1 Die Gestaltungsmacht der "Globalisierung"

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Christian Trapp: Die Gestaltungsmacht der "Globalisierung"
1 Die Gestaltungsmacht der "Globalisierung"
"Globalisierung" – was ist das eigentlich? Die Zahl und Vielfalt der Definitionen ist genauso
unübersichtlich wie die Zahl der Veröffentlichungen zu diesem Thema. Alles und jedes scheint unter
dem Blickwinkel der "Globalisierung" wieder einer neuen Betrachtung wert, weil offensichtlich nichts
und niemand sich der "Globalisierung" entziehen kann; jeder ist von ihren Folgen betroffen, auch
wenn es nicht jeder bewußt erfährt.
Als zentrales Charakteristikum der "Globalisierung" erweist sich dabei eine Phase des Übergangs
einer in sich gefestigten und institutionell abgesicherten Form gesellschaftlichen Miteinanders zu
einer anderen, in der andere, zum Teil neue Institutionen und Sozialgeflechte Handlungsfelder
(neu) besetzen oder gar erst schaffen, die effizient und gesellschaftlich legitimiert aufzunehmen die
heute bestehenden als nicht fähig erachtet werden oder sich als nicht fähig erweisen.
1.1
"Globalisierung" – Ein diffuser Begriff
Der Inhalt dessen, was "Globalisierung" meint, ist noch keineswegs geklärt: Die Spannweite der
Definitionen reicht von
•
einer nur auf das Wirtschaftliche bezogenen umfassenden Marktausweitung mit internationaler
und weltumspannender Dimension über
•
die Entkopplung politischer und wirtschaftlicher Einflußsphären mit der Folge eines Machtverlusts nationaler Politiken gegenüber transnationalen Konzernen bis hin zu
•
weltumfassenden ökologischen und sozialen Bedrohungen der Menschheit insgesamt.
Der Begriff "Globalisierung" entwickelte sich dabei in den letzten Jahren auf der einen Seite zu einer
Art Totschlagargument gegen alle Versuche, Marktprozesse in ihren Wirkungen nach anderen als
Marktkriterien zu gestalten oder gar zu steuern. Auf der anderen Seite dient er jenen, die den
unbedingten Vorrang, der im Zuge der Veränderungen offensichtlich dem Markt vor nicht marktkoordinierten sozialen oder Gemeinwohlerwägungen eingeräumt wird, nicht akzeptieren, zur
Benennung des Sündenbocks. So wird der Begriff in der Gemengelage politischer Interessen und
ökonomischer Sinnhaftigkeiten gleichermaßen als ideologische Waffe im Kampf um die „richtige“
Orientierung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung wie auch zur bloßen Bezeichnung
faktischer Veränderungen in der Wirtschafts- und Gesellschaftsorganisation verwendet. Beide
Bereiche sind allerdings aufgrund der Komplexität und Vielschichtigkeit dessen, was unter diesem
Begriff subsumiert wird, oftmals nicht deutlich voneinander zu trennen. So verbergen sich denn
auch hinter der Art und Weise, wie und vor allem in welchem Zusammenhang der Begriff
"Globalisierung" gebraucht wird, häufig eindeutige Interessen: "Globalisierung" ist im öffentlichen
Gebrauch in erster Linie ein politischer Begriff.
Und so vielfältig wie die Analysen und Interpretationen der "Globalisierung" sind auch die
politischen Antworten auf die Frage nach ihren Auswirkungen und Folgen bzw. die Ansichten über
zu ergreifende oder zu unterlassende Maßnahmen: Sie reichen von
•
Deregulierung – dem Rückzug des Staates aus der Gestaltung zuvor noch als gesellschaftlich
relevant erachteter Bereiche der Wirtschaft und den Um- bzw. Rückbau gesellschaftlicher
Institutionen wie z.B. der Tarifpartnerschaft oder der kollektiven sozialen Sicherung zugunsten
einer Steigerung der unternehmerischen bzw. „volkswirtschaftlichen“ Wettbewerbsfreiheit – über
-1-
29.05.03
Christian Trapp: Die Gestaltungsmacht der "Globalisierung"
•
Regionalisierung – im Sinne der Stärkung kleinräumigerer Einheiten zum Schutze und Wohle
der lokalen Wirtschaft und die Entwicklung neuer Steuerungsmechanismen und -instrumente für
eine „Ordnung ohne Zentrum” – bis zu
•
Maßnahmen zur Angleichung wirtschaftlicher und politischer Gestaltungsspielräume – von
supranationalen Wirtschaftsintegrationen bis hin zu Gedanken einer „Weltgesellschaft“ und
eines neuen Politikverständnisses als „Weltinnenpolitik“,
je nach Profession, Disziplin und Horizont des Befragten.
Anregungen zur Weiterarbeit:
•
Finde Beispiele für den Gebrauch des Begriffs "Globalisierung" zur Beschreibung faktischer
Veränderungen.
•
Finde Beispiele für „ökonomische Sinnhaftigkeiten“ der "Globalisierung".
•
Finde Beispiele (in Nachrichten, Zeitungen, Redewendungen) für den politischen Gebrauch des
Begriffs als „Totschlagargument“ bzw. als „Sündenbock“.
•
Finde Beispiele für „politische Interessen“ im Gebrauch des Begriffs "Globalisierung".
•
Ordne die Meinungen und Argumente gesellschaftlichen Gruppen oder Akteuren zu und
begründe.
•
Nenne Argumente für und gegen Deregulierung.
•
Setze "Globalisierung" und „Regionalisierung“ zueinander in Bezug.
•
Nenne Beispiele für die Angleichung wirtschaftlicher und politischer Gestaltungsspielräume.
1.2
"Globalisierung": Nicht für alle ein Thema
Es fällt auf, daß die Diskussionen über das Für und Wider der "Globalisierung" oder über den Weg
ihrer Ausgestaltung selten von, noch seltener zwischen Ökonomen geführt werden. Dabei gelten
doch allgemein
•
die wechselseitigen Wirtschaftsverflechtungen der Staaten und Volkswirtschaften über transnationale Konzerne und weltumspannende Handels- und Produktionsmärkte wie auch
•
der internationale Standortwettbewerb angesichts der Bedeutung des internationalen Finanzund Investitionsmarktes,
also wirtschaftliche Sachverhalte, als deren Haupttriebfeder. Statt dessen diskutieren im wesentlichen Soziologen, Politik- und Sozialwissenschaftler, aber auch Psychologen, Kulturwissenschaftler
und Psychotherapeute über die "Globalisierung", also jene, die sich mit den sozialen und gesellschaftlichen Folgen und Auswirkungen dieser Entwicklungen befassen. Die Erklärung dafür ist recht
einfach: Denn im Denken der Lehrbuchökonomen wie auch der öffentlichkeitswirksamen Unternehmer stellt die
"Globalisierung" nur eine weitere und folgerichtige Stufe im Prozeß
kapitalistischer Entwicklung dar und braucht deshalb eigentlich gar nicht problematisiert zu
werden; die Gestaltungsspielräume bestimmt der internationale Standortwettbewerb. Soziologen,
als diejenigen Wissenschaftler, die die Reflexion der Gesellschaft über sich selbst betreiben,
-2-
29.05.03
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Politologen, Sozialwissenschaftler und Vertreter anderer Disziplinen, die sich mit den Konsequenzen
einer derartigen kapitalistisch fundierten Gesellschaftsentwicklung befassen, müssen hingegen die
Entwicklung um so deutlicher analysieren und problematisieren, je weiter sie fortschreitet und je
alternativloser zu sein sie behauptet.
Anregungen zur Weiterarbeit:
•
Sammle für die Wissenschaft relevante Diskussionspunkte und dabei vertretene Argumente im
Zusammenhang mit "Globalisierung".
•
Ordne die Meinungen und Argumente wissenschaftlichen Disziplinen zu und begründe.
•
Erläutere, warum "Globalisierung" für Ökonomen notwendiger Bestandteil wirtschaftlicher
Entwicklung ist.
•
Erläutere, warum "Globalisierung" für sozial-, individual- und politikwissenschaftliche
Disziplinen ein dominantes Thema geworden ist.
1.3
"Globalisierung" verengt Gestaltungsspielräume
Die Eigendynamik kapitalistischer Entwicklung führt zu einer Art „Trichtereffekt“, der mit fortschreitender Zeit den Gestaltungsspielraum für Prozesse, die nicht marktkoordiniert sind, immer
kleiner werden läßt, sofern man nicht frühzeitig die Rahmenbedingungen für die konkrete Ausgestaltung des Wirtschaftssystems so gestaltet hat, daß Ziele, die man gesellschaftlich zwar als
gleichwertig betrachtet, die aber nicht über den Marktprozeß erreicht oder gesichert werden
können (sogenannte „meritorische“ Güter], nicht eben diesem Marktprozeß zum Opfer fallen.
Solche Ziele sind in der „Sozialen Marktwirtschaft“ Deutschlands zum Beispiel das des „sozialen
Ausgleichs“, der „Verhinderung von Armut“ oder das der „gesellschaftlichen Teilhabe an wirtschaftlicher Entwicklung“.
Inwieweit die zu verzeichnenden Veränderungen politisch gewollt oder politisch geduldet, inwieweit
sie von den Interessen der jeweiligen Nutznießer oder Profiteure dieser Entwicklung getrieben oder
gar betrieben sind, aber ist kaum Gegenstand der (politischen) Diskussion. Der weitaus größere
Teil der Diskussion bezieht sich auf den bloßen Umgang mit den Auswirkungen: Denn die
Globalisierung wird öffentlich nach wie vor als ein Phänomen betrachtet, daß „uns allen
geschieht“. Damit aber steht nicht mehr das Ziel, sondern nur noch der Weg politisch zur
Diskussion: Die Auseinandersetzung mit den strukturellen, grundsätzlichen gesellschaftlichen
Veränderungen durch die "Globalisierung" und die Fragen nach Alternativen zu einer
marktfundamentalen Entwicklung, vor noch nicht einmal zehn Jahren erst richtig entbrannt, ist
zumindest für Öffentlichkeit und Politik offensichtlich kein Thema mehr, sie wird wie eine
Naturgewalt betrachtet.
Anregungen zur Weiterarbeit:
•
Was meint „Eigendynamik kapitalistischer Entwicklung“?
•
Begründe an Beispielen die Existenz „meritorischer“ Güter.
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Christian Trapp: Die Gestaltungsmacht der "Globalisierung"
•
Finde Beispiele dafür, daß "Globalisierung" mit ihren gegenwärtigen Begleiterscheinungen
(Arbeitslosigkeit, zunehmende Einkommensdisparitäten, Einführung eines Niedriglohnbereichs,
Privatisierung staatlicher Leitungen etc.) gewollt oder bewußt betrieben wird und nenne die
jeweilgen Begründungen (z.B. Parteiprograme, Lobbyarbeiten etc.)
•
Sammle Visionen und Zielvorstellungen für eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung, die sich von denen der Globalisierungsbefürworter unterscheiden. Was sind deren Ziele
und Argumente?
1.4
"Globalisierung" als Bezeichnung für den Schleier des Neuen
Doch auch wenn sich der Begriff der "Globalisierung" aufgrund seiner Unschärfe und
Vielschichtigkeit nicht deutlich fassen läßt, ist er doch kein Begriff willkürlicher Beliebigkeit: Sein
Gebrauch zeigt vielmehr den Versuch, deutlich wahrnehmbare Veränderungen wirtschaftlicher und
gesellschaftlicher Prozesse begrifflich zu fassen, die sich grundlegend von bislang bekannten
Entwicklungen unterscheiden und die sich deshalb mit dem bislang bekannten Begriffswerk nicht
fassen lassen – die „im Sinne traditioneller Konzepte bedeutungslos sind oder unsichtbar bleiben“
(Gruppe von Lissabon 1997, S. 48 ff.). So verweist der Begriff "Globalisierung" auf eine
offensichtlich neue Qualität der zu verzeichnenden Entwicklungen, sein diffuser Gebrauch
hingegen auf ein Unvermögen oder eine Unmöglichkeit, diese Entwicklungen in das Raster des
bislang Bekannten einzuordnen. Die Art und Weise, mehr noch aber der Tenor, in der bzw. in dem
dieser Begriff trotz seiner Unschärfe und Unklarheit gebraucht wird, aber bestimmen maßgeblich
mit, wohin die mit "Globalisierung" bezeichneten Entwicklungen führen.
Anregungen zur Weiterarbeit:
•
Was ist das qualitativ Neue an "Globalisierung"? Begründe
•
Finde Beispiele für das „wesentlich Neue“ der "Globalisierung", das sich mit bekannten
Kategorien und Begrifflichkeiten nicht fassen läßt.
•
Erläutere an Beispielen, wie der Gebrauch des Begriffs "Globalisierung" die konkrete
Gestaltung bestimmt; wer gebraucht den Begriff mit welchem Ziel in welcher Weise?
1.5
Das „globale“ an der "Globalisierung"
Eine zentrale Schwierigkeit, „Globalisierung“ begrifflich in den Griff zu bekommen, resultiert aus
der Tatsache, daß dieser Begriff in der öffentlich-politischen Diskussion gleichzeitig und zum Teil
unterschiedslos zur Beschreibung
•
eines Prozesses,
•
seiner Ausprägung und
•
als Zielgröße
verwandt wird. Typische Formulierungen wie: “Um mit der Globalisierung Schritt zu halten...”, “In
einer globalisierten Welt...” oder “Wir müssen uns globalisieren...” zeigen das deutlich. Aber auch
der Begriff „global“ selbst erhält in Bezug auf "Globalisierung" eine zweischneidige Bedeutung:
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Christian Trapp: Die Gestaltungsmacht der "Globalisierung"
Denn „global“ wird gerade von Wirtschafts- und politischen Akteuren zunehmend verwandt, um zu
begründen oder aber auch nur zu suggerieren, daß die Prozesse, auf die sie den Begriff beziehen,
sich ihrer Einflußnahme entziehen, von ihnen also nicht zu gestalten sind: „Global“ deutet dabei
die Dimension einer als absolut empfundenen Ohnmacht des jeweiligen Akteurs an. Durch den
Verweis auf die eigene Ohnmacht aber verkommt die Verwendung der Begriffe „global“ und
"Globalisierung" zu einer Art Integrationsideologie, die Anpassung verlangt, Gestaltbarkeit aber
nicht mal mehr zum Ziel erhebt. So geht es denn auch in der aktuellen politischen Diskussion in
Deutschland nicht darum, ob und gegebenenfalls wie Einfluß auf die Ausgestaltung der weltwirtschaftlichen Beziehungen genommen wird, sondern vor allem darum, wie unser Arbeitsmarktsystem und unser System sozialer Sicherung so umgestaltet werden kann, daß es den
Anforderungen, die die "Globalisierung" an uns stellt, am besten genügt. In den Ländern der
sogenannten “Dritten Welt” oder den sogenannten “Transformationsländern” – Staaten mit einem
weitaus geringeren Wohlstandsniveau als in Deutschland – sind diese “Anpassungserfordernisse”
und -leistungen weitaus gravierender, ihre Galtungsspielräume aber um ein Vielfaches enger!
Ein wesentlicher Bestandteil der mit „Globalisierung“ umschriebenen Entwicklung ist somit die
strukturelle Veränderung des empfundenen, wahrgenommenen aber auch des faktischen Möglichkeitenraumes für derzeit bestehende Institutionen und Regelwerke; dadurch unterscheidet sie sich
qualitativ von Internationalisierung und Multinationalisierung im Sinne einer Bezeichnung für eine
neue Dimension internationaler Arbeitsteilung und unternehmensinterner Organisation, die für
Akteure der Wirtschaft deren mögliche Handlungsräume geradezu erweitern.
Anregungen zur Weiterarbeit:
•
Was meint der Text, wenn er von "Globalisierung" als „Integrationsideologie“ spricht? Finde
Beispiele und erläutere.
•
Finde Beispiele für jeweils die strukturelle Veränderung des empfundenen, wahrgenommenen
und faktischen Möglichkeitsraumes.
•
Warum sind die Gestaltungsspielräume der sogenannten „Entwicklungs-„ und „Transformationsländer“ deutlich enger als in den „entwickelten“ Industrienationen?
1.6
Schnelle Technik, träge Gesellschaft
Die Bedeutung, die der Globalisierung in aktuellen Diskussionen zugesprochen wird, erlangt diese
im wesentlichen durch die Ungleichzeitigkeit, in der sich Veränderung der Gestaltungsspielräume
einerseits und der Wandel der sie tragenden Institutionen andererseits vollzieht. Denn die treibende
Kraft hinter den zu verzeichnenden Entwicklungen ist entgegen der weitverbreiteten Meinung
weniger die allgemeine Wettbewerbsorientierung, die zusehends in immer mehr Bereiche auch des
gesellschaftlichen und individuellen Lebens hineinreicht – die sogenannte „Ökonomisierung des
Alltags“ –, als vielmehr ein zeitliches Auseinanderfallen technologischer und institutioneller
Veränderungen: Erst durch den fehlenden zeitlichen Gleichlauf technisch-organisatorischer
Entwicklungen einerseits und gesellschaftlicher Entwicklungen andererseits kann diese
Ökonomisierung ihre Wucht und Macht entfalten, erst diese fehlende Synchronisation verleiht der
"Globalisierung" die Gestaltungsmacht, der wir in der politischen und öffentlichen Auseinandersetzung allgegenwärtig begegnen. So erfolgen beispielsweise die faktischen Veränderungen in der
Arbeitswelt und der Arbeitsorganisation weitaus schneller, als es von unserem gesellschaftlichen
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29.05.03
Christian Trapp: Die Gestaltungsmacht der "Globalisierung"
Verständnis von Arbeit aufgenommen und verarbeitet werden kann; „job-hopper“ und „freelancer“, Mehrfach-Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse, ein gleichzeitiges Nebeneinander von
selbständiger und abhängiger Beschäftigung oder „Ich-AGs“ beispielsweise sind weder mit der
immer noch dominanten Vorstellung von einem „Normal-Arbeitsverhältnis“ noch mit den Grundlagen unserer sozialen Sicherungssysteme vereinbar. Gleichzeitig fordert diese veränderte Arbeitswelt Familienbeziehungen und -strukturen, die keineswegs allgemein selbstverständlich sind, wie
zum Beispiel die außerfamiliale Fremdbetreuung schon im Kleinstkindalter oder die zum Teil schon
obligatorische Erwirtschaftung des notwendigen Haushalts-einkommens durch beide Partner.
Wesentliche Ursache für dieses Auseinanderfallen technologischer und institutioneller Entwicklungen wiederum sind die enormen Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnologie, die grundlegende Veränderungen im Bereich der materiellen Wertschöpfung und der
wirtschaftlichen wie auch der gesellschaftlichen Organisation ermöglichen. Denn noch existieren
keine ausreichenden gesellschaftlich vereinbarten Regeln und kein gesellschaftliches Selbstverständnis für deren sozial- und menschengerechte Handhabungen und Nutzung: Gesamtgesellschaftliche Veränderungen sind für diese Geschwindigkeit der Umbrüche in den gesellschaftlichen und vor allem den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu träge.
Anregungen zur Weiterarbeit:
•
Finde weitere Beispiele für das Auseinanderklaffen von Anforderungen der Arbeitswelt und
sozialen Rahmenbedingungen.
•
Beschreibe die strukturellen Veränderungen durch die Nutzung der Informations- und
Kommunikationstechnik als Querschnittstechnologie.
•
Finde Beispiele für das Fehlen gesellschaftlich vereinbarter Regeln zum Umgang mit den
Folgen der "Globalisierung" auf dem Arbeitsmarkt.
•
Was meint der Text, wenn er von „fehlender Synchronisation“ spricht? Vergleiche die
angesprochenen Entwicklungen mit früheren.
1.7
Effizienz als Kriterium für das Überleben sozialer Institutionen
Im Zuge des fehlenden Gleichlaufs schneller technologisch-organisatorischer Entwicklungen und
träger sozialer Veränderungen der Rahmenbedingungen kann der Marktmechanismus als scheinbar autarkes Koordinationssystem seine volle Kraft auch in sogenannten Wohlstandsstaaten
entfalten. Denn Marktprozesse sehen sich als verfahrensgerecht: Auch wenn die Bewertung der
Ergebnisse marktwirtschaftlicher Prozesse nicht von allen geteilt wird, erfolgen marktmäßige Interaktionen doch nach allgemeinen und – zumindest der Theorie nach – von keinem beeinflußbaren
Regeln. In diesem Sinne erscheinen Markt und Wettbewerb als ein universalistisches Koordinationsprinzip, das auch auf andere Bereiche zwischenmenschlichen Interessenausgleichs übertragen
werden kann. Damit gibt der Marktmechanismus nicht nur Sicherheit bezüglich der Spielregeln,
sondern begründet im Umkehrschluß jedes individuelle Nicht-Bestehen – welcher Art auch immer –
mit einem individuellen Scheitern, das um so schwerer wiegt, als daß die Spielregeln ja bekannt
und für jeden einsichtig waren. Der Staat wird damit von seiner Verantwortung für individuelle
Lebenslagen, der er derzeit beispielsweise mit seiner expliziten Sozial-, Familien- und Einkommenspolitik nachkommt, weitgehend entlastet; seine Aufgabe besteht fürderhin im wesentlichen nur
noch darin, für möglichst alle (formal) gleichwertige Startchancen zu schaffen.
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29.05.03
Christian Trapp: Die Gestaltungsmacht der "Globalisierung"
Die scheinbare Bedingungslosigkeit des Markmechanismus´ aber, der sich offenbar aus sich selbst
heraus erklärt, setzt alle gesellschaftlich oder kollektiv konstruierten Systeme – wie zum Beispiel das
deutsche Sozialversicherungssystem – unter Legitimationsdruck: Sie müssen ihre Vorteilhaftigkeit
bzw. ihre Sinnhaftigkeit gegenüber dem unkontrollierten Marktprozeß belegen, um nicht in ihrer
Gestaltung zur Disposition zu stehen. Dies ist um so schwerer, je schwächer diese Systeme institutionell oder mental in der Gesellschaft verankert sind, wie sich beispielsweise an der Diskussion
über eine kapitalgedeckte Alterssicherung anstelle des umlagefinanzierten gesetzlichen
Rentenversicherungssystems zeigt. Denn weil sich die Interessenslagen innerhalb der Gesellschaft
immer weiter ausdifferenziert haben und es immer weniger homogene Gruppen gibt, die kollektive
Interessen politisch artikulieren und auch durchsetzen können, reduziert sich die Bewertung immer
stärker auf ein jeweils individuelles Kosten-Nutzen-Kalkül: Was kostet es mich?, und: Was bringt es
mir? (sogenannte reziproke Solidarität).
Anregungen zur Weiterarbeit:
•
Was meint der Text, wenn er den Marktmechanismus als „universalistisches Koordinationsprinzip“ bezeichnet?; finde Beispiele für diesen „Universalismus“.
•
Was bedeutet Verfahrensgerechtigkeit und wo gerät Verfahrensgerechtigkeit in Konflikt mit
anderen Formen von Gerechtigkeit? Finde Beispiele!
•
Erkläre die „Spielregeln“ des Marktmechanismus´; sind diese „Spielregeln für jeden nachvollziehbar und eindeutig? Begründe!
•
Erläutere, warum ein Scheitern im Marktprozeß ein jeweils individuelles Versagen ist.
•
Was bedeutet reine Marktwirtschaft für den Wohlstand und die Wohlfahrt einer Gesellschaft?
Finde Beispiele!
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29.05.03
Christian Trapp: Die Gestaltungsmacht der "Globalisierung"
Erste Einstiege in die Weiterarbeit anhand der aufgeführten Anregungen:
•
finde Beispiele für den Gebrauch des Begriffs "Globalisierung" zur Beschreibung faktischer
Veränderungen [z.B. internationale Standortkonkurrenz, 24-Stunden-Echtzeitentwicklung um
den Globus, Callcenterstandorte, transnationale Konzerne]
•
finde Beispiele für „ökonomische Sinnhaftigkeiten“ der "Globalisierung" [z.B. gemeinsame
Spielregeln für internationalen Warenaustausch, Verschiebung von nationaler zu supra- oder
internationaler Wettbewerbskontrolle, Vorteile internationaler Arbeitsteilung, Vorteile ausländischer Direktinvestitionen]
•
finde Beispiele (in Nachrichten, Zeitungen, Redewendungen) für den politischen Gebrauch des
Begriffs als „Totschlagargument“ bzw. als „Sündenbock“
•
finde Beispiele für „politische Interessen“ im Gebrauch des Begriffs "Globalisierung" [z.B.
Unternehmerfreiheit versus Sozialbindung, Handlungsautonomie versus Tarifpartnerschaft]
•
ordne die Meinungen und Argumente gesellschaftlichen Gruppen oder Akteuren zu und
begründe [z.B. Unternehmer, Verbände, Gewerkschaften, Politik, Wissenschaft, Kirchen, Staat]
•
nenne Argumente für und gegen Deregulierung [z.B. faktische Regelungsdichte, Zielkonflikt
Freiheit-Ordnung, „meritorische“ Güter]
•
setze "Globalisierung" und „Regionalisierung“ zueinander in Bezug [z.B. Gegenreaktion:
Identität, Selbstvermarktung, oder Komplementär: Lokomotivfunktion supranationaler
Organisationen]
•
nenne Beispiele für die Angleichung wirtschaftlicher und politischer Gestaltungsspielräume [z.B.
supraund
internationale
Einrichtungen
und
Regelwerke
(europäisches
Wettbewerbskommissariat, GATT, GATS, TRIPS, WTO), Harmonisierung nationaler Politiken,
internationale Vereinbarungen, bi- und multilaterale Verträge)
•
sammle für die Wissenschaft relevante Diskussionspunkte und dabei vertretene Argumente im
Zusammenhang mit "Globalisierung"
•
ordne die Meinungen und Argumente wissenschaftlichen Disziplinen zu und begründe
•
erläutere, warum "Globalisierung" für Ökonomen notwendiger Bestandteil wirtschaftlicher
Entwicklung ist [Arbeitsteilung → effiziente Faktorallokation → Standortwettbewerb →
Konsumentensouveränität → Expansion → „Fortschritt“]
•
erläutere, warum "Globalisierung" für sozial-, individual- und politikwissenschaftliche
Disziplinen ein dominantes Thema geworden ist [z.B. soziale Ungleichheit, „Ausbeutung der
dritten Welt“, Auflösung der Arbeitsgesellschaft, Verlust selektiver Gestaltbarkeit,
Hegemonialität des westlichen Wirtschaftsmodells, Anomie des Erfolges, Ökonomisierung des
Alltags, veränderte Raum-Zeit-Strukturen]
•
was meint „Eigendynamik kapitalistischer Entwicklung“? [Wettbewerb → Konzentration auf
zentrale Stärke → Wegfall nicht rentabler Bereiche → Konzentration/ Expansion → Auslöschen
oder Einverleiben der Konkurrenz → „Prozeß schöpferischer Zerstörung“/ Monopol-Kartell]
•
begründe an Beispielen die Existenz „meritorischer“ Güter [z.B. Bildung, Kunst, nicht-MarktWissenschaft]
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29.05.03
Christian Trapp: Die Gestaltungsmacht der "Globalisierung"
•
finde Beispiele dafür, daß "Globalisierung" mit ihren gegenwärtigen Begleiterscheinungen
(Arbeitslosigkeit, zunehmende Einkommensdisparitäten, Segregationen etc.) gewollt oder
bewußt betrieben wird und nenne die jeweilgen Begründungen (z.B. Parteiprograme,
Lobbyarbeiten etc.]
•
sammle Visionen und Zielvorstellungen für eine gesellschaftliche und wirtschaftliche
Entwicklung, die sich von denen der Globalisierungsbefürworter unterscheiden. was sind deren
Ziele und Argumente?
•
Was ist das qualitativ Neue an "Globalisierung"? Begründe [z.B. maximal mögliche räumliche
Ausdehnung, größtmögliche Entstofflichung, Echtzeitfaktor, Systemkonkurrenz in sozialer
Sicherung, unvermittelte Konkurrenz unterschiedlicher Entwicklungsstadien]
•
finde Beispiele für das „wesentlich Neue“ der "Globalisierung", das sich mit bekannten
Kategorien und Begrifflichkeiten nicht fassen läßt [z.B. Verständnis von Arbeit,
Entkanonisierung, Asynchronität technologischer und gesamtgesellschaftlicher Entwicklung]
•
erläutere an Beispielen, wie der Gebrauch des Begriffs "Globalisierung" die konkrete
Gestaltung bestimmt; wer gebraucht den Begriff mit welchem Ziel in welcher Weise?
•
Was meint der Text, wenn er von "Globalisierung" als „Integrationsideologie“ spricht? Finde
Beispiele und erläutere [z.B. „Washington consensus“, IWF-Kreditevergabepolitik, G8-Politik,
„green-room“-Politik]
•
finde Beispiele für jeweils die strukturelle Veränderung des empfundenen, wahrgenommenen
und faktischen Möglichkeitsraumes [z.B. Spielräume lokaler Wirtschaftspolitik, Delegation von
Entscheidungsrechten
auf
supranationale
Entscheidungsträger,
Währungspolitik/
internationaler Börsenhandel]
•
warum sind die Gestaltungsspielräume der sogenannten „Entwicklungs-„ und
„Transformationsländer“ deutlich enger als in den „entwickelten“ Industrienationen
[weltwirtschaftliche Abhängigkeit, IWF-Kredite, Direktinvestitionen, nachholende Entwicklung,
Entwicklungsstandard]
•
finde weitere Beispiele für das Auseinanderklaffen von Anforderungen der Arbeitswelt und
sozialen Rahmenbedingungen [z.B. Mobilität und soziale Einbettung, Flexibilität und
Familienorganisation, ökonomische Unsicherheit und soziale Verläßlichkeit, Schnelllebigkeit
und Engagement]
•
beschreibe die strukturellen Veränderungen durch die Nutzung der Informations- und
Kommunikationstechnik als Querschnittstechnologie [z.B. Folgen der Entstofflichung,
Veränderung im Kommunikationsverhalte, Auswirkungen auf räumliche und zeitliche
Verfügbarkeit]
•
finde Beispiele für das Fehlen gesellschaftlich vereinbarter Regeln zum Umgang mit den Folgen
der "Globalisierung" auf dem Arbeitsmarkt [z.B. Interpretation von struktureller Arbeitslosigkeit
als persönlich anzulastendes Versagen und dessen Folgen, Aussteuerung älterer Arbeitnehmer
aus dem Arbeitsprozeß bei gleichzeitiger Forderung nach Verlängerung der Lebensarbeitszeit]
•
was meint der Text, wenn er von „fehlendes Synchronisation“ spricht? vergleiche die
angesprochenen Entwicklungen mit früheren [z.B. mit sozialen Umbrüchen im Zuge der
Industrialisierung, mit Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingung in der
Nachkriegszeit]
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29.05.03
Christian Trapp: Die Gestaltungsmacht der "Globalisierung"
•
was meint der Text, wenn er den Marktmechanismus als „universalistisches
Koordinationsprinzip“ bezeichnet?; finde Beispiele für diesen „Universalismus“ [z.B. politischer
Konjunkturzyklus, Erklärungen der Neuen politischen Ökonomie zu Heirats- und Berufswahl]
•
was bedeutet Verfahrensgerechtigkeit und wo gerät Verfahrensgerechtigkeit in Konflikt mit
anderen Formen von Gerechtigkeit? finde Beispiele [z.B. Chancengleichheit,
Verteilungsgerechtigkeit, Recht auf eine zweite Chance, Bedürfnisprinzip]
•
erkläre die „Spielregeln“ des Marktmechanismus´; sind diese „Spielregeln für jeden
nachvollziehbar und eindeutig“ [z.B. Wettbewerbssicherung, Marktmacht, Kartellkontrolle,
natürliche Oligopole]
•
erläutere, warum ein Scheitern im Marktprozeß ein jeweilig individuelles Versagen ist
•
was bedeutet reine Marktwirtschaft für den Wohlstand einer Gesellschaft? finde Beispiele [z.B.
Wegfallen meritorischer Güter, Zuspitzung von Einkommensdisparitäten, gated-areas statt
öffentlichen Raumes]
-10-
29.05.03
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