ZUR INSZENIERUNG VON JAN KAUENHOWEN Der Zirkusdirektor Caribaldi, selbst leidenschaftlicher Cellospieler, zwingt seit 22 Jahren unerbittlich seine kleine Wanderzirkustruppe allabendlich nach der Zirkusvorstellung zu musikalischen Proben an Schuberts Forellenquintett. Caribaldi hat das wahnwitzige Ziel, das Quintett eines Tages in der Manege aufzuführen. DIE MACHT DER GEWOHNHEIT wurde von Thomas Bernhard für die Salzburger Festspiele 1974 geschrieben, gewissermaßen als Auftrag des Festspielpräsidenten Josef Kaut, den Bernhard vor Jahrzehnten in den 50er Jahren in anderen Zusammenhängen kennengelernt hatte. Kaut war damals Chefredakteur beim Salzburger Demokratischen Volksblatt und hatte Bernhard als freien Mitarbeiter vor allem für die Gerichtsreportagen eingestellt. Auf Vermittlung von Kaut gelang 1972 mit DER IGNORANT UND DER WAHNSINNIGE die erste Uraufführung eines Bernhard-Stückes in Salzburg, nachdem zwei Jahre zuvor das Bernhard-Stück EIN FEST FÜR BORIS von der Festspielleitung abgelehnt worden war. DIE MACHT DER GEWOHNHEIT, in der Regie von Dieter Dorn, später der langjährige Intendant der Münchner Kammerspiele und dann des Residenztheaters, war mit Bernhard Minetti als Zirkusdirektor Caribaldi im Juli 1974 in Salzburg ein großer Erfolg. Anschließend tourte diese Inszenierung mit ebenso viel Erfolg durch die deutschsprachigen Regionen. Sie wurde auch vom Fernsehen aufgezeichnet und ist als DVD zu erwerben. Ich habe damals das Gastspiel in der Originalbesetzung in Berlin gesehen und ich hatte die Inszenierung noch in guter Erinnerung. Als ich mir dann 2016 die DVD anschaute und dann auch die diesjährige Inszenierung von Claus Peymann, die sehr der Ästhetik der 70er Jahre folgt, hatte ich den Eindruck einer seltsamen, wenig komischen Eindimensionalität. Es wurde gewissermaßen vom Blatt inszeniert und von guten Schauspielern vom Blatt gespielt. Es wurden keine Fragen gestellt, nur den Anweisungen Bernhards gefolgt. So wirkte alles sehr lieblich und schal zugleich und wenig komisch. Die Dimension des Absurden war verloren gegangen, wo doch so viel zu hinterfragen wäre, so viel Irritierendes zu bemerken wäre. Was bedeutet es, dass auf der Bühne nicht die Manege zu sehen ist, also der Ort, dem die Zuschauer gewöhnlich gegenübersitzen, sondern vorsätzlich der Off-Bereich, also der Bereich, der gewöhnlich den Zuschauern verborgen bleibt? Wieso treffen sich die Artisten während und nach der letzten Zirkusvorstellung im Wohnwagen des Zirkusdirektors, obwohl das Zelt angeblich 1 ZUR INSZENIERUNG VON JAN KAUENHOWEN bereits während der Vorstellung abgebaut wird, um sofort aufbrechen zu können nach Augsburg, dem nächsten Spielort? Keinerlei Aufbruchs-Indiz, aber viel wird darüber geredet. Gibt es diesen Zirkus überhaupt, der uns während des ganzen Abends vorenthalten wird? Stammt die Verletzung des Dompteurs überhaupt von einem Raubtier, das wir nie zu sehen bekommen? Die Irritation des Absurden muss zugelassen werden, sonst bleibt der Zuschauer außen vor. Wenn nur Bernhards Text illustriert wird, bleibt der Theaterabend eindimensional und wirft selbst keine Fragen auf, sondern spult widerstandslos und linear den Text ab. Vielleicht liegt es daran, dass die 40 Jahre Zeitgeschichte nach 1974 unseren Blick verändert haben, vielleicht liegt es daran, daß Bernhard selbst durch seine Szenen- und Regieanweisungen dem Text die Mehrdimensionalität geraubt hat. Regiekünstler wie die Darstellungskünstler müssen die mühe- wie lustvolle Bereitschaft entwickeln, sich von Bernhards Text inspirieren zu lassen, und die Verantwortung übernehmen für das, was auf der Bühne zu sehen sein wird. Die Worte selbst sind noch nicht das Theater. Nur so können die Theaterbesucher, die Zuschauer ermutigt werden, nun ihrerseits kreativ zu werden und sich vom Bühnengeschehen inspirieren zu lassen, ihre eigene, einmalige und höchst subjektive Sicht zu entwickeln und zuzulassen, aus dem Blickwinkel ihrer eigenen Wirklichkeitserfahrung, statt ängstlich herausfinden zu wollen, was der Autor, was die Künstler damit sagen wollten. Das Werk verbirgt mehr, als der Künstler weiß. Im Nachlass finden sich unter Bernhards Aufzeichnungen und Entwürfen auch Überlegungen, DIE MACHT DER GEWOHNHEIT als Stück im Stück zu spielen, also eine weitere Ebene zu zeigen. Die Ebene der Darsteller und Interpreten. Bernhard hatte für diese Ebene einen Regisseur vorgesehen, der ebenfalls auf der Bühne ist, dort die anwesenden Schauspieler kritisiert, neue Anweisungen gibt, auch Novalis zitiert. Ein Notat von Bernhard in den Entwürfen: „Regisseur unterbricht an manchen Stellen kommentierend.“ Der Regisseur, nicht wie in der späteren Fassung Caribaldi, sollte andere Autoren und Philosophen zitieren, aus entsprechenden Büchern vorlesen und die Artisten fragen, ob sie es verstanden haben. In dem frühen Entwurf des Textes wendet sich der Regisseur nicht nur an die Schauspieler, sondern auch direkt an die Zuschauer und verkündet Leitsätze seines Theaters, aber auch dunkle Anmerkungen, die sich nicht ohne Weiteres aufschlüsseln lassen: „Der Tod ist es, weil es eine Komödie ist, verstehst Du“ oder „Das 2 ZUR INSZENIERUNG VON JAN KAUENHOWEN Lachen ist der Tod“ oder „Immer so spielen, diese Kunst, verstehst du, als ob es in jedem Augenblick zu Ende ist, endgültig, verstehst du“. In dem frühen Entwurf ist es der Regisseur auf der Bühne, der plötzlich aufspringt und veranlasst, dass der Vorhang am Szenenende abrupt zugezogen wird. Es bleibt einer späteren historisch-kritischen Ausgabe von Bernhards Texten vorenthalten, herauszufinden, warum Bernhard in der späteren Fassung auf die zweite Ebene der Schauspieler und des Regisseurs verzichtet und so dem Text die absurde Dimension nimmt und die Situation bis zur konsumierbaren Verharmlosung glättet. Der späte Eingriff hat zur Trübung des eigentlich radikalen Bernhardschen Blicks auf eine Welt des Wahnsinns geführt. Nicht viel ist übrig geblieben von Bernhards abgründiger Verachtung des Kulturbetriebs, von seinem energischen Widerspruch gegen die harmoniesüchtige Schönfärberei einer Welt der Heuchelei und Inkonsequenz. Es ist an der Zeit, Bernhard zu schützen vor der Selbstgefälligkeit eines Theaters, das Bernhards Denken ins bunte Unverbindliche zu verwässern droht. 3