, Bern 2002, S. 3. Ebd., S. 121. 3 fhttp://www.zitate-online.de/literaturzitate/allgemein/17291/es-ist-alles-laecherlich-wenn-man-an-den-tod-denkt.html 2 2 zerstört und rekonstruiert. 1957 wurde seine ersten Gedichte veröffentlicht. Von diesem Jahr an begann Bernhard ein Werk nach den anderen zu veröffentlichen. Zwischen 1957 und 1970 schrieb er überwiegend Gedichte, Prosa und Romane. Seit 1970, in welchem Jahr sein erstes Theaterstück ein Fest für Boris, begann er Theaterstück zu schreiben. Noch auffallender ist, dass es in vielen Dramen Bernhards um Künstlerfiguren, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Theater stehen, geht. Die Künstlerdramen machen einen großen Teil von Bernhards Gesamtwerk aus. Als ein populär und umstrittener Schriftsteller, der in den letzten Jahren viel ins Chinesische übersetzt wurde und sich auch in fernem China großer Beliebtheit erfreut, werden Bernhard und seine Werke viel geforscht und interpretiert. Die Erfolge dabei enthalten Werkinterpretationen, die Wirkung seiner Werke, den Vergleich Thomas Bernhard mit anderen Schriftstellern u.s.w.. Auch seine Theaterstücke werden viel interpretiert und analysiert. Dennoch gibt es noch wenige Arbeit, die sich auf die systematische und detaillierte Analyse der Künstlerfiguren spezialisieren. In dieser Arbeit wird man nur auf die Theaterstücken, deren Hauptfigur Künstler sind, eingehen. Die Künstlerfiguren sind ambivalent und gegen das Theater. Sie beherrschen die Welt, in der sie leben. Gegenseitig werden sie von der Welt beherrscht. Den Künstlerfiguren selbst und ihre Beziehungen zu der Welt, zu den Mitmenschen in den Theaterstücken werden in der Arbeit nachgegangen werden. 1.2 Aufbau der Arbeit Die vorliegende Arbeit geht von der Prämisse aus, dass die Weltsicht Bernhards seine Werke stark prägt. Die Erlebnisse in der Kindheit übten große Auswirkungen auf seine Weltsicht aus. Die Arbeit besteht aus fünf Teilen. Der erste Teil ist die Einleitung und der zweite ist ein Überblick über das Leben und die Werke Bernhards. Auch die Beziehungen zwischen Thomas Bernhard und seinem Vaterland Österreich werden analysiert und die Dramen Bernhards werden vorgestellt. Der Großvater und Schopenhauer sind zwei wichtige Personen, die den Werdegang Bernhards geprägt haben, und ihr Einfluss auf 3 Bernhard werden intensiv und eingehend analysiert und dargestellt. Im dritten Teil geht es um den Kern der Arbeit, und zwar die Analyse über die Theaterstücke. Sie bilden die Grundlage für die weiteren Analysen im vierten Teil. Danach steht der vierte Teil, in dem die Künstlerbilder auf einem höheren Niveau zusammen gefasst werden. Die Schlüsselwörter im Leben der Künstlerfiguren werden angegeben. Am Ende ist der Resümee, in dem der Schluss gezogen wird. 4 2 Leben und Werke von Thomas Bernhard 2.1 Biographie Thomas Bernhard betrachtet sein Leben als eine Dauerkrise und legt es als eine Leidensgeschichte in seinen Werken nieder. Die Ansicht, dass das Werk das Leben des Autors thematisiert, entbehrt jedoch jeder Grundlage. Dennoch soll man nicht vergessen, dass das Werk von dem Leben des Autors nicht zu trennen ist. Aus diesem Grund ist der Lebenslauf Bernhards für das Verständnis seiner Werke - obgleich es bestimmt keinen kausalen Zusammenhang zwischen den Lebenserlebnissen und dem Werk gibt – von entscheidender Bedeutung. In diesem Sinne muss man im Rahmen des Biographischen auf das literarische Werk eingehen. Am 9. Februar 1931 wurde Thomas Bernhard als Sohn von Alois Zuckstätten, einem Tischlergeselle, und Herta Bernhard, im niederländischen Heerlen geboren. Die beiden waren nicht verheiratet. Schon kurz nach der Schwängerung verließ der Vater Herta Bernhard. Um dem Gerücht in der Heimat zu entfliehen, zog sich Herta Bernhard nach Holland zurück und brachte das Kind da zur Welt. Aus ärmlichen Lebensverhältnissen stammte Thomas Bernhard. Die Mutter arbeitete von Morgen bis Abend, um das tägliche Brot zu verdienen. Es fehlt ihr an Zeit, sich um das kleine Kind zu kümmern. Sie brachte es deshalb in verschiedene Pflegestätte. Darüber schrieb Thomas Bernhard: Meine Mutter hat mich weggegeben. Ich bin in Holland, in Rotterdam, auf einem Fischerkutter gelegen ein Jahr lang bei einer Frau. Meine Mutter hat mich alle drei, vier Wochen dort besucht. 4 Schon als kleines Kind kennt er die Gefühle Verlassenheit und Alleinsein. Als sich die Lebenssituation verschlimmerte, schickte die Mutter Thomas Bernhard zu ihren Eltern nach Wien im Jahr 1931 und sie kehrte einige Monate danach auch heim. Die Kindheit ohne Vater war sehr schwierig für den jungen Bernhard. Neben der wirtschaftlichen Not muss er noch die Beschimpfungen und Schläge seiner Mutter erleiden, weil er ihrer Ansicht nach ihr Leben verdorben hat und sie ständig an den Vater, der die Mutter im Stich 4 http://www.kokhavivpublications.com/kuckuck/review/kkk07_041.html 5 gelassen hat, erinnerte. Die Mutter setzte den Hass gegen ihren Liebhaber in Beschimpfungen auf den Sohn um. Der Großvater war für Thomas Bernhard der Fürsprecher, ebenfalls der Vaterersatz und das Vorbild. Thomas verbrachte die meisten Zeit seiner Kindheit und Jugend bei seinen Großeltern. Der Großvater, Johannes Freumbichler, der für den Werdegang Thomas Bernhards von entscheidender Bedeutung war, war ein lebenslang ein vollkommen erfolgloser Schriftsteller. Er war auch das Vorbild aller in Bernhards Werken aufgetauchten alten und tyrannischen Geistesmenschen. Den Lebensunterhalt verdienten Bernhards Mutter und Großmutter und sie sicherten dem Großvater ein sorgloses literarisches Schaffen. 1935 übersiedelten Großeltern und Thomas Bernhard, ohne seine Mutter, nach Seekirchen am Wallersee. Diese Zeit war für ihn ein wunderschönes Paradies. Die Großeltern sorgten für ihn und begleiteten ihn. Mit Großvater machte er Spaziergänge, während Großmutter als Unterhälterin der Familie arbeitete. Der Großvater brachte ihm auch Musik und Kunst bei, und seine musikalische und künstlerische Begabung wurde dadurch schon in der Kindheit angeregt. Der Junge interessierte sich auch sehr für Musik und Kunst. In Seekirchen ging der dreijährige Bernhard oft in ein Friedhof, der ganz in der Nähe seiner Wohnung lag. Auch dem ersten Tod begegnete er in dieser Zeit. Sein junger Freund namens Wöhrle, der nur vier Jahre alt war, ist an einer Krankheit gestorben. Ein Ursprung des vorherrschenden Todesmotivs im Werk Bernhards sowie Wurzeln der immer wieder artikulierten Überzeugungen, das Leben sei bloß „eine Anamnese des Todes“, finden sich also schon in den ersten Erlebnissen des Autors. 5 1938 musste Thomas Bernhard zu seiner Mutter nach Traunstein, einer kleinen bayerischen Stadt, ziehen, weil die Mutter Emil Fabjan, einen Friseurgehilfen, heiratete. In der Schule wurde er wegen seiner Armut von anderen Kindern gespottet, wegen der schlechten Noten wurde er von Lehrern vor der ganzen Klasse gedemütigt und körperlich gezüchtigt. Spott der Mitschüler, Angst vor den Lehrern und Beschimpfungen von der Mutter machten sein Leben düster und er wollte sich das Leben ein Ende machen. Der Hass gegen die Schule hat sich rasch entwickelt. Ein großes Glück für Bernhard im Jahr 1938 war der Einzug seiner Großeltern im Nachbardorf. Thomas Bernhard floh fast jeden Tag zu seinen 5 Meyerhofer, Nicholas J.: Thomas Bernhard. Köpfe des 20. Jahrhunderts Band 104. Suhrkamp, Berlin 1989, S. 10. 6 Großeltern. Bei ihnen fand er Liebe und Wärme und die Unterstützung des Großvaters für die Abneigung gegen die Schule. Das Jahr 1938 leitete eine Zäsur in der österreichischen Geschichte ein. Die deutschen Truppen marschierten in Österreich ein. Auch in dieser Zeit begannen seine persönlichen Erinnerungen an den Nationalsozialismus. Statt „Grüß Gott“ sagte man „Heil Hitler“ und häufig konnte man Hitlerbilder sehen. Er musste 1939 in das „Jungvolk“ eintreten, Vorstufe der Hitlerjugend. Der Großvater schickte ihn im Herbst 1943 in ein Internat in Salzburg, das bis Ende 1944 nazistisch und ab Wiedereröffnung 1945 katholisch war. Ob es nazistisch oder katholisch war, stellte für den kleinen Bernhard keinen Unterschied dar. Beide waren autoritär und despotisch, denen man sich unterliegen musste. Die Schule war für ihn immer ein Kerker. Das war auch eine lebensbedrohende Zeit. Wegen Luftangriffe lebten die Menschen in Salzburg ständig in Panik. Terror herrschte in der Stadt und ein sicherer Ort war nicht zu finden. Der Unterricht musste oft unterbrochen werden, weil die Schüler in Luftschutzstollen bleiben mussten, bis die Gefahren gebannt wurden. Die Ungeheuerlichkeiten des Krieges waren ihm schon zu Bewusstsein gekommen. Todesangst, Hilflosigkeit und Verzweiflung hat Thomas Bernhard mit allen anderen miterlebt. Ende 1946 wurde die Familie aus Deutschland ausgewiesen und sie siedelte in Salzburg um. Wegen schlechter Noten und wirtschaftlicher Not musste er die Schule abbrechen und eine Anstellung als Kaufmannslehrling annehmen. Trotz erbärmlichen Lebensverhältnissen war er diese Zeit frei und glücklich. Das lag vor allem darin, dass der Besitzer des Geschäfts ein Musikfreund war. Musik war der Gegenstand, über den sie sich unterhielten. Er entwickelte eine besondere Beziehung zu seinem Chef. Kurz danach hat er wieder Musikunterricht und begann in mehreren Kirchen zu singen. Leider dauerte diese schöne Zeit nicht lange. Im Winter 1948, dem zweiten Lehrlingjahr, erkältete sich Bernhard bei der Arbeit an einem Schneetag. Er bekam eine Rippenfellsentzündung, wegen der er ins Krankenhaus geschickt wurde. Er lag in einem Sterbezimmer, wo er den Tod sehr nah fühlte. Bernhard beschloss sich aber zu leben und den Tod zu beseitigen. Da war der Großvater schwer krank und lag im selben Krankenhaus. Er besuchte Bernhard täglich und munterte ihn auf. Eines Tages erschien Großvater nicht. Erst zwei Wochen später erfuhr Bernhard den Tod des Großvaters durch den Nachruf in einer Zeitung. Großvaters Tod war ein harter Schlag für Bernhard, dennoch spornte es Bernhard an, Gesundheit schnellstens wieder zu erlangen und weiter zu leben. 7 Die plötzlich durch den Tod des Großvaters klar gewordene Tatsache, allein zu sein, hatte alle Lebenskräfte in mir sich auf dieses Ziel, gesund zu sein, konzentrieren lassen. 6 Sein Zustand besserte sich und er wurde in ein Hotel in Großgmain gebracht. Unglücklicherweise war das Hotel voller Patienten mit Lungentuberkulose. Bernhard hat Angst, von anderen Patienten angesteckt zu werden. Seine Angst bewies sich als berechtigt. Kurz danach wurde er auch lungenkrank und in eine Lungenheilstätte in Grafenhof überwiesen. Zur gleichen Zeit lag seine Mutter im Krankenhaus und musste operiert werden. Gerade zu dieser Zeit floh er ins Schreiben – um zu überleben und aus der Verzweiflung herauszukommen. Obwohl er schon vorher viel gelesen hat, begann er erst in dieser Zeit zu schreiben, und vor allem schrieb er zahlreiche Gedichte. 1950 starb Bernhards Mutter im Alter von 46 Jahren an Krebs. Schon sieben Jahre davor war sein natürlicher Vater Alois Zuckerstätter gefallen. Bernhards erste Prosa Vor eines Dichters Grab wurde 1950 im Salzburger Volksblatt veröffentlicht. 1951 ging er nach Wien, um Musik zu studieren. Wegen finanzieller Schwierigkeiten kehrte er nach Salzburg zurück, wo er Gesang, Regie und Schauspielkunst zu studieren begann. Mittlerweile arbeitete er von 1952 bis 1957 als Gerichtsreporter und dadurch finanzierte er sein Studium selbst. 1957 hat er das Studium mit einer Arbeit über Artaud und Brecht und mit drei Regiebüchern abgeschlossen. 1957 wurde sein erster Gedichtband Auf der Erde und in der Hölle veröffentlicht und von da an arbeitete er als freier Schriftsteller in Wien und auch manchmal in Maria-Saal bei Klagenfurt. 1963 erschien sein erster Roman Frost und ein Prosaband namens Ereignisse. 1965 zog er in ein verfallenes Gutshof in dem Gemeindegebiet von Ohlsdorf bei Gmunden ein(Oberösterreich), wo er jahrelang gearbeitet hat, nicht zuletzt zugunsten seiner Gesundheit. Ende November 1988 litt Bernhard unter einer Lungeninfektion. Zu dieser Zeit hat sein Halbbruder Peter Fabjan, ein niederlassener Facharzt für Innere Medizin, ihn bereits rund zehn Jahre betreut. Am 12. Februar 1989 starb Thomas Bernhard in seiner Gmundner Wohnung an Herzversagen. Am 16. Februar wurde er auf eigenen Wunsch im Grab seines „Lebensmenschen“ Hedwig Stavianicek in Wien beerdigt. Erst nach der Beerdigung erfuhr die Öffentlichkeit von seinem Tod. 6 Bernhard, Thomas: „Der Atem“. In: Huber, Martin, Mittermazer, Manfred (Hrsg.): Thomas Bernhard Autobiographie Werke 10. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004, S. 277. 8 2.2 Provokation und Skandal Als ein umstrittener Schriftsteller wurde Thomas Bernhard einerseits von vielen leidenschaftlich verehrt, während andererseits viele ihn als österreichischen „Nestbeschmutzer“ schmähen. Seine Person wirkte nicht weniger provozierend als seine Werke. 1955 wurde Bernhard wegen eines Artikels für die kulturpolitische Wochenschrift vor dem Salzburger Gericht angeklagt. In dem Artikel mit dem Titel Salzburg wartet auf ein Theaterstück beschrieb er das Landtheater als einen „Rummelplatz des Dilettantismus“. Der damalige Intendant des Landstheaters Peter Stanchina erhebte eine Anklage gegen ihn wegen Ehrverletzung. Erst 1959 zog Stanchina den Strafantrag zurück und damit wurde Thomas Bernhard diesen Prozess los. Zu jener Zeit hat Bernhard drei Gedichtbände veröffentlicht. Als ihm ein Preis verliehen wurde, kritisierte er den Staat Österreich rücksichtslos bei der Verleihungszeremonie. 1977 schrieb er einen Beitrag zum österreichischen Nationalfeiertag, in dem steht, dass „an diesem Österreich jedes nur denkbare Verbrechen begangen, unter Ausnutzung dieses von Natur aus verschlafenen Volkes 7 “. Lebenslang hat Bernhard viele Skandale über Österreich, Österreicher u.s.w.. Als ein skandalöser Schriftsteller trat er 1979 aus der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung aus. Als 1984 der Suhrkamp-Verlag die Holzfällen-eine Erregung veröffentlichen wollte, legt das Wiener Landgericht eine einstweilige Verfügung gegen die Auslieferung des Werkes in Österreich vor. Der Thomas Bernhard-Experte Wendelin Schmidt-Dengler hat einmal gesagt, dass das Werk Thomas Bernhards von seiner Wirkung nicht zu trennen ist. Schon seit dem ersten öffentlichen Auftritt ist Bernhard für viele Österreicher ein Ärgernis. In über dreißig Jahren schrieb Bernhard, der sogenannte Übertreibungskünstler, über die Niederträchtigkeit und Gemeinheit Österreichs mit superlativischen Beschimpfungen. Er schrieb gegen den Staat Österreich, gegen den verbliebenen Nationalsozialismus, gegen die Bürokratie, die Gesellschaft, die Kirche und derer Repräsentanten. Er provozierte heftige Kritik. Der von ihm geschriebene Hass gegen Österreich löste auch heftige Gegenreaktionen aus. Wegen Bernhards Attacken und Beschimpfungen wenden sich viele gegen ihn und machen ihn 7 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14327103.html 9 zum Volksfeind. Fast jede Publikation von Bernhard, Theaterstücke, Romane und Gedichte, sorgte für gesellschaftliche Wirkungen, und zwar für gesellschaftliche Skandale. Auch bei Interviews, Preisverleihungen und Leserbriefen nützte er jede Gelegenheit aus, um seine Kritik zu üben. Thomas Bernhard ist immer das Hauptthema von Kritik und Presse. Bernhard scheute sich davor dennoch nicht zurück und setzte seine Literaturarbeit fort. Die öffentliche Aufmerksamkeit machte Bernhard immer populär und bekannt, er steht oft in den Schlagzeilen von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln. Das trug ebenfalls zum Absatz seiner Werke bei. Bei der Verleihung des Förderungspreises zum Staatspreis sagte Bernhard in seiner Dankesrede, Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt. Durch diese Behauptung löste er einen der vielen Skandale aus. Ein anderes Beispiel ist „Wir haben nichts zu berichten, als das wir erbärmlich sind“ löste empörte Reaktionen von staatlicher Seite aus. Sein letztes Theaterstück Der Heldenplatz erregte vor seiner Uraufführung einen der größten Skandal in der österreichischen Literaturgeschichte. Das Jahr 1988 ist der fünfzigste Geburtstag des Anschlusses an das Deutsche Reich. Die offiziellen Feierlichkeiten sollten stattfinden. Für die Wiener ist das Jahr das hundertste Geburtstag des Neuen Burgtheaters. Der Intendant Claus Peymann beauftragte seinen Freund Thomas Bernhard, ein Theaterstück über die zwei Themen zu verfassen. Thomas Bernhard hat mit dem Stück Heldenplatz die Aufgabe erfüllt. Das Stück handelt von einem jüdischen Mathematikprofessor namens Josef Schuster an der Wiener Universität. Er ist im Jahr 1938 nach Oxford emigriert und kehrte 50 Jahre später, im März 1988, nach Österreich zurück. Er ist aus dem Fenster seiner Wohnung gesprungen und hat damit Selbstmord begangen. Von dem Fenster aus konnte er den Heldenplatz sehen, auf dem Hitler vor 50 Jahren von dem begeisterten Volk empfangen wurde. Seine Frau vernahm ständig noch die Geräusche von dem Platz, was den Schreien vor 50 Jahren glich. Deshalb wollte ihr Mann nach Oxford zurück. Das Stück spielte sich nach dem Tod des Professors. Im Mittelpunkt des Stückes stehen die monologisierenden Reflexionen von Robert Schuster, dem Bruder des Verstorbenen. Das zentrale Thema in dem Stück ist Antifaschismus und Antisemitismus. Es ist eine Klage gegen den Nationalsozialismus und Antisemitismus. Provokativ ist nicht nur 10 die typischen Sprachen, sondern auch die extrem Einstellung gegen Österreich. Schon vier Wochen vor der Uraufführung wurde ein gestohlener, vorläufiger Fragment des angeblichen Textes von Heldenplatz in der Neuen Kronen Zeitung und der Wochenpresse veröffentlicht. Gleichzeitig erklärten sie das Stück zum Skandalstück. Der abgedruckte Text verwandelte das ganze Land zu einer Bühne, auf der alle Österreicher als Schauspieler handelten. Über Wochen hinweg diskutierte die Öffentlichkeit über den Heldenplatz heftig. Viele Bürger organisierten sich und protestierten gegen die Aufführung des Stückes. Es gab auch Leserbriefe in der Presse an Claus Peymann und Thomas Bernhard sowie die Schauspieler, in denen Bedrohungen, persönliche Angriffe an sie standen. Trotz der heftigen Proteste hat Bernhard sein Stück nicht abgeschwächt und brachte es auf die Bühne. Während der Uraufführung fanden Protestaktionen außer dem Theaterhaus statt. Die Uraufführung war ein großer Erfolg. Während der ersten Aufführungen im Burgtheater in Wien kam es noch zu ständigen Störungen. An den Rängen des Theaters wurden Transparente gegen die Aufführung angebracht. Weitere Aufführungen wurden mit Polizeiüberwachung begleitet. Nach seinem Tod im Februar 1989 löste Bernhard mit seinem Testament den letzten Skandal aus. In dem Testament verfügte er ein allgemeines Aufführungs- und Publikationsverbot aller seiner Werke innerhalb der österreichischen Grenzen. Bernhard forderte, jede Einmischung und jede Annäherung des österreichischen Staates gegenüber seiner Person und Werken zu verbieten. Dank der Gründung der Thomas BernhardStiftung durch Peter Fabjan wurde das von Bernhard verfügte Publikationsverbot seiner Werke aufgehoben. Die Bedingung ist, dass bei den öffentlichen Veranstaltungen Politiker nicht erscheinen dürfen. 2.3 Thomas Bernhard und Österreich In Bernhards Theaterstücken sind die Schauplätze überwiegend in Österreich beziehungsweise mit Bezug zu Österreich oder Europa. Er schreibt über Österreich, und 11