Begleitmaterial_VOR DEM RUHESTAND

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VOR DEM RUHESTAND
Schauspiel von Thomas Bernhard
Ab 14 Jahren
Regie ∙ Cesare Lievi
Bühne ∙ Maurizio Balò
Kostüme ∙ Birgit Hutter
Lichtdesign ∙ Cesare Agoni
Dramaturgie ∙ Sylvia Brandl
Mit ∙ Irene Kugler, Cornelia Köndgen und Michael Prelle
Premiere
2. März 2017, 19.30 Uhr
Sehr geehrte Lehrerinnen und Lehrer,
Ende der Siebzigerjahre schrieb Thomas Bernhard das Schauspiel Vor dem Ruhestand, den
Anlass dazu gaben die Diskussionen in Deutschland um die Kriegsverbrechen des späteren
Ministerpräsidenten Hans Karl Filbinger. Bernhard versteht es, in verdichteter Form die
Gründe für das Überleben von faschistoidem Denken und Handeln zu zeigen und zwar in der
häuslichen Welt dreier Geschwister. Und was hat das mit uns zu tun? Die aktuelle
gesellschaftliche und politische Situation lässt in vielen Ländern den Ruf nach
Führungspersönlichkeiten laut werden, die durchgreifen. Fremdenhass und
Schuldzuweisungen werden unreflektiert verbreitet. Sich mit Jugendlichen diesen Themen zu
stellen, dabei die Sprache und Gedankenwelt von Thomas Bernhard mitzuerleben, das bietet
Ihnen das Stadttheater Klagenfurt mit dem Schauspiel Vor dem Ruhestand, zu dem wir Sie
herzlich einladen.
Es grüßt Sie,
Katharina Schmölzer
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Inhaltsangabe
Einführung
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Biografie
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Das Stück
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Zur Uraufführung
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Gespaltene Gesellschaft
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Der Dichter der Weltkomödie
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Thomas Bernhard – ein Fall für die Psychiatrie?
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Vorbereitung
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Nachbereitung
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Quellennachweis
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Biografie von Thomas Bernhard
Der österreichische Autor Thomas Bernhard (geb. 9. Februar 1931 in Heerlen, Niederlande;
† 12. Februar 1989 in Gmunden, Österreich) zählt seit den 1960er Jahren zum Kreis der
bekanntesten und bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller. Er wurde unter anderem
1964 mit dem Bremer Literaturpreis sowie 1968 mit dem Österreichischen Staatspreis für
Literatur ausgezeichnet und erhielt 1970 den Georg-Büchner Preis.
Kindertage
Thomas Bernhard erblickte am 9. Februar 1931 das Licht der Welt in der niederländischen
Ortschaft Heerlen. Er war der uneheliche Sohn von Herta Bernhard (1904-1950). Sein
Großvater war der Schriftsteller Johannes Freumbichler, der für Thomas in Kindertagen die
Rolle des Vaters einnahm und sich als Bezugsperson und erster Mentor zur Verfügung
stellte. Seinen leiblichen Vater, den aus Henndorf am Wallersee stammenden Alois
Zuckerstätter, lernte Thomas Bernhard nie kennen. Thomas Bernhards Vater verstarb am 2.
November 1940 in Berlin.
Bereits kurz nach seiner Geburt, im Herbst 1931, nahmen die Großeltern Bernhards den
Enkelsohn in ihre Obhut. Sie lebten in Wien im 16. Bezirk (Ottakring). Aufgrund der dürftigen
finanziellen Verhältnisse des Großvaters musste Thomas 1935 gemeinsam mit den
Großeltern nach Seekirchen am Wallersee umziehen. In der Retrospektive beschrieb Thomas
Bernhard seine Kindertage in Seekirchen als die glücklichsten Jahre seines Lebens. Herta
Bernhard, die Mutter von Thomas, heiratet 1936 in Seekirchen den Friseurgesellen Emil
Fabjan und zog 1937 mit diesem nach Traunstein in Oberbayern.
Erziehung im NS-Regime
Thomas Bernhard verbrachte zwei Jahre im nationalsozialistischen Erziehungsheim in
Saalfeld in Thüringen. Ursprünglich sollte der Zehnjährige einige Zeit im KinderErholungsheim in Saalfelden bei Salzburg verbringen, jedoch verwechselte seine Familie die
beiden Anstalten aufgrund der ähnlichen Ortsnamen. In Saalfeld kam es für Thomas zu
traumatischen Erlebnissen, die der spätere Schriftsteller in seiner Autobiografie genauer
beschrieb.
In den Jahren von 1943 bis 1945 war Thomas Bernhard im Johanneum in Salzburg
untergebracht. Sein Großvater sorgte dafür, dass er im Johanneum Violinen-Unterricht bei
Georg Steiner bekam. Insgesamt war Bernhards Großvater nachhaltig um die künstlerische
Ausbildung seines Enkels bemüht und unterstütze Thomas nach besten Kräften. Das NS4
Internat war das Zuhause von Bernhard, bis im Jahr 1945 schwere Bombenangriffe auf
Salzburg seine Rückkehr nach Traunstein notwendig machten. Dort wartete er das Ende des
Krieges ab.
Nachkriegserziehung, schwere Erkrankung, erste Werke
Nachdem die Familie 1946 in den Traunsteiner Stadtteil Aiglhof übersiedelt war, entschied
sich Thomas Bernhard dazu, eine Lehre zum Einzelhandelskaufmann zu absolvieren, die er
1947 in Salzburg auch antrat. Der schulischen Ausbildung überdrüssig, äußerte er später in
seiner Autobiografie, dass er die Institution Schule als eine Geistesvernichtungsanstalt
empfände.
Durch das Arbeiten in feuchten Kellerräumen bekam Bernhard 1949 eine schwere
Rippenfellentzündung und wurde todkrank. Er erhielt bereits die Letzte Ölung, fand jedoch
kurze Zeit später Genesung in einer Lungenheilanstalt, wo er auch das Schreiben begann.
Sein verehrter und geliebter Großvater lag zur gleichen Zeit im St.-Johann-Spital und
verstarb im Februar 1949 an einem Nierenleiden. Nur kurze Zeit darauf, im Herbst des Jahres
1950, starb auch Bernhards Mutter.
In Bernhards Kindheit und Jugend entstanden bereits einige seiner autobiografischen
Werke in denen er versuchte, seine schwere Kindheit zu verarbeiten. Es entstanden seine
Erinnerungsbücher, in denen er seine Realitätserfahrungen mit gewollter Selbststilisierung
sowie Selbstinszenierung gekonnt vermischte und eindrucksvoll erzählte. Fünf seiner
autobiografischen Werke dieser Zeit wurden in den 1970er und 1980er Jahren veröffentlicht.
Diese hatten die Titel Die Ursache (1975), Der Keller (1975), Der Atem (1978), Die Kälte
(1981) und Ein Kind (1982).
Beginn der literarischen Arbeit
Unter dem Pseudonym Thomas Fabian veröffentlichte Thomas Bernhard 1950 die
Kurzgeschichte Das rote Licht. Ein Grundstein für seine darauf folgende Schriftstellerkarriere
war damit gelegt. Das Leitmotiv in vielen seiner Werke wurde der Tod und dessen
übermächtige Bedeutung im Vergleich mit allen andern existierenden Werten des
Menschen. Er verfasste Arbeiten mit Titeln wie Frost, Auslöschung, In hora mortis und
Verstörung.
Arbeit als Journalist
Thomas Bernhard arbeitete in den 1950er Jahren auch als Journalist. Er stand von 1952 bis
1955 der sozialdemokratischen Tageszeitung Demokratisches Volksblatt regelmäßig als freier
Mitarbeiter zur Verfügung, während er gleichzeitig seiner Tätigkeit als freier Schriftsteller
nachging. Etwas später interessierte er sich zusätzlich noch für die Schauspielkunst, die
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Dramaturgie und verschiedene Aspekte der Musiktheorie. Aus dieser Motivation heraus
nahm er Unterrichtsstunden am Salzburger Mozarteum bei Theodor W. Werner.
Prägung
Wegweisend für die Inhalte seiner Werke waren sicherlich die Zeiten seiner frühesten
Kindheit, die Thomas Bernhard überwiegend mit seinem Großvater, dem Schriftsteller
Johannes Freumbichler, verbrachte. Zusätzlich hatte er beständig das Gefühl, von seiner
Mutter verlassen worden zu sein. Sein Vater hatte ihn zurückgewiesen, er war ein
unerwünschtes Kind und litt unter Liebesentzug beider Elternteile. Körperlich machte ihm
zeitlebens ein schweres Lungenleiden zu schaffen, etwas später dann das Boeck-BesnierSchaumann-Syndrom (Morbus Boeck), das zu einer Herzerweiterung führte.
Auch seine freiwillig abgebrochene schulische Laufbahn am Gymnasium und die Lehre, die in
einem Kolonialwarenladen inmitten einer Armensiedlung in Salzburg stattfand, trugen zu
seinem Schreibstil und den Inhalten seiner Werke bei. Atemlosigkeit, Erregung, innere Wut,
nicht überwundene psychische Verletzungen und Enttäuschungen kamen in seinen Werken
fortwährend zum Ausdruck.
Seinen unverwechselbaren Stil fand er in Prosatexten und Dramen. Als Schriftsteller von
Lyrik begann sein Schaffen 1957 mit dem Werk Auf der Erde und in der Hölle, das von Carl
Zuckmayer als größte Entdeckung der letzten 10 Jahre bezeichnet wurde.
Schriftstellerkollegen
Thomas Bernhard hatte Kontakt zu Schriftstellerkollegen wie Peter Turrini, Wolfgang Bauer,
Christine Lavant und H. C. Artmann, die er auf dem Tonhof des Komponisten Gerhard
Lampersberg in Maria Saal kennenlernte. Auch der Maler Hundertwasser zählte zu seinen
Bekannten.
Preisgeld und Kaffeehäuser
Ab 1965 lebte Thomas Bernhard bei Hedwig Stavianicek, die er Tante nannte, und mit der
ihn eine innige Beziehung und Freundschaft verband, die bis zu ihrem Tod 1984 anhielt
sowie in Obernathal. Hedwig Stavianicek war neben seinem Großvater die wichtigste Person
in seinem Leben und hatte maßgeblichen und existenzentscheidenden Einfluss auf die
Steuerung seines Lebens.
Als Bezugsperson und Förderin stand Tante Hedwig nach dem Tod seines Großvaters im
Mittelpunkt Bernhards mitmenschlichen Lebens. Er verarbeitete ihren Tod in seinem Roman
Alte Meister, in dem er die 37 Jahre ältere Frau als Lebensmensch bezeichnete, dem er alles
zu verdanken habe.
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Für seinen Roman Frost erhielt er bereits 1964 den Bremer Literaturpreis und nutzte das
Preisgeld für die Anzahlung des Vierkanthofes, den ihm der Immobilienmakler Hennetmair
vermittelte. Diesen Kauf und die Geschehnisse dazu beschrieb Bernhard später in seinem
Werk Meine Preise sowie in seinem Roman Ja.
Seine Leidenschaft und Orte, an denen Thomas Bernhard sich gerne aufhielt, waren
Kaffeehäuser. Er suchte die Lokale vor allem in Wien auf, wo der Bräunerhof zum Stammcafé
des Schriftstellers wurde. Auch in Gmunden und in Salzburg fand er seine Lieblingscafés, die
ihm oft als Arbeitsorte und gemütliche Wohnstube dienten. Ausgedehnte Spaziergänge
gehörten ebenfalls zu den Beschäftigungen, denen Thomas Bernhard sehr gerne nachging.
Auswirkungen seines Schaffens in Österreich
Als umstrittener Schriftsteller traf er nicht immer den Geschmack der traditionellen
Österreicher. Als teilweise skandalträchtige Provokationen wurden seine Arbeiten
bezeichnet. Insbesondere mit seinen Werken Der Präsident, Vor dem Ruhestand sowie dem
1988 veröffentlichten Heldenplatz zog er den Zorn des österreichischen Staates und
bestimmter Einzelpersonen auf sich.
Tod in Oberösterreich
Thomas Bernhard starb am 12. Februar 1989 in seiner Wohnung in Gmunden an
Herzversagen, das auf eine schwere Lungeninfektion zurückgeführt wurde, die er bereits im
späten November 1988 erlitt. Bis zu seinem Tod betreute ihn sein Halbbruder Peter Fabjan,
ein Facharzt für Innere Medizin. Bernhard wurde am 16. Februar 1989 im Grab von Hedwig
Stavianicek beigesetzt. Seiner Beerdigung wohnten, auf eigenen Wunsch, lediglich seine
engsten Angehörigen bei.
Es kam später zur Schändung seines Grabsteins und zur Entwendung der Grabtafel. In
seinem Testament verbot Bernhard jede zukünftige Veröffentlichung seiner Werke in
Österreich bis zum Erlöschen des Urheberrechts. Er löste damit eine landesweite moralische
Debatte aus und ein beachtliches juristisches Durcheinander.
Thomas Bernhard und Kärnten
Der Tonhof von Maja und Gerhard Lampersberg in Maria Saal war ab den frühen 50er Jahren
Treffpunkt vieler junger Künstler, zu diesen gehörte auch Thomas Bernhard. Gerhard
Lampersberg war Vorlage für den Komponisten Auersberger in Bernhards Roman Holzfällen
(1984). Die Darstellung von Auersberger führte dazu, dass der Komponist Gerhard
Lampersberg den Schriftsteller verklagte, das Urteil des darauffolgenden Prozesses verfügte,
die Auflage zu beschlagnahmen. Später zog Lampersberg die Klage wieder zurück.
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Die Geschichte kann ja nicht verfälscht werden
sie kann lange Zeit verschmiert werden
vieles kann vertuscht werden verfälscht werden
aber dann eines Tages lichtet sie sich
und sie steht da wie sie ist
wenn die Verschmierer und die Vertuscher und die Verfälscher nicht mehr da sind
Das dauert immer viele Jahrzehnte
(aus Vor dem Ruhestand)
Thomas Bernhard: Vor dem Ruhestand
Eine Komödie von deutscher Seele
Ein Jurist mit Namen Rudolf Höller ist die männliche Hauptfigur. Sein Name ist Programm:
Auch heute noch ist er ein Diener der Hölle. Der ehemalige SS-Offizier und Kommandant
eines Konzentrationslagers im Osten hat sich nach Kriegsende zehn Jahre im Keller versteckt,
ehe er in der Restaurationszeit der Bundesrepublik Deutschland großartig Karriere gemacht
hat und Gerichtspräsident geworden ist. Nichts hat sich geändert in dem vom Juristen-Vater
übernommenen Haus, nichts im Kopf dieses verbiesterten Anti-Semiten und Alt-Nazis. In
ihrem Höhlen-Haus haben sich die Geschwister vergraben, begreifen sich verschwörerisch
als unzerstörbares Bollwerk des Nationalsozialismus. In inzestuöser Notgemeinschaft mit
dem Präsidenten-Bruder, der den bevorstehenden, ehrenvollen Abschied und Ruhestand
mehr fürchtet als erwartet, lebt die Schwester Vera. Ausgeschlossen aus diesem
Zweierbund, aber den Beiden ausgeliefert ist die jüngere Schwester Clara, die seit den
letzten Kriegstagen gelähmt im Rollstuhl sitzt. Die drei Akte spielen am siebten Oktober:
Heinrich Himmlers Geburtstag. Höller ist dem Reichsführer SS einmal begegnet. Das Lob des
Vorgesetzten für die – im Sinne des Rasse-Gedankens der SS – vorbildliche Arbeit im
Vernichtungslager hält den Ober-Richter noch heute aufrecht. Seit Jahrzehnten feiert er
Himmlers Geburtstag, indem er, zu klassischer Musik, in SS-Uniform, mit der geliebten
Schwester speist und die gehasste Schwester, deren Intelligenz ihn unsicher macht,
schikaniert. Den kargen Aktions-Kern muss man sich aus den Monologen, vor allem der
älteren Schwester Vera herausschälen, die soetwas wie die Zeremonienmeisterin des
alljährlichen Rituals darstellt. Aber in diesem Jahr gerät das Fest aus dem Ruder: Im dritten
Akt betrinkt sich der teutonische Richter und fällt mit einem Herzkollaps auf die festliche
Tafel. Einem Grundmodell seiner Texte folgend demontiert Bernhard auch hier die
Machtfantasien und den Herrschaftswahn seines Protagonisten durch die letzte Hinfälligkeit
des Körpers – er lässt Höller sterben.
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Zur Uraufführung im Staatstheater Stuttgart am 29. Juni 1979
Sollte ausgerechnet Bernhard, den seine konservativen Anbeter immer als edlen Einsamen
gefeiert haben, als einen, der, wenn überhaupt, nur mit dem Sensenmann Zwiesprache hält,
der einzig wirklich politische deutsche Dramatiker sein, reaktionsschnell, radikal, einseitig,
ein virtuoser Grobian inmitten unserer stillen, tristen Ausgewogenheitskultur?
Thomas Bernhard ist, Peymann sei Dank, so etwas wie der Hausautor des Stuttgarter
Theaters. geworden. Dieses Theater wurde (…) Opfer einer politischen Provinzkabale. 1977
hatte Peymann für eine zahnärztliche Behandlung der in Stuttgart-Stammheim inhaftierten
RAF – Terroristin Gudrun Ensslin Geld sammeln lassen. Der baden-württembergische
Ministerpräsident Hans Filbinger fand den Schauspieldirektor Peymann, diesen
„Sympathisanten des Terrors“, an einem Staatstheater untragbar – und sorgte für seinen
Abgang. Schöne Ironie: Der Ministerpräsident musste noch vor dem Schauspieldirektor in
den Ruhestand gehen. Hatte man doch, angeführt vom Schriftsteller Rolf Hochhuth,
herausgefunden, dass auch er einmal ein Sympathisant war, und nicht nur das; einer, der als
Hitlers Marinerichter ganze, tödliche Arbeit geleistet hatte.
Es war klar, dass Stuttgarts Theater die verbleibende Zeit (und Freiheit) zu einem Racheakt
nutzen würde. Und es schien auch klar, welcher Autor dabei mitmachen würde: Rolf
Hochhuth, dessen Drama von den „Juristen“ eben die Filbingers, die NS-Richter, zum Thema
hat. Doch es kam ganz anders: Während Hochhuth noch darum rang, den widrigen Stoff in
die große dichterische Form zu zwingen, während er noch mit Jamben und anderen
Versfüßen kämpfte, wie nur Hochhuth kämpfen kann, hatte Thomas Bernhard, dessen
austro-homerische Beredsamkeit Sprachnöte nicht kennt, sein „Filbinger-Stück“ schon fertig:
Vor dem Ruhestand. Uraufgeführt wurde es (Regie Claus Peymann) just zwei Tage vor des
neuen Bundespräsidenten Amtsantritt (Carsten folgte Scheel, beide Mitglieder der NSDAP).
Und hatte man bei früheren Bernhard-Uraufführungen immer schon das schön gebundene
Suhrkamp-Bändchen mit dem Stücktext in der Hand, so war diesmal das Gemunkle und das
Geheimnis groß: Kein Unbefugter durfte das Stück vor der Premiere lesen. Als sollte auf
Peymanns Bühne keine Theateraufführung, sondern eine Art Staatsstreich vorbereitet
werden.
Ein Streich ist es geworden, und zwar ein böser. Der Skandal blieb aus, doch fielen viele
skandalöse Sätze. Thomas Bernhard über die Deutschen: „Auch wenn sie das Gegenteil
behaupten / sie sind doch alle Nationalsozialisten / das siehst du doch auf Schritt und Tritt /
aber sie geben es nicht zu.“ Der an Wahlabenden von Politikern gern vorgetragenen
Behauptung, das deutsche Volk habe zu 95 Prozent (oder auch 99 Prozent) für die
demokratischen Parteien gestimmt, hält Bernhard seine eigene Statistik entgegen: „Dein
Vater war ein Judenhasser/ wie achtundneunzig Prozent unseres Volkes / nur die wenigsten
geben es zu / dass sie Antisemiten sind / die Deutschen hassen die Juden/ auch in dem
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Augenblick in welchem sie das Gegenteil behaupten / so ist die deutsche Natur die kann man
nicht verfälschen / weil man die Natur nicht verfälschen kann.“
Das Stück erfüllt also ziemlich exakt die Vorausbefürchtungen. Es gibt Anspielungen auf
Carstens („Andererseits haben wir ja jetzt einen Bundespräsidenten / der ein
Nationalsozialist gewesen ist“) und natürlich auf Filbinger. Wie Hans Karl Filbinger träumt
Rudolf Höller, Gerichtspräsident, Landtagsabgeordneter und ehemaliger SS-Offizier,
halbgebildet von einer Bildungsreise nach Ägypten („zu den Ruinen von Persepolis“); auch
Rudolf Höller sagt besonders gern und schön das Wort „Vaterland“; auch Rudolf Höller hat
bei seinen Urteilen „den Strafrahmen nicht ausgenützt“, ein milder, ein guter Deutscher.
Ist also Vor dem Ruhestand das Debüt eines ganz neuen Thomas Bernhard, eines rüden
politischen Kabarettisten? Das Stück, eine Nazi-Posse, die Faschisten, zum Tot-Lachen
bloßgestellt? Bernhards aktuellstes, witzigstes, aber auch bequemstes Stück? Genau das
Gegenteil ist wahr: Vor dem Ruhestand ist Thomas Bernhards kompliziertestes, sein
unheimlichstes, sein bestes Stück. Wer nur das Skandalöse darin sieht (die politischen
Anspielungen und Witze), hat die Pointen begriffen, das Stück aber nicht. (…)
Bernhard nimmt die Trauer und die Ängste seiner Figuren durchaus ernst, so lächerlich die
Situation, so absurd die Fabel erscheint: Rudolf Höller feiert mit seinen Schwestern jedes
Jahr, am 7. Oktober, Heinrich Himmlers Geburtstag; man verriegelt das Haus, Rudolf zieht
sich die SS-Uniform an, Schwester Vera hüllt sich in Brokat, Schwester Clara, die gelähmt im
Rollstuhl sitzt, wird gemartert: Ein Jahr zuvor hat man ihr die Haare geschoren, eine KZ-Jacke
angezogen. Rudolf ist der Held der Komödie, Clara ihr scheinbar wehrloses Opfer. Und Vera
ist die Regisseurin: in endlosen Gesängen feiert sie Rudolf und das gute Deutschland,
verdammt sie Clara, die aufsässig ist und missgelaunt und sogar linke Literatur und
„schmutzige Zeitungen“ liest. Ein deutsches Familiendrama, ein Horrorstück. Dass sich
Rudolf und Vera nach Wälsungenart lieben, ist fast noch der menschlichste Aspekt.
Das Kabarett ist ein Kunst-Stück. Voll von literarischen Anspielungen (auf Tschechow, auf
Strindberg), voll von Selbstzitaten, Selbstbespiegelungen. Wie im Fest für Boris, in Minetti in
Immanuel Kant, wie in allen Bernhard-Stücken, so findet auch diesmal ein Macht- und
Vernichtungskampf statt zwischen einer wortreich beherrschenden Figur (Vera) und einer
wortlos gehorchenden, rebellierenden; und wie in jedem Bernhard-Stück ist es ganz
ungewiss, welcher Terror, der schlimmere ist, das dauernde Reden oder das dauernde
Schweigen. Wie alle Bernhard-Stücke, so enthält auch dieses die notorischen
Verdammungssprüche und Verachtungsarien auf die Ärzte - („sich mit einem Arzt
einzulassen / bedeutet nichts weniger, als sich mit dem Tode einlassen“), die
Philharmoniker, die Zeitungen, den „gedruckten Schmutz“. Bernhard ist ein
Beschimpfungsvirtuose und Schmähprediger von offenbar unerschöpflicher Ausdauer(…).
Thomas Bernhards Poesie: das ist auch eine große Liturgie mit immer wiederkehrenden,
jedes Mal variierten, manchmal schwindelerregenden Maximen und Glaubenssätzen.
Schwester Vera sondert eben nicht nur Nazi- und Neonazi-Unsinn ab, sie setzt auch
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Bernhards großen Monolog über die Kunst und die Komödie fort. „Die Kunst ist ein Mittel,
sich zu erretten“ – was fast schon die Bernhard‘sche Weltformel ist. Und Vera sagt auch von
den schönen Sätzen Thomas Bernhards über die Komödie die vielleicht schönsten: „Es ist ja
nur ein Spiel / es ist nicht ernst / es kann nicht ernst sein / Es ist eine richtige Komödie /
manchmal vergessen wir das / warum sollten wir gerade heute / diese Komödie nicht spielen
/ Ich bewundere Clara / sie spielt den schwierigsten Part / Wir sind nur die Stichwortgeber /
Indem sie schweigt / hält sie die Komödie in Gang.“
Beim zweiten Hinsehen zeigt sich, dass Vor dem Ruhestand nicht so sehr eine schadenfrohe
Attacke auf alle alten und neuen Nazis ist, sondern, viel wichtiger: wie alle Bernhard-Stücke
eine Partie des Dichters mit sich selber, gegen sich selber.
Ein Spiel, bei dem es nicht nur um Artistik geht; nicht nur darum, die immer gleichen Sätze
immer anders, immer virtuoser zu formulieren. Vor dem Ruhestand ist Kabarett und
Kunststück, es ist aber auch, wie sein Untertitel verspricht, „Eine Komödie von deutscher
Seele“. Es gibt eine kurze Geschichte von Thomas Bernhard Empfindung, sie handelt von
einem Theaterschriftsteller, „der im Gegensatz zu seinen erfolglosen Kollegen ehrlich genug
war, seine Komödien immer als Tragödien, seine Tragödien aber immer als Komödien
auszugeben“. Also wäre Vor dem Ruhestand eine „Tragödie von deutscher Seele“? Vielleicht
sogar das. (…)
Benjamin Henrichs
Gespaltene Gesellschaft
Europaskepsis und Islamfeindlichkeit verbinden eine bunte Mischung von
Rechtsaußenparteien in Europa. Zum Spektrum gehören rechtsextreme Parteien genauso
wie Gruppierungen, die mit populistischen Äußerungen auf sich aufmerksam machen
wollen. Ihre politischen Ziele reichen vom Wunsch nach „Ordnung“, „Autorität“ und
„Identität“ über die Agitation gegen Minderheiten wie Sinti und Roma bis hin zur Forderung,
ein „weißes Europa“ ohne „jüdischen Einfluss“ zu schaffen. Seit den achtziger Jahren sind
Rechtspopulisten in Europa auf dem Vormarsch. Sie verbuchen Mandatsgewinne in
regionalen und nationalen Parlamenten, aber auch im Europäischen Parlament.
Paradoxerweise bauen die teilweise aggressiv nationalistischen Parteien dabei zunehmend
auf eine länderübergreifende Zusammenarbeit und verstehen sich meist als „Freunde“ im
Kampf gegen multikulturelle Überfremdung.
Ich bin persönlich vor allem durch die Spaltung mit feindseliger Abwertung beunruhigt. Ich
kenne leidvoll die Intoleranz und Verleugnungstendenzen gegenüber Andersdenkenden aus
meiner Ursprungsfamilie und den gesellschaftlichen Verhältnissen im Nationalsozialismus
und DDR-Sozialismus. Ich habe in der Auseinandersetzung mit der miterlebten Geschichte
(Krieg, Rassenwahn, Holocaust, Vertreibung, repressive Erziehung und heute: narzisstische
Gesellschaft) keine überzeugenden Antworten finden können, die die massenhafte
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individuelle Schuld von Mittäterschaft und Mitläufern erklärt hätte. Wieso konnte eine große
Mehrheit von uns begeistert in den Krieg ziehen, einen Völkermord mitgestalten und
tolerieren, eine repressive Gesellschaft gut heißen und in einem narzisstischen
Wachstumswahn heute an der Zerstörung der Natur und wachsenden sozialen
Ungerechtigkeit gedankenlos teilnehmen? Was sind da für Kräfte am Werk?
Ich habe mit Bitterkeit einsehen müssen, dass Gelöbnisse, Feierstunden, museale
Erinnerungen und große Worte die massenhafte Beteiligung an unvorstellbaren Verbrechen
nicht erklären können oder gar die „Vergangenheit bewältigen“ könnten.
Lippenbekenntnisse klären nicht die individuelle Schuld, die aus familiären Verhältnissen,
autoritären Strukturen und mangelhafter Bindung in der Kindheit resultieren. Erst wenn
jeder einzelne seine Entfremdung mit der Gefahr destruktiver Verhaltensweisen gegen sich
selbst oder andere (Kinder, Partner, Nachbarn, Vorgesetzte, Fremde) oder gegen Tiere und
die Natur wahrnimmt und ganz individuell zu regulieren bemüht ist, hätten wir Lehren aus
der Geschichte gezogen oder wirkliche – innerseelisch verankerte – Demokratie gewonnen.
(…)
Jede autoritäre Erziehung, jede repressive Gesellschaft, jeder Kollektivdruck, jede moralische
Instanz, die Protest erschweren, untersagen oder diffamieren, erzeugen in der Konsequenz
Krankheit und Gewalt. Individueller Protest ist in aller Regel sehr viel schwieriger, weil dafür
ein hohes Maß an Selbstwert, Mut und Identität erforderlich ist; im kollektiven Protest fällt
es leichter, sich einfach nur anzuschließen, wobei allerdings auch das Risiko irrationaler
Zuspitzung bis hin zu Gewalt und Verbrechen wächst. (…)
Eine Politik der Abwertung und Diskriminierung, eine Haltung der Ausgrenzung
Andersdenkender (ob gegenüber Nazis, Ausländern oder auch PEGIDA) verschärft die
Konflikte in der Gesellschaft. (…) Toleranz ist die Bereitschaft, Unbekanntes, Neues,
Fremdes, Andersartiges prinzipiell als Realität zu akzeptieren, ohne es auch gut heißen zu
müssen. Aber dazu muss der Mensch auch fähig sein. Und zur Toleranz fähig ist nur der, der
das eigene Fremde, Unangenehme, Peinliche, Fehlerhafte und Begrenzte in sich selbst weiß
und akzeptieren gelernt hat. Und da das Unbewusste im Menschen immer den viel größeren
Seelenraum einnimmt als das Bewusstsein, muss man damit rechnen, neues Fremdes in sich
selbst zu entdecken. Meist sind das schmerzliche, belastende, unangenehme und peinliche
seelische Inhalte, wofür unsere Seele die Projektion als Schutzmechanismus zur Verfügung
stellt. Dann sehen wir bei anderen das, was wir bei uns selbst nicht wahrhaben wollen.
Leider führt das oft zu kränkender Denunziation oder verschärft eigene Fehleinschätzungen,
weil bittere Selbst-Erkenntnis vermieden wird. Intoleranz ist immer ein Symptom der
eigenen seelischen Einengung und Verleugnung.
Hans-Joachim Maaz
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Der Dichter der Weltkomödie
Thomas Bernhard definiert „das Österreichische“ als „Absurdität zur Potenz – es zieht uns an
und stößt uns ab“. Und im Österreicher sieht er den „genialen Vormacher, den genialsten
Theatermacher überhaupt“. Für ihn, den Autor von über zwanzig Theaterstücken, ist
„Theater eine Absurdität, eine Jahrtausende alte Perversität, in die die Menschheit vernarrt
ist und deshalb so tief vernarrt ist, weil sie in ihre eigene Verlogenheit so tief vernarrt ist und
nirgendwo somit ist die Verlogenheit größer und faszinierender als auf dem Theater“. Die
dramatischen Energien, die dem Rollen-Spielen innewohnen – Thomas Bernhard hat sie in
seinen Stücken entfacht. Rigoros im Anspruch und konsequent gegen das
Gefälligkeitstheater gerichtet. Auch deswegen wurde ihm Zeit seines Lebens von seinen
Kritikern maßlose Übertreibung vorgeworfen. Man wollte nicht erkennen, dass er ein
fantastischer Realist war, seine vermeintlich grotesken Übertreibungen - sie haben sich
schmerzlich bewahrheitet. Seine Leser und Zuschauer hingegen hatten dafür immer ein
feines Gespür. So vermochten die gebetsmühlenartigen Verrisse seiner Theaterstücke und
Romane, die ganze Bibliotheken füllen, der großen, nachhaltigen Wirkung hingegen nichts
anzuhaben. Bernhard hat sich selbst ohne Illusion gesehen: „Welchen Blick ich auf mich
habe? Da kann ich nur sagen: auf den Narren. Ich bin, das weiß ich, aus keinem Märchen
hervorgegangen und ich werde in kein Märchen hineingehen.“ Zwanzig Jahre nach seinem
Tod vermag er immer noch zu polarisieren. Während österreichische und deutsche Autoren
glauben, den Menschen Bernhard entlarven zu müssen, ist sein Werk für französische oder
amerikanische Autoren Herausforderung und Inspiration. Was seine Kritiker oft übersehen:
Bernhard nimmt sich von seinen Beschimpfungen und Verwünschungen nicht aus. Welcher
Schriftsteller wütet schon gegen sich selbst mit der unerbittlichen Feststellung: “Ich bin ganz
einfach kein guter Mensch.“ Diese leidenschaftlichen Selbstbezichtigungen entspringen der
Einsicht: “…aber es ist vieles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.“ Ein Mensch, der
seinen Tod Jahrzehnte ganz hart und nicht als abstraktes Gedankenspiel vor Augen hatte,
geht ebenso hart mit sich ins Gericht wie mit seinen Figuren. Das verleiht seinen Texten eine
suggestive Ambivalenz. Die Energie, mit der Bernhard seine Gedanken-Gänge buchstäblich
als eine unablässig vibrierende Bewegung vorwärtstreibt, speist sich aus dieser Ambivalenz.
Mag sein, dass die Person Bernhards irritierend faszinierend parallel zu seinem Werk immer
wieder in Erscheinung tritt, allein so, wie er ein Individualist im wahrsten Sinne des Wortes
gewesen ist und sich durch nichts und niemand vereinnahmen ließ, so ist auch heute sein
Werk weder zu vereinnahmen, noch mit einem simplen Begriff auf einen gängigen Nenner
zu bringen. Das „System Bernhard“ (ein Begriff von Heiner Müller) ist nicht kompatibel. Alles
an diesem „System“ sperrt sich. Im Abstand leuchtet es. Und wenn wir es mit Abstand
aufmerksam befragen, antwortet es auf neue Weise, weil es die Wirklichkeit immer wieder
neu in sich aufnimmt, so paradox dies klingen mag. Wir hören eine Symphonie Mozarts, die
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wir durch und durch zu kennen glauben – und wir hören sie dennoch neu. Ähnlich ist es mit
Bernhards Romanen und Theaterstücken. Die absolut musikalische Struktur gibt den Texten
Konsistenz und hält sie andererseits offen für die Phantasie der Leser und Zuschauer. Für
mich persönlich hat sich durch viele Lesungen aus Wittgensteins Neffe, Der Stimmenimitator,
Ein Kind oder den Peymann-Dramoletten gezeigt, welch phantastische Wortpartituren
Bernhard erfunden hat. Und wie erst der öffentliche Vortrag die Geheimnisse seiner Texte
offenbart. Anders gesagt: Seine Werke suchen und erhalten neue Bedeutungen, weil wir sie
miterfinden. Und die Schauspieler auf der Bühne und die Leser und Zuschauer mit ihrem
Blick. Thomas Bernhard hat auf wunderbare Weise für Schauspieler geschrieben, und die
Schauspieler haben seine Stücke immer als Geschenk empfunden, als eine Inspiration, die
weiterwirkt. Die Werke finden diese neue Wirkung, weil die Realität mitspielt, wie immer bei
Bernhard. Die Resonanz ist überraschend in der enthusiastischen Bestätigung wie auch in
der subtilen Erkundung. An vielen Bühnen gibt es Aufführungen (tatsächlich
Neuinszenierungen auf allen fünf Kontinenten), auch von Stücken, die bei ihrer Uraufführung
von der Theaterkritik für tot erklärt worden sind. (Motto: Minetti rettet das Stück, aber im
Grunde kann auch er es nicht retten!) Thomas Bernhard hat also einen immer wieder
verblüffenden Erfolg, der sich in Berlin, Peking oder Montevideo bestätigt. Auch ein
angeblich nur in Wien verständliches Stück wie Heldenplatz ist bereits zweimal in Paris
inszeniert worden. Die conditio humana ist eben nicht nur lokal. Zur Erkundung seines
Werkes gehört, zwar nicht so spektakulär, doch ebenso von Faszination zeugend, die
geradezu mäanderhaft sich verbreitende intensive wissenschaftliche Befragung, die sich wie
selbstverständlich in der ganzen Welt abspielt, bis hin in den Fernen Osten und nach
Übersee. Bernhard hätte solche Wissenschaft wohl kaum interessiert, eher amüsiert, mich
aber bestärkt das insistierende Interesse an Thomas Bernhard gerade in fernen Ländern in
meiner insgeheimen Vermutung, dass ein österreichischer „Heimatdichter“ auch eine
universelle Bedeutung haben kann, dass seine Weltkomödien, die zugleich Tragödien sind,
noch lange aufgeführt werden, also sein „philosophisches Lachprogramm“, so er selber,
weiterhin auf dem Spielplan der Welt stehen wird. Als eine Wortsymphonie, die nicht
verklingt. Als ein Gelächter, das nicht verstummt. Als ein Theater, auf dem wir den
Ignoranten und Wahnsinnigen, den Caribaldis und Bruscons, den Geschwisterpaaren und
Weltverbesserern, den Dichtern und Dorfwirten, den Nazis und Anarchisten, den
Großbürgern und Hausangestellten, den Redekünstlern und Schweigekünstlern süchtig
zusehen, weil es Fabelwesen sind, erfunden von Thomas Bernhard, aber erfunden aus der
Wirklichkeit.
Hermann Beil
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Thomas Bernhard – Ein Fall für die Psychiatrie?
Thomas Bernhard überlebt. Er überlebt die Abtreibungsversuche, die Deprivation der ersten
Lebensmonate, die schwarze Pädagogik in der Familie, wie auch in den
nationalsozialistischen und katholischen Erziehungsanstalten, sein Schultrauma, er überlebt
Bombenangriffe und Krieg, seine aus tiefster Einsamkeit, Überforderung und Verzweiflung
resultierenden Suizidversuche, Tuberkulose und Armut.
Er überlebt aber nicht unbeschadet, seine Persönlichkeit ist irritiert, verformt, er pendelt
zwischen tiefer Depression und psychosenahem Erleben, gefangen in durch belastende
Bindungserfahrungen verursachten, chronischen und alle Bereiche durchdringenden
Ambivalenzkonflikten. (…)
Die Biographie des Kindes, des Jugendlichen, des Mannes Thomas Bernhard ist unglaublich,
durchsetzt von allem, was Menschen verletzen, irritieren, kränken und zerstören kann. Doch
ein tapferer Überlebenswille liegt hinter dem Hass und der Zerstörungswut und
Liebesfähigkeit und Energie pulsieren und lassen ihn beben und arbeiten, provozieren und
ärgern, kränken und faszinieren, polarisieren und aufregen. Gehasst und/oder geliebt, so
bleiben Tote lebendig.
Ja – Thomas Bernhard ist (auch) ein Fall für die Psychiatrie und Psychotherapie, aber nicht
um ihn zu diagnostizieren und zu schubladisieren, sondern um ihm aus dem Wissen um die
Psychodynamik aller zutiefst verletzten Menschen heraus, ehrfürchtig und voller
Bewunderung zu begegnen, hat er doch für sich und für die Menschheit einen kreativen Weg
gefunden, seine dramatische Biographie zu bewältigen und Weltliteratur zu schaffen.
Herwig Oberlerchner
Ich habe das Gefühl, dass ich und alle anderen Figuren mit allen verwandt sind. Dass auch ein
Filbinger in mir ist wie in allen anderen. Dass auch der liebe Gott in einem ist und die
Nachbarin und überhaupt alles, was lebt. Man könnte sich mit allen identifizieren. Das ist die
Frage, wie weit unterdrückt man alle diese Millionen oder Milliarden von Möglichkeiten von
Menschen, die man in sich hat.(…) Das ist Unsinn, dass jemand sagt, da ist ein FilbingerStück. Weil das mit Filbinger nichts zu tun hat. Nur mit einer Person, die ähnliche Züge hat.
Und diese Ähnlichkeit ist natürlich nicht zufällig. Ich bin durch das Zeitungslesen auf diese
Nazi-Fossilien gestoßen.
Thomas Bernhard
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Vorbereitung
Die Leute sind allerdings selbst schuld
an ihrem Elend
Armut ist nicht mehr notwendig
Wer arm ist
ist selbst daran schuld
nur den Armen nicht helfen
hat unser Vater immer gesagt
So redet Vera im 1. Akt des Stücks. Sie beschäftigen ein taubstummes Mädchen im Haus, das
aus ärmlichen Verhältnissen stammt. Was sagt ihr zu diesem Statement? Was denkt ihr
darüber? Was denkt ihr von Menschen, die so etwas sagen?
Die Natur zerstören
Bäume umschneiden
die schönen alten Bäume umschneiden
wegen einer chemischen Fabrik
in welcher nur Gift erzeugt wird
Überall sind die Geschäftemacher am Werk
Die Welt ist heute die brutalste
das Geschäft lenkt und regiert alles
Wo noch ein schönes Stück Erde ist
wird Industrie ansässig
Aber hier nicht habe ich gesagt
hier nicht
vor meinen Fenstern nicht
hier wo die Natur noch unberührt ist
Ich habe kein schlechtes Gewissen
da müssten alle anderen zuerst ein schlechtes Gewissen haben
Ich habe nur meine Pflicht getan
und ich habe mir nichts geschenkt
ich bin an die Arbeit gegangen und habe mehr geleistet
als man von mir verlangen konnte
Ich habe mir nichts geschenkt
Ich habe mir nichts vorzuwerfen
In jedem von uns ist ein Verbrecher
man muss ihn nur aufrufen
das war schon immer so
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das wird immer so sein
Rudolf, 2. Akt
Rudolf, ehemaliger KZ Kommandant und jetzt Gerichtsratspräsident vor dem Ruhestand sagt
diese Sätze. Sprecht über den Text. Welchen Einfluss hat das Wissen, dass es sich um einen
Nationalsozialisten handelt, der für den Tod von tausenden Menschen verantwortlich war?
RUDOLF
Warte nur ab
Die Zeit kommt wo wir es wieder zeigen können
Es spricht alles dafür dass wir es wieder zeigen können und
nicht nur zeigen
VERA
Andererseits haben wir ja jetzt einen Bundespräsidenten
der ein Nationalsozialist gewesen ist
RUDOLF
Na siehst du
das ist doch ein Beweis wie weit wir schon wieder sind heute
du brauchst keine Angst zu haben
keine Angst Vera
alles geht in unserem Sinne
es ist keine Frage längerer Zeit
und schließlich haben wir auch eine ganze Menge anderer
führender Politiker
die Nationalsozialisten gewesen sind
So viele Jahre spielen wir unsere Rolle
wir können nicht mehr heraus
Wir haben unser Theaterstück einstudiert
seit drei Jahrzehnten sind die Rollen verteilt
jeder hat seinen Part
abstoßend und gefährlich
Wir existieren nur
weil wir uns gegenseitig die Stichwörter geben
weiter
Vera
Das Stück spielt in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Angesprochen wird das
Bestehen des nationalsozialistischen Gedankenguts, das noch immer Platz hat im
öffentlichen politischen Leben. Einen Rechtsruck erleben wir auch heute in Politik und
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Gesellschaft. Das Fortbestehen von menschenverachtenden Ideologien zeigt sich im Stück in
der kleinsten Zelle der Gesellschaft, der Familie. Großbürgerlich und gebildet, mächtig durch
die richterliche Funktion des ehemaligen SS-Schergen Rudolf Höller.
An welchen Feindbildern halten sich heute solche Ideologien aufrecht?
Sind euch solche Tendenzen in eurer Umgebung oder in den Medien aufgefallen?
Wie erkennt ihr sie?
Was heißt Rechtsruck eigentlich?
Welche Ursachen dafür kennt ihr?
Hört ihr noch Redewendungen wie ….bis zur Vergasung?
Wie reagiert ihr, wenn ihr das hört?
Nachbereitung
Beschreibt die Bühne
Was erzählt sie euch?
Wie ist das Verhältnis zwischen den beiden Schwestern Vera und Clara?
Beschreibt die Persönlichkeit von Rudolf
Was hat euch gefallen?
Was hat euch nicht gefallen?
Thomas Bernhard ist einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller. Musikalität,
rhythmische Gliederung, Literatur des Sprechens sind nur einige Beschreibungsmerkmale,
die dafür gefunden wurden. Tauscht aus, wie ihr Thomas Bernhards Sprache auf der Bühne
wahrgenommen habt. Konntet ihr gut zuhören? Findet ihr eine Beschreibung für die
Sprache?
Würdet ihr den Besuch des Schauspiels jemanden weiterempfehlen? Warum? Warum nicht?
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Quellennachweis
http://wortwuchs.net/lebenslauf/thomas-bernhard/ 28.02.17
https://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Lampersberg 28.02.17
Benjamin Henrichs: Herr Bernhard und die Deutschen. Auf:
http://www.zeit.de/1979/28/herr-bernhard-und-die-deutschen.
Hans-Joachim Maaz: Gespaltene Gesellschaft. In: Pegida. Rechtspopulismus zwischen
Fremdenangst und „Wende“ Enttäuschung. Hrsg.: Karl Siebert Rehberg, Franziska Kunz, Tino
Schlinzig. Bielefeld 2016.
Hermann Beil: Der Dichter der Weltkomödie. Auf:
http://www.thomasbernhard.at/index.php?id=188 /
Herwig Oberlerchner: Thomas Bernhard. „Aber ich habe auch niemals auf mein Herz
Rücksicht genommen…“ Eine Psychographie. Sternenfels 2017.
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