Einbildungskraft und Reflexion - Novalis

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XII.
Metaphysik und Sophistik des Bildes im romantischen Deutschland.
Platons Sophistes und das Problem des Verstehens bei Novalis
Augustin Dumont
Vorwort
Der wahre Leser muss der erweiterte Autor seyn. Er ist die höhere Instanz, die die Sache von der niedern Instanz
schon vorgearbeitet erhält. Das Gefühl, vermittelst dessen der Autor die Materialien seiner Schrift geschieden hat,
scheidet beym Lesen wieder das Rohe und Gebildete des Buchs – und wenn der Leser das Buch nach seiner Idee
bearbeiten würde, so würde ein 2ter Leser noch mehr läutern, und so wird dadurch daß die bearbeitete Masse
immer wieder in frischthätige Gefäße kömmt die Masse endlich wesentlicher Bestandtheil – Glied des wircksamen
Geistes1.
In reinstem romantischen Stil, im letzten Fragment der Vermischten Bemerkungen, redigiert zwischen
Dezember 1797 und Januar 1798, bekennt dies der Dichter, Romanschriftsteller, Philosoph, Jurist,
Geologe, Mineraloge und Bergbauingenieur Friedrich von Hardenberg alias Novalis. Der, der Bezeichnung
des Lesers Würdige ist derjenige, welcher in der Lage ist, am Schaffensprozess des Werkes selbst
teilzuhaben, es dabei in Frage stellt und seine Wirkungen umkehrt. Das Abenteuer des Verstehens von Sinn
– und gleichermaßen seiner Erschaffung – ist, diesmal mit den Worten des Blüthenstaubs, gleichzusetzen
mit der Tätigkeit der Übersetzung. Der wahre Künstler, Denker oder Dichter ist ein Übersetzer. Und der
wahre Übersetzer
muß in der That der Künstler selbst seyn, und die Idee des Ganzen beliebig so oder so geben können. Er muß der
Dichter des Dichters seyn und ihn also nach seiner und des Dichters eigener Idee zugleich reden lassen können. In
einem ähnlichen Verhältnisse steht der Genius der Menschheit mit jedem einzelnen Menschen2.
Ein solcher theoretisch-praktischer Hintergrund, der allen Schriftstellern der Jenaer Romantik bekannt
war, erleichtert kaum – und mit voller Absicht – die historiographische Arbeit, im wörtlichen Sinne. Wenn
die genaue Bestimmung der Autoren und der gedanklichen Strömungen, die jeden einzelnen Text von
Novalis beeinflusst haben, schon an sich eine Herkulesaufgabe darstellt, und zwar auf Grund der Schreibart
dieses Autors, muss man darauf achten, nicht über die Merkmale dieser Schreibart selbst hinaus zu gehen,
die genauer gesagt auch Aufforderungen sind, „als Übersetzer“ zu lesen und zu verstehen. Novalis
wiederholt überall, beispielsweise in den Teplitzer Fragmenten: „es giebt kein allgemeingeltendes Lesen,
im gewöhnlichen Sinn. Lesen ist eine freye Operation. Wie ich und was ich lesen soll, kann mir keiner
vorschreiben“3.
Indem die Romantiker des Athenäums die Handlung des Verstehens, bzw. des Begreifens dem
aufklärerischen Wunschdenken einer durchsichtigen Sinnübertragung selbst entreißen (vom „kompetenten
Verstand” des Lehrers zum passiven aber wohl geneigten Verstand des Schülers), reißen sie die Handlung
des Verstehens aus dem Kanon des Schreibens und des Lesens, die der Lehre der Klassiker inhärent ist, wo
das Verstehen des Sinns systematisch mit verschiedenen Vorschriften in Verbindung gesetzt wird. Denn es
gibt kein Verstehen des Sinns, was sich nicht als schöpferisches Teilhaben an seiner selbst, frei und
selbstständig, darstellt. Wichtig ist einzig die Reflexivität, von Fichte stammend, durch die das sich selbst
setzende Werk, sich zu einem neuen Zusammenhang mit seinem Leser wagt (das heißt zu seinem Anderen,
durch das Werk gleichzeitig gesetzt, wie es sich selbst setzt), und sich als fähig erweist, freiwillig seine
Reflexivität zu aktivieren. Sie wird dadurch nicht zurückführbar auf jegliche kanonische Hypostase, die
durch die Geschichte unter der Hand aufgestellt wird, und zwar gerade auf Grund der geschichtlichen Natur
des Werkes. Dieses braucht sich nicht mehr den durch die Geschichte4 – auf unbewusste und umso
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
1
Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, H-J. Mähl und R. Samuel (hrsg.), Band II: Das philosophisch-theoretische Werk,
München/Wien, Carl Hanser Verlag, 1978, S. 282. (zukünftig: WTB, gefolgt von Bandangabe und Seitenzahl).
2
WTB, II, 255.
3
WTB, II, 399.
4
In Wahrheit und Methode unterwirft Gadamer in einer für unsere Begriffe antiromantischen Geste das Verstehen der Autorität der
Geschichte und des Vorurteils, und glaubt so, dem „romantischen“ Fundament der Hermeneutik zu seinem Recht zu verhelfen. Von
einer Beschreibung der Tat des Verstehens zur Vorstellung des Rechts der Geschichte (das im Grund nur auf einfaches Erbe
zurückgeführt wird) und zur Beherrschung dieses Verständnis übergehend – von nun an von der Reflexivität und der Ironie
ausgehöhlt -, muss sich Gadamer gegen Habermas (der seinerseits den kantischen Formalismus hypostasiert) für den reaktionären
Charakter seines Denkens verteidigen.
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autoritärere Weise – aufgestellten Kriterien und Werten zu unterwerfen, sondern im Gegenteil wird das
Werk durch die reflexive Bewusstwerdung seiner tiefen Historizität dazu aufgefordert, die Geschichte zum
Klingen zu bringen, in der Übersetzung bis hin zur Fiktion. Es geht darum, sich bei der Geschichte zu
engagieren und damit zu spielen, ohne jemals dem zugleich transzendentalen Charakter des Werkes den
Rücken zu kehren, der immer im Ausdruck der „transzendentalen Poesie“ mitschwingt. Tief in seiner
Geschichte und in seiner Sprache, in seiner einzigartigen, ungewissen und unvorhersehbaren
Differenzierung, wünscht sich das Werk gleichzeitig Überlegung und explizite Thematisierung der
allgemeinen Bedingungen der Möglichkeiten des „Werk-Machens”. Solche Bedingungen notwendiger
Möglichkeiten kommen nirgendwo anders als in ihren vielfältigen Neuerfindungen und speziellen
Übersetzungen zum Vorschein: In den unvorhersehbaren Wirkungen, die der Autor performativ beim
Leser, und vice versa auch der Leser beim Autor auch hervorbringt, da er selbst zu einem Teil des Werkes
wird.
Verstehen wir uns richtig. Ein solches Werk wird keinesfalls auf die, wenn man so sagen darf, Doxa des
Lesers zurückgeführt, an welche es sich „angleichen“ müsste. Wenn wir in gewisser Hinsicht Erben der
Frühromantik sind, dann sicherlich nicht in der gegenwärtigen Überhöhung des Individuums und in der
Macht, die heute dessen Urteil über Werke zuerkannt wird (oder der Meinung die ihm dankenswerterweise
durch Handel und Medien „zur Verfügung“ gestellt wird). Dieses Erbe misst sich weniger am
„Empfundenen“ an welchem der Leser heute beinahe zwingend den Nächsten teilhaben lässt, selbst noch
bevor das Werk „konsumiert“ worden ist. Für die Romantiker geht es viel eher – und ganz im Gegenteil –
darum, die Handlung des Schreibens und die Handlung des Lesens zu entsubstantialisieren, indem man
jede schöpferische Handlung auf die Macht des jeweils Anderen erhebt, das heißt wesentlich auf die Ebene
des Unvorhersehbaren. Auf diesem Zusammenwirken bei einem literarischen Werk und dessen kritischer
Rezeption, sei sie noch so skandalös ungerechtfertigt, bestehend, verdammen die Romantiker das Werk
dazu, sich selbst zu reflektieren, um sich verständlicher in seine Geschichte einzufügen.
Überflüssig es zu sagen: Diese Charakterisierung des Verstehens, die durch Schlegels und Novalis‘
Projekt einer Neudefinition der Philologie eingebracht wird, zweifelt daran, dass die kompilatorische
Gelehrsamkeit, sobald diese glaubt, den überhängenden Sinn eines Textes von seiner „Geschichte“, seinen
Quellen und seiner Rezeption abzugrenzen, was auch immer mit dem Verstehen un der Deutung des Sinns
zu tun hat. Der Sinn riskiert es, sich vergegenständlichen zu lassen, und mit ihm das Schreiben, das
dennoch dazu bestimmt ist, „Geschichte zu machen“, und die Übersetzung in Gang zu bringen. Ein Werk
zu übersetzten läuft manchmal auch darauf hinaus, es zu aktualisieren. Der Weg, der von der einfache
Gelehrsamkeit zur Aktualisierung eines Werkes oder eines Autors führt, ist oft sehr kurz: Die
sachbezogenen Bedingungen der Realisierung und der Rezeption von Texten, von denen aus der Sinn
zusammengefasst wird, verdienen es immer, in der gegenwärtigen Welt ein Echo oder zumindest eine Spur
zu finden. Folglich geht es in der Frühromantik nicht darum. Novalis schreibt: „[die Philologie] ist theils
philosophisch, theils historisch – jenes ist ihr reiner Theil – dies ihr angewandter. Gehlehrter im strengen
Sinn ist nur der Philolog“5. Der Philologe ist im weitesten Sinne also sehr wohl der philosophische und
historische Akteur des Sinnes, das heißt darüber hinaus sein Übersetzer6. Wenn Novalis fragt: „Ist nicht
jeder Leser ein Philolog?“7, und dabei die schöpferische Aktivität des Lesers in der Sprache als Hauptanteil
der philologischen Aktivität des Werkes selbst betrachtet, stellt er eine Frage, die die universitäre
Philologie des 19. Jahrhunderts, deren Erbe mehr als ein heutiger Literaturhistoriker noch in sich trägt,
negativ beantworten würde. Aber ob diese Verneinung sich auch mit der Frage befasst hat…
Wenn das Auslöschen eines gewissen, der universitären Historiographie innewohnenden Habitus‘
notwendig ist, um die romantische Geisteshaltung wiederzubeleben, also einfach nur um sie zu verstehen,
und um zu verstehen, was diese unter Verstehen versteht, ist es natürlich nicht sachdienlich, die
Historiographie im allgemeinen zu entfernen, und die sehr realen Einflüsse nicht zu berücksichtigen oder
zu untersuchen, die auf die Jenaer Schriften einwirkten, unter dem Vorwand, dass das romantische Werk
poietischer Natur ist. Dies wäre ein großer Widersinn. Niemand, um mit den Autoren dieser Texte zu
beginnen, hat die Texte jemals autark gewollt. Die Autarkie wäre in diesem Fall das Gegenteil der
Autonomie: Die Selbstsetzung des Werkes ist in der Folge das Erkennen und das freie Einsetzen der
Historizität des Sinnes, durch und mit dem Anderen, und sie hat von hier aus nichts mit der abstrakten
Darstellung eines Schreibens zu tun, das jeden Bezug zur Geschichte oder zur Andersartigkeit gekappt hat,
und selbstgefällig auf seine Genialität zurückgezogen ist. Die Romantiker, besonders die Brüder Schlegel,
Tieck oder Schleiermacher sind übrigens selbst Autoren wichtiger historischer und philologischer Arbeiten,
manchmal an der Grenze zur Gelehrtheit. Das ist natürlich nicht widersprüchlich: Eine solche Gelehrtheit
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
5
WTB, II, 388.
Man liest an derselben Stelle auch: „Alles historische bezieht sich auf ein Gegebnes – so wie gegentheils alles phil[osophische]
sich auf ein Gemachtes bezieht. Aber auch die Historie hat einen phil[osophischen] Theil“, WTB, II, 388.
7
WTB, II, 399.
6
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ist immer essenziell poietischer Natur. Alles ist also im Gebrauch der Historiographie anzusiedeln. Das 28.
Fragment der Vermischten Bemerkungen, als beispielhaft für die Frühromantik im Athenäum erschienen,
fasst eindeutig den Einsatz unseres Vorschlags zusammen: „Nur dann zeig ich, daß ich einen Schriftsteller
verstanden habe, wenn ich in seinem Geiste handeln kann, wenn ich ihn, ohne seine Individualität zu
schmälern, übersetzen, und mannichfach verändern kann“ 8 . Wir sollten das im Hinterkopf behalten,
während wir weiter voranschreiten.
1. Novalis als Denker – allgemeiner Überblick
Zu Beginn prüfen wir die wichtigsten historiographischen Zugangsmöglichkeiten, um das Problem des
Verstehens bei Novalis darzustellen oder zu übersetzen, worin der Dichterphilosoph selbst am Ende der
Fichte-Studien (1795-96) das ideale System sieht, nämlich eines, das sich als fähig erweist,
„Systemlosigkeit in ein System gebracht [zu haben]“9. Dies sind mit anderen Worten die „Sprachen“, die
Novalis übersetzt hat, um sie sprechen zu können (ohne dass es einen Vorzug zwischen den Sprachen der
Philosophie, der Wissenschaft oder der Literatur gäbe), und auf Grundlage derer wir die Problematik
herausarbeiten können:
(1) Zunächst gibt es den postkantianischen Zugang, bei dem besonders drei Autoren hervorragen:
Schiller, Reinhold und Fichte. Diese Zugangsweise ist insofern „gesichtert“, als die beiden erstgenannten
an der Universität Jena Professoren von Novalis waren, und als die jenaer Philosophie Fichtes ihrerseits
eine ständige und essenzielle Inspirationsquelle für Novalis’ Schaffen bedeutete10. Vor und nach dem
berühmten Zusammentreffen bei Niethammer von Fichte, Hölderlin und Novalis im Mai 1795, arbeiteten
beide Dichter über lange Monate hinweg intensiv mit den Texten des „Titans von Jena“. Novalis kannte
daher diese Texte aus erster Hand, was ebenso für die Werke von Reinhold und Schiller gilt. Über den
unmittelbaren Postkantianismus hinaus, machte Novalis sich mit den Gedanken Kants vertraut, dessen
dritte Kritik er aber anscheinend nicht gelesen hat11, jedoch die erste und auch andere Texte, wie die
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht oder die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft.
In Deutschland misst ein so namhafter Kommentator wie Manfred Frank12 dem Einfluss des Kantianismus
größte Bedeutung bei. Beide Einflüsse (derjenige Kants und Fichtes) werden (teils) durch das Prisma
Reinholds und des Kreises der post-reinholdianer (Forberg, Erhard, Schmid, Herbert, Niethammer)
wahrgenommen.
Wenn Reinhold unermüdlich Kant gegen seine Verleumder verteidigt, so versucht er doch nicht
weniger, ihn um das einzige Prinzip herum neu zu gestalten, welches die für ihn alleinige und einzig
gültige Grundlage darstellt. So begründete er den Deutschen Idealismus. In seiner Folge hielten die großen
Idealisten eine solche Grundlage tatsächlich für bei Kant fehlend: In den drei Kritiken sind so viele
Absolute zu lesen (ein theoretisches Absolutes, ein praktisches Absolutes und eine absolute Verbindung
zwischen ihnen). Da das Absolute absolut ist, kann es folglich nur ein einziges sein. Das einzige Prinzip
Reinholds ist das Prinzip der Vorstellung. Alle Begriffe (Anschauung, Kategorie, Idee, usw.) sind bei ihm
besondere Arten der Vorstellung, die auf diese Weise das Prädikat schlechthin wird, das alle anderen im
Bereich des Transzendentalen trägt. Die Kritik Fichtes ist bekannt: Reinhold gäbe sich mit bloßen Fakten
zufrieden, und trenne das Subjekt vom Objekt, ohne dies wirklich zu thematisieren. Mit anderen Worten
spare sich der Kantschüler einen genetischen Gedankengang, in dem er beweisen müsste, dass jede
Bewusstseinshandlung von einem „Tun“ herrührt, einer Tathandlung, die nicht auf eine Tatsache
zurückrückführbar ist. Eine Tat ist immer „getan“ und setzt folglich eine ursprüngliche, hervorbringende
Kraft voraus. Die grundlegende Reflexivität des Ichs stellt sich von nun an für Fichte als Bedingung der
Möglichkeit der Vorstellung dar. Novalis bezieht sich zeitlebens und in jeder seiner Schriften auf die
Fichtesche Reflexivität und schöpft aus ihr. Aber er verliert auch nie ganz das Beharren Reinholds auf der
Vorstellung aus dem Blick, die auf allen Ebenen der Erkenntnis, wie auch der praktischen Handlung,
gegenwärtig ist, und lässt sich sogar immer wieder von dem Verzicht auf jegliche Grundlage (darunter auch
das „Faktum der Vorstellung“) der Reinhold-Schüler begeistern.
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
8
WTB, II, 238.
WTB, II, 200.
10
In dem, wenn man so sagen darf, „Knoten“, den das Novalissche Denken für uns darstellt, haben wir versucht, den Faden des
Fichteschen freizulegen, d.h. zu übersetzen, in einem Buch, das wir uns hier zu erwähnen erlauben: A. Dumont, L’opacité du
sensible chez Fichte et Novalis. Théories et pratiques de l’imagination transcendentale à l’épreuve du langage, Grenoble, Jérôme
Millon, Krisis, 2012.
11
Daher fehlt den Begriff des Erhabenen in seinem Werk.
12
Vgl. beispielsweise M.Frank, Das Problem der „Zeit“ in der deutschen Romantik. Zeitbewusstsein und Bewusstsein von
Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie in Tiecks Dichtung, Paderborn, u.a., Ferdinand Schöninge, 1990; oder auch
M.Frank, Unendliche Annäherung. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1997.
9
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Für uns bedeutet ein solches Zögern bezüglich der Frage der letzten Grundlage dennoch keine definitive
Absage an Fichte, im Gegensatz zur Behauptung Manfred Franks. Ohne darüber hinauszugehen, was als
„Prinzip der Ambivalenz“, als das einzige durchgängig leitende Prinzip Novalis‘ bezeichnet werden sollte,
schöpft die Poiésis von Novalis unaufhörlich aus den Werkzeugen und der Kraft Fichtes, um eine –
ambivalente – Theorie der Vorstellung und des reflexiven Bildes zu schaffen, welche diejenige Fichtes ab
1804, wenn auch in eine andere Richtung weisend, weitgehend vorwegnimmt. Darüber hinaus hält Novalis
die intellektuelle Anschauung sein Leben lang für grundlegend, da er Fichte in einen originellen
Neuplatonismus – unvereinbar mit den entwertenden Meinungen des Post-Reinholdschen Kreises –
hineinschreibt. Übrigens ist das Fichte-Bild, wie es in den Schriften Franks dargestellt wird, nicht nur
reduzierend bezüglich des Fichteschen Denkens selbst (was auf eine Art illusionistischen Idealismus nach
Berkeley zusammengestaucht wird13), sondern auch unvereinbar mit dem Verständnis, das Novalis davon
hatte. Novalis geht es vor allem um die Suche nach der letzten Begründung der Erkenntnis aus Fichtes
Poiésis und sein revolutionäres Konzept des philosophischen Schreibens als performative
Selbsterschaffung. Letztlich stoßen alle Kommentatoren, für die Novalis im wörtlichen Sinne nur ein
relativistischer Post-Reinholdianer ist, auf folgendes Problem, das sie aber völlig außer Acht lassen: Wenn
es ein kritizistisches Element gibt, das seine Stichhaltigkeit im System von Reinhold verliert, dann ist das
die transzendentale Einbildungskraft. Diese wird in der Folge mit Fichte grundlegend, da die gesamte
Wissenschaftslehre sich darauf aufbaut. Folglich profitieren wir von einer kritischen Lektüre Franks,
angesichts der zahlreichen Textstellen, an denen Novalis die Einbildungskraft verkündet, beschreibt, oder
einfach nur erwähnt.
Auch von Schiller lässt sich der junge Dichter stark beeinflussen, und äußert seine Bewunderung für
diesen brillanten Professor, dessen Vorlesungen er im Jahr 1790 besucht. Noch als Student schreibt er eine
Apologie Friedrich Schillers14, und leistet diesem während einer langen Krankheit Beistand. Auch in der
Folge blieb Novalis Schiller eng verbunden und verbrachte später (im März 1798 in Jena) einen Abend in
dessen Haus, gemeinsam mit Goethe und August Wilhelm Schlegel. Novalis schöpft in seinen Schriften
reichhaltig aus Schillers Wortschatz und einprägsamen Bildern. Das berühmte Symbol des Schleiers der
Isis, das in den Lehrlingen von Sais erscheint, lässt sich direkt auf ein Gedicht Schillers, Das verschleierte
Bild zu Sais, aus dem Jahr 1795 zurückführen. Zwei Begriffe, die seit den Fichte-Studien allgegenwärtig
sind, zeigen sich als in besonderem Maße von der geistigen Nähe zu Schiller geprägt: Der Begriff des
„Spiels“ und der des „Triebs“. Auf jeden Fall ist zu bemerken, dass der Trieb bei Novalis aus zwei
verschiedenen Ursprüngen hervorgeht, denn Fichte und Schiller führen diesen Begriff zeitgleich in die
klassische deutsche Philosophie ein, und Novalis verwendet ihn in beiden Bedeutungen. Unbedingt haben
die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen oder zumindest die Vorlesungen Schillers eine
nicht unbedeutende Rolle für die Entwicklung des Denkens von Novalis gespielt. Eine ästhetische Figur
erlaubt, Schiller zu Folge, eine symbolische Hinwendung zur unsichtbaren und übersinnlichen Idee, ohne
dabei von einer Welt (der sinnlichen) in die andere (der intelligiblen) überzutreten. Aus kantischer
Perspektive heraus, stellt Schiller den Stofftrieb dem Formtrieb gegenüber. In seiner Konzeption
harmonisieren beide Triebe in Wechselwirkung innerhalb der Kultur, die von einem dritten, vermittelnden
Trieb reguliert wird, nämlich vom Spieltrieb. Dieser setzt sich seinerseits als Verbindung der triebhaften
Dualität zusammen. Die ideale Erziehung ist diejenige, die das Spiel der Einbildungskraft aktiviert, um den
Stoff- und den Formtrieb in Einklang zu bringen, und sie miteinander zu vereinbaren. In der Vereinigung
des sinnlichen Werdens mit dem Sein oder der ewigen Idee verweist das Symbol, an welchem sich der
Spieltrieb stößt, und welches ihn gleichzeitig aktiviert, Natur und Moral aufeinander. Diese dynamische
Konzeption des Sinnlichen und der Freiheit beeindruckt Novalis und vermischt sich mit seinen eigenen
Überlegungen. Trotzdem weisen wir darauf hin, dass dort, wo das Schillersche Symbol den Menschen dazu
auffordert, die Wahrheit zu suchen, ohne dabei, unter Androhung der Todesstrafe (die des jungen Mannes,
der in Schillers Gedicht nach Sais geführt wird), die Grenzen der Erkenntnis zu sprengen, die
Überschreitung bei Novalis dagegen eine wichtige Figur ist, auch wenn dies von Kommentatoren wenig
hervorgehoben wird. Denn im frühromantischen Kontext gehen die allgemeinen und notwendigen Grenzen
der Erkenntnis (das a priori) niemals dem eigentlichen (historisch einzigartigen) Akt selbst voraus, durch
den diese Grenzen poietisch in der Unbestimmtheit des Werk-Machens erstellt werden. Folglich bedeutet,
sie zu erstellen, schon, das zuvor aufgestellte a priori rück zu übersetzen: Es gibt keine Übersetzung ohne
(Grenz-)Überschreitung. Der Schleier von Sais muss bei Novalis gelüftet werden…
(2) Die zweite historiographische Zugangsweise ist die der Kombinatorik. Novalis steht zweifellos im
Erbe einer Tradition, die im Mittelalter von Raimundus Lullus ins Leben gerufen wurde, und die Leibniz in
der Neuzeit mit seiner De Arte Combinatoria aus dem Jahr 1666 fortführt. Wesentlich interdisziplinär
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
13
Wir danken hier Alessandro Bertinetto für den Hinweis, auf den er uns im Rahmen der Diskussionen, die wir mit ihm über die
Franksche Rezeption der Romantik erleben durften, aufmerksam gemacht hat.
14
Vgl. WTB, I, 103.
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ausgerichtet, geht die kombinatorische Strömung historisch von der Theologie aus, streift dann die
Philosophie und die Mathematik bevor sie die Poetik erfasst15. Es überrascht nicht, dass Novalis daran
sofort Gefallen findet und mit Freude die Vorlesungen des Mathematikers und Physikers Carl Hindenburg,
Professor an der Universität Leipzig und Gründervater der deutschen Schule der kombinatorischen
Analysis, verfolgt. Noch während des Studiums wird Novalis auch von den Arbeiten des Logikers
Hoffbauer inspiriert und begeistert sich bereits zu dieser Zeit für die Leibnizsche Idee, der zufolge die
Elemente der Sprache, die sich nach kombinatorischer Methodik anordnen, mit den „realen“ Elementen des
Kosmos zusammenwirken und sie reflektieren. Es gilt, eine Vielzahl von Begriffen, Vermögen, aber auch
Objekten und sogar Disziplinen zusammenfügen, kombinieren und umstellen zu können, und mit ihnen
nach dem Leibnizschen Begriffskalkül zu arbeiten, das nach größtmöglicher Formalisierung strebt.
Solcherart war auch der Wunsch oder die Vision Hindenburgs – der übrigens auch zum Teil durch Fichtes
Gedanken inspiriert wurde, woraus Novalis direkt geschöpft hat – die einer reinen Mathematik, welche in
einer einzigen Formel sich selbst begründet. Aufgestellt in einer (Tat-)Handlung reiner Freiheit sollte diese
Behauptung oder dieses auf dem sogenannten „Infinitinom“ aufbauende Theorem die reine algebraische
Grundlage der Infinitisimalrechnung bilden16. Alle Dimensionen der Philosophie werden in der Folge
durch dieses Kalkül zum Umsturz gebracht, einschließlich der transzendentalen Logik, insofern aber, als
sich ihr authentisch transzendentaler Charakter – d.h ihre Kraft zur Schöpfung „transzendentaler Realität“ –
dadurch verstärkt, nicht disqualifiziert. Im Fragment 238 des Allgemeinen Brouillon schreibt der
Dichterphilosoph:
Die Kategorieen sind das Alphabet cogitationum humanarum – worinn jeder Buchstabe eine Handlung begreift –
eine philosophische Operation – einen höhern (mathematischen) Calcül – die Philosophie der Kategorieen ist von
der höchsten Wichtigkeit17.
Der junge Novalis erkennt auf jeden Fall im Begriffskalkül eine neuartige Methode, die mathesis
universalis zurückzuerobern, indem er, wie auch Leibniz gegen Descartes, die Idee einer zu strengen
Teilung von Wahrheit und Irrtum zurückweist. Bevor man eine Erkenntnis wahr oder falsch dekretiert, da
(nicht) ausreichend clair et distincte, sollte die Möglichkeit der Kombinatorik auf diese Erkenntnis
angewandt werden, und ihr eine Basis in dieser symbolischen Logik eingeräumt werden, deren Grundsatz
folgender ist: Die Realität ist nichts anderes als ein Geflecht aus Interaktionen. Keines der Elemente
existiert isoliert, es gibt nur ihre formalisierbare Bezüge untereinander. Mit anderen Worten behauptet sich
hier der Perspektivismus. Und hier zeigt sich Novalis‘ Sinn für die Harmonie, sogar für die prästabilierte
Harmonie von Leibniz. Dieser Harmoniesinn tritt jedoch nie klar hervor (und wird übrigens viel zu oft von
den Kommentatoren überbewertet), und er tritt unaufhörlich, sei es hintergründig oder explizit, in Konflikt
mit dem Konfliktsinn, was geradewegs auf Fichte und Böhme rückführbar ist. Das erste und letzte Element
des Systems der Systemlosigkeit, so erinnert Novalis häufig, ist das Chaos, nicht die Harmonie. Wie dem
auch sei, lohnt es sich, dem zweiten roten Faden des Novalisschen Denkens, von den ersten Anmerkungen,
über das Allgemeine Brouillon, bis hin zu den Mathematischen Fragmenten, ebenso zu folgen, wie dem
ersten Zugang zu seinem Werk: Der Dichter-Philosoph besaß über die Kombinatorik von Hindenburg
Kenntnisse aus erster Hand. Dennoch gelangte er zum Denken eines Raimondus Lullus oder zur modernen
vorkantischen Philosophie, nämlich zu Spinoza, aber auch zur Kombinatorik von Leibniz (ausgenommen
der Theodizee, die er anscheinend selbst gelesen hat) nur über den Weg der verschiedenen
philosophiegeschichtlichen Werke, hauptsächlich über das berühmte Handbuch von Dietrich Tiedemann,
das in mehreren Bänden zwischen 1791 und 1797 erschien, und den Titel Geist der spekulativen
Philosophie18 trägt.
(3) Die Naturphilosophie stellt den dritten Zugang dar. Aufgrund der Auswirkungen selbst eines
kombinatorischen Denkens mag es sicherlich etwas erzwungen wirken, den Zugang der Kombinatorik und
der Mathematik getrennt vom Zugang der Naturphilosophie zu behandeln, da diese Bereiche miteinander
verbunden sind. Jedenfalls betrachtet dieser Zugang den Einfluss der neuen „Stimmen“ der großen
Naturalisten auf Novalis, deren Arbeiten, die sich auf Fragen des Mineralischen oder des Lebendigen oder
des Organischen konzentrieren, sich weniger auf die Kombinatorik beziehen, und teilweise nur entfernte
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
15
Mallarmé ist möglicherweise der letzte große Vertreter des kombinatorischen Denkens in der Moderne.
Dazu möchten wir auf den Artikel von Philippe Séguin hinweisen: Ph. Séguin, „Ars combinatoria universalis: un rêve poéticomathématique de Novalis et C.F. Hindenburg“, in L. Dahan-Gaida (hrsg.), Conversations entre la littérature, les arts et les sciences,
Presses Universitaires de Franche-Comté, 2006. Vgl. Auch die bedeutenden Arbeiten zuvon Benoît Timmermans zu diesem Thema,
besonders: B. Timmermans, „Novalis et la réforme des mathématiques” in A. Dumont und L. Van Eynde (hrsg.), Modernité
romantique. Enjeux d’une relecture, Paris, Kimé, 2011; und B. Timmermans, Histoire philosophique de l’algèbre moderne. Les
origines romantiques de la pensée abstraite, Paris, Garnier, 2012.
17
WTB, II, 515.
18
D. Tiedemann, Geist der spekulativen Philosophie, Bd. I-IV, Marburg, Neue Akademische Buchhandlung, 1791-1797.
16
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Bezüge zur Mathematik im allgemeinen herstellen19. Von diesen Autoren besaß Novalis umfassende
Kenntnisse aus erster Hand. So beispielsweise über den schottischen Arzt John Brown und seiner Theorie
der Reizbarkeit oder der Erregbarkeit, welche in den Fragmenten von Novalis immer wieder durchscheint.
Und ebenso die wichtigen Entdeckungen des romantischen Naturphilosophen Johann Wilhelm Ritter im
Bereich des Galvanismus und der Elektrochemie ganz allgemein, oder auch die Entdeckungen Franz von
Baaders. Und nicht zu vergessen die Naturphilosophie von Schelling. Diese beeindruckt Novalis zunächst,
und er entnimmt ihr Begriffe und Ideen, bevor er sie später kritisiert, und sich im Zuge dessen von der
Freundschaft mit Schelling abwendet (1799), die kurze Zeit zuvor begründet wurde (1797). Novalis begann
seine intellektuelle Reise ohne Schelling, da der zu der Zeit, in der er die Fichte-Studien – eine
fragmentarische Zusammenstellung von essenzieller Wichtigkeit für seinen spekulativen Werdegang –
redigierte, Schellings Texte noch nicht kannte, und er beendete diese Reise auch ohne Schelling, von dem
er sich zu Beginn des neuen Jahrhunderts gänzlich lossagte20. Schließlich auch und sogar vor allem der
Einfluss des Lehrers von Novalis, des Geologen und Mineralogen Abraham Gottlob Werner, der die
Bergakademie Freiberg21 in ganz Europa bekannt machte. Dessen als „Neptunismus“ bezeichnete Theorie
über die Gesteinsschichten der Erde, die von einem „uranfänglichen Ozean“ ausgeht, seine enthusiastische
Beschreibung der verschiedenen Mineralien und sein – wahrscheinlich das erste, in diesem Bereich
wirklich gelungene – Projekt einer „Geschichte der Erde“, finden in den meisten Arbeiten von Novalis
einen Widerhall, selbst in den Romanen. Alle diese Autoren, zu denen auch Goethe als Botaniker und
Theoretiker der Farbenlehre zu zählen ist, eignet sich der junge Ingenieur und Mineraloge auf kritische
Weise seit seiner sehr umfassenden Ausbildung an der Bergakademie in den Jahren 1798 und 1799 und im
Laufe seiner eigenen Forschungen über die Natur an22.
(4) Die literarischen Einflüsse bilden schließlich den vierten Zugang. Die Theaterstücke, Romane,
Gedichte und Essays von Shakespeare, Lessing, Schiller oder Goethe und viele mehr prägten Novalis
nachhaltig. Wahrscheinlich ist Shakespeare zusammen mit Cervantes in den Augen der frühen deutschen
Romantiker der genialste literarische Geist seit Homer und Platon. Ironie, „mise en abyme” und andere
Anzeichen für Selbstreflexion des Werkes, die mit einem großartigen Gefühl für Geschichte verknüpft
sind, und mit großer Kraft, zwischen dem Notwendigen und dem Zufälligen hin und her zu wechseln, die
vielfältigen Facetten des Gemüts zu vereinen und zu systematisieren, um sie sogleich wieder ins Chaos und
in die Systemlosigkeit zu bringen – all dies macht Shakespeare zum wichtigsten Wegbereiter der
Romantik, selbst in den Augen ihrer Protagonisten. Kurz nach dem Tod seiner Verlobten las Novalis
Romeo und Julia in der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel und war von der nächtlichen Gewalt
dieses Stückes ergriffen, dessen Geist die Hymnen an die Nacht durchdringt, und er erlebte etwas später
eine „heimliche Freude“ 23 beim Lesen von Hamlet. Der Goethesche Bildungsroman ist eine weitere
literarisch maßgebliche Entdeckung für Novalis und seine Weggefährten. So der Wilhelm Meister, der mit
der Wissenschaftslehre Fichtes und der französischen Revolution eine der „größten Tendenzen des
Zeitalters“, so die berühmten Formulierung aus dem Fragment 216 des Athenäums, darstellt und dessen
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
19
Übrigens setzt Novalis manchmal explizit den Wert von allem, was das Begriffskalkül, oder das Kalkül ganz allgemein, zur
Naturphilosophie und ganz grundlegend betrachtet zum Verstehen des Sinns beiträgt, herab. So liest man in den Lehrlingen zu Sais,
diesem Eingreifen eines Verfechters einer Naturauslegung, die sich an die Erscheinungen gehalten ist: „Der eigentliche Chiffrirer
wird vielleicht dahin kommen, mehrere Naturkräfte zugleich zu Hervorbringung herrlicher und nützlicher Erscheinungen in
Bewegung zu setzen, er wird auf der Natur, wie auf einem großen Instrument fantasiren können, und doch wird er die Natur nicht
verstehn. Dies ist die Gabe des Naturhistorikers, des Zeitensehers, der vertraut mit der Geschichte der Natur, und bekannt mit der
Welt, diesem höheren Schauplatz der Naturgeschichte, ihre Bedeutung wahrnimmt und weißagend verkündigt“. WTB, I, 222.
20
Unserer Meinung nach lohnt es sich, den Einfluss, den Schellings Gedanken auf Novalis ausübt, in einen „qualitativen“ und einen
„quantitativen“ Einfluss zu unterteilen. Wenn Novalis über einen kurzen Zeitraum hinweg Schellings Texte aufmerksam liest, und
ihnen einen gewissen Teil an Intuitionen, Ideen oder Begriffen, entnimmt, werden diese Werkzeuge neuinterpretiert und in eine,
nach unserer Definition neue Sprache „übersetzt“, nämlich die in die Sprache der Logologie und nicht der Ontologie. Es geht nicht
darum, jegliche Ontologie bei Novalis zu negieren, sondern darum, festzustellen, dass die Ontologie der Logologie untergeordnet ist,
oder, aus anderer Perspektive mit ihr gleichzeitig existiert – auf den folgenden Seiten wird sich zeigen auf welche Weise. Der schwer
einzusehende Punkt besteht darin, dass die Logologie nicht nur die menschliche Sprache betrifft: sie betrifft ebenso das Ganze (und
seine Stadien) in seiner reflektierten Selbstdarstellung. In diesem Sinne sind das Streben nach Ganzheit und das Interesse für das
Materielle bei Schelling und Novalis gleichbedeutend. Jedenfalls ist der Rahmen, innerhalb dessen sich diese Bestrebungen
ausbreiten, ganz der Schellingschen Perspektive eigen. Wir zeigen im Laufe dieser Abhandlung, dass, um diesen alternativen
Rahmen zu schaffen, ein ursprünglich neuplatonistisches Gedankenfundament benötigt wird, wie das der Sophistik, das durch das
feinen Verständnis Fichtes gegangen ist – dieser Philosoph ist für uns hier bedeutender als Schelling, um die Geste (oder den Geist)
von Novalis zu verstehen. Das ist ein interpretativer Ansatz, den wir seit unserer Doktorarbeit verfolgen (vgl. L’opacité du sensible
chez Fichte et Novalis, s.o.). Und wir freuen uns darüber, dass dies zum Thema einer freundschaftlichen Diskussion mit Olivier
Schefer wurde und nach wie vor ist.
21
Erste „Polytechnische Schule” der Welt, mitbegründet von Novalis‘ Großonkel (Friedrich von Heynitz) zu Beginn des 18. Jh.,
heute Technische Universität Bergakademie Freiberg.
22
Vgl. dazu die verschiedenen Artikel Daniel Lancereaus und auch das ausführliche Werk von L. Margantin, Système minéralogique
et cosmologique chez Novalis, ou les plis de la Terre, Paris, L’Harmattan, 1999.
23
WTB, I, 662.
!
134
!
Einfluss auf die Schöpfung des Heinrich von Ofterdingen offenkundig ist (obwohl dieses Werk Goethes
dort bewusst verändert und kritisch verarbeitet wird). So verhält es sich auch mit den Texten von Ludwig
Tieck – eines der engsten Freunde des Autors unter den Romantikern – dessen Werk, Franz Sternbalds
Wanderungen, ebenso den unvollendeten Roman von Novalis wie auch die Malerei von Runge inspiriert.
Gewisse Texte von Jean Paul, wie beispielsweise Die unsichtbare Loge, befruchteten das dichterische
Schaffen von Novalis, und besonders die Hymnen an die Nacht, was auch für die Night Thoughts von
Edward Young gilt, wie auch für die Theogonie von Hesiod und für das Gedicht Die Götter Griechenlands
von Schiller.
(5) Der fünfte und letzte Zugang, von welchem wir unsere Untersuchung aus fortsetzen wollen, ist der
für Novalis oft in Anspruch genommene Neuplatonismus, in seiner ursprünglichen griechischen
Ausprägung wie auch in seiner Fortführung in der rheinländischen Mystik. Natürlich, wie Frederick C.
Beiser, der große amerikanische Spezialist der Frühromantik schreibt:
Prima facie Novalis might seem to be the least Platonic of all the early romantics. There are few references to
Plato in his letters and writings, and he did not have the infatuation with things Greek of Hölderlin, Schelling,
Schleiermacher and Schlegel. Yet this impression is corrected by Friedrich Schlegel, who told his brother, after
first meeting Novalis in 1792, that the “Lieblingsschriftsteller” of his new friend were Plato and Hemsterhuis24.
Tatsächlich ist Novalis vom Mittelalter stärker als von der Antike fasziniert, was ihn unter den
Schriftstellern des Athenäums hervorhebt (im Gegensatz beispielsweise zu den eher der Antike zugeneigten
Brüdern Schlegel). Schlussendlich spiegeln die Schriften Novalis’ dennoch am stärksten das Erbe Platons
wieder. Natürlich geht es hier nicht um einen historiographisch „gesicherten“ Weg: Unser Autor bezieht
den Hauptteil seiner Kenntnisse über Platon auf indirektem Weg, wie über Kommentare, durch
Überschneidungspunkte von Autoren und Handbüchern über Philosophiegeschichte, darunter – wieder
einmal – das von Tiedemann, aber auch über das Monumentalwerk, System der platonischen Philosophie
von Wilhelm Gottlieb Tennemann, Professor an der Universität Jena25. Auch wenn es wahrscheinlich ist,
dass der Dichterphilosoph Platon nie selbst gelesen hat, ist dennoch mit Jean-Louis Vieillard-Baron
anzumerken, dass er die Philosophie Platons für seine Zwecke umformt 26 , und das mit Hilfe der
neuplatonischen Quellen, welche er teils direkt, teils indirekt ausschöpft.
Der heute in Vergessenheit geratene holländische Neuplatoniker Francois Hemsterhuis war seinerzeit
sehr geschätzt, besonders von seinem Freund Jacobi, der ihn in Deutschland bekannt gemacht hat. Novalis
hat viel Zeit mit dem Studium seiner Oeuvres philosophiques27 verbracht, und zwar seit dem Erscheinen
des ersten Bandes im Jahr 1792. Er las das Werk in der französischen Originalsprache. Im Glauben, einen
Platon „in reinem Zustand“28 vorzufinden und darzustellen, begegnen wir bei Hemsterhuis in Wahrheit
einer Platonlektüre im Geiste Malebranches, die sich um den Begriff des „moralischen Organs“ aufbaut.
Demzufolge wohnt dem Menschen ein rein geistiges Organ inne, das von den Sinnesorganen unabhängig
ist, und das Zugang zu der ideellen Seite der realen Welt ermöglicht. Der bevorrechtigte Inhalt dieses
moralischen Organs ist das Ich selbst, das den Sinnesorganen verborgen bleibt. Damit gelingt dem jungen
Dichter die Annäherung an die intellektuelle Anschauung Fichtes. Genauso wird er von der Zeichentheorie
inspiriert, in welcher er seine Betrachtungen unterstützt und verstärkt sieht: Laut Hemsterhuis offenbaren
sich die Ideen immer durch sinnliche Zeichen (deren Beziehung untereinander willkürlich ist), deren Kraft
nicht nur darin besteht, das äußere Seiende zu zeigen, sondern immer auf den Menschen zu wirken und ihm
die Ideen zu enthüllen. Diese Offenbarung wird als eine Art praktischer Einfluss beschrieben, wobei die
sinnlichen Organe und das moralische Organ Hand in Hand arbeiten, über einem Spiel von symbolischem
Widerhall und Nachhall, das seine allerletzte Vollendung in der Kontemplation findet.
Später, gegen Ende des Jahres 1798 begeistert sich Novalis für Plotin. Nichts weist jedoch darauf hin,
dass er die Enneaden gelesen hat: Vielmehr geht auch dies erneut von Tiedemann aus. Am 10. Dezember
1798, noch in Ausbildung in Freiberg, schreibt Novalis an Friedrich Schlegel, der zu dieser Zeit in Berlin
weilt:
Ich weiß nicht, ob ich Dir schon von meinem lieben Plotin schrieb. Aus Tiedemann lernt ich diesen für mich
geborenen Philosophen kennen – und erschrack beynah über seine Aehnlichkeit mit Fichte und Kant – und seine
idealische Aehnlichkeit mit ihnen. Er ist mehr nach meinem Herzen als beyde29.
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
24
F.C. Beiser, The Romantic Imperative. The Concept of Early German Romanticism, Cambridge/London, Havard University Press,
2003, S. 72.
25
W.G. Tennemann, System der platonischen Philosophie, Bände I-V, Leipzig, Barth, 1792-1795.
26
Vgl. J-L. Vieillard-Baron, Platon et l’idéalisme allemand (1770-1830), Paris, Editions Beauchesne, 1979, S. 125.
27
F. Hemsterhuis, Oeuvres philosophiques, Paris, L’imprimerie de H.J. Jansen, 1792.
28
J-L. Vieillard-Baron, s.o., S. 81.
29
WTB, I, 679.
!
135
!
Der Dichter fügt später hinzu, dass seine Entdeckung nicht von ihm selbst stammt: Diese wundersame
Übereinstimmung von Neuplatonismus und Transzendentalismus, so hätte man ihn aufmerksam gemacht,
finde sich schon bei Maimon (im Falle seiner Autobiographie, die 1792-93 erschien). Wir werden auf diese
Annäherung zurückkommen.
Zur gleichen Zeit macht sich ein anderer Einfluss bemerkbar, nämlich derjenige von Paracelsus,
Vorgänger der Naturphilosophie, Arzt, Alchimist und Mystiker der Renaissance, und selbst stark vom
Neuplatonismus beeinflusst30. Dieser Einfluss ist von den Kommentatoren noch schwieriger nachzuweisen,
da es unmöglich ist, eindeutig festzulegen, wie viel Novalis aus dem Paragranum (von 1530) wirklich
kannte. Es ist wahrscheinlich unmöglich, diesen Wissenshintergrund analytisch von dem Einfluss eines
anderen neuplatonischen Mystikers, der bei Novalis Bewunderung hervorruft, abzugrenzen, nämlich von
dem Jakob Böhmes. Gemeinsam mit Meister Eckhart, den Novalis zwar nicht erwähnt, der aber seit der
Verwendung der Triaden in den Fichte-Studien stets im Hintergrund spürbar ist, ist Böhme für den jungen
Romantiker sowie auch für den gesamten Deutschen Idealismus von unermesslicher Bedeutung. Miklos
Vetö schreibt: „Novalis und Tieck führen das Gedankengut Böhmes in die deutsche Kulturwelt ein, durch
sie lernen die großen Philosophen der Zeit seine Schriften kennen“31. Von diesem Gedankengut ist Novalis
richtiggehend „erfüllt”, und zwar weit mehr als nur durch die genaue Beschäftigung mit seinen Werken,
auch wenn er bedeutende Teile davon gelesen hat. Am 23. Februar 1800 schreibt er, Böhme
paraphrasierend, an Tieck (den er, wie Schelling und Bader, sehr intensiv studierte):
Jacob Böhm les ich jetzt im Zusammenhange [der Redaktion seines Romans, Heinrich von Ofterdingen, A.D.], und
fange ihn an zu verstehn, wie er verstanden werden muß. Man sieht durchaus in ihm den gewaltigen Frühling mit
seinen quellenden, treibenden, bildenden und mischenden Kräften, die von innen heraus die Welt gebären – Ein
ächtes Chaos voll dunkler Begier und wunderbaren Leben – einen wahren, auseinandergehenden Microcosmus32.
Der junge Romantiker sagt nicht, was er von Böhme liest, und nichts weist darauf hin, dass er ihn erst
so spät entdeckt hat – vielmehr scheint er ihn in neuem Kontext wieder zu lesen. Er erwähnt ihn auch im
Entwurf des Heinrich von Ofterdingen (dessen Stil und manchmal auch Inhalt von Böhme beeinflusst sind,
besonders in der Episode der sexuellen Ausschweifung in dem Klingsohrsmärchen) und noch an der einen
oder anderen Stelle. Wichtig ist dabei die diffuse Anwesenheit des mystischen Neuplatonismus, und die
Spuren, die er auf die Arbeit von Novalis hinterlässt, deren religiöses Gedankengut unserer Ansicht nach
mehr davon geprägt ist als von dem Pietismus des Grafen von Zinzendorf 33. Jedenfalls existiert eine
durchdringende Verwandtschaft zwischen der „Lehre der Signaturen“ (im 20. Jh. von Ernst Jünger
neubelebt), auch Theorie der Analogien genannt, von Paracelsus entwickelt – der in den Bereichen der
Toxikologie, Pflanzenheilkunde und Psychosomatik Pionier-Arbeit geleistet hat – und der über ein
Jahrhundert später erschienenen De signatura rerum von Böhme 34 . Gestützt durch die Theorie der
linguistischen Zeichen von Hemsterhuis und Fichte wird das Aufeinandertreffen der Lehre Böhmes und
Paracelsus im Gedanken von Novalis zu einem explosiven Gemisch, dass die Konstruktion seiner
Logologie entzündet: „Der Mensch spricht nicht allein – auch das Universum spricht – alles spricht –
unendliche Sprachen./ Lehre von den Signaturen“35.
Die Idee Böhmes, der zufolge die Welt ein Text ist, in welchem sich die göttliche Allmacht
widerspiegelt und darin also ablesbar ist, trifft für Novalis genau zu, der sich schon früher die Frage stellte,
in wiefern die „Hieroglyphe“ des Fichteschen Ichs, verstanden als Kraft, Bilder zu erschaffen, zu lesen oder
zu entschlüsseln sei. Der Quasi-Sensualismus und die ganz neue Beharrlichkeit Böhmes für den Körper,
den Affekt, den Wunsch und die Einbildungskraft – beschrieben mit Hilfe von visuellen Metaphern und
Spiegelmetaphern –; seine Metaphysik des ursprünglichen Abgrundes (die später von Schelling
aufgegriffen wurde), des Chaos oder des dunklen Grundes, der dazu berufen ist, sich konfliktgeladen zu
spalten, um sich wieder zu erkennen und zu erleben und zwar im Abbild; die unendliche Dunkelheit der
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
30
Vgl. A. Koyré, Paracelse, Paris, Allia, 2004.
M. Vetö, Nouvelles études sur l‘idéalisme allemand, Paris, L’Harmattan, 2009, S. 17.
WTB, I, 732.
33
Die Eltern von Novalis, vor allem sein Vater, waren dieser lutherianischen Kirche sehr zugeneigt, deren strenge Bildung natürlich
ihren Teil zur Formung des Charakters des Dichters beigetragen hat. Man könnte beinahe sagen, dass diese religiöse Strömung durch
die vollständige Absage an die Welt, an die Freude und das Sinnliche im Allgemeinen, für Novalis als Gegenreaktion die
Anziehungskraft des Sinnlichen noch stärker macht. Dieser hat zu seinem Vater eine eher unstete Beziehung. Sein Vater war ein
schreckhafter Mann, hart, sich und andere mit Vorwürfen überhäufend, und von einer an Fanatismus grenzenden Religiosität.
Novalis empfand dagegen eine große Zärtlichkeit und wahres Mitgefühl für seine Mutter, auch wenn das Leiden sich dadurch in die
Beziehung einfügt. Schwer depressiv durchleidet die Mutter von Novalis tatsächlich schwere melancholische Krisen, die an
Wahnsinn grenzen. Novalis wird so sehr früh mit Geistesstörungen konfrontiert, die in seinem Werk auf verschiedene Weisen
mitschwingen.
34
Vgl. J. Böhme, Sämtliche Schriften, 11 Bände, Hg. Willi-Erich Peuckert, Stuttgart – Bad Cannstatt, Frommann-Holzboog, 195589
35
WTB, II, 500.
31
32
!
136
!
Materie, und der paradox erscheinenden beschützenden Gewalt der Natur: All diese vielen Themen
Böhmes begeistern Novalis und leben in seinem Schaffen fort. Es verwundert nicht: Die Mystik Böhmes ist
im Grunde eine tragische Mystik, die, wie auch die Gedichte der Hymnen an die Nacht, durch die Frage
des Blickes verfolgt wird. Es ist unmöglich, etwas zu sehen, ohne gesehen zu werden – gesehen zu werden
von dem Urgrund der Dinge selbst, die „sprechen“, und des Universums, das „spricht“. Die Anschauung
eines solchen grundlegenden Gesehen-Werdens enthüllt Böhme übrigens die tragische Koexistenz der
Gegensätze innerhalb des Einen. In diesem Zusammenhang wird das Auge des Seienden nicht deshalb
mystisch, weil es mit Gelassenheit den vom Urgrund ausgehenden Blick empfängt, und ihm die Trennung
und Spaltung bekannt gibt. Im Gegenteil betont Böhme entscheidend die Angst, die Verwirrung und das
Trauma – aber auch das Vergnügen – des Spiels der Blicke, durch welche das Seiende sich der Welt und
sich selbst öffnet, ebenso wie in den Hymnen an die Nacht. Der „Mystizismus“, um den es hier geht,
erscheint folgerichtig auf dieses Spiel der Blicke, das gleichzeitig beklemmend und ekstatisch ist. Das für
Böhme und mehr noch für Novalis Bedeutende besteht im völligen Sich-Hingeben an die reine Dunkelheit
des nächtlichen Blickes. Maximierung des Perspektivismus, gewolltes Übersteigern der Sprache der
vielfach kombinierten Dinge, die schwindelerregend „sprechen“, die Einführung eines Blickes aus dem
Abgrund – all das geht bei Novalis an die Grenzen der Aporie, da er buchstäblich eine Gewalt hervorbringt,
die ohne Lösung und ohne dauerhafte Versprechungen ist. In der dunklen Nacht gibt dieser Blick jedenfalls
keine onto-theologische Antwort auf das Rätsel der Dinge, die sprechen, aber er enthüllt für sich selbst das
oben angedeutete „alles spricht“. In diesem Sinne nimmt das Auftreten eines Blickes von unten nicht
vorlieb damit, die Vielheit der möglichen Antworten (der Blicke in Ihrer Vielheit) auf das Rätsel des Inder-Welt-Seins zu „befördern“, ohne sich einer besonderen zuzuwenden – und wahrt insofern den
Perspektivismus. Novalis verwertet diese Intuitionen Böhmes neu und vermischt sie mit einem nun
veränderten Fichte: Die Grundlage des Seins, um in der Spaltung von Ich und Nicht-Ich zu ek-sistieren,
könnte schon ein Blick durch das Auge sein, durch das ich sehend werde. So gibt es nichts Sicheres und
dies tritt bei Novalis in Konkurrenz zu seiner Vorliebe zur Harmonie von Leibniz.
Wenn die Arbeiten des Mediziners, Botanikers und Theosphen Kurt Sprengel uns nicht helfen, die
neuplatonischen Werke, deren Kenntnis Novalis aus erster Hand bezog, zu kennen, so verhelfen sie uns
immerhin dazu, eine solche Aufklärung in den Wind zu schreiben. Nachweislich hat Novalis zur Zeit des
Allgemeinen Brouillons diesen Autor aufmerksam gelesen und seine Gedanken weiterverwendet. Sprengel
propagiert eine absichtlich synkretische und „philosophische“ Medizin, und vereint mehrere Dialoge
Platons mit den Enneaden von Plotin, mit bedeutsamen Texten von Paracelsus und mit persischer Magie
(den Chaldäas und der Kabbala), wobei alle diese Elemente innerhalb einer doch zumindest geschraubten
Theorie interagieren, bei der aber nur das Resultat bzw. die Wirksamkeit zählt, wie es schon der Titel zu
seinem Aufsatz andeutet: Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneikunde36. Vor allem dieser
Charakter der Umsetzung oder der Wirksamkeit, so könnte man sagen, wird überall hervorgehoben und
von Novalis aufgegriffen: Die Namen der Sprachen, aber auch eher indirekt das organisch Erlebte, das der
Körper innerlich erprobt, sind Aktionen. Alles hängt so von der Art und Weise ab, auf die eine Kraft mit
einer anderen interagiert, und davon, was sie als „Störung“ in der Sprache oder im Organismus
hervorbringt. Diese Theorie der Pathologie tritt in Dialog mit dem Novalisschen Begreifen des Fichteschen
Transzendentalismus und der seinerzeitigen Ausarbeitung der Logologie. Daher wird Novalis nie den
Neuplatonismus und die rheinländische Mystik „kommentieren“, wie er einst Fichte oder Reinhold
kommentierte. Trotz seiner unendlichen Neugier und seines Sinns für die Vielheit der Erkenntnis, sucht der
zweifellos noch junge Novalis zur Zeit des Allgemeinen Brouillons und seiner neuplatonistischen Arbeiten
keinen philosophischen Lehrmeister mehr. Gleichzeitig kommen seine unleugbaren Zickzack-Bewegungen,
die nicht eine Unzulänglichkeit seines Denkens sind, sondern sogar dessen Orientierung, nicht im
Geringsten einem Fehlen einer eigenen Perspektive oder einer eigenen „Stimme“, wie es Stanley Cavell
bezeichnet hätte, gleich. Ausgehend vom Problem der schöpferischen Einbildungskraft und ihrer Sprache
im Fichteschen Kontext, begegnet Novalis dem Stil, den Formulierungen und vor allem der Atmosphäre
des Neuplatonismus und der Mystik und saugt dies insofern in sich auf, als diese Elemente sein System der
Systemlosigkeit konsolidieren. Dieses wirkt übrigens spontan als rationalistischer Filter37 der Themen, die
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
36
K. Sprengel, Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneikunde, Halle, 1792-94 (Bd. I-III), und 1799 (Bd. IV).
Unserer Meinung nach schadet der Novalis-Forschung nichts mehr als die gefährliche Vereinnahmung des Dichter-Philosophen
durch einige zeitgenössische Strömungen der religiösen Anthroposophie und anderer spiritueller Ideologien, um nicht zu sagen
charismatischer Bewegungen. Noch problematischer als die einfach nur naiven Kommentare von Armel Guerne (in Frankreich),
machen die Arbeiten (beispielsweise eines Jean Moncelon, die uns als „Lehrlinge“ des Dichters gewinnen will, vgl.:
http://novalis.moncelon.com), die zunächst sachlich Anfang des 20. Jh. von Emile Spenlé begonnen wurden, und in Folge von
Maurice Besset fortgeführt wurden, aus der Romantik von Novalis eine Karikatur der Schwärmerei. Ohne sich in der Lektüre der
Texte um die philosophische und philologische Strenge zu kümmern, und dabei absichtlich die reflektierenden Fragen und den
Kontext des Athenäums außer Acht lassen und die starke Komplexität des Novalisschen Schreibstils nicht wahrnehmend und alle
Zweideutigkeiten oder widersprüchlichen Forderungen dieses postkantianischen Werkes, wie auch seine Ironie leugnend, geben sie
sich damit zufrieden, die bei Novalis allgegenwärtigen mystischen Themen aufzugreifen, sich dafür zu begeistern, und ergehen sich
37
!
137
!
die Theosophie oder die neuplatonistische Medizin hervorgebracht haben, und beschäftigt sich vielmehr
damit, diese Themen zu einer Synthese zu bringen, als sie schrittweise zu kommentieren.
2. Überschneidungspunkte zwischen den verschiedenen Herangehensweisen: Die
poetische Konstruktion der Welt und das Problem des Sinnlichen
Zunächst versuchen wir jede der fünf Herangehensweisen untereinander zu verbinden, oder sie
wechselseitig auf ihre Bezüge und Anklänge zu untersuchen. Der Neuplatonismus gilt hier als roter Faden.
Auch wenn dieser Zugang der historiographisch am wenigsten abgesicherte ist, so wird er sich doch als
geeignet erweisen, auf die anderen Zugangsarten auszustrahlen und mit ihnen in Synergie zu treten. Es ist
daher diese Herangehensweise, die wir in ihrer Komplexität und umfassenden Bedeutung für Novalis‘
Denken begreifen müssen. Gehen wir zu Beginn von einer konkreten historiographischen Tatsache aus,
bevor wir sie sodann auf die Ebene der philosophischen Reflexion erheben wollen.
Eine hermeneutische Möglichkeit von Tiedemann, die unsere Aufmerksamkeit erregt, verdient es, hier
behandelt zu werden. Wie bereits erwähnt, zeigt Novalis sich vom Vater des Neuplatonismus ganz in Bann
geschlagen, dem er vor allem vermittels der Schrift Der Geist der spekulativen Philosophie begegnet. Der
Autor dieses Handbuches nun steht seinerseits Plotin allerdings stark kritisch gegenüber, dem er, von der
Kantischen Philosophie geprägt, vorwirft, ein System der reinen Begriffe zu entwerfen, welches
unabhängig von der sinnlichen Erfahrung bestehe, und damit „logische Emanation” und „physische
Erzeugung”38 verwechsle. Daher ist es umso bemerkenswerter, dass im Fragment 908 des Allgemeinen
Brouillons Novalis sich von dieser Kritik inspirieren lässt und sie auf Fichte anwendet. Aber wenn er selbst
die Annäherung an Plotin vollzieht, lässt er zumindest teilweise die kritische Tragweite dieses Arguments
beiseite:
Das logische Schema der Wissenschaft hat Fichte gleichsam zum Muster einer realen Menschenkonstruktion und
Weltkonstruktion gewählt. Seine Ähnlichkeit mit Plotin.
Fichte tut durch geschriebene Worte und Wortformeln – Kombinationen – innere Wunder – oder er hält sie für eine
willkürliche Wunderhandlung39.
Nirgends grenzt sich der Autor von dieser Methode ab. Das, was einer Kritik ähneln könnte, ist es nicht
wirklich in den Augen eines Lesers, der Novalis kennt, und der für dessen offenkundige Leidenschaft für
die Macht der Kombinationen von „Worten und Wortformeln“ empfänglich ist. Selbstverständlich
unterstützt der Hintergrund des Leibniz’schen Logizismus die Idee einer rein logischen Weltkonstruktion.
Aber wenn die kritische Tragweite von Tiedemanns Argument hier außer Acht gelassen wird, geschieht
dies aus zweierlei Gründen: Einerseits da die Fichte-Studien, die drei Jahre zuvor entstanden sind, und sich
ganz unmittelbar mit dem Erbe Fichtes auseinandersetzen, im Gegenteil die in der Wissenschaftslehre
ausführlich behandelte Unmöglichkeit betonen, sich von der sinnlichen Erfahrung abzuwenden. Dies hat
Novalis sicher nicht ganz vergessen und daher muss er sich hier nicht eigens damit auseinandersetzen.
Andererseits, da Novalis in erster Linie vollständig darum bemüht ist, den grundlegend konstruktiven, bzw.
konstruktivistischen Charakter der Philosophie aufzuwerten, indem er sich versönlich zeigt mit der
„wunderlichen” Erschaffung, d.h. Konstruktion der Welt von Fichte und Plotin, die für Tiedemann zum
Problem wird. In Wahrheit nämlich – und das ist für uns der entscheidende Punkt – möchte Novalis uns
dazu zwingen, einen gewissen logizistischen Konstruktivismus und das Sinnliche, welches in bzw. durch
die Vorstellung und das Bild verkörpert wird, zusammenzudenken. Ohne diese Prämisse lässt sich nicht
verstehen, warum zwei Seiten später, diesmal im Stile Tiedemanns, der dieser Frage aber weniger
Bedeutung beimisst, Novalis von der Transzendentalphilosophie fordert, dass sie die Erfahrung dort zu
suchen habe, wo sie wirklich ist, und sich so zu einem „tätigen Empirismus“ verwandelt, der sich
wiederum der Poetik annähert. Folglich ist die Poietik für die Frühromantik gleichzusetzen mit der
Konstruktion und der Produktion des Neuen – was ja auch der etymologischen Bedeutung des Wortes
poiesis entspricht. Hier zeigt sich eine häufig in Novalis‘ Werk vorkommende Art von Denkweise. Novalis
fordert also von der Transzendentalphilosophie, dass sie die Ansprüche des sinnlichen Experimentieren
geltend macht, und er fordert weiterhin von der Transzendentalphilosophie, dass sie sich weitaus gewagter
bei der „logischen“ Organisation der Welt konstruktiv zeigen solle (so viele Bedingungen, die einfach von
Plotin hätten erfüllt werden können!). Auf den Punkt gebracht, soll die Transzendentalphilosophie
poetischer werden:
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
schließlich mitleidig in umso schädigendere und reaktionäre Nachrede, als sie guten Willens sind. All dies geht nicht im Geringesten
auf das Projekt von Novalis ein.
38
Vgl. D. Tiedemann, s.o., Bd. III, S.363ff.
39
WTB, II, 684.
!
138
!
Plotin war schon in betreff der meisten Resultate – kritischer Idealist und Realist. /Fichtes und Kants Methode ist
noch nicht vollst[ändig] und genau genug dargestellt. Beide wissen noch nicht mit Leichtigkeit und
Mannigfaltigkeit zu experimentieren – überhaupt nicht poëtisch – Alles so steif, so ängstlich noch.
Die freie Generationsmethode d[er] Wahrheit kann noch sehr erweitert und simplificirt – überhaupt verbessert
werden. Da ist nun diese ächte Experimentirkunst – Die Wissenschaft des thätigen Empirismus. (Aus d[er]
Tradition ist Lehre geworden) (Alle Lehre bezieht sich auf Kunst – Praxis.)
Man muß d[ie] Wahrheit überall vergegenwärtigen – überall repraesentiren (im thätigen, producirenden Sinn)
können40.
Hier wird deutlich erkennbar, auf welche Art und Weise Novalis die Kommentatoren benutzt und wie er
sie in seine eigenen „philosophischen Operationen“ verwickelt, bevor er sie dann auf seinem weiteren
Denkweg liegen lässt. Diese Textstelle ist nicht zu verstehen, wenn man die Unebenheiten in Novalis‘
Gedankengut glättet, ebenso wie die Zweideutigkeiten und die scheinbar widersprüchlichen Forderungen.
Um es mit einer bekannten und in diesem Kontext nicht uninteressanten Redewendung zu benennen,
scheint es, als wolle Novalis auf mehreren Hochzeiten tanzen ! In Jena, in einer Umgebung
postkantianischer und kritischer Atmosphäre ausgebildet, freundet Novalis sich umso leichter mit
Tiedemanns Ideen bezüglich der Notwendigkeit einer sinnlichen Erfüllung der logischen Kategorien, an,
als er selbst zum Zeitpunkt, an dem er dieses Fragment schreibt, mitten in der Ausbildung zum
Mineralogen steckt, und sich mit den Besonderheiten und Eigenheiten beschäftigt, die er sieht, fühlt und
beschreibt. Jedoch distanziert er sich von dem Kommentator, als dieser, darum besorgt, Doktrinen
aufzustellen, ohne sich um die philosophische Geste, d.h. um die Poietik zu kümmern, die den
theoretischen Grundentscheidungen der Philosophen vorausgeht, alles beiseite lässt, worin sich der
gleichzeitig perspektivistische und konstruktivistische Charakter des Denkens zeigt. Mit anderen Worten
trennt er sich von Tiedemann, sobald dieser der Performativität des Schreibens nicht genügend Raum
zuerkennt, wie er es beispielsweise bei Plotin tut. Diese Dimension ist so wichtig, dass Novalis, in diesem
Fragment auf noch nicht dagewesene und überraschende Weise Poiesis und Praxis identifiziert41.
Diese Überlegungen sind nicht allein aus sich selbst heraus verständlich. Kant und Fichte, die übrigens
an anderer Stelle für ihre transzendentale Poietik gelobt werden, müssen sich manchmal, so wie es hier der
Fall ist, eine gewisse Trockenheit oder eine gewisse Strenge in der Generationsmethode vorwerfen lassen,
deren unangefochtener Meister in der Transzendentalphilosophie dennoch Fichte bleibt42. Darüber hinaus
steckt dieses Fragment Grenzen der Philosophie Kants und Fichtes auf dem Gebiet des tätigen Empirismus
ab. Das ist der Gipfel! Kam Novalis nicht auf seine Kosten in „Wortformeln“ der verschiedenen „logischen
Weltkonstruktionen“, die mutmaßlich unabhängig von der Erfahrung sind? Und wie kommt Plotin
seinerseits zu einer genetischen Philosophie, die gleichzeitig von einem perspektivistischen Logizismus
und von „der ächten Experimentirkunst”, von diesem „Genie zum Experimentiren”43 getragen wird ? Es ist
ein Geheimnis, vor allem in dem Maße, wie Tiedemann allein Novalis in die Philosophie Plotins einführt,
und wie er sich was ihn anbelangt vom Neuplatonismus abkehrt. Aber auf jeden Fall – und das ist das
wesentliche – muss man, Novalis zufolge, das Sinnliche „experimentieren“, in genau dem gleichen Maße
in dem man dieses in einem logischen System konstruiert. Darüber hinaus, so zeigt es die zitierte Textstelle
gegen Ende an, wird die neue Verschmelzung von sinnlichem Experimentieren und Logizismus in der
Nähe von Vorstellung und Bild zu suchen sein, welche als System der Systemlosigkeit zu verstehen sein
wird.
Aber spinnen wir den selben Faden noch ein bisschen weiter. Tiedemann wirft Leibniz in aller Schärfe
vor, den selben Fehler wie Plotin zu begehen, nämlich die Prinzipien mit den Dingen zu verwechseln. Von
Kant noch einmal inspiriert, seinerseits selbst aufmerksamer Leser von Hume, weist Tiedemann den leeren
Perspektivismus des Vaters der modernen Kombinatorik zurück. Wenn die sinnliche Erfahrung nicht die
verschiedenen Monaden erfüllen kann, d.h. ebenso die verschiedenen Gesichtspunkte, die das Universum
von sich selbst hat, und die nur logische Prinzipien, die von Gottes Gnaden unmittelbar ontologischen Wert
haben, garantieren, so geht es nicht um einen echten Perspektivismus. Aus Tiedemanns Sicht genügt es, aus
Leibniz einen Schwärmer oder sogar einen Neuplatoniker zu machen. Er wird übrigens explizit in die Nähe
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
40
WTB, II, 687.
Wir danken Jean-Christophe Lemaître für diesen Hinweis.
42
Wie wir bemerkt haben, benutzt Novalis gerne französische Begriffe, wie es seit dem 18. Jahrhundert üblich war. Novalis
verwendet diese allgemein um den Sinn in Umlauf zu bringen. Fichte benutzt lieber die Wörter von germanischer Wurzel, besonders
wenn er über die Tätigkeit redet; er benuzt z.B. den Begriff Hervorbringung bzw. Hervorbringen. Seinerseits aber spricht Novalis
von einer Generationsmethode (ein Begriff das er auch anderswo gefunden haben könnte). In diesem Themenbereich geht Novalis
bei Übersetzungs-Vorgängen ziemlich systematisch vor, wobei er abwechselnd die lateinische oder germanische
Ursprungsbedeutung heranzieht, je nach dem aktuellen Kontext.
43
WTB, II, 488.
41
!
139
!
von Jacob Böhme gerückt44. Wenn sie auch unter anderem durch das Thema der Ursprache miteinander
verbunden sind, scheint dieser Vergleich heute für uns erzwungen, da sich die theosophischen
Spekulationen der Renaissance und der Rationalismus der postcartesianischen Monadenlehre nur wenig
ähnlich sind.
Wieder einmal nimmt Novalis diese Kritik bereitwillig auf, und, obwohl er ihren Voraussetzungen nicht
vollständig zustimmt, macht er sich indirekt diesen Vergleich Tiedemanns zu eigen. Tatsächlich kann
letzterer unempfänglich für jegliche konstruktivistische Poietik sein, so hat er dabei doch nicht weniger
recht, wenn er von den Begriffen fordert, dass sie sich durch die bloße Anschauung ausweisen. Wenn er
das ist, was im eigentlichen Sinne ein Perspektivist gennant werden kann, so legt Novalis seit den FichteStudien wiederholt nahe, dass die aller abstraktesten Kombinationen die Wahrnehmbarkeit selbst, und
damit die Sinnlichkeit ganz allgemein, auf die Probe stellen müssen. So hinterlässt der Geist des
Transzendentalismus unauslöschliche Spuren bei Novalis.
Das funktioniert nicht ganz problemlos, da der junge Schriftsteller keinesfalls auf die Leibniz’sche
Vielfalt begrifflicher Kombinationen verzichten möchte. Im Werk mit dem Titel Symbolismus und
symbolische Logik schreibt John Neubauer folgendes:
Novalis glaubt daher in Übereinstimmung mit Kant, dass die philosophische Analyse reiner Begriffe keine
synthetische Wissenschaft ergibt [in diesem Sinne irrt also die klassische Metaphysik, AD], er sieht aber in der
Konstruktion (‚Plastisirung‘) von a priori Anschauungen die Möglichkeit einer durch die Einbildungskraft
hervorgebrachten neuen Metaphysik45.
Demnach würde er, schenkt man Neubauer glauben, vorschlagen, die kantische Trennung von
mathematischer und philosophischer Erkenntnis zu beseitigen wollen, wobei die mathematische Erkenntnis
(d.h. die Erkenntnis die ihre Begriffe in der reinen Anschauung konstruieren kann) das Allgemeine im
Besonderen, ja sogar im Einzelnen, intuitiv unmittelbar erkennt, während die philosophische Erkenntnis
(d.h. die durch Begriffe diskursiv-reflektierende Erkenntnis) das Besondere nur im begrifflichen
Allgemeinen betrachtet. Genauer stellt sich in unserem Sinne bei Novalis die Frage nach einer
Kombinatorik, die, auf Fichte zurückgehend, durch die intellektuelle Anschauung erst ermöglicht wird:
Novalis, der hier in gewisser Weise an Schelling anknüpft, sieht nicht ein, weshalb alle Kunst und alle
Wissenschaft einschließlich der Philosophie nicht auf die gleiche Weise wie die Mathematik funktionieren
sollte, indem sie sich einzig auf die reine Selbstanschauung stützt, welche – darauf ist nachdrücklich
hinzuweisen – nur, und zwar auf Grund der transzendentalen Einbildungskraft, gleichzeitig mit der
Einschränkung der sinnlichen Anschauung existiert oder hervorgebracht werden kann. Die Leibnizsche
Kombinatorik verwandelt sich in Konstruktion und in hervorbringende Einbildungskraft von sinnlichen
Perspektiven. Die Kombinatorik, wie auch die ganze Algebra sind beide selbst nur eine Sache der
Einbildungskraft, der Schaffung von allgemeinen und notwendigen Vorstellungen, und deshalb schreibt
Novalis in Allgemeinen Brouillon:
Algeber und combin[atorische] Analysis sind durchaus kritisch. […] Sonderbar ist es, daß man die Analysis
meistens nur zu höherer Geometrie oder Mechanik gerechnet hat. Sie, mit Inbegriff d[er] comb[inatorischen]
An[alysis], sind auch eigentlich transcendente Geometrie und Mechanik. Sie beschäftigen sich mit den
tabellarischen Formen (Figuren) und Bewegungen der Zahlen oder Größenzeichen. (Vid. Leibnitzens Vorrede bey
Hindenburg.) […]
Die Wort und Zeichenmalerey gewährt unendliche Aussichten. Es lassen sich auch eine Perspectiv und
mannichfache tabellarische Projectionen der Ideen in ihr denken, die ungeheuren Gewinn versprechen.
Eine sichtbare Architektonik – und Experimentalphysik des Geistes – eine Erfindungskunst der wichtigsten Wort
und Zeichen Instrumente läßt sich hier vermuthen46.
In der Mathematik, wie auch in der Philosophie, könnten wir es zu tun haben mit der unmittelbaren
„Absprache”, bzw. Übereinstimmung des Allgemeinen mit dem Besonderen, z.B. in der Vorstellung, im
Schreiben, in der einzelnen Perspektive selbst. Letztere wäre immer unterstützt von einer intellektuellen
Anschauung, deren Gebrauch, je nach der Art der angestrebten Reflexivität (philosophisch, mathematisch,
poetisch, usw.), klarerweise nicht derselbe ist. Eine solche Erkenntnis wird in allen Fällen in der
Anschauung konstruiert worden, gemacht worden sein, wie eine Wort- oder Zeichenmalerei. Seien wir
indessen ehrlich: Nirgendwo macht Novalis sich die Mühe, Stufe für Stufe die Beweisführung darzulegen,
die es ihm zu ermöglichen scheint, die Forderungen des Kantianismus und die grenzenlose Offenheit der
leibnizschen Kombinatorik zu vereinen. Vereinzelte Anmerkungen, einige Gleichungen, verbunden mit
Kommentaren und allgemeinen Überlegungen zur Mathematik genügen dafür nicht. Aber das Verlangen,
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
44
D.Tiedemann, s.o., S.356.
J. Neubauer, Symbolismus und symbolische Logik, Die Idee der „Ars Combinatoria“ in der Entwicklung der modernen Dichtung,
W.Fink Verlag, 1978, S.102.
46
WTB, II, 625-626.
45
!
140
!
den Fichteschen Transzendentalismus und die Mathematik in eine Theorie oder eher eine Praxis der
Darstellung, bzw. der Vorstellung, bzw. der Repräsentation, der symbolischen Konstruktion der sichtbaren
Welt, zusammenzufassen, kann dennoch als ausreichend explizit betrachtet werden:
Deutlich wird etwas nu[r] [du]rch Repräsentation. Man versteht eine Sache am leicht[este]n, wenn man sie
repraesentirt sieht. So versteht man das Ich nur insofern es vom N[icht]-I[ch] repraesentirt wird. Das N[icht]-I[ch]
ist das Symbol des Ich und dient nur zum Selbstverständniß des Ich. So versteht man das N[icht]-I[ch] umgekehrt,
nur insofern es vom Ich repraesentirt wird, und dieses sein Symbol wird. In Hinsicht auf die Mathem[atik] läßt sich
diese Bemerckung so anwenden, daß die Mathem[atik], um verständlich zu seyn, repraesentirt werden muß. Eine
Wissenschaft läßt sich nur durch eine andre wahrhaft repraesentiren. Die paedagogischen Anfangsgründe der
Mathem[atik] müssen daher symbolisch und analogisch seyn. Eine bekannte W[issenschaft] muß zum Gleichniß
für die Mathematik dienen und diese Grundgleichung muß das Princip der Darstellung der Mathematick werden./
[…]
/Gott selbst ist nur durch [Re]praesentation verständlich./47.
Sehen bedeutet demnach Repräsentationen zu erzeugen, und sehen zu lassen, was wiederum bereits eine
Handlung des Verstehens und des Vorlegens einer Interpretation darstellt: Ein irgendeiner Teil einer
Verbindung, bzw. Kombination ist stets Träger einer symbolischen Realität, die, wenn sie sich der
Repräsentation entzöge, sich ebenso der Lektüre, der Interpretation und der Übersetzung, die daraus zu
machen wäre, entzieht. Dies ist genau das hermeneutische Problem des Verstehens, welches hier
unvereinbar mit der mathematischen Repräsentation erscheint. Die Mathematik wird als ein in die äußere
Welt gekehrter Verstand gesehen, ein sichtbarer Verstand, der symbolisiert und sinnlich erfassbar ist und
daher interpretiert werden kann:
Am Ende ist die ganze Mathemat[ik] gar keine besondre Wissenschaft – sondern nur ein allgem[ein]
wissenschaftliches Werckzeug – ein schönes Werkzeug ist eine Contradictio in adjecto. Sie ist vielleicht nichts, als
die exoterisirte, zu einem äußern Object und Organ gemachte Seelenkraft des Verstandes – ein realisirter und
objektivirter Verstand. […] – Alles soll aus uns heraus und sichtbar werden – unsre Seele soll repraesentabel
werden – Das System der Wissenschaften soll symbolischer Körper (Organsystem) unsers Innern werden. – Unser
Geist soll sinnlich wahrnehmbare Maschine werden – nicht in uns, aber außer uns. / Umgekehrte Aufgabe mit der
Äußern Welt./48.
Erinnern wir uns hier an das oben zitierte Fragment, in welchem Novalis, von Fichte inspiriert, die
kantischen Verstandeskategorien nicht als starre Struktur, sondern als Handlungen, die zum „Sprechen“
gebracht werden müssen, gleichsam als das Alphabet des menschlichen Denkens (Alphabet cogitationum
humanarum) und dessen kombinierbare Buchstaben, betrachtet. Wenn man die Mathematik einem
Verstand gleichsetzen kann, dann muss auch sie zum sprechen gebracht werden können, wie es Novalis
wiederholt suggeriert. Sie muss an unserem imaginativen Verständnis der Welt teilhaben, das heißt an
unserer Produktion von Sinn in oder als Welt, da man nicht übersetzen oder interpretieren kann, ohne
gleichzeitig zu produzieren. „Eine sinnlich wahrnehmbare, zur Maschine gewordene Einbildungskraft ist
die Welt. Die Einbild[ungs]Kr[aft] ist am leichtesten und ersten zur Welt gekommen oder geworden“49.
Daher verbinden viele der Fragmente Mathematik und Grammatik („die eigentliche Sprache ist ein
Logarythmen System“ 50 ), oder Mathematik und Übersetzung („MATHEM[ATIK]. Die Perspectiv ist
gleichsam die Lehre von der Übersetzung – oder Flächenkomposition – der Körper“51) miteinander.
Kurz gesagt, muss man Perspektiven (die ebenso „Ergebnisse“, bzw. Wirkungen einer schöpferischen
Kraft sind) erschaffen und konstruieren, die über die Philosophie, die Naturwissenschaften und die
Literatur untereinander logisch angeordnet sind, und zwar in der Art und Weise des „tätigen Empirismus”.
Solche Perspektiven müssen anders gesagt eine Vielfalt von sinnlichen Erfahrungen fördern, die selbst
Übersetzungen und Interpretationen „in actu“ sind. Es ist natürlich keine Selbstverständlichkeit. Was ergibt
sich daraus ? Im Fall der einzigen Transzendentalphilosophie ist es angebracht, verschiedene Perspektiven
direkt auf dem Boden des tätigen Empirismus zu erschaffen, die sich als allgemeine und notwendige
Bedingungen der Möglichkeit der sinnlichen Erfahrung darstellen. Es handlet sich um die transzendentalen
Perspektiven, die die besonderen Perspektiven, die man von der Welt haben kann, ermöglichen. Was soll
das bedeuten? Plotin scheint diese Unternehmung geglückt zu sein, aber der Dichterphilosoph hatte nur
geringe und indirekte Kenntnis davon. Der „Fichteanismus“ von Novalis ist in dieser Hinsicht
aufschlussreicher und vorrangig. Denn in der Auseinandersetzung mit dem von Novalis
„neuplatonisierten” Fichte fordert der Dichterphilosoph zum ersten Mal von der Philosophie, dass sie den
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
47
WTB, II, 478.
WTB, II, 484.
49
WTB, II, 484.
50
WTB, II, 624.
51
WTB, II, 606.
48
!
141
!
tätigen Empirismus und die konstruktive Logik / Poietik anknüpft. Und das nicht deshalb, weil die
Philosophie Fichtes in dieser Hinsicht enttäuschend wäre, sondern vielmehr weil sie, trotz ihrer
offenkundigen Unvollkommenheit in den Augen von Novalis, die Frage geradezu herausfordert und
bewusst eine solche Anknüpfung, ja sogar Legierung, entwickelt hat. Wie er mehr als drei Jahre nach den
Fichte-Studien, und trotz einiger aufeinanderfolgender Enttäuschungen bei seiner Lektüre des Jenaer
Meisters, schreibt: „Selbst Fichtens Phil[osophie] ist nicht ganz frey von genialischer Empirie“52. Dies ist
eine Behauptung, die für einen orthodoxen Fichteaner überraschend wirken mag, nicht aber für Novalis. Er
schreibt dies an mehr als einer Stelle, etwa im Allgemeinen Brouillon:
Alles kann zum Experiment – alles zum Organ werden. Ächte Erfahrung entsteht aus ächten Experimenten
(Versuche sind Experimente.) Fichte lehrt das Geheimniß des Experimentierens – er lehrt Thatsachen und
Thathandlungen, oder wirckliche Sachen und Handl[ungen] – in Experimente und Begriffe verwandeln53.
Die Logologischen Fragmente von 1798, zentral für den Werdegang von Novalis, beanspruchen diese
Abstammung von Fichte:
<Es wäre wohl möglich, daß Fichte Erfinder einer ganz neuen Art zu denken wäre – für die die Sprache noch
keinen Namen hat. Der Erfinder ist vielleicht nicht der fertigste und sinnreichste Künstler auf seinem Instrument –
ob ich gleich nicht sage, daß es so sey – Es ist aber wahrscheinlich, daß es Menschen giebt und geben wird – die
weit besser Fichtisiren werden, als Fichte. Es können wunderbare Kunstwercke hier entstehn, wenn man das
Fichtisiren erst artistisch zu betreiben beginnt54>.
„Fichtisieren“ lässt sich aus Novalis‘ Feder erstaunlicherweise als Synonym für „poietisieren“
verstehen. Und man könnte das „Fichtisieren“ auf viele Arten erweitern, zum Beispiel auch als
„Biblisieren“. In einem Brief an Friedrich Schlegel vom 7. November 1798 erinnert Novalis an ein
gemeinsames Projekt die Bibel betreffend, zugleich der Traum sie neu zu schreiben bzw. deren Exegese
umzustürzen, aber auch die „Theorie der Bibel” zu überdenken, wobei die Bibel mit ihrem Vermögen die
Schrift und die Bildung der Wörter zu reflektieren als Ideal aller Enzyklopädie betrachtet wird. So
appelliert er an eine „Universalmethode des Biblisirens“55. So wie die Bibel stelle die Enzyklopädie des
Wissens also eine „symbolische, indirecte, Constructionslehre des schaffenden Geistes“56 dar. In dieser
Weise muss man den Allgemeinen Brouillon verstehen. Es handelt sich nicht um ein oberflächliches Spiel
von abstrakten Kombinationen, welche die leeren deterministischen und wirklichkeitsfremden Strukturen
des Wissens klar hervorheben würden. Es handelt sich im Gegenteil um die Schöpfung, um die sinnliche
Konstruktion – symbolisch und geeignet zur Interpretation – eines Systems der Systemlosigkeit, in
welchem die Elemente zirkulieren und sich verändern, teils unvorhergesehen und teils unvorhersehbar: Die
Präexistenz der logischen Perspektiven auf die Realität würde nämlich eine Interpretation ihrer
Symbolhaftigkeit verhindern, da es keine Interpretation, bzw. Übersetzung gibt, ohne Schaffung von
Neuem. Als Erbe von Leibniz bzw. Paracelsus interessiert sich Novalis natürlich für erwartete Analogien
und für verschiedenste Anordnungen, aber wertet ebenso sehr die Unterschiede, die Dissonanzen, Aporien,
Zufälle und unvorhergesehenen Zusammenstöße zwischen den Perspektiven auf. Sein Anliegen ist weniger
die Vorherbestimmtheit der Dinge aufzudecken, als sie vielmehr zum Sprechen zu bringen, ihnen eine
sinnliche Stimme zu geben und sie folglich performativ zu machen, so wie er es in seinen mathematischen
Schriften zu den algebraischen Zeichen beschreibt57. Die Perspektiven bringen die Realität zum Sprechen,
sie „instituieren”, sozusagen, die Realität. Dieser originale Perspektivismus der Performativität hat nun ein
spezifisches Verhältnis mit dem Unvorhersehbaren zur Folge. Wenn man die performative Seite der
Perspektiven annimmt, so muss man jene des Unvorhersehbaren auch annehmen, da man zwar auf die
Auswirkungen der Performativität spekulieren kann, sie aber im Voraus nicht kennen kann. Novalis wird
so dazu geführt, dem Zufall und der Zufälligkeit in einer Vielzahl von Fragmenten eine große Bedeutung
beizumessen. Natürlich empfindet die Novalis’sche Systematik eine Abneigung dagegen, eine Seite zu
bevorzugen, sei es das System oder der Zufall. In einer Systematik dieser Art wird das
„Allersystematischste“ zugleich das am stärksten dem Zufall zuneigende:
Das Individuum wird das Vollkommenste, das rein Systematische seyn, das nur durch einen einzigen abs[oluten]
Zufall individualisirt ist – z.B. durch seine Geburt. In diesem Zufall müssen alle seine übrigen Zufälle, die
unendliche Reihe seiner Zustände, eingeschachtelt liegen, oder noch besser, als seine Zufälle, seine Zustände
determinirt seyn. Ableitung eines individuellen Lebens aus einem einzigen Zufalle – einem einzigen Act der
Willkühr.
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
52
WTB, II 708.
WTB, II, 630.
WTB, II, 314.
55
WTB, I, 673.
56
WTB, I, 673.
57
Vgl. etwa WTB, II, 484.
53
54
!
142
!
Zerlegung Eines Zufalls – Eines großen Acts der Willkühr in mehrere – in Unendliche – durch allmäliche
Aufnahme – langsame, successive Eindringung – Geschehung.
Ein Romanschreiber macht eine Art von Bouts rimes – der aus einer gegebenen Menge von Zufällen und
Situationen – eine wohlgeordnete zweckmäßige Reihe macht – der Ein Individuum zu Einem Zweck durch alle
diese Zufälle, die er zweckmäßig [erfunden hat] hindurchführt. Ein eigenthümliches Individuum muß er haben, das
die Begebenheiten bestimmt, und von ihnen bestimmt wird58.
Dieser Textauszug schwächt die Novalislesart, für welche die Würfel in den Texten Novalis’, z.B. im
Heinrich von Ofterdingen, bereits im Voraus gefallen sind, zugunsten einer Kombinatorik, die gleichzeitig
esoterisch und deterministisch ist. Novalis bekundet überall sein Interesse für den von Schiller entlehnten
Begriff des Spiels, der auf jegliche Tätigkeit ausgeweitet wird: „<Spielt Gott und die Natur nicht auch?
Theorie d[es] Spielens. Heilige Spiele. reine Spiellehre – gemeine – und höhere. Angewandte
Spiellehre.>“59 Die (Un-)Bestimmtheit wird ausgespielt von dem Ich und der Welt, und die Aktivität des
Spielens selbst bestimmt sie. Es geht auch darum, das Geschehen zu denken. Im Ganzen strebt Novalis, wie
übrigens die anderen Romantiker auch, danach, zwei wesentliche Elemente gleichzeitig zu denken.
Einerseits versucht er durch die Poiesis die allgemeinen und notwendigen Bedingungen unseres
Verhältnisses mit der Welt erscheinen zu lassen (denn, so schreibt er: „<Der Künstler ist durchaus
transscendental>“60). Unter dem Ausdruck „die Welt“ ist übrigens bereits die Schöpfung für die Fichte
lesenden Schriftsteller des Athenäums, zu verstehen, da das menschliche, sowie das nicht-menschliche
poietisch-praktische Handeln die Welt ist 61 . Andererseits strebt er danach, das Unvorhergesehene zu
denken, insofern es sich um die Zufälligkeit der Geschichte handelt („Der Dichter betet den Zufall an“62),
bzw. um das große metaphysische Unbekannte, das plötzlich den Schleier unserer Erkenntnisse zerreißt
(„Das Unbekannte, Geheimnißvolle ist das Resultat, und der Anfang von Allem“63).
3. Eine metaphysische Sophistik?
Unauffälig haben wir an den Ufern von Platons Sophistes angelegt. Es ist gleichzeitig die spezifische
Besonderheit und der „Anspruch” des Bildes, so wie es in diesem grundlegenden Dialog erarbeitet wird,
die widersprüchliche Forderungen der Poietik zu versalmmeln, und sich dennoch schlussendlich davon
abzuwenden. Es ist bekannt, wie sehr der Sophistes den Neuplatonismus geprägt hat. Wenn Novalis seine
Kenntnisse darüber vor allem aus Vergleichen bezieht, so mündet sein Weg, verkürzt zusammengefasst auf
den vorherigen Seiten, beinahe auf ganz natürliche Weise in die Problematik des Sophistes. Es ist nicht
unwichtig, dass diese bei Fichte selbst schon in bewunderungswürdiger Weise anzutreffen ist, wie es
Alessandro Bertinetto und Christoph Asmuth mit großer gedanklicher Schärfe nachgewiesen haben64. Noch
überraschender: Seit seinen Fichte-Studien intensiviert Novalis durch seine brillante Intuition die Kraft
dieses Gipfeltreffens. Zunächst indem er den frühen Fichte, seines Platonismus kaum bewusst, mit diesem
verbindet, und indem er versucht, ausgehend von der bahnbrechenden Zusammenfügung von Fichte und
Neuplatonismus eine neuartige Position heraus zu arbeiten, die der Sophistik zu ihrem Recht verhelfen soll
– einer Sophistik ganz aus dem Geist der Transzendentalphilosophie! Es geht für uns natürlich nicht darum,
der Exegese des Platondialoges beizuwohnen, die man ja im Übrigen unter Beleuchtung der Erkenntnisse
aus dem Parmenides, dem Theaitetos und in Hinblick auf den Politikos interpretieren muss. Hingegen ist es
unbedingt notwendig, das Novalissche Projekt im erforderlichen Ausmaß mit dem Sophistes in Einklang zu
bringen65. Die Untersuchungen Novalis’ zur Transzendentalphilosophie bringen ihn seit seinen frühesten
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
58
WTB, II, 369.
WTB, II, 555.
60
WTB, II, 323.
61
Die Welt, genauer gesagt die Natur in ihrer Materialität selbst, nimmt an der praktisch-poietischen Erzeugung teil – diese ist also
nicht nur „subjektiv“, so haben wir begriffen. Ohne sie verfehlt man die Problematik der Naturphilosophie.
62
WTB, II, 691.
63
WTB, II, 536.
64
Vgl. etwa: A.Bertinetto, „“DurchEinheit“. L’immagine come transcendentale (tra il Sofista e la Dottrina della scienza)”, in L.
Bagnetto und J.C. Leveque (hrsg.), Immagine e scrittura, Roma, Valter Casini, 2008 ; A. Bertinetto, “”Die absolute Kraft des
Bildes“. Image et conscience de soi dans la Doctrine de la science de Fichte”, in Fichte-Studien, 2012, N.42 ; Ch. Asmuth, „Die
Lehre vom Bild in der Wissenstheorie Johann Gottlieb Fichtes », in Ch. Asmuth (hrsg.), Sein – Reflexion – Freiheit. Aspekte der
Philosophie Johann Gottlieb Fichtes, Amsterdam, B.R. Grüner Publishing Company, 1997.
65
Die frühen deutschen Romantiker sind von Platon besessen, begonnen bei Friedrich Schlegel, der ihm seine heute verschollene
Habilitationsschrift widmet, bis hin zu Scheiermacher und seinem riesenhaftigen Projekt einer Ausgabe und einer Übersetzung der
kompletten Platonwerke, und seinem Wunsch, einen „deutschen Platon“ zu erschaffen. Die Romantiker übermitteln uns einen immer
unzurückführbaren Platon, und vor allem unzurückführbar auf einen schwer dualistischen Platon der schulmeisterlichen Vulgata; es
geht um einen konfliktdenkenden, widerspruchsdenkenden Platon, den Denker der Aporie. Vergl. unter anderem die Nr. 16 von
Kairos, „La Grèce au miroir de l’Allemagne“, (Toulouse le Mirail, 2000).
59
!
143
!
Schriften dazu, diese – und damit ist zur selben Zeit die Transzendentalphilosophie, die er beschreibt und,
gleichermaßen, diejenige, die er zu entwickeln wünscht – als Sophistik zu charakterisieren.
„Transscendentale Filosofie ist Sofistik – aber in welchem Sinne?“66 fragt er daher schon im Jahr 1795.
Diese Charakterisierung fügt er der, weiterhin mitschwingenden, neuplatonistischen Konnotation hinzu,
welche er gleichzeitig wiederum dem Fichteschen Transzendentalismus beifügt. Es soll nun darum gehen,
diese ganz neue, oder zumindest ungewöhnliche Problematik, verstehen zu wollen.
Natürlich zögert der Dichterphilosoph erwartungsgemäß sein ganzes Leben lang seine
Übereinstimmung mit der Sophistik, oder vielmehr seine heimliche Faszination für sie, einzugestehen, die
naturgemäß nur schwer mit seiner Begeisterung für Platon, Plotin, Böhme oder Hemsterhuis in Einklang zu
bringen ist. Das vierzehnte der Logologischen Fragmente präsentiert sich entsprechend klassisch:
Sofisten sind Leute, die aufmercksam auf die Schwächen der Philosophen und Kunstfehler, dieselben zu ihrem
Vortheil oder überhaupt zu gewissen unphilosophischen, unwürdigen Zwecken zu benutzen suchen – oft die
Philosophie selber. Diese haben also eigentlich nichts mit der Philosophie zu thun67.
Indessen steht diese Art Urteil neben vielen anderen Fragmenten – deren Aufzählung hier müßig wäre –
die stilistische, rhetorische oder sogar akustische Probleme erörtern und dabei die Wirkungskraft des
Wortes ins Zentrum rücken, und in welchen Novalis in grundlegender Weise die Philosophie in ihrer
Ganzheitlichkeit und Vollständigkeit mit jedem dieser Elemente zu verflechten trachtet. Die Zuneigung der
Sophisten für Geld und Ansehen wird natürlich angeprangert, und erschwert es dem Autor erheblich, vor
den Augen der Öffentlichkeit eine, wenn auch reduzierte, Form von „Sophistik“ zu übernehmen. Darüber
hinaus distanziert er sich von jeglichem einseitigen Relativismus und beschäftigt sich stetig ebenso stark
mit der traditionellen Metaphysik wie mit dem Transzendentalismus. In diesem Sinne kann selbst der
Konventionalismus eines Gorgias und eines Protagoras, das genaue und strukturierte Verständnis der
Sprache eines Prodikos oder eines Antiphons, Novalis nicht befriedigen. Die Frühromantiker können
diesen Denkern keine Gerechtigkeit widerfahren lassen, da ihnen noch nicht deren übermächtige Prägung
durch die Überlieferung Platons, aber auch durch diejenige späterer Generationen von weit
oberflächlicheren und bestechlicheren Sophisten, bewusst ist. Dies erklärt vermutlich die Schwierigkeiten
von Novalis, sich das Konzept der Sophistik endgültig anzueignen. Die romantische Poietik ist weder ein
interessierter Relativismus, noch ein rudimentärer Nominalismus, der der Idee einer wirklichen sinnlichen
„Ausweisung” – wie Husserl sagen würde – unseres Schaffens gegenüber indifferent wäre. Novalis besteht
aber überall auf der Poiésis: „Denken ist Sprechen. Sprechen und thun oder machen sind eine nur
modificirte Operation. Gott sprach es werde Licht und es ward“68.
Das bedeutet, die philosophische Geste, das, wodurch Poiesis entsteht, hängt sicherlich mit dem Stil,
der Form, den Assonanzen, dem Ton und all den vielen Zutaten zusammen, die für die „Operationen“ des
Denkens – um diesen rückläufign Begriff aufzugreifen – unerlässlich sind. Dies stellen auch die Brüder
Schlegel und Schleiermacher nachdrücklich klar. Dies erklärt, warum Novalis sein Projekt „magischer
Idealismus“ nennt. Stil, Form, Ton, usw. sind nicht zweitrangig in Bezug auf die Operationen selbst,
sondern sie sind die Elemente wodurch das Denken als Konstruktion, Schöpfungskraft, und als Vermögen
Wirkung hervorzubringen, möglich ist. Wenn man nicht über Kräfte sprechen kann, ohne sich mit ihnen zu
verbinden, wie Novalis glaubt, wenn man den Bedingungen der Möglichkeit unserer Erfahrung der Welt
nicht begegnen kann ohne diese als Welt zu erschaffen, so kann die Wirkungskraft nicht einfach eine
„Nebenwirkung“ des philosophischen Diskurses sein. Tatsächlich, und nicht ohne Anklänge an Bacon,
auch wenn es hier um die Reflexivität des Diskurses selbst, bzw. um das Handeln im Allgemeinen geht,
schreibt Novalis:
Wir wissen etwas nur – insofern wir es ausdrücken – i.e. machen können. Je fertiger und mannichfacher wir etwas
produciren, ausführen können, desto besser wissen wir es – Wir wissen es vollkommen, wenn wir es überall, und
auf alle Arth mittheilen, erregen können – einen individuellen Ausdruck desselben in jedem Organ bewircken
können69.
Folglich passt sich die Wirksamkeit des reflexiven Wissens daran an, was in oder von der
selbstschöpferischen Kraft ausgehend, sich festigt, und sich als vollendetes Produkt auszeichnet. Wie
Novalis allenthalben wiederholt, und dabei den klinischen Sprachgebrauch absichtlich ausschöpft, sind die
Krankheit, die Pathologie oder das durch die Poiesis enthüllte Symptom (der transzendentale Dichter
beschäftigt sich mit dem „Symptom a priori“70) Spuren; das heißt, dasjenige, welches von ihr (der Poiesis)
selbst realisiert wird, und ebenso das, woran sich selbst der quantitative Zusammenstoß (die Kraft) messen
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
66
WTB, II, 44.
WTB, II, 316.
68
WTB, II, 531.
69
WTB, II, 378.
70
WTB, II, 587.
67
!
144
!
oder anpassen muss, um unser Verständnis von Sinn und Wahrheit wachsen zu lassen. Die Wahrheit hat
immer Anteil an den von ihr gesetzten Handlungen, und wir interpretieren niemals einen der Interpretation
oder der Übersetzung schon vorausgehenden Sinn, denn diese Handlungen sind selbst der Sinn.
Offensichtlich zeigt sich hier ein sophistisches Erbe, das Novalis vorsichtig erahnt und zulässt, meistens
bezogen auf das Fichtesche Projekt einer subversiven Umgestaltung des Kantianismus – denn dieser wird
in der Wissenschaftslehre zur genetischen Selbstkonstruktion der transzendentalen Welt71. Fichte dient
Novalis in gewisser Weise als Bürge: Der Dichter scheint sich zu sagen, dass man dem Jenaer Meister
keinen Relativismus vorwerfen kann, und dass sein Verständnis des Transzendentalismus, welches
vollständig auf die Operationen ausregichtet ist, es erlaube, auf den vielleicht zu sperrigen Begriff der
Sophistik zu verzichten. Das trifft auch auf alles nach den Fichte-Studien zu. Zur Zeit des Allgemeinen
Brouillons, wird der „Titan von Jena“ abermals als der Garant für die Möglichkeit einer poietischen
Transzendentalphilosophie wahrgenommen, und auf diese Weise sophistisch:
Philol[ogie] und Philosoph[ie] sind Eins. / Jeder Anfang ist ein Actus d[er] Freyheit – eine Wahl – Construction
eines abs[oluten] Anfangs.
Fichtens Ich – ist ein Robinson – eine wissenschaftliche Fiction zur Erleichterung d[er] Darstellung und
Entwickl[ung] d[er] W[issenschafts]L[ehre] – so der Anfang d[er] Gesch[ichte] etc. – Schilderung des
phil[osophischen] Naturstandes – eines isolirten Princips – oder Begriffs. Jeder Begr[iff] ist ein Ich – Ich ist ein
allg[emeines] Gedanken molécule.
Behandlung jedes Begr[iffs] – nach der Fichtischen Ichformel72.
Die Formeln, bzw. Moleküle des Denkens, durch welche man sich in die Erfindung der Bedingungen
der Möglichkeit der Erfahrung hineinstürzt (um das Spiel der Kräfte, welches die Erfahrung darstellt,
verstehen zu können, muss man damit experimentieren), verweisen bei der Fichtelektüre von Novalis
weniger auf das fälschlich und angeblich Akosmismus, als vielmehr auf das positive Risiko des Denkens,
das Leben in der Einsamkeit eines Robinson zu erleben. Es geht sehr wohl darum, aus einer fiktiven Insel
eine reale Welt und aus den abstrakten Molekülen einen konkreten Leib zu erschaffen, aber die Welt oder
der Leib lassen sich nicht verstehen, ohne sie in der Fiktion zu konstruieren. Vereinigt die ungekannte und
explosive Mischung von neuplatonistischer Metaphysik und Sophistik, die Novalis aus der
Wissenschaftslehre herauszulesen glaubt, nicht schon, wenn in seinen Augen auch noch begrenzt, die
widersprüchlichen Forderungen der Poietik? Man ist, etwa mit Manfred Frank, zu leicht geneigt zu
glauben, dass Novalis, indem er die Wissenschaftslehre seit 1795 als „Sophistik des reinen Ichs“ 73
bezeichnet – auch wenn Fichte diese Gleichsetzung wohl nicht geschätzt hätte – eine regelrechte unilaterale
Kritik des Fundaments erarbeitet. Das bedeutet aber, die übliche Zweideutigkeit und Ambivalenz seines
Denkens zu vergessen. Denn wenn er die Transzendentalphilosophie in dieser Textpassage zu verbessern
beabsichtigt, so kritisiert er gar nicht die Sophistik, gegenüber der er, entgegen der klassischen Tradition,
eine heimliche Bewunderung hegt. Novalis gibt jedenfalls keinerlei Hinweis darauf, dass diese
Terminologie einen Vorbehalt von seiner Seite aus bedeuten würde. Im Fragment 46 der Fichte-Studien
schlägt er in die gleiche Kerbe, und synthetisiert damit seine ersten spekulativen Bemühungen: „Filosofie
ist also – Sofistik des Ich – transcendentales Bild unseres Bewußtseyns“74. Dies ist besonders interessant,
wenn man die ersten brillanten Entwicklungen in dieser Schrift berücksichtigt. Es ist schwer zu glauben,
dass der hier verwendete Begriff der Sofistik rein pejorativ ist, gerade wenn man um die entscheidende
Rolle weiß, die das Bild darin spielt. Dies führt uns nun zum Sophistes.
Die Frage Platons im Dialog ist, den Status dessen zu bestimmen, was unvermittelt vom Nichts
ausgehend zu einer ousia wird, allein durch die Tatsache, dass es produziert wurde. Der eleatische
Fremdling wird vorgestellt als ein „Freund derer, die sich zum Parmenides und Zenon halten“75. Aber er
unterscheidet sich auch von ihnen, und ist damit fähig, die Aporien des Eleatischen zu übersteigen und
gleichzeitig seine ontologischen Forderungen aufrechtzuerhalten. Er verbindet explizit das Reale und die
Produktion vor Theaitetos:
Wo nur immer jemand, was zuvor nicht war, hernach zum Dasein (ousia) bringt, sagt man, dass der Bringende es
mache, das Gebrachte aber gemacht werde. […]
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
71
„Fichte ist der Bearbeiter der Kantischen Kritik – der 2te Kant – das höhere Organ, insofern Kant das niedre Organ ist. Inwieweit
ist er dies vollkommen? Er sezt die Leser da nieder, wo sie Kant aufnimmt. Seine W[issenschafts] L[ehre] ist also die Philosophie
der Kritik – ihre Einleitung – ihr reiner Theil. Sie enthält die Grundsätze der Kritik. Aber meinem Bedünken nach fehlt ihr viel zu
diesem ihrem Ideal“. WTB, II, 571.
72
WTB, II, 645.
73
WTB, II, 36.
74
WTB, II, 41.
75
Platon: Der Sophist, 216a; in Sämtliche Werke in drei Bänden. Bd. 2, unveränderter Nachdruck der 8. durchgesehenen Auflage.
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004; Übersetzung von Friedrich Schleiermacher.
!
145
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So könnte man demnach dies alles zusammenfassend die hervorbringende Kunst nennen76.
Wenn eine ousia durch das Wort oder einen Kunstgriff erschaffen worden ist, muss man dann sagen,
dass sie auf die gleiche Weise wie die anderen Dinge existiert? Sie existiert wahrscheinlich, aber nur als
Bild, behaupten der Sophist. Platon gibt bekanntermaßen in diesem Dialog weder dem Sophist noch
Parmenides recht. Bis hierher stellt die Ontologie des Eleaten, wenn auch zu eng gefasst, im Prinzip eine
Waffe gegen die Sophistik dar, indem sie behauptet, dass ein absolutes und wahres Sein sehr wohl
existiere. Aber diese Waffe wendet sich jetzt gegen ihren Benutzer, denn wenn nur das Sein ist, und das
Nicht-Sein absolut nicht ist, lässt sich schwer einsehen, wie man dem Sophisten vorwerfen soll, das NichtSein zu schaffen, und an Stelle der Wahrheit die Illusion ins Leben zu rufen. Außerdem, zu sagen, dass das
Nicht-Sein nicht ist, bewirkt schon, dass es durch das Wort zum Existieren gebracht wird. Und auch wenn
das Wort heimlich zur Stille zurückführt, – sei es diejenige des Sokrates77 oder später bei der negativen
Theologie – so bestätigt eine solche Performanz auf widersprüchliche Weise die eleatische Ontologie und
legitimiert gleichzeitig die Sophistik. Das Problem des Bildes, das heißt das Problem des Nicht-Seins, der
Täuschung oder des Scheins ist also sowohl für die Möglichkeit der Ontologie, als auch für die
Charakterisierung des Sophisten bestimmend. Zunächst nach Art der Diairesis auf sechs verschiedene
Weisen durch die Gesprächspartner definiert (vom Jäger der jungen Reichen, über einen Fachmann des
Widerspruchs, bis hin zum Seelenreiniger), erscheint der Sophist im weiteren Verlauf des Dialogs als eine
Art „Zauberer“:
Wegen des Sophisten aber sage mir dieses: ob so viel schon gewiß ist, dass er als ein Nachahmer des Wirklichen
zu den Zauberern gehört, oder ob wir noch zweifelhaft sind, dass er nicht etwa doch von allem, worin er zu
widersprechen geschickt ist, davon auch die Erkenntnis in der Tat besitzen möchte?78
Hier sind wir nun an einem wichtigen Punkt angelangt: Der Sophist gibt sich nicht damit zufrieden,
Gewinn zu schlagen und die Erkenntnisse über das Sein zu verfälschen, sondern er ist bestrebt, mittels
seiner Technik, diese „scheinbare Erkenntnis von allen Dingen“79, Erkenntnisse hervorzubringen, die nie
die Wahrheit selbst, sondern immer nur eine scheinbare Wahrheit preisgeben. Darüber hinaus gibt er vor,
das Sein hervorzubringen, doch selbst wenn er „Nachbilder“80 hervorbringt, erschafft er nur Bilder, die
nicht die Realität sind. Seine Magie besteht also im Schaffen von Illusionen. Dennoch scheint die
Gleichung, die der Schöpfer des „magischen Idealismus“ 81 in den Poetizismen von 1798 zwischen
Betrachtungen über die Medizin von Brown und über die Philosophie Fichtes (zwei „handelnde“
Disziplinen) aufstellt, auch auf Theaitetos und den Fremdling anwendbar zu sein: „Magie ist = Kunst, die
Sinnenwelt willkhürlich zu gebrauchen“82. Das ist vielleicht nicht viel, aber doch einiges. Denn den Sinn
und das Wort zu „gebrauchen“– es handelt sich um Techniken – führt unweigerlich dazu, Bilder
hervorzubringen. Wenn diese Magie nicht wirksam wäre, könnte Novalis nicht in aller Deutlichkeit
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
76
Sophistes, 219b-c.
Zudem sollte man die rätselhafte Stille der zweiten Sokrates hinzufügen: Ein junger Sokrates, der komplett stumm bleibt.
78
Sophistes, 234e – 235a.
79
Sophistes, 233c.
80
Sophistes, 236a.
81
In unserem Sinn sucht Novalis diesen Ausdruck bei Erhard Schmid, der ihn aus antifichtescher Einstellung heraus geprägt hat.
Schmid beschuldigt Fichte, einen schlechten Hyper-Logizismus geschrieben haben, in welchem das philosophierende Bewusstsein
sich auf unverschämte Weise die Macht an sich nimmt, Materie nur durch Gedanken zu erschaffen, so wie ein Magier. Auch wenn
dieses Klischee über den Fichteanismus sich lange gehalten hat, so musste Novalis zur selben Zeit Fichte nicht zwangsläufig auf
diese Art lesen. Mit völlig überraschender Geste übernimmt er seinerseits mit positiver Ironie eine beleidigende Bezeichnung, und
deutet damit an, dass über Fichte hinaus gehen gedenkt im „konstruktivistischen“ Begreifen des Transzendentalismus. Manfred
Frank und seine Schule sehen keinerlei nennenswerten Unterschied zwischen dem Gedanken Novalis‘ und Schmids oder anderer
Post-Reinholdianer. Dabei haben sie diese Wiederaneignung völlig übergangen. Der Magier ist gewiss derjenige, der die Illusion
eines exzessiven Glaubens im Fundament zerstört, indem er seinem Publikum vorschlägt, vor ihnen die Operationen oder
Handlungen zu reflektieren, durch welche diese Illusionen überhaupt funktionieren konnten. Aber er ist derselbe, der, und zwar ohne
Widerspruch, genauso zur Reflexion, die die Welt bildet, aufruft; auch derjenige, der dazu auffordert, das Spiel der Kräfte
„anzunehmen”, und in die magischen Operationen, hinter denen es keine Welt an sich gibt, keine Wahrheit die sich versteckt hält,
nur verdeckt durch entfremdende Zauberkunststück, hineinzuwagen. Die romantische Legierung von schöpferischer Begeisterung
und Ironie besteht gerade darin, die zwei Operationen, nämlich die konstruierende und die dekonstruierende, zusammen zu halten,
und immer wieder auf die Spannung zwischen den beiden hinzuweisen. Man muss das 338 Fragment aus dem Allgemeinen
Brouillon erneut lesen, das ein Paidoyer für eine Philosophie ist, die sich fähig zeigt, die Kräfte auszuspielen, und sich in dieses
Spiel hineinzuwagen. Der Post-Reinholdsche „Novalis”, der als trauriger und ernüchterter Dekonstrukteur oft von den
Kommentatoren vorgestellt wird, bleibt im Grunde sehr scheu gegenüber der Kräfte. Jedoch verliert sich Novalis in seinen
Zaubertricks, über die er mit Hilfe der Naturphilosophie, der Poesie und der Spekulation versucht zu zeigen, dass die Welt
Einbildungskraft ist. Infolgedessen gehen wir mit Ives Radrizzani (siehe seinen Artikel in diesem Buch) nicht einig: Novalis
interessiert sich nicht für die toten Resultate der Wissenschaftlshre Fichtes, sondern für den Prozess, für die magischen Operationen,
d.h. das Hervorbringen des Denkens (das der Sinn selbst des „magischen Idealismus” ist) und er hat gar nicht die „sterblichen
Überreste” der fichteschen Begriffe vor den Augen. Sonst versteht man nicht die konstruktivistische Poiesis des Novalis. Klar und
deutlich aber bietet Novalis eine andere Taktik im Vergleich zu Fichte an, und infolgedessen ändert der Sinn des Tuns.
82
WTB, II, 335.
77
!
146
!
schreiben: „Dichten ist zeugen“83. Der Sophist ist, wie der Dichter oder der Philosoph, ein Magier der in
der Lage ist, eine imaginäre Realität zu erschaffen. Aber man kann dem Sophisten nichts vorwerfen, wenn
es unmöglich ist, das Nicht-Sein zu (er-)zeugen. Oder ist es doch möglich? Diese Frage positiv zu
beantworten, bedeutet einen Widerspruch in sich selbst und ist falsch. Ein Blatt Papier, eine Bank in der
Sonne, ein Strand, ein Gedanke, ein Traum, ein Eindruck, aber auch die Leere, das Fehlen und das Nichts
ist alles dem Sein eingeschrieben, das als einziges ist. Dies ist der Sinn des Urteils ohne ausgesprochene
Anrede, das der Fremdling an Theaitetos richtet, welcher noch an eine hermetische Trennung zwischen
dem Existierenden, das heißt dem Wahren, und dem Scheinbaren, das heißt dem Falschen, glaubt: „Also
für nichtseiend erklärst du das Scheinbare, wenn du es doch als das Nichtwahre beschreibst. Aber ist ja
doch irgendwie“84. Eine solche ontologische Wahrheit kann eigentlich auf den Sophisten – gegen seinen
Willen – bezogen werden, und zwar, wenn er es versucht, gleichgültig gegenüber der Wahrhaftigkeit seiner
Behauptung, nur die Wirksamkeit seines Worts zu ermessen, denn was er auch tut, die Wirkung ist
unzweifelhaft. Hier kommen wir dem kartesianischen cogito sehr nahe: Das „Ich bin” ist nur, deshalb und
in der Zeit, in der ich bin, und in der ich sage, dass ich bin. Darin, die Wirkung einer Hervorbringung zu
erleben und zuzulassen, dass sie verschmilzt mit dem Sein, das einzig ist, liegt im Grund der überraschende
Verbindungspunkt zwischen der Metaphysik des Einen und der Sophistik.
Natürlich darf man nicht die beiden Perspektiven identifizieren, und Platon versucht nun mehr denn je,
die Sophisten zu disqualifizieren. Um der Aporie, wodurch die unnachgiebigste Ontologie und die
relativistischste Sophistik gleichzeitig ganrantiert werden, zu entkommen, muss man, wie der Dialog zeigt,
zulassen können, dass das Nicht-Sein existiert, aber auf eine ganz bestimmte Weise. Sonst könnte sich das
(Ab-)Bild, bzw. die Kopie, nicht von demjenigen unterscheiden lassen, wovon es ein (Ab-)bild oder eine
Kopie ist. Das wäre hier ein großes Problem, umso mehr, als auf einer metaphysischen abstrakten Ebene,
die sinnliche Welt selbst für den Platon der vorausgehenden Dialoge nur das (Ab-)Bild oder die Kopie der
intelligiblen Welt ist – auch wenn die Aufrechterhaltung dieser dualistische Position durch die Niederlage
des Sokrates im Parmenides beträchtlich geschwächt wird. Die Lösung Platons ergibt sich nun aus der
Feststellung des Fremden, die zuvor zitiert wurde: „Aber es ist“. Dieser Ausruf bestätigt beim ersten
Anschein in gewisser Weise Parmenides. Der Satz „Aber es ist“ versichert, dass das Scheinbare gleich der
Wahrheit existiert, und er bedeutet – ex negativo –, dass das Nicht-Sein auf jeden Fall nicht existiert. Es
besteht also gar kein Anlass, den sophistischen Schein zu beklagen. Aber er öffnet einen anderen Weg,
wenn er im Gegensatz dazu einlädt, zu denken, dass der Schein, also das Nicht-Sein – im vorliegenden Fall
das Bild – sehr wohl existiert. Wieso? Die Selbst-Widersprüchlichkeit endet, sobald man die Perspektive
wechselt, so wie es in der Folge im Dialog passiert, und man aufhört, das Nicht-Sein einfach als Gegenteil
des Seins zu betrachten. Daher muss man zu allererst aufhören, egal ob mit den Monisten oder Dualisten,
das Sein als ein einfaches „etwas“85 zu bezeichnen, das mit verschiedenen Eigenschaften ausgestattet ist,
und unabhängig von der zuvor erwähnten „schöpferischen Kraft“ ist. Denn, wie der Fremde es andeutet:
Denn setzt er zuerst den Namen als ein von der Sache Verschiedenes, so nennt er doch zwei. […] Setzt er aber den
Namen als einerlei mit ihr, so wird er entweder genötigt sein, zu sagen, er sei Name von nichts, oder wenn er sagen
will, er sei Name von etwas, so wird herauskommen, der Name sei des Namens Name und sonst keines andern86.
Der Monismus des Parmenides ist also nicht unfehlbar. Keinesfalls ist es erforderlich, das Nicht-Sein
heraufzubeschwören (das obendrein dazu kommt), um eine Spaltung innerhalb des unbeweglichen und
angeblich unbedingten Seins zu schaffen: Wenn man sagt „nur das Sein ist“, muss man unbedingt
festhalten, dass die Benennung, bzw. das Verbalisieren nicht mit einem Etwas, was sie bezeichnet,
übereinstimmt, und dass sie nirgendwo anders ist, als im Scheinbaren, in der Widerspiegelung oder
zumindest in der „Unangemessenheit” – zumindest wenn vom Sein als einem „etwas“ ausgegangen wird,
absolut und allumfassend. Zunächst einmal bedarf es schon allein einiger Worte, um das Sein in seiner
absoluten Einmaligkeit erklären zu können, und dies sei bemerkenswert, wie Platon anmerkt.
Grundlegender gesprochen, steht eine solche Benennung im Widerspruch zu dem Einen, welches sie
benennt. Wenn man den Namen des Seins als verschieden zum dem Einen ansieht, sagen wir zwei Dinge
an der Stelle, an welcher wir zu zeigen wünschen, dass es nur Eines und kein Zweites gibt. Mit anderen
Worten: Es ist unmöglich das unbedingte Sein nicht zu „bedingen”, wenn man es benennt. Wenigstens
bringt die Benennung die Möglichkeit mit sich, an der Bedingungslosigkeit des – unvergänglichen und
unbezweifelbaren – Einzigen zu zweifeln. Es drängt sich hier also eine dualistische Ontologie gegen die
Philosophie des Parmenides auf. Wenn man im Gegenzug nun aber das Sein und das Benennen des Seins
als identisch annimmt, ist das Benennen nichts, nämlich nichts, als das Sein, das einzig ist. Das würde zu
glauben bedeuten, man hätte nichts gesagt: das Sein habe gesprochen, und daher zwangsläufig die
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
83
WTB, II, 323.
Sophistes, 240b.
85
Sophistes, 244b.
86
Sophistes, 244d.
84
!
147
!
Wahrheit gesagt. In diesem Fall ist das Sein absolut identisch mit seiner Sprache, was den Fortbestand der
Sophistik garantiert. Daraus folgt, dass, trotz der Verlängerung der Aporie, die eleatische Ontologie
schließlich zunichte gemacht wird.
Aber man muss noch über die Aporie hinaus gehen. Demnach genügt es, einen einzigen Kompromiss zu
akzeptieren: Einerseits muss man anerkennen, dass es in gewissem Sinne nur das Sein gibt, das Eine, das
alles ist, das „wahrhaft Seiende“87, wie es der Fremde ausdrückt. Die Tätigkeit der Sprache bemüht sich, es
zu beweisen: Man kann nichts über das Nicht-Sein sagen, es sei denn, man integriert es ins Sein. Aber
dieses muss dann andererseits auf Grund der Tätigkeit der Sprache, bzw. jeder anderen schöpferischen
Tätigkeit, akzeptieren, dass es nicht mit sich selbst in seiner Einheit übereinstimmt. Man muss akzeptieren,
dass die Handlung, das Sein im Bild hervorzubringen – und das Sein als Wirkung dieser Handlung zu
finden – als Beteiligte und als konstitutive Bedingung dieses Seins gilt:
Dieses nämlich, dass, wenn das Erkennen ein Tun ist, so folgt notwendig, dass das Erkannte leidet, dass also nach
dieser Erklärung das Sein, welches von der Erkenntnis erkannt wird, wiefern erkannt, insofern auch bewegt wird
vermöge des Leidens, welches doch, wie wir sagen, dem Ruhenden nicht begegnen kann88.
Das erkannte Sein wird durch das Nous und im Grund auch durch das Bild im Allgemeinen bestimmt
und bewegt, das heißt, sowohl die sinnliche Welt als Bild der reinen Formen als auch die Scheine der
Seienden oder der sinnlichen Realitäten, die in der sinnlichen Welt von den Sophisten „magisch”
erschaffen werden. Der Dialog geht nicht so weit aufzuzeigen, dass die Formen sich im Lauf ihrer
Bestimmung verändern. Aber sie interagieren durch die Bewegung und den Stillstand, durch Aktivität und
Passivität, innerhalb eines einzigen, umfassenden Seins, das absolut ist. In jeglicher Hinsicht ist das
Erkannte, durch die Erkenntnis bewegt, nicht mehr nur deren ontologisches Gegenteil, so wie das NichtSein sich streng genommen nicht mehr als das Gegenteil des Seins darstellt. Die Formen werden durch den
Intellekt in Bewegung gebracht, der sie reflektiert und sie manifest werden lässt, ohne mit ihnen zu
verschmelzen: Es braucht das Zwei um das Eine zu definieren. Die Ideen sind also dazu verurteilt, im
Intellekt, der sie erdenkt, immer etwas anderes als sie selbst zu sein, aber gerade das macht auch ihren
Reichtum aus. Wenn es sehr wohl ein Nicht-Sein gibt – ein Zwei-Sein das, wie auch immer geartet, sich
am Ende als poiesis herausstellt – ist dies nicht mehr nur der bloße Gegensatz zum unbedingten Etwas und
zu seinen Eigenschaften, sondern es ist vielmehr die Negativität selbst, die immer wieder fortgeführte und
gesteigerte Verschiedenheit des Seins in seiner Hervorbringung, die bewirkt, dass eine Sache oder eine
Form nicht eine andere Sache oder eine andere Form ist, was wiederum bewirkt, dass das Denken, indem
es die Formen und die Dinge bewegt, sich immer von diesen unterscheidet, wie auch die Bewegung vom
Bewegten. Und das alles im Rahmen des Seins, des Seienden Einen, das einzig ist. „Nicht zu sein“ kommt
an „verschieden sein von“ heran, und zwar in exakt dem Maße, in dem dieses Verschiedensein vom
Denken, von der Sprache oder von einer anderen Tätigkeit hervorgebracht wird. Das Nicht-Sein erscheint
bei Platon plötzlich und, zumindest auf den ersten Blick, wie eine unendlich wendige Bezüglichkeit, die
gegenüber jeglicher Differenzierung offen ist. Wenn Bilder von sinnlichen Einzigartigkeiten existieren,
sind die Abbilder davon deren Verneinung, also das, was sie in ihrer Einzigartigkeit nicht sind. Wenn
übersinnliche Formen existieren, müssen sie um sich zu zeigen und zu existieren, in der differenzierten
Verneinung des sinnlich Seienden erscheinen, das sie erblühen lässt.
In der Folge sagt der Sophist nicht mehr das Falsche, weil er das Nicht-Sein heimlich als das Sein
„durchschmuggelt” oder weil er das Scheinbare, bzw. das Nichtexistierende als das Existierende
durchgehen lassen will, sondern weil er von einer Sache behauptet, dass sie etwas anders ist, als sie ist, und
so auf Grund Sophistes Mangels an metaphysischen Sinn mehr Unterschied (bzw. Nicht-Sein) erschafft, als
nötig wäre: Die Sache ist sowieso und von vornherein verschieden, sie ist der Unterschied selbst zwischen
dem Sein, was sie dem Sein zukommen lässt, indem sie es ausspricht, und zwischen allem, was nicht ist.
Einen Tisch als Stuhl verkaufen zu wollen bedeutet keine bedeutsame oder befreiende Unterscheidung, da
er ja schon die Verneinung ist, das heißt die Unterscheidung von der Idee des Tisches, die das Denken
hervorbringt, indem es an diesen Tisch denkt oder über ihn spricht. Von nun an kann man, mit dem
Sophistes, nicht mehr von zwei Welten sprechen – einer intelligiblen und einer sensiblen Welt. Der reife
Platon kehrt wieder zum Griechischen zurück: Es gibt nur das Sein, das einzig ist, es gibt nur eine Welt,
eine volle und ganzheitliche Einheit, deren Manifestation sehr wohl und ohne Widerspruch das Nicht-Sein
genannt werden kann. Die Formen sind immer noch nur „Potenzen“ und sie können streng genommen nicht
mehr als „etwas“ aus einer anderen Realitätsebene gesehen werden. Sie sind das, was immer bereit ist,
bestimmt und zugeordnet zu werden und zu leiden, und zwar unter jeglicher schöpferischer Aktivität, die
sie manifest werden lassen will, das heißt, sie in Bewegung zu setzen und folglich auf die eine oder andere
Weise an ihrer Realität teilzuhaben (im Sinne der Methexis). Die Formen sind reine Verfügbarkeit und
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
87
88
!
Sophistes, 248e.
Sophistes, 248d-e.
148
!
Grundlage für alle schöpferischen Handlungen aus ihrem Sein heraus, wie oder als Unterschiede ihrer
selbst innerhalb des Einen, das einzig ist. Für den Fremden ist dies vollkommen klar: Das, was nicht in der
Lage ist, Wirkung hervorzubringen und symmetrisch davon erfüllt zu werden, existiert auch nicht. Der
Dialog begann mit dem Thema des Hervorbringens von Wirkung in der Realität um den Sophisten zu
charakterisieren. Nun wird versucht anzuerkennen, dass die Formen, um zu existieren, in das Spiel der
Hervorbringung selbst eingebettet und ganz selbstverständlich mit der „Wirkung“ verbunden sein müssen.
Was der Eleat hier für alles Seiende, welcher Art auch immer, aufdeckt, ist, teils Platon zum trotz, bei
näherer Betrachtung für die Formen von wert:
Ich sage also, was nur irgend ein Vermögen (dunamis) besitzt, es sei nun ein anderes zu irgend etwas zu machen,
oder, wenn auch nur das mindeste von dem allergeringsten zu leiden, und wäre es auch nur ein einziges Mal, das
alles sei wirklich. Ich setze nämlich als Erklärung fest, um das Seiende zu bestimmen, dass es nichts anderes ist als
Vermögen, Kraft“89.
„Dass dem Werden allerdings das Vermögen eigne, zu leiden und zu tun“90 ist bis zum Sophistes –
Parmenides eingeschlossen – für Platon eine Gewissheit, und lässt sich nicht mit den Ideen in Einklang
bringen. Durch den Besitz jener sehr speziellen „Kunst“91 die „Sprachkunst“92 genannt wird, können wir
aber die Elemente der Sprache aufbauen und sie untereinander kommunizieren lassen. Ebenso bringt die
Kommunikation oder die Gemeinschaft (koinonia) des Seienden und der Elemente, welche durch ähnliche
Eigenschaften verbunden sind, oder auch durch die Fähigkeit, bestimmt zu sein – durch welche die Formen
mehr oder weniger „sozial“ bzw. mehr oder weniger vereinzelt werden – eine neue Art von Verbindung
zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein mit sich, welche beide am Anderen teilhaben müssen, und welche
über die Verschiedenheit miteinander kommunizieren, da die Verschiedenheit das einzige ist, was sie
gemeinsam haben.
Wenn unsere Lesart den vielfältigen Nuancen dieses ungeheuren Dialoges (in welchem das Sein
übrigens nur als Gattung neben dem Selbst und dem Anderen auftritt, usw.) weniger getreu nachspürt, als
der Inspiration von Novalis, dann liegt das daran, dass diese unverzüglich bestrebt ist, den genauen Punkt
zu erfassen, an dem der Neuplatonismus sophistisch werden kann, ohne seinen metaphysischen Anspruch
zu verlieren, was folglich eine Distanzierung zur Lehre Platons nach sich zieht. Der Knackpunkt ist
folgender: Für Platon besteht letzten Endes kein Grund festzustellen, dass die Formen sich tatsächlich
verändern, indem sie leiden. Die platonischen Formen interessieren Novalis nicht sonderlich und er stellt
eine für ihn unmittelbarere und bekanntere Realität an ihre Stelle, wie zum Beispiel die Kategorien des
Verstands oder die Ideen der Vernunft. Aber das Prinzip bleibt das selbe. In dem subversiven Kontext des
Sophistes, wenn das erkannte Seiende eindeutig vom erkennenden Seienden bestimmt ist, erhält der
Prozess der Differenzierung die Reinheit der Formen, so wie sie gleichzeitig die Philosophie der Sophisten
erhält: Das Nicht-Sein hat für den Fremden eine „unwiderstehliche” Existenz an sich, es ist, so betont er
plötzlich, „in Wahrheit“, d.h. wirklich, der „jedem Seienden entgegengesetzten Teil“93. Im Inneren des
Einen beinhaltet das durch die Sprache oder alle Arten von Poiésis „hervorgerufene“ Nicht-Sein plötzlich
und im Wesentlichen alles, was eine Sache nicht ist. Enthusiastisch und gleichzeitig behutsam bestätigt
Theaitetos: „Und auf jeden Fall, glaube ich, haben wir vollkommen richtig erklärt“94. Das Nicht-Sein ist im
Sophistes sicherlich nicht mehr nur der reine und einfache Gegensatz zum Sein, denn alles, was, wodurch
auch immer, bestimmbar ist, gehört zum Sein. Platon charakterisiert also das Nicht-Sein als Handeln, das
sogar in „Bezug auf etwas“, das heißt immer negativ und differenzierend ist – diese neue Lösung wird sich
als voller Versprechungen für die Geschichte der Philosophie erweisen. Aber er betrachtet nun das NichtSein als eine Substanz und schützt es vorjeglicher Beeinflussung, ja sogar „Verseuchung”, durch die
Andersartigkeit95. Das Sein ist, angefangen von den Formen und noch enger gefasst von der Form des
Seins, nunmehr in der Lage, die von der Aktivität der Intellektion herbeigeführte Veränderung
anzunehmen, ohne die es unter bestimmten Berücksichtigungen nicht sein könnte, dennoch aber bleibt es
ontologisch außerhalb der Veränderung. Das Sein hat wahrscheinlich keine Existenz an sich mehr von dem
Punkt an, ab welchem es seiner Offenbarung im schöpferischen Denken des Sophisten oder des
Philosophen nicht mehr gleichgültig gegenübersteht. Aber nur der Philosoph trennt sich sogleich von dieser
Offenbarung, sobald sie die vollständige Einheit des Seins angreift. Dem Sophisten dagegen steht es frei
hin und her zu laufen, mit seinen Täuschungen, seinen Urteilen, welche angefüllt sind mit
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
89
Sophistes, 247d-e.
Sophistes, 248c.
91
Sophistes, 253a.
92
Sophistes, 253a.
93
Sophistes, 258e.
94
Sophistes, 258e.
95
Nestor L. Cordero hat Registerwechsel Platons gut aufgezeigt, der von 255e an zwischen den Arten der Vorschläge wechselt: „X
ist verschieden von demselben“ zu „X ist nicht dasselbe“, und er macht so einen relativen Begriff absolut, nämlich das Nicht-Sein.
Vgl. N.L. Cordero, „Introduction” in Platon, Le Sophiste, Paris, Flammarion, 1993, S. 58ff.
90
!
149
!
„Schattengestalten und Abbildern und trüglichem Schein“96 erklärt der Fremdling, und bringt mehr NichtSein in den Diskurs ein, als es nötig wäre.
Zögerlich bleibt Platon schlussendlich der Unantastbarkeit der Formen verpflichtet, die dennoch
„wirkmächtig“ für sämtliche zukünftige Poiesis bleiben. Diese Formen wären unendlich formbar, bzw.
plastisch, wenn die Handlungen, durch welche man sie verneinen und differenzieren müsste, wirklich die
Schöpfer eben dessen wären, was sie verneinen. Jedoch, nachdem das Nicht-Sein am Ende als Handlung
der Poiesis selbst definiert worden ist, erscheint es letzlich als Substanz. Das Bild, das in diesem Dialog
sogleich eine gehobene Stellung einnimmt (denn wenn man beginnt die Sophistik auf das Niveau der
eleatischen Ontologie zu heben, erhebt man damit auch das Bild auf die Höhe der Philosophie), muss sich
schlussendlich damit zufrieden geben, gut oder schlecht abzubilden, denn alles, was eine Sache nicht ist,
wird damit wirklicher Teil ihres Wesens, in Ewigkeit. Das Sein ist fest verbunden mit dem Nous, von dem
aus es erst erfasst werden kann, gleichzeitig gehört das, was eine Sache nicht ist, in den Bereich des Seins
an sich. Sie ist substantiell das, was sie nicht ist, und das Bild, dem grausamerweise das Sein fehlt, kann
hier nicht viel ausrichten. Der Sophistes lädt den Leser ein zu verstehen, dass, sobald der Intellekt ein
Objekt als schön beschreibt, und unsere Sinnlichkeit es sich auch als solches ausmalt, das Objekt oder das
Gemälde des Objekts an der Idee des Schönen teilhat, und das, weil es diese gerade nicht ist – dies ist alles,
was das Denken oder die poiesis aus der Idee des Schönen macht, die dadurch ans Licht gebracht wird.
Wenn, wie Emmanuelle Rousset schreibt „das Nicht-Sein im Sein das ist, was diese Nach-Außen-Wendung
aus sich heraus möglich macht“97 steht eine solche Kraft zu ermöglichen nur in losem Zusammenhang mit
dem, was sie ermöglicht; viel eher befreit sie es von ihrem eigenen Sein an sich. Die Methexis beschränkt
sich darauf, die Erscheinungen möglich zu machen, und verneint dabei das ihnen zu Grunde liegende Sein,
aber sie kann nicht mehr an der Erscheinung Anteil haben, als am Sein. Wie in Fichtes, Schellings und
Novalis’ Idealismus später weist die Kopula vom Platons Sophisten nachdrücklich darauf hin, dass das Sein
das Heraustreten aus sich ist. Die Kopula gilt also hier als das Ek-sistieren und die Offenbarung, und nicht
als die einfache logische Identität. Aber im Sophisten wirkt sie nicht wirklich auf das ein, was es vorgibt zu
sein.
Wenn folglich Novalis sich selbst dazu verurteilt, eher im Wassergraben als in der Burg des
Platonismus herum zu irren, geschieht dies, wahrscheinlich aufgrund seines Eigensinns, die Formen und
die Kategorien des Verstands, oder jede andere Art „allgemeiner“ Fähigkeit oder Materials denken zu
wollen, wie dasjenige selbst, welches sich im Kontakt mit der Poiesis verwandelt, das heißt, sich
transformiert und sich bereichert: in den „offenen“ Kombinationen (wie es die vielen „Tafeln“ der in den
Fichte-Studien vorgeschlagenen Kategorien bezeugen), im Zufall, in den verschiedenen historischen
Epochen (denn „die Antiken sind zugleich Produkte der Zukunft und der Vorzeit“98), und in der Klinik oder
jeder anderen Form der sinnlichen Übertragung. Die Kategorien sind so gesehen nichts anderes als ihre
eigene ständige Überarbeitung, ihre kontinuierliche, symbolische und sinnliche Neuerfindung im
schöpferischen Bild. Die Geste des Denkens, das Denken als Geste, mit all seine „Last”, seiner sinnlichen
Dichte, seinem, in einem Wort, Stil, sind die Handlung, durch welche eine Kategorie von sich selbst
verschieden werden und sich so als Differenz zeigen kann. Dies kann sie unter der Bedingung, dass sie sich
im Gang der Geschichte, des Diskurses, der Sprache, des Unvorhergesehenen verändert.
Alles ist im Werden in der Welt des Bildes, das heißt in der Welt der Poiesis, unsere allgemeinen
Vermögen eingeschlossen, welche zunächst von einer perspektivistischen Arbeit aus verstanden werden
müssen. Novalis nach muss die Wissenschaftslehre selbst daran teilzuhaben, da sie die Wissenschaft der
Perspektiven im Allgemeinen ist. Gibt es also nichts Unveränderliches mehr? Doch. Das einzige Element,
das in einem Sinne unveränderlich ist, ist das Eine selbst. Gemäß der neuplatonistischen Inspiration, die
aus dem Sophistes heraus entwickelt wird, erkennt Novalis – und das ist eine parmenidische
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
96
Sophistes, 260c.
E. Rousset, Les intermittences de l‘être. Lecture du Sophiste de Platon, Paris, Verdier, 2009, S.19.
98
WTB, II, 480. Das Wichtige hier liegt in der Produktion der Antiken. Es gibt um die zehn Fragmente über die Geschichte und die
Historizität im Allgemeinen oder in der Kultur. Ihr Geist ist oft den Betrachtungen Schlegels über die Geschichte sehr nahe. Die
Schlegelschen Betrachtungen vermengt Novalis mit der Kombinatorik, der Naturgeschichte und der philosophischen Spekulation.
Auf verallgemeinernde Weise versucht er, die Geschichte und die Philosophie in einen Dialog zu bringen. Wenn er den
„antihistorischen“ Charakter (WTB, II, 707) der transzendentalen Philosophie hervorhebt, die vom Notwendigen und damit auch in
gewisser Weise vom “Zukünftigen“ (ebenda) ausgeht, wie er ironische im selben Fragment anmerkt, so geschieht dies sei es um zu
kritisieren, sei es um aus der transzendentalen Antihistorizität ein dynamisches Zusammenspiel mit der Geschichte zu bilden. Diese
muss sich sicherlich auf das „transzendentale Zukünftige“ stützen (die Philosophie stimmt mit „dem allgemeinen DivinationsSinn“
überein, indem sie die notwendigen Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung schreibt, so präzisiert er mit Humor, s. ebenda), um die
Vergangenheit neu zu interpretieren. Die Geschichte kann also die Vergangenheit schreiben, weil die Philosophie epistemologisch
ihre Blickwendung legitimiert, aber dieser Schritt ist nur deshalb von Interesse, da die Wissenschaft der Divination (die
Transzendentalphilosophie) paradoxerweise versagt, uns mitzuteilen, was die historische Epochen bedeuten. Das ist der Grund,
weshalb alles dazu geneigt ist, sich plötzlich umzukehren: „die Zukunftslehre gehört zur Geschichte“ (WTB, II, S.555), - und die
Transzendentalphilosophie gehört auch zur Geschichte!
97
!
150
!
Errungenschaft –, dass es unmöglich ist, etwas aus dem Nicht-Sein vorher zu bestimmen, ohne gleichzeitig
etwas aus dem Sein zu bestimmen, das einzig ist. Dagegen ist dort, wo das Eine (oder auch das Sein) sich
offenbart, das heißt, im eigentlichen Sinne des spekulativen deutschen Idealismus, dort wo es ist, das Bild
immer im Werden, das heißt Verschiedenheit, selbstschaffendes und reflexives Nicht-Sein, wobei sich das
Nicht-Sein als Nichts im Bild absolut erkennt. Im Reich des (Ab-)Bildes des Seins wird alles der
subversiven Kraft der „magischen Operationen“ und dem Wechselspiel der Perspektiven untergeordnet.
Dieses (Ab-)Bild des Seins – und hier muss bereits die transzendentale Einbildungskraft verstanden werden
– gibt sich nicht damit zufrieden, das Sein bloß abzubilden: Es realisiert das Sein. Und das, weil das Nichts
des Bildes wahrhaftig und absolut das Sein erschafft, auf welchem es handeln und das philosophische
Allgemeine unaufhörlich verändern kann.
4. Die Mehrdeutigkeit und Undurchdringlichkeit des Genitivs
Das spekulative Problem, auf welches Novalis nun im Jahr 1795 im Zuge seiner neuplatonistischen
Fichte-Lektüre trifft, ist identisch mit demjenigen, auf welches Fichte selbst zehn Jahre später stoßen wird:
Wenn das Ich zu sich selbst als auto-poietisches Bild kommt, mit der Aufgabe, die Kategorien direkt aus
seiner Negationskraft hervorzubringen, kann das Sein es nicht schon hervorgebracht haben. Das
unveränderliche und unbedingte Sein kann nichts in Bewegung setzen, vielmehr ist es genau das, was
wegen der auto-poietischen Bestimmung des Bildes erscheint und ins Unendliche geworfen wird. Aber in
dem Maße wie die Unveränderlichkeit des Seins vom veränderbaren Bild nicht abhängen kann, welches
immer nur „in Bezug auf“ existiert, ohne zerstört zu werden, also relativiert zu werden, wird man sagen
müssen, dass das Bild nichts ist, nichts als die relativistische Negation des Seins, bzw. sein Nichts. Diese
Formulierung spricht sich natürlich nicht offen gegen den Sophistes aus, sondern sie richtet nur den Dialog
Platons auf einen originalen Sinn. Aber die Konsequenzen dieser Lektüre sind nun auf subtile Art
„neuplatonistisch”, und zwar in genau dem Maße, in welchem sie sich auf ein offener sophistisches Gebiet
begeben, als die Platonschen Schlussfolgerungen. Von Anfang an könnten diese wenigen Zeilen eines
schönen Kommentars zum Sophistes sich auf den aufsehenerregenden Beginn der Fichte-Studien beziehen:
Das Eine (bzw. das Sein) ist nichts, zumindest sofern sein Nicht-Sein in der Verbindung nicht zum Sein kommt.
Das Nicht-Sein des Allen-Einen bescheinigt sich wegen seiner Übertragung in das vielfache Sein des Relativen.
Man könnte denken, dass die Einheit nicht mehr ist, aber si war nie: sie existiert als Negation in der Proliferation.
Als gebrochener Farbton und als amphibolisches Nicht-Sein, bringt uns das Sein des Nicht-Seins dazu, zu glauben,
dass das Sein seiner Negation voraus ging. In Wirklichkeit beginnt das Nicht-Sein zu sein, wie alles Sein, durch
die Zahl, die Diairesis und die Relation. Das Eine ist niemals nur das Nicht-Sein in den Fransen seiner
Zerrissenheit. Die Negation kommt vor dem Sein. Dass das Sein ist, und das gibt schon zwei, das heißt eine
Vielheit99.
Der neuplatonistischen Sophistes-Lektüre schon sehr nahe, zieht diese Art des Kommentars alle
Konsequenzen aus der Strategie des Fremden: Wenn alle Anzeichen dafür sprechen, dass das Eine seiner
Spaltung vorausgeht, dann ist es nichts. Und dennoch – das ist nicht zu leugnen – findet Platon, obwohl er
der Poiesis zu ihrem Recht verholfen hat, bedeutende Vorbehalte bezüglich der Macht der Poiesis. Das
poietische Nicht-Sein wird nämlich von Platon vergegenständlicht und damit alle Zweideutigkeit des
Bildes beseitigt: Da das Bild das Ding oder die Idee nur gut oder schlecht abbilden kann, wird es vielmehr
aufgefordet, die Differenz (seinerselbst von der Idee) zu respektieren, ohne wirklich ein Teil davon zu sein,
das heißt, dem zufälligen und ungewissen Abenteuer der Differenz beizuwohnen. Im zweiten Fragment der
Fichte-Studien entwickelt Novalis das Problem vom Genitiv des Bildes, oder vom Wissen des Seins:
Wissen kommt her von Was – es bezieht sich allemal auf ein was – Es ist eine Beziehung auf das Seyn, im
bestimmten Seyn überhaupt nemlich im Ich.
Der Accent, die Länge liegt im bestimmten Seyn beym Wissen auf dem Seyn; das Bestimmte wird nur
mitgenommen, ist Accidens. Beim Fühlen ist es umgekehrt. Der Accent liegt da auf der Form, auf der
Bestimmung. Das Seyn wird nur mitgenommen, ist Accidens.
D[as] Bewußtseyn ist die Sfäre des Wissens. Beym Fühlen kann es nur mediat vorkommen.
/D[as] Wissen wird hier lediglich in der bestimmten Bedeutung genommen/
Was für eine Beziehung ist das Wissen? Es ist ein Seyn außer dem Seyn, das doch im Seyn ist.
/Theilen – vereinen/
Das Bewußtsein ist ein Seyn außer dem Seyn im Seyn.
Was ist aber das?
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
99
!
E. Rousset, s.o., S. 62. Vgl. auch dazu A. Vasiliu, Dire et voir. La parole visible du Sophiste, Paris, Vrin, 2012.
151
!
Das Außer dem Seyn muss kein rechtes Seyn seyn.
Ein unrechtes Seyn außer dem Seyn ist ein Bild. – Also muss jenes außer dem Seyn ein Bild des Seyns im Seyn
seyn.
D[as] Bewußtseyn ist folglich ein Bild des Seyns im Seyn. Nähere Erklärung des Bildes. /Zeichen / Theorie des
Zeichens. / Theorie der Darstellung oder des Nichtseyns im Seyn, um das Seyn für sich auf gewisse Weise da seyn
zu lassen/
Theorie des Raums und der Zeit beym Bilde100.
Das Bewusstsein ist ein Bild des Seins, das heißt ein „unrechtes“ Sein, oder auch ein Sein „außer dem
Seyn“, wie Novalis schreibt, aber dennoch innerhalb des Einen-Sein. Erinnern wir uns an das weiter oben
zitierte Fragment: Die gesamte Philosophie von Fichte, so sagt er, ist eine Sophistik des Ichs, also ein
transzendentales Bild unseres Bewusstseins. Die Schritte des philosophischen Denkens, der Weg des
reflektierenden Ichs oder, mit Fichtes Worten, die ideale Reihe, stellt das reale Bewusstsein ins Bild.
Dieses Bewusstsein ist aber schon selbst das transzendentale Bild des Seins. Das raum-zeitliche a priori der
Sinnlichkeit muss sich selbst in den Rahmen dieses Bildes und der Zeichen eingliedern, so fügt Novalis
hinzu, der häufig Bild und Zeichen verbindet, wobei das Bild der Ort ist, an welchem die sinnlichen
Zeichen, während sie sich selbst als Zeichen andeuten, ihre symbolische Aktivität entfalten: „Bild – nicht
Allegorie – nicht Symbol eines Fremden – Symbol von sich selbst“101 . Das Bild des Seins, welches
transzendentales Bewusstsein ist, ebenso wie die vielen Bilder, die es schafft, sind nicht bloße Allegorien
des Sein, sondern dessen Symbol im Goetheschen Sinn, wenn man so will: Das Bild oder vielmehr die
sinnlichen Zeichen, aus denen es zusammengesetzt ist, sind die reflexive Selbstgründung, das heißt, die
Selbstdarstellung ihrer eigenen symbolische Kraft. Sie treten auf, indem sie das Sein als das selbst, was
interpretiert werden muss, setzen. Und dies nicht, weil das Sein, welches der Reflexion angeblich
vorausgeht, innerhalb der allegorischen Verzögerung zu erwähnen wäre, sondern weil es genau durch die
bildliche Reflexion erstellt, bzw. eingesetzt wird. Das Sein ist genau das, was wir ek-sistieren (Novalis
unterstreicht „daseyn“), manifestieren und erblühen lassen. Das Bild bildet nicht ab: Es setzt ein.
Wenn es hier nicht in unserer Absicht liegt, eine fragmentarische Sammlung, die so komplex und dicht
ist wie die Fichte-Studien, zusammenzufassen, so müssen wir doch das tiefe Wohlgefallen, welches
Novalis an dem Begriff des Scheins empfindet, betonen. Was auch immer die Bestimmung sei, die man
dafür setzt, so bleibt das Sein oder das Eine innerhalb seiner Grenzen unbeschadet, unbedingt und
unveränderlich, und Novalis empfindet die Notwendigkeit, einen neuen Begriff zu entwickeln, nämlich
den des Nur Seyns, um sich dessen zu versichern: „An dem Nur Seyn haftet gar keine Modification, kein
Begriff – man kann ihm nichts entgegensetzen – als verbaliter das Nicht-seyn. Dis ist aber ein
copulierendes Häckchen, was blos pro Forma dran gehängt wird“102 . Das Nicht-Sein, d.h. die Herrschaft
von diesem unrechten Bild, das nichts ist, ändert in keinster Weise das, was, indem es nur Sein ist, nie
etwas Relatives sein kann. Oder es könnte nichts anderes sein als ein reines und absolutes Etwas, wie der
Begriff des Was andeutet, das ungeheuere und absolute „Ding”, das unbewegliche Sein des Parmenides.
Das bildliche Nicht-Sein erscheint in seiner Bestimmung als einfaches Sprachspiel: Es ist ganz „pro
Forma“, „verbaliter”. Die verblüffende Zweideutigkeit von Novalis klingt hier schon an: Als scheine er
zuerst sagen zu wollen, wir sollten uns nicht täuschen; es sei illusorisch zu glauben, dass das Nicht-Sein
irgendeine ontologische Relevanz hätte. Einzig ist das parmenidische Sein und, da es absolut und unbedingt
ist, erscheint es mal im Nur Seyn, mal im Was und mal sogar im Chaos (der Begriff des Chaos ist für
Novalis übrigens bis in seine letzten Skizzenhefte hinein von großer Bedeutung). Weil es so kompakt ist,
kann auch das Sein Parmenides mit dem reinen Zerspringen und mit der Zersplitterung zu tun haben. Aber
gerade, so lehrt uns Novalis gleichzeitig, ist das pro forma Nicht-Sein, welches poietisch, „in Bezug auf“
und nichts ist, um nichts anderes als Schein oder Täuschung sein zu können, sich selbst und seinen
überzogenen und widersprüchlichen Forderungen ausgeliefert, wo alles im werden ist. Das Nicht-Sein, das
heißt die Existenz (ek-sistenz) des Seins (Daseyn des Seins), oder eben das Bewusstsein, bzw. das Bild, ist
ganz seiner genitivischen Bedingung gewidmet: Das Bild ist unwiderruflich das Bild des Seins, welches
seinerseits Nur-Sein und daher Sein von Nichts – im reinen Nominativ – ist.
Novalis entfaltet die ganze Kraft und Ambivalenz dieses Nicht-Seins, durch welches nur ein Sein sein
kann, denn das Relative geht logischerweise dem unbedingten Einen voran, und es ermöglicht. Die
Vorliebe Novalis’ für Übertretungen macht das Bild, welches gleich zu Beginn als „unrecht” bezeichnet
wurde, unwiderstehlich verlockend. Wenn es dem Existierenden zukommt, das Sein in Bezug zu setzen
und es im Bilden sein zu lassen, und wenn die Einbildungskraft, dieses „Vermögen des Plastisirens“103, der
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
100
WTB, II, 9-10.
WTB, II, 352.
102
WTB, II, 10.
103
WTB, II, 640.
101
!
152
!
Ort ist, an welchem sich die Existenz als Bereich des Nicht-Rechts innerhalb Recht entfaltet, muss man zu
allererst akzeptieren, dass das Bild nicht bloß kopiert: Es erschafft. In der sechsten Hymne an die Nacht,
schildert Novalis alte Zeiten, in denen die Kopie seinem Vorbild oder seinem Archetyp ähnelte:
Die Vorzeit wo die Sinne licht
In hohen Flammen brannten,
Des Vaters Hand und Angesicht
Die Menschen noch erkannten.
Und hohen Sinns, einfältiglich
Noch mancher seinem Urbild glich“104.
Dieses Zeitalter ist gerade vergangen: Die Quasierzählung der fünften Hymne belehrte uns darüber, dass
es einer Epoche vor dem nächtlichen und beklemmenden Trauma angehört. Die Zeit der Kopie geht dem
Auftreten der unverständlichen Nacht in ihrer gesamten Undurchdringlichkeit voran. Diess kann betrauert
werden, denn mit ihr verschwand auch die ruhige Heiterkeit. Aber die „Nachtbegeisterung“, von der die
Hymnen an die Nacht sprechen, lädt uns doch dazu ein, in die Nacht einzutauchen, das heißt, aufzuhören,
einem Vorbild ähneln zu wollen. Die Ära der Kopie, bzw. des Abbildes, ist übrigens selbst eingehüllt in
Dunkelheit, so präzisiert Novalis, und zwar in der Weise, dass diese Ära hier nur als mythische, bzw.
geträumte Rekonstruktion gilt. Diese Novalissche Nacht ist bekanntermaßen ein Erbe der negativen und
mystischen Theologie des Neuplatonismus. Nur war man nicht aufmerksam genug gegenüber ihrer
„Laizisierung“, die sich auf subtile Weise einschleicht. Die Nacht ist zunächst der Ort eines urtümlichen
Nicht-Wissens, einer Dunkelheit, zu welcher uns das Bild unaufhörlich führt: Die Offenbarung ist, und
nichts anderes als, diejenige der Nacht, ebenso wie und als Schein.
Letztlich besteht die Täuschung – von der beispielsweise in den Fichte-Studien die Rede ist – darin, zu
glauben, dass man den Schein festmachen kann, das heißt das Bild des Seins in einer seiner
Interpretationen zu fixieren ohne dem Perspektivismus Rechnung zu tragen, welchen der Genitiv prinzipiell
impliziert. Der „Schein“, dieses sophistische, d.h. verbaliter „so gut wie gar nichts” von dem ausgehend
man glaubt, dass das Nicht-Sein, die Relation, das Leben und die Selbstbezüglichkeit existiert, ist alles, was
ist! Was ist nun der Wert dieses Scheins? Wenn er das Projekt des Fundationalismus im engeren Sinne
anprangern würde, so wie Manfred Frank glaubt, wären die Folgen anders, als der Kommentator denkt (und
zwar die Rückkehr Novalis‘ zu einem minimalistischen Realismus). Denn, indem der Schein sich als
Schein entlarvt, bedeutet dies in der Tat, dass es nichts außer dem absoluten Sein des Parmenides gibt, also
nichts außer dem ungeheueren Ding oder dem unbeweglichen und „unendlichen Stein“, wie Novalis einer
Reflexion Friedrich Schlegels entnimmt: „<Der unendliche Stein kann weder stoßen – noch gestoßen
werden>“105. Der Schein, der verglichen mit dem Sein nichts ist, regt im Übrigen dazu an, in dieser Art zu
denken. Es gäbe dann Bewegung, Bezüglichkeit, Konflikt und Widerspruch nur in der Täuschung des
sophistischen Bewusstseins, welches das transzendentale Bewusstsein selbst ist, während es „eigentlich”
(oder „in der Tat”), wie Novalis subtil aber deutlich an mehreren Stellen schreibt, keine Reibungen gäbe,
sondern nur das reine und unverwüstliche Sein, das absolut auf sich selbst zurückgezogene Was, eben den
unendlichen Stein. Wenn zu allem Anfang das Bild unrecht ist, und die Abgeschlossenheit des Einen quid
juris garantiert wird, neigt der unerwartete Transzendentalismus von Novalis dazu, die Relation zwischen
der Tat und dem Recht umzustürzen. Denn die autoritäre Vorherrschaft des Einen erstickt die Möglichkeit,
rechtlich fundamental von der gesamten modernen Philosophie bis hin zu Kant, eine wirkliche Relation
zwischen den verschiedenartigen und widersprüchlichen Instanzen herzustellen: Dem Ich und dem NichtIch. Auch auf die Illegalität de jure des Bildes antwortet die Gewalt de facto des Seins, welche sich über
den Schein erhebt und die Forderungen des Nicht-Seins auslöscht.
Andere Textstellen laden jedoch dazu ein, den Schein in einem phänomenologischen Sinn zu begreifen,
das heißt, das Bild müsse sich buchstäblich sein Recht erobern, das Sein abzubilden. Folglich ist der Schein
im Grunde nichts anderes als dieses kreative Zögern, frei und autonom von sich selbst, in Bezug auf
dasjenige, wovon es der Schein ist. Der Schein selbst besteht gleichzeitig im Anprangern und im
Konstruieren des nur scheinbaren Charakters des Nicht-Seins, welches „eigentlich” nicht ist, aber dennoch
sehr wohl sein könnte. Der Genitiv des Bildes (d.h. des Bildes des Seins), der ihm gleichzeitig seine
Kreativität verleiht, ist nichts anderes als das Zögern des Scheins einer Beziehung. Von hier aus erzeugt das
Bild Formen, Kategorien, kombinatorische Perspektiven, und so viele negative Unterscheidungen des
Einen innerhalb des Einen selbst, und setzt sich reflexiv als Nichts. Eine Kategorie des Verstands wie die
Kausalität ist ein „nicht“, das zum Sprechen gebracht werden muss: Nicht aber der bloße ontologische
Gegensatz der Materie, die die Kausalität binden und koordinieren soll, sondern die sophistische
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
104
105
!
WTB, I, 175.
WTB, II, 499.
153
!
Negativität des Einen, das diese Kategorie durch die transzendentale Einbildungskraft ausdrückt und
erkennen lässt, indem sie es schreibt, übersetzt und kausal innerhalb des Sinnlichen rückübersetzt.
Die Sophistik rettet, in im Hinblick auf jedes philosophische System, das von demjenigen Novalis‘
verschieden ist, unverständlicher Weise, den Transzendentalismus: Selbst wenn das Eine das
„Unbegreifliche“106 ist, oder unverständlich, so wie es das „Warum” des Bewusstseins ist, ist eine von
Regeln garantierte Relation zwischen Ich und Nicht-Ich möglich, eine „Vereinigung des
Unvereinbaren,“107 ein „Setzen des Widerspruchs als Nichtwiderspruch“108 wird von der Poiesis ins Leben
gerufen, ebenso wie diese das Verschwinden aller Relation durchführt, indem sie das Täuschungsmanöver
des Scheins aufdeckt. Noch grundlegender: Novalis deutet vorsichtig aber entschieden an, dass der
Transzendentalismus dieses Zögern selbst ist. Der Enthusiasmus des transzendentalen Schreibens zeigt die
Zerbrechlichkeit, bzw. Ungewissheit der transzendentalen Gesetze auf, und genau dadurch „spielt” er mit
ihnen (bei Novalis existiert ein „Ernst“ des Spiels). Der überwältigende §4 der Wissenschaftslehre Fichtes
wird von Novalis zum Maßstab für diesen Genitiv und auf seine Weise „neu geschrieben”, der, um bereit
zu sein, alle Kombinationen zu spielen, und um alle Überseztungen und alle Sprachen zu wagen, sich auf
eine nächtliche Dichte stützt, auf ein Scheinen, das konstitutiv mit der Relativität die er selbst ist,
verbunden ist. Wovon ist das Bild ein (Ab-)Bild, wenn sein Prinzip nichts anderes als eine Frage oder eine
Aufforderung ist, sein eigenes Rätsel zu beantworten (indem er das Sein und das „Was” gleichsetzt,
verleitet Novalis unauffälig dazu, ein Interrogativpronomen gleichzeitig als Substantiv zu lesen)? Der
Fichtesche Übergang des Begrenzten zum Unbegrenzten, bzw. des Beschränkten zum Unbeschränkten in
der selbstgesezten Tätigkeit wird systematisch bei Novalis in Formeln wie die folgende übersetzt: „Im
Bewußtseyn muß es scheinen, als gienge es vom Beschränkten zum Unbeschränkten […]“109. Das Scheinen
ist diejenige der magischen Operationen des Sophisten, welche der Transzendentalphilosoph ist, der das
natürliche Bewusstsein als Sophistik für es selbst thematisiert und denkt. Die Poiesis spielt das
Hervorbringen von verschiedensten Wirkungen, die alle Orte, Interpretationen, von dem „da” des Seins
oder des Absoluten sind, das als das Unentscheidbare dort zum ek-sistieren kommt. Ist die Relation, bzw.
die Existenz, bzw. der Schein, die aktive Negation des Seins, das einzig ist, ist sie die Hervorbringung und
Existenz des Seins als Nichts, oder ist sie, wenn sie jegliche Relation für nichtig erklärt, nichts, und gibt es
nur die Täuschung einer Relation? Die meisten entscheidenden Erklärungen der Fichte-Hefte Novalis’
vermischen absichtlich verschiedene Interpretationen der transzendentalen Sophistik, ohne jemals eine
Lösung zu hypostasieren, denn die phänomenale Manifestation, der Schein, der das Eine vorstellt, lässt das
Eine nur als Rätsel entstehen. Das Eine kann sich nämlich nicht von selbst offenbaren, zumindest ist diese
letzte Möglichkeit nur eine Perspektive, die von der „tragischen” Selbstständigkeit des Perspektivismus des
Bildes herrührt:
Wenn das Gefühl Was ist, so ist Reflexion nichts und der Mensch ist die Synthese – und so umgekehrt. Beydes
kann aber nur in der Reflexion statt finden, also nothwendig im Was – in der Hälfte, die just Realität ist – also ist
beyde Mal das Nichts ein Nichts – also ein Was – dies ist eine Täuschung der Wechselwirkung.
Die Reflexion ist Nichts – wenn sie Was ist – Sie ist nur für sich Nichts – So muß sie also doch Was dann seyn.
Das Gefühl ist Nichts, wenn es in der Reflexion was ist – /Außer dieser Reflexion gleichsam ist es Nichts. /
/In dieser Reflexion muß das Gefühl immer Was und die Reflexion Nichts seyn/
Wenn in der Reflexion die Reflexion Was ist und das Gefühl Nichts, so ist es in der That umgekehrt, so ist das
Gefühl Was und die Reflexion Nichts. Beydes soll aber in der Reflexion statt finden – Folglich müßte das Eine
immer in einer anderen Reflexion geschehn, wenn das Andre in einer andren geschähe. Die anscheinende Folge,
oder die reale reflexion begründete die Ursache [,] die ideale Reflexion. Dieses schiene frey, wenn es jenes wäre –
Sollte nicht etwa jenes das einfache, dieses das reflectirte Bewußtseyn seyn110.
Wenn das Gefühl oder die Reflexion Was ist (oder auch das Nur-Sein, das Chaos, das nächtliche
Gesicht, das uns in den Hymnen entgegen blickt, das Wunderbild oder das absolute Bild in den Lehrlingen
zu Saïs, usw.), ek-sistiert dieses Gefühl oder diese Reflexion das Was in der Relation, und lässt es im
begrenzten, endlichen und bedingten Bild erblühen, das bald abgesichert, bald unrecht ist. Das Sein ist
immer im Anderen der Relation, durch welche es erscheint (Ich/Nicht-Ich, Gefühl/Reflexion,
Gegenstand/Zustand, sind ebenso Widerspiegelungen der fichteschen Dualität in den Fichte-Studien), aber
in der Tat gibt es keine Relation, es gibt nur eine Täuschung. Oder sollte es genau umgekehrt sein? Wenn
die Questio facti über der Questio juris steht, bedeutet das nicht wirklich eine Niederlage der
transzendentalen Questio juris, da, erinnern wir uns, die Sophistik des Ichs in ihrer Ganzheit dem
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
106
WTB, II, 16.
WTB, II, 16.
108
WTB, II, 16.
109
WTB, II, 19.
110
WTB, II, 23.
107
!
154
!
transzendentalen Bild des Bewusstseins angeglichen wird. Das Transzendentale bei Novalis führt nur mit
großer Anstrengung die Ambivalenz und die Zwiespältigkeit direkt ins Herz des Projekts der
Transzendentalphilosophie ein, das heißt, in jegliche Spekulation, die sich auf die Bedingungen der
Möglichkeit dessen, was die moderne Philosophie generell und auf verschiedene Weisen ein „Verhältnis“
oder eine „Relation“ nennt, bezieht. Wenn Novalis auf den „unbewussten Neuplatonismus” des
Transzendentalismus zurückgreift, kehrt er gleichzeitig zur konstruktivistischen oder sophistischen Geste
zurück, sowohl im Einklang mit Platon als auch im Widerspruch zu ihm. An dieser Geste verschärft sich
die unglaubliche Spannung, die jedem Genitiv innewohnt, welcher jede Relation trägt, oder welcher die
Relation selbst ist, und zwar zwischen seiner Möglichkeit und seiner Unmöglichkeit. Wir wissen, dass es
nichts außerhalb des Einzigen-Sein gibt, nur das Bild, das nichts ist, oder welches in gewisser Weise
„illegal” – wenn man das „in der Tat” und „unrecht”-Spiel derart übersetzen darf – außerhalb des Seins im
Sein existiert, und welches sein Recht fordert, sich innerhalb des Einen zu entfalten. Dieses vernichtet
seinerseits „tätlich” (das „in der Tat“ oder „eigentliche“ aus den Fragmenten von 1795-96) jegliche
Relation, welche seine Unbedingtheit aufheben könnte. Wenn dies der Fall ist, kann das Bild nichts anderes
sein als der Genitiv mit seiner Ambivalenz, seiner Unsicherheit und Zwiespältigkeit, was aber auch alles
seinen Reichtum ausmacht: Es gibt Kombinationen, Kategorien und Experimente nur für ein Bild, welches
unaufhörlich zu der ihm innewohnenden Schwierigkeit geführt wird, zu wissen, was es bildet, und in dem
ständig scheinbaren Charakter dessen, was zögert, ein echtes Phänomen zu werden. Das Eine, das Nur-Sein
und das Was (oder in religiöseren Texten Gott) ek-sistiert wie oder als Ambivalenz der Entstehung, der
Relation, bzw. der Erscheinung. So sind dies niemals transzendente Begriffe, denn sie sind nichts anderes
als das problematische Fundament der Relation selbst, und allem, was behauptet, Relation zu sein. Der
Schein ist das Selbstsetzen, die Selbstreflexion dieser „Problematizität” – um eine Formulierung Fichtes zu
wählen – immer und überall zu finden. Die Problematizität wird über die verschiedensten Perspektiven des
Bildlebens, d.h. der Relation, zurückgeführt, und die Relation wird immer dazu berufen, konstruiert und
dekonstruiert zu werden, vielfach hervorgearbeitet und neu begonnen, auch in der Ironie und zwar deshalb,
weil es sehr anmaßend wäre, wenn wir zu wissen glaubten, wohin man geht. Novalis ist ein Denker der
Immanenz, d.h. des sinnlichen Lebens, bzw. des Scheins, und er gewinnt dadurch, zuerst als solcher
verstanden zu werden. In den wenigen Fragmenten, die Novalis direkt auf Französisch verfasst hat,
darunter zwei in den Teplitzer Fragmenten, findet man das Gleichsetzen von dem Einen des Parmenides
mit dem christlichen Gott. Diese Fragmente unterstreichen noch einmal die Wichtigkeit und die Kraft der
neuplatonistischen Inspiration. Im ersten Fragment äußert er sich folgendermaßen: „S’il faut, que Dieu
nous aime, et que Dieu est tout – il faut bien aussi que nous soyons rien“111 . Das zweite geht noch darüber
hinaus:
Une forte quantité d’opinions est fondé (sic) sur le principe – que nous sommes rien. Les Meilleurs ajoutent, que
nous sommes pourtant susceptibles d’une certaine Espèçe (sic) de Valeur absolue – en nous reconnoissant pour
rien, et en croyant a (sic) l’amour de Dieu112.
Die weiter oben angesprochene „Laizisierung“ bedeutet auch, dass Novalis, indem er wie Fichte später
mit der Resonanz des christlichen Diskurses und des Transzendentalismus gleichzeitig auch mit deren
„Unzurückführbarkeit” spielt, dazu auffordert, die Nacht oder die Undurchsichtigkeit des Sinns der
Relation zwischen dem Einen und dessen nichtigen Bildes, für das Herz der christlichen Lehre selbst zu
halten. Die Ironie spielt hier eine große Rolle. Dies bewahrheitet sich in Die Christenheit oder Europa,
einem Text der weit ironischer ist, als es zunächst den Anschein hat: Die „dunkeln unendlichen Augen“113
des Messias helfen, eine Offenbarung zu begreifen, die ebenso völlig dunkel ist. Folglich werden wir in
dieser Dunkelheit, bzw. in dieser Nacht, diejenige der Hymnen an die Nacht, nicht aufhören, immer tiefer
hinunterzusteigen – gerade diese Geste ist bedeutungsvoll. In der ersten der Hymnen ist zu lesen: „Abwärts
wend ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnißvollen Nacht. […] In Thautropfen will ich
hinuntersinken und mit der Asche mich vermischen“114 . Diese Gedichte werden übrigens auf einen letzten
abfallenden Weg gebracht:
Hinunter zu der süßen Braut,
zu Jesus, dem Geliebten –
Getrost, die Abenddämmrung graut
Den Liebenden, Betrübten.
Ein Traum bricht unsre Banden los
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
111
WTB, II, 397.
WTB, II, 397.
113
WTB, II, 745.
114
WTB, I, 149.
112
!
155
!
Und senkt uns in des Vaters Schooß115.
Wenn das Vertrauen angerufen wird, dann aus dem Grunde, dass Angst und Wehmut seit der dritten
Hymne sämtliche Heiterkeit umgestürzt haben. Die Gleichheit zwischen dem Unten – das Dunkel der
Gruft, an der Novalis festhält – und dem Oben – das himmlische Dunkel der Nacht – ist ergreifend: Indem
er dieses Zentrum der Erde erreicht, das im Mittelpunkt der Diskussion zwischen Plutonismus und
Neptunismus stand – von der auch Novalis beeinflusst war – erreicht man so zu sagen unmittelbar den
unendlichen Kosmos. Daher kauft das Himmlische, das oft als Spur des Klassizismus mit dem Göttlichen
gleichgesetzt wird, keinesfalls die irdische Schwärze los: Sie sind komplementär. Auf mächtige und
subversive Weise wechseln sich Textstellen in Vers- oder Prosaform innerhalb eines einzigen Gedichts ab,
und damit wirft Novalis gegen den Klassizismus, der gegenüber der Vermischung von Genres Abneigung
empfindet, die Kategorien des traditionellen Denkens durcheinander. Anstelle des klassischen Ideals in
Versform zu dichten, stellt er dieses in einer Prosaerzählung dar, während feine Verse den Paganismus
heraufbeschwören. Der Dichter wechselt so zwischen Nahem und Fernen 116 . Und inmitten dieser
dichterischen Dynamik, dieses Wechsels der Strophen, in alternierenden Wellen heran rollend, verlieren
das Oben (das Kosmische) und das Unten (das Irdische oder das Unterirdische) jegliche qualitative
Unterscheidung, wie es sicherlich die moderne Physik wünscht, aber auch, wie es die Arbeit des
Verstehens und des Übersetzens von Sinn, die das Bild selbst ist, erfordert: Das Oben kann plötzlich aus
dem Unten auftauchen. In den Hymnen erlaubt es die Welle, in den nächtlichen Himmel aufzusteigen,
indem sie aus dem Inneren der Hügel entspringt. Dadurch beraubt Novalis den Himmel nicht seiner
Dunkelheit, um die irdische Dunkelheit nach Art der mittelalterlichen Philosophie noch erdrückender zu
gestalten. Die Dichte des Sichtbaren ist umgekehrt das, wozu Himmel und Erde identisch gehören. Weiters
macht die ergreifende Textstelle auf sich aufmerksam, wo der Sternenhimmel fordert, dass man in den
Schoß der Erde hinabsteigen müsse, um zu ihm zu gelangen, sodass sich beide Dunkelheiten beinahe
vermischen:
Hinunter in der Erde Schooß,
Weg aus des Lichtes Reichen,
Der Schmerzen Wuth und wilder Stoß
Ist froher Abfahrt Zeichen.
Wir kommen in dem engen Kahn
Geschwind am Himmelsufer an“117.
„Der Himmel ist bey uns auf Erden“118 lesen wir dann in den Geistlichen Liedern. Man sollte beinahe
sagen, dass der Himmel hier unter der Erde ist. Die französischen Übersetzungen haben oft sorgfältig
vermieden, das „nieder“ wiederzugeben, das die Richtung von mehr als einem Blick bei Novalis präzisiert.
Folglich gilt es, aufmerksam zu sein, denn oft ist es beim Niederschauen – in Richtung dieses Matsches mit
dem sich der junge Mineraloge in Teplitz eng verbunden fühlt119 – dass man wirklich sieht:
Ein Engel zieht dich wieder
Gerettet an den Strand,
Und schaust voll Freuden nieder
In das gelobte Land120 .
Es ist nicht so sicher, dass das Paradies oben ist, zumindest vereinigt sich das Oben mit dem Unten. Das
Leben des Bildes verbindet sich entschlossen mit dem Leben der erwünschten und der sinnlichen Leiber, zu
denen der Himmel gehört. Die folgende glänzende Textstelle der Geistlichen Lieder verdeutlicht dies:
Wem heilige Gluth
In zitternde Wellen das Herz schmolz,
Wem das Auge aufging,
Daß er des Himmels
Unergründliche Tiefe maß,
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
115
WTB, I, 177.
Vgl. zu diesem Thema auch das Fragment 342 des Allgemeinen Brouillons: Die „Poesie der Nacht und Dämmerung“ (WTB, II,
537), die hier anklingt, erscheint in Folge auf eine erstaunliche Überlegung über die Rolle der Vokale und Konsonanten in der
Ausarbeitung sowohl einer Philosophie als auch einer Poesie, bald nah, bald fern.
117
WTB, I, 175.
118
WTB, I, 182.
119
Vgl. WTB, II, 397.
120
WTB, I, 193.
116
!
156
!
Wird essen von seinem Leibe
Und trinken von seinem Blute
Ewiglich.
Wer hat des irdischen Leibes
Hohen Sinn errathen?
Wer kann sagen,
Daß er das Blut versteht?
Einst ist alles Leib,
Ein Leib,
In himmlischem Blute
Schwimmt das selige Paar. –
O! daß das Weltmeer
Schon erröthete,
und in duftiges Fleisch
aufquölle der Fels!
Nie endet das süße Mahl,
nie sättigt die Liebe sich.
Nicht innig, nicht eigen genug,
kann sie haben den Geliebten.
Von immer zärteren Lippen
Verwandelt wird das Genossene
Inniglicher und näher121.
In der Immanenz des Bildes, des Sinnlichen und des Leibs liegt also die Offenbarung. Diese lehrt uns,
nichts zu sein, nichts als nichts zu sein, wo das Sein sich als Rätsel und Dichte manifestiert (der Sinn des
Irdischen bleibt zu interpretieren), als Nacht, bis hin zur rheinländischen Auflösung jeglicher Identität:
„Wir sinken auf der Nacht Altar“122 sagt eine wunderbare Strophe der handgeschriebenen Version der
Hymnen. Die Offenbarung offenbart buchstäblich nichts, oder vielmehr offenbart sie das Nichts, das sie
reflexiv als Nichts offenbart123 . In dem bildlichen Ek-sistieren des Seins, um nur nichts zu sein, erschafft
und geschiet alles; eine Existenz, gegründet auf nächtlichem oder unübersetzbarem Fundament, das
Novalis manchmal als Unsinn oder Chaos qualifiziert, oder – immer in böhmescher Manier – als
nächtliches Gesicht – als ob das Was der Studien Augen hätte – dies selbst, das uns beim sich Sehen am
Beginn der Hymnen zuschaut.
5. Übersetzung und Verstehen des Sinns
Wenn als gesichert anzunehmen ist, dass das Bild ein Genitiv ist, dann ist dies die einzige Gewissheit,
denn das Bild kann konstitutiv nie wissen, wovon es der Genitiv ist. Wir wissen es seit den Fichte-Studien:
„Das Bild ist für das sich bewußte Ich Realität […] die reine Form der Reflexion – Medium der Realität,
Negation allein – Für das Ich gar Nichts – oder Bild des Urseyns“124. Der Philosoph hatte sich in den
Jahren 1795-96 bereits mit einem Magier verglichen und er musste es wagen, wollte er das Spiegelspiel
zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich begreifen, selbst in dieses Spiel einzusteigen. Novalis erschuf bei
dieser Gelegenheit eine Vielzahl von Begriffen, wie beispielsweise den eines Ordo inversus, welcher
besagt, dass das im Spiegel reflektierte Sein (also das transzendentale Bewusstsein oder das Bild des
Seins), auch umgekehrt von diesem gesehen wird, wiewohl er die Reflexion, ebenso wie die magischen
Vorgänge im Spiegel selbst, unbestimmt lässt. Nachdem er in Erinnerung gerufen hat, dass der reine
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
121
WTB, I, 188-189.
WTB, I, 150.
„Was ist Atheisterey? Xstliche Religion“ (WTB, II, 712) bemerkt Novalis mitten in einem komplexen und irreführenden
Fragment, verbunden mit der jüngsten Anschuldigung des Atheismus, die auf Fichte gerichtet ist. Es kann sein, dass die Antwort in
diesem Fragment nicht auf die Frage bezogen ist. Das wäre übrigens eine indirekte und für Novalis typische Art zu antworten.
124
WTB, II, 47.
122
123
!
157
!
Begriff des Verstands ohne dazugehörige Anschauung absolut leer bleibt, präzisiert Novalis, dass
dasjenige, was rein genannt wird, „eine Täuschung der Einbild[ungs]Kr[aft] – eine nothwendige Fiction“125
ist. Es ist klar: Wir erfinden und schaffen unsere Vermögen und allgemeinen Kategorien selbst und
konstruieren damit die Universalität selbst – eine illusorische Universalität. Es geht dabei nicht um die Art
von Illusionen, auf die die Transzendentale Dialektik Kants aus ist, denn hier ist das Transzendentale als
solches, in abstracto, ein illusorischer Spiegel. Es handelt sich auch nicht um eine empiristische Kritik,
denn das Transzendentale, sowie der Begriff des Verstands, ist konstitutiv, so lesen wir, für die Fiktion, die
wir schreiben müssen, um diese Fiktion verstehen zu können, die schon das gemeinsame Bewusstsein ist.
Tatsächlich, wenn wie bei Platon das Sein sich anfänglich mit der Wahrheit verbindet, verpflichtet uns
Novalis in den Fichte-Studien plötzlich, zu einem singulären Kompromiss:
Wahrheit – Fiction oder Schein
Die Einbildungskraft hat zweyerley Producte – das Wahre und den Schein. Eins schließt das Andre aus – negirt es.
Identisch ist beydes – Schein ist Schein – Wahrheit – Wahrheit.
Wahrheit ist die Form des Scheins – Schein ist die Form der Wahrheit.
/Schein ist Geist. Wahrheit Materie/
Schein ist das Entgegengesetzte unter der Form des Gesetzten – Er scheint zu beziehen, und bezieht nicht. Er
schein[t] das Bezogne zu seyn und ists nicht. Wahrheit ist das Ganze – Schein nur der Bruch – das Halbe – der das
Ganze scheint und es nicht ist – Jene die positive, dieser die negative Größe126.
Man könnte von Anfang an glauben, dass der Gedankenstrich, der den Schein von der Wahrheit, d.h.
von allem oder von dem Einen trennt, eine wasserdichte Scheidewand ist. Aber der Gedankenstrich wird
von Novalis auch an Stelle des Gleichheitszeichens eingesetzt, und wir können diese Zweideutigkeit
fruchtbar machen: Die Wahrheit ist in der Tat mit der Fiktion gleichsetzbar, wenn man im Sinne des
spekulativen Idealismus davon ausgeht, dass die erste die zweite ist, das heißt, die Wahrheit ek-sistiert und
manifestiert sich durch und als Kiktion, durch die gestaltende Fantasie, die Bild ist. Daher kann die
Fiktion, die das Bild ist, die Fiktion, die das Bewusstsein ist, oder die Fiktion, die die
Transzendentalphilosophie ist, auch Schein genannt werden. Dies ist eine entschiedene Abkehr vom
neuplatonistischen Erbe des Sophistes. „Schein“ ist vermutlich immer abwertender als „Erscheinung“
gemeint: Indem Novalis dieses Vokabular ausschöpft, verstärkt er, beabsichtigt oder nicht, die
Gleichsetzung des Transzendentalismus (als diese Fiktion, die notwendig geschrieben werden muss) mit
der Sophistik als Kunst der Wirkungen, bzw. Erscheinungen, die, im strengen Sinn genommen, als
Realitäten zu verstehen sind. Er wählt nicht zwischen den beiden, zumindest nicht mehr, als er beiläufig zu
einem klassischeren, empiristischen Standpunkt zurückkehrt, für welchen jegliche Art von
Transzendentalismus genauso illusorisch ist, wie die klassische Metaphysik, und für welchen es keine
konstitutive Fiktion zu schreiben gibt. Bei Novalis ek-sistieren, bzw. befinden wir uns bewusst beim oder
im Schein, d.h. im Sinnlichen, im Endlichen. Sich ein aktives Bild des Seins oder der Wahrheit zu
erschaffen, könnte bedeuten, dass man sich das Wahre einbildet, bzw. vorstellt – dass zwischen dem Einen
und dem Nicht-Sein eine reelle Relation innerhalb des Einen existiert –; es könnte aber auch das Gegenteil
bedeuten, und zwar, dass die Einbildungskraft, als Kraft, den Schein, d.h. das Nichts zu bilden, selbst nichts
ist, und dass sie auf eine Abwesenheit, d.h. auf ein Fehlen de facto der Relation hinweist. Einzig ist also im
letzten Fall das Sein des Parmenides und es gibt keine Bewegung. Novalis verstärkt diese Zweideutigkeit,
indem er sie selbst als der Relation innewohnend betrachtet, und sie daher als Genitiv benutzt: Die
Wahrheit, so sagt er schließlich, ist die Form des Scheins, und der Schein die Form der Wahrheit. Von
einer Seite zur anderen scheint eine Relation zu existieren, die als illusionär dargestellt wird (es gibt
„eigentlich” keine Relation). Ohne den Bruch innerhalb des Einen gibt es keine phänomenale Entstehung,
aber trotzdem muss diese negative Größe, der nichtige Schein, das konfliktgeladene Nicht-Sein, sich damit
zufrieden geben, „sein zu scheinen”. Die Phänomenalität ist dieser illusionäre Schein, und die
Transzendentalphilosophie, die die Bedingungen der Möglichkeit der Erscheinung, bzw. des Scheins,
reflektiert, ist doppelt scheinbar.
Wir haben also im Herzen einer Reflexion über die Transzendentalphilosophie eine unentwirrbare
Mischung von Kritik und Aneignung. Das Risiko des Transzendentalismus wäre tatsächlich, anmaßend an
der Täuschung vorbeizugehen, indem man einseitig auf die vermutete Sicherheit des Genitivs setzt (es gäbe
also einen klaren Schnitt zwischen dem Sein und dem Bild des Seins). Andererseits würde die
Verweigerung, die erwartete transzendentale Fiktion zu verfassen, dazu führen, den Geist der Kritik selbst,
verstanden als ständige Selbstkritik seiner eigenen Möglichkeit, zu verfehlen. Wenn man nicht auf diese
Zweideutigkeit achtet, wird man nicht verstehen, warum Novalis Jahre später nach den Fichte-Studien noch
den Begriff des Transzendentalen bemüht – und diesem immer positiv konnotiert. In einer kurzen
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
125
126
!
WTB, II, 87.
WTB, II, 87 .
158
!
Sammlung mit dem Titel Poesie (1798), stellt er ohne Zurückhaltung seine Erwartungen an dieses Thema
vor: „Von der Bearbeitung der transscendentalen Poesie läßt sich eine Tropik erwarten – die die Gesetze
der symbolischen Construction der transscendentalen Welt begreift“127 . Novalis unterstreicht das Syntagma
„symbolische Konstruktion“, und lädt damit dazu ein, die transzendentale Welt ebenso als das Objekt einer
Konstruktion wie auch als Objekt einer Interpretation zu denken. Das Symbol ist das, worin uns der Schein,
das Bild, diese „Form der Wahrheit“ wirft, welche zu verbinden scheint, aber nicht verbindet. Wenigstens
fordert die Tragweite dieses Scheinens, neugeschrieben, neukonstruiert und unendlichfach experimentiert
zu werden. Er stellt auch fest:
<Die transscendentale Poësie ist aus Philosophie und Poësie gemischt. Im Grunde befaßt sie alle transscendentale
Functionen, und enthält in der That das transscendentale überhaupt. Der transscendentale Dichter ist der
transscendentale Mensch überhaupt>128 .
Novalis appelliert immer an einen Transzendentalismus, den man als „konstruktivistisch“ bezeichnen
könnte. Zur selben Zeit kommentiert er Hemsterhuis folgendermaßen: „Wir wissen nur, insofern wir
machen“129 . Er wiederholt fast Wort für Wort dasselbe später: „Wir erkennen es nur, insofern wir es
realisieren“130. In seinem Kommentar über die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft präzisiert er:
/philosophiren ist soviel, als wissenschaften, Gedanken durchdenken, Erkenntnisse erkennen – die Wissenschaften
wissenschaftlich und poëtisch behandeln. Sollte practisch und poetisch eins seyn – und letzteres nur absolut
practisch in specie bedeuten?131
In den Vermischten Bemerkungen betrachtet er noch das Transzendentale als die höchstentwickelte
Sache der Bildung, weil er keinesfalls auf die vielfachen Implikationen des Transzendentalismus verzichtet
hat: „Die höchste Aufgabe der Bildung ist – sich seines transscendentalen Selbst zu bemächtigen – das Ich
ihres Ichs zugleich zu seyn“132. Die Anspielung auf die Reflexivität Fichtes spielt er hier noch in vollem
Maße aus. Man ist als Leser dazu angehalten, die Gesamtheit der Fichte-Studien, inklusive der anscheinend
pessimistischsten Textstellen in Bezug auf die Transzendentalphilosophie (unter dem Einfluss des Kreises
von Schmid), erneut durchzugehen, und dabei an die Ambivalenz princeps des Dichterphilosophen zu
erinnern. Was ist die wahre Natur der fiktiven und symbolischen (d.h. transzendentalen) Konstruktion des
Scheins? Ist sie nur abschätzig oder abwertend gemeint? Wenn unser Autor, angelehnt an die Skeptiker von
Zeit zu Zeit, flüchtig folgendes schreibt: „Filosofie ist blos für die Theorie – die Sprache – das Denken –
sie hat blos regulativen Gebrauch – dieser ist aber nicht verächtlich“133, so ist es immer wichtig bis ans
Ende der nur skizzierten Überlegung zu gehen, um sich von neuem mitten auf dem Weg wieder zu finden.
Wenn Novalis wieder von Fichte zu Kant zurücktritt, wie manchmal geschrieben wird, ist immer zu
bedenken, dass so viel verlangt Kant gar nicht ! Die Ideen können nämlich in den Augen Kants sehr wohl
regulativ sein, und trotzdem hat die Transzendentale Logik für ihn eine reale und konstitutive Relevanz,
sonst wäre es besser, sich auf Hume zu verlassen (ein Autor, den Novalis bis auf zwei kleine Ausnahmen
nie erwähnt)! Nun aber finden wir gelegentlich bei Novalis die Idee, dass die ganze Philosophie streng
regulativ ist; anders gesagt, steht hier ständig zur Disposition der Status der Konstruktion. Um es so
auszudrücken: Die transzendentale Fiktion kann notwendig nur Fiktion sein.
Wir sollten jedenfalls immer aufmerksam der Tatsache gegenüber sein, dass diese, reale, Möglichkeit
(d.h. die der Unbeweglichkeit des Seins und der Unmöglichkeit einer bildlichen kreativen Relation im
Sein) im Herzen selbst des fiktiven Experimentierens mit dem Schein auftaucht – sie könnte aller Logik
nach auch nicht anders(wo) erscheinen. Wie wir gelesen haben, steht tatsächlich kein Ausweg aus dem
Schein und der Sophistik auf dem Spielplan. Es ist Sache des transzendentalen „Spiels”, diese besondere
Karte auszuspielen. Die Konsequenzen dieser Geste sind für uns deutlich: Wenn die transzendentale
Fiktion sich selbst reflektiert und sich dabei illusorisch erscheint, bedeutet dies, dass es also nur die
überwältigende Masse des unbeweglichen Einen gibt (bzw. der Wahrheit, wie in oben zitiertem Fragment,
oder eben Gott, der alles ist). Diese schreckliche Möglichkeit wird ab und zu bei Novalis unter dem
Jacobischen Verzicht auf den Transzendentalismus, unter einer (dem Schein nach) heiteren Rückkehr in
das alltägliche Leben, dessen Realität und Beweglichkeit durch einen willkommenen religiösen Glauben
abgesichert ist, verschleiert. Die Lösung Jacobis nimmt Novalis nur während der „deflationistischen”
Phasen seines „fichteschen und sophistischen Neuplatonismus” wohlwollend auf, al seine weitere
Möglichkeit. Ohnehin hält sich Novalis immer eine Hintertür offen. Im vorliegenden Fall lässt sich alles
innerhalb des „nicht verächtlichen“ Charakters, des regulativen Charakters der transzendentalen Fiktion
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
127
WTB, II, 325.
WTB, II, 325.
129
WTB, II, 218.
130
WTB, II, 220.
131
WTB, II, 220.
132
WTB, II, 238.
133
WTB, II, 61.
128
!
159
!
ansiedeln. Wenn die „Begriffe überhaupt […] nichts reales“134 sind, wie er erneut gegen Ende der FichteHefte nahelegt, „haben [sie] nur idealen Gebrauch“135 , so scheint er de facto immer wieder bei der
„Dichtungskraft“136 darüber zu entscheiden, je nach der Perspektive, die sie zu entwickeln versucht. Und
mehrfach muss gesagt werden, dass die transzendentale Fiktion die reale Fiktion, die das Leben des
natürlichen Bewusstseins ist, idealisiert – und in diesem Sinne auch reguliert. So muss sich das Leben des
jungen Protagonisten in Heinrich von Ofterdingen im Traum und in der Erzählung reflektieren, um sich
bewusst zu werden, dass es eine Erzählung ist, und um sich fortan als Erzählung zu realisieren. So ist die
fiktive Idealisierung (im deflationistischen Sinne) woanders reale Performanz und reflexive
Selbstbezüglichkeit des Lebens im Schein. Wenn der Transzendentalphilosoph in gewisser Weise ein
Sophist ist, geht er das Risiko ein, einen ebenso leeren Diskurs zu erschaffen, wie dieser Erschaffer des
Scheins. Aber in dem Maße, in welchem der Transzendentalphilosoph, da er auch Neuplatoniker ist, nichts
anderes tut, als das verneiende Leere der phänomenalen Erscheinung (die immer ein „nicht“137 ist), indem
er über sie nachdenkt, erkennen lässt, muss er immer wieder all das anerkennen, was er der Sophistik
verdankt, um überhaupt eine solche Reflexion anstellen zu können. Eingeengt zwischen dem Einen und
seinen Erscheinungen, unfähig, ein für alle Mal zu entscheiden, ob die symbolische Konstruktion der
transzendentalen Welt – d.h. die notwendige Fiktion – das Reale erdenkt, erschafft, oder auf den Boden des
unbeweglichen Einen absinkt, wird der idealistische Magier immer wieder zurück zum Nichts geführt: Zum
Nichts seiner Konstruktion, sei sie in Anbetracht des Einen vollständig und ganzheitlich, oder leer und
absurd. In seiner Art einzigartig, ist der idealistische Magier im Herzen des romantischen Deutschlands
gleichzeitig Metaphysiker und Sophist. Von diesem Standpunkt aus kann man sagen, dass von allen durch
den mächtigen Sophistes Platons seither angelegten Wegen nicht nur Novalis es nicht schafft, zu wählen,
aber darüber hinaus stellt er die totale Unbestimmtheit und Offenheit zwischen Perspektiven auf, wie das
Abenteuer des Denkens und des sinnlichen Lebens, der Schöpfung selbst. Insofern sie sich in der
Erstellung des Scheins betätigt, kann sie sich symmetrisch auch ihrer Passivität hingeben, und ihr
Nichtwissen als konstitutiv für ihre Endlichkeit, bzw. als konstitutiv für ihre „Situation” des Scheins,
welcher überladen ist mit einem auf unendlich viele Arten interpretierbaren Genitiv, anerkennen.
In den Geistlichen Liedern lässt sich leicht die zugleich Eckhartsche und Böhmesche Forderung
begreifen, das Eine durch die Vision sogar am Ort der Dualität zu erfassen, welche auf problematische
Weise an die Identität, und geheimnisvoll an die Unmöglichkeit grenzt, zu wissen, worum es bei der
Relation selbst, der bildliche Realität, überhaupt geht (im vorliegenden Fall zwischen Christus und dem
Ich):
Die Augen sehn den Heiland wohl,
Und doch sind sie des Heilands voll,
Von Blumen wird sein Haupt geschmückt,
Aus denen er selbst holdselig blickt138.
Im Zentrum dieser Gesänge, die teils religiösen Zwecken dienen sollten, ermutigt Novalis interessanter
Weise die Christen: „Alle nur den Einen“ 139 zu lieben. Er könnte kaum besser Zeugnis von seinem
Neuplatonismus ablegen, der sicherlich auf verschiedene Arten von der Sophistik umgewälzt worden ist,
wie wir gelesen haben. In der Tradition von Eckhart, wie auch bei Novalis, um sich reflexiv als Abbild des
Prinzips140 zu verstehen, genügt es, für sich selbst zu sterben. Für sich selbst zu vergehen ist, wie Alain de
Libera sagt, damit gleichbedeutend, „sich selbst im Bild-Sein des Worts zu bilden, während man das Bild
frei sein lässt”141. Bei Meister Eckhart ist jedoch die Seele „in der Spiegelvision des Abbildes nichts anders
als der bloße Effekt des Grundes”142, d.h. des Seins, da Eckhart diese Begriffe gleichgültig verwendet.! Nun
liegt bei Novalis die sophistische Hervorbringung des Effekts auf der Seite der Existenz des Grundes, d.h.
auf der Seite des (Ab)Bildes, bzw. des Scheins und nicht auf der Seite des Grundes. Es geht hier nicht
darum, zu behaupten, dass das Existierende sich selbst allein erschafft – das steht außer Diskussion –
sondern, zu verstehen, dass der Schein der einzige „Ort” ist, an dem sich der Sinn und die Bedeutung der
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
134
WTB, II, 166.
WTB, II, 166.
136
WTB, II, 98.
137
Vgl. WTB, II, 88.
138
WTB, I, 196.
139
WTB, I, 191.
140
Der Mensch ist Abbild des Prinzips, in der Mystik von Eckhart, in gleicher Weise wie Christus; daher die Verurteilung Eckharts.
Vgl. O. Boulnois, Au-delà des images. Une archéologie du visuel au Moyen Âge, Vè-XVIè siècle, Paris, Seuil, 2008, S. 290. Dieses
Gleichsetzen von Christus mit dem „Ich“ im Rahmen des Abbildes wird später von zentraler Bedeutung in der Fichteschen
Christologie.
141
A. De Libera, La mystique rhénane, d’Albert le Grand à Maître Eckhart, Paris, Seuil, 1994, S.245.
142
Ibid. S.243.
135
!
160
!
Phänomenalität entscheidet und spielt. Die Novalissche Nacht ist keine Aufforderung, die Augen,
zugunsten einer reinen Selbstaffektion des unsichtbaren Selbst, zu verschließen, so wie sie es in der
rheinländischen Tradition möglich ist143 . Zumindest wäre dies Novalis nach nur eine Perspektive, nur eine
Art, das (Ab)Bild des Seins zu sein. Die Hauptsache, die sicherlich auch aus der negativen Theologie
stammt, ist, zwischen dem nächtlichen „Eröffnungs-Nichtwissen” des Bildes und dem poietischen
„Engagieren” für die sinnliche Welt, sozusagen, hin und her zu wechseln: „Die Erkenntniß ist ein Mittel
um wieder zur Nichterkenntniß zu gelangen“ 144 bestätigt auch das Fragment 342 des Allgemeinen
Brouillon, welches dem Unverständlichen durchaus den Vorzug gibt. Jede Rückkehr zur „Nichterkenntniß“
ist eine Form des Todes, eine einzigartige und auf nichts rückführbare Art – da überladen mit neuen
Erkenntnissen und neuen Erfahrungen – die Nacht des Verstehens zu akzeptieren, was bis hin zur
Verwechslung mit dieser führen kann:
O! sauge, Geliebter,
Gewaltig mich an,
Daß ich entschlummern
Und lieben kann145.
Dieser Ruf wird durch nichts garantiert; keinerlei Sicherheit enthüllt sich im sophistischen, fiktiven Bild
der Wahrheit, die solcherart in sich selbst verschlossen ist. Die „Chiffre“ der Nacht bietet sich unaufhörlich
der Interpretation an:
Doch unenträthselt blieb die ewge Nacht,
Das ernste Zeichen einer fernen Macht146.
Die Nacht ist also ebenso wenig verständlich, wie der Lehrer der Lehrlinge zu Sais – und so etwas, wie
eine „Hermeneutik“ von Novalis beginnt sich nun zu entschleiern. Der Lehrer lehrt den Sinn der
Mineralien, der Pflanzen und der Tiere nur, indem er die Unübersetzbarkeit, die Dichte auf der jedes
Verstehen gründet, in seinem Leib selbst vergegenwärtigt, in seiner Stimme, seinem Mitsein im Raum. Und
so wie die Nacht muss man dies so akzeptieren, um am Spiel des Sinns und des Un-Sinns teilhaben zu
können: „Den Lehrer kann und mag ich nicht begreifen. Er ist mir just so unbegreiflich lieb“147. Man muss
das Unbegreifliche hier nicht mehr als notwendig verherrlichen: Es soll gezeigt werden, dass die
Übersetzung, die überall angerufen und angeregt wird, aus einem Zögern hervorquillt, auf eine nicht
zurückführbare Dunkelheit, nämlich die des Genitivs, welche uns seit Anbeginn beschäftigt. Dieses Was,
das auffordert, in der schöpferischen Einbildungskraft, das heißt im Sinnlichen, zu ek-sistieren, über
unendliche Kombinationen, wo Zufall und Notwendigkeit sich gegenüberstehen, ist in seiner
Abgeschlossenheit nur dann absolut behütet, wenn es absolut und ganzheitlich durch die Poietik zum
Einsatz kommt. Für den magischen Idealismus, so haben wir inzwischen verstanden, geht es nicht darum,
zu glauben, dass das „Subjekt“ die „Materie“ erfindet (dieses Agglomerat aus nicht menschlichen
Sprachen, die alle „sprechen“ und sich gegenseitig ins Wort fahren). Viel eher ist es sein Anliegen, das
Ausmaß zu erkennen, dass das unveränderliche Sein nur als Übersetzung existiert, als Veränderung, die
durch die Sprachen der Welt fortlaufend und unendlich wird. Diese Sprachen stellen ein Kräfteverhältnis
dar: „Wie sich die bisherigen Philosophieen zur Logologie verhalten, so die bisherigen Poesien zur Poesie,
die da kommen soll“148 , schreibt Novalis in der Überzeugung, dass wir den Sinn noch nicht ausreichend als
Übersetzung verstehen, das heißt als Erschaffung von Neuem zwischen den Universen, die „sprechen“
(denn „Die idealische Rede gehört zur Realisation der Idealwelt“149). Hier gibt es die Nacht und den Tag,
wobei der Tag von seinem Nacht-Rest getragen wird. Fasziniert von den Farben und vom Licht glaubt
Novalis – der übrigens eine heute verschollene physikalische Abhandlung über das Licht verfasst hat –
dennoch nicht, dass man den Sinn verstehen und teilen kann, ohne radikal zu verstehen aufzuhören, ohne in
die Ambivalenz oder in das Zögern dessen abzugleiten, wovon das Bild das Bild ist, und wovon der Sinn
der Sinn ist. Dieses Zögern, darauf ist besonders hinzuweisen, lässt sich einzig und allein über das
antreffen, was das Bild dem Sein tut, und dessen, was der Sinn der sinnlosen Nacht tut. Denn hinter dem
erneuten Schreiben des fichteschen Schwebens im Zögern findet sich die Idee, dass der Sinn, sofern er
schöpferisch ist, ein Symptom ist – und die unverständliche Nacht des Leibes dieses pathologische
Aufbrechen trägt: „Sind Natur und Kunst schlechthin nicht Krank – und entsteht Kranckheit – blos durch
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
143
Vgl. Ibid. S.243.
WTB, II, 536.
145
WTB, I, 159.
146
WTB, I, 163.
147
WTB, I, 204.
148
WTB, II, 324.
149
WTB, II, 351.
144
!
161
!
fehlerhafte Verbindungen wie Mißgeburt etc. Abortus etc.“150. Diese fehlerhaften Verbindungen in der
natürlichen oder künstlerischen Übersetzung des einzigen Seins, diese Schwierigkeiten, die Sprachen des
Anderen zu finden, sind Orte, an denen das nächtliche Unverständliche sich ans Tageslicht des Sinns
begibt.
Daraus wird ersichtlich, dass der Mensch allein nicht das Nicht-Sein zusammenfasst. Als guter
Naturphilosoph und als guter Post-Leibnizianer, der an die unbeschränkbare Vielzahl der Perspektiven
anknüpft, glaubt der junge Freiberger Wissenschaftler nicht, dass der Mensch das Privileg des Nichts
besitzen könnte, das heißt das Verstehen. Die Frage der Natur bei Novalis kann hier nicht entwickelt
werden, da sie eine eigene Forschung für sich selbst beanspruchen würde. Die Fragmente, die sich mit den
Mineralien, den Pflanzen und sogar mit den Tieren und deren Interaktionen befassen, sind zahlreich. Es ist
dennoch darauf hinzuweisen, wie viel Wesentliches die Solidarität zwischen Dichter und Naturphilosoph,
die in den Lehrlingen zu Saïs zum Vorschein kommt, uns im Grunde mitteilt:
Wenn man ächte Gedichte liest und hört, so fühlt man einen innern Verstand der Natur sich bewegen, und schwebt,
wie der himmlische Leib derselben, in ihr und über ihr zugleich. Naturforscher und Dichter haben durch Eine
Sprache sich immer wie Ein Volk gezeigt151.
Der innere Verstand der Natur (die, einigen Fragmenten zufolge, das Andere des Ichs in sich trägt und
vice versa) ist nur für diejenigen zugänglich, die, da sie den sprachlichen und schöpferischen Charakter der
Natur anerkennen, sich untereinander verstehen können und den Sinn der Poiesis teilen. Es stellt sich bei
Novalis also niemals die Frage, die Außenwelt zu beseitigen. Gewiss, laut einem oft zitierten Ausspruch:
„Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg“152 . Aber wenn dies so ist, dann nur deshalb, weil, wenn man in
sein eigenes Innerstes, bzw. in den Schoß der Hymnen, hinabsteigt (so versteht Novalis die intellektuelle
Anschauung Fichtes), man der kosmischen Nacht begegnet – erinnern wir uns an die Hymnen an die Nacht
und ihre Geheimtüren. Es ist bedeutend, dass es die ängstlicheren Schüler sind, die zu Sais fragen: „Was
brauchen wir die trübe Welt der sichtbaren Dinge mühsam zu durchwandern? Die reinere Welt liegt ja in
uns, in diesem Quell“153 . Sie kennen die unaufhörliche Kommunikation der „Sprachen“ der Welt nicht,
oder der „Naturen“ die in den Lehrlingen miteinander sprechen.
Sollte man sagen, dass die anthropologische Differenz aus Novalisscher Sichtweise eine absurde Frage
ist, da ja der Mensch nur eine poietische Sprache von vielen, nur eine Art, das Einzige Sein vorzustellen
und zu ek-sistieren, ist? Sicherlich nicht. Es gibt per definitionem keine in ein System der Systemlosigkeit
eingeordnete oder ungültige Frage. Für dieses sind in allererster Linie die Konstruktion und die logische
Kombination der vielfältigen Perspektiven (d.h. in der romantischen Sprache die Fragmente) wichtig,
gleichzeitig mit der Erprobung der besonderen Effekte im Sinnlichen, die durch die Worte, die Zeichen, die
Affekten – so viele Schlüsselelemente des Lebens im Bild, welches ambivalent, instabil ist – erzeugt sind.
Wenn „alles spricht“154 wie es der Dichterphilosoph mit Nachdruck schreibt, so spricht und übersetzt alles
auf verschiedene Weise. Wahrscheinlich gibt es eine „Sympraxis“155 zwischen den menschlichen und den
nicht-menschlichen Sprachen: Ihre Handlungen kreuzen sich und reiben sich aneinander. „Man kann sagen,
daß die Natur – oder die Außenwelt über dem Menschen in Rücksicht auf Organisation sey – man kann
sagen, daß sie unter ihm, und er das höchste Wesen sey. Sie scheint einem weit höhern Ganzen
anzugehören. Ihr Wille – Verstand und Fantasie scheint sich zu dem Unsrigen zu verhalten – wie unser
Körper zu ihrem Körper“156. Die anthropologische Differenz kann kein Privileg mehr sein, und auch keine
Grenze mehr, die in sich existiert: Das Eigene des Menschen interessiert Novalis nicht sonderlich, da sein
ganzes Denken auf das Schlagen und das poietische Wechselspiel der Eigen – und Fremdschöpfung
ausgerichtet ist. Dieses Wechselspiel ist eher anzusiedeln in einem „mit-aus-einandersprechen” der Körper.
Folglich hängt das Selbstverständnis der Körper – die Übersetzung, die sie schreiben und hervorbringen –
am Unvorhersehbaren, das immer von außen eintrifft, und hat definitiv mit diesen „Religiöse[n],
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
150
WTB, II, 495.
WTB, I, 206.
152
WTB, II, 232.
153
WTB, I, 212.
154
WTB, II, 500.
155
WTB, II, 496.
156
WTB, II, 773. Es ist anzumerken, dass Novalis bei seiner Naturphilosophie überhaupt wenig von Spinoza beeinflusst ist. Diese
Situation ist originell im Kontext vom Nach-Pantheismusstreit. In diesem speziellen Fall ist die ungenaue Kenntnis, die Novalis von
Spinoza hatte, nicht der Antrieb für eine gewagte Neuschaffung dieses Problemfeldes. Novalis nach ist die plastische Negativität der
Sophistik eher unversöhnlich mit dem „steifen” Denken Spinozas. Vgl. die verdeckte, da leicht ironische Kritik von Novalis im
Fragment 958 des Allgemeinen Brouillons (WTB, II, 693): er verweist darin (mit Bewunderung!) auf die „an sich befriedigende“
„kategorische Theologie“ von Spinoza - der also nicht in der Lage war, eine echte Philosophie zu schreiben – die alle andere
Erkenntnis vernichtet und selbst den Instinkt der Erkenntnis untergräbt, was zu einer seltsamen Mischung aus Wollust und
Euthanaise führt!
151
!
162
!
moralische[n], geistige[n], poetische[n] Verbrechen“157 zu tun, was Novalis evoziert, der sich nie von
seinem Sinn für Überschreitungen abringen lässt. Das bedeutet, dass wir nicht im Voraus die Sprache des
Anderen und die Unterschiede, die zwischen unseren Sprachen existieren, in Syntax, Grammatik,
Konjugation und Vokabular kennen können, ohne sie zu schreiben, zu sprechen und zu verraten. Wir haben
außerdem Schwierigkeiten, unsere „eigene“ Sprache zu verstehen, da wir sie ständig verraten. Dies erklärt
wahrscheinlich, warum, nachdem Novalis präzisiert hatte, dass wir uns nie begreifen können, hinzufügt:
„aber wir werden und können uns weit mehr, als begreifen“158. Anders gesagt, werden wir uns noch in die
Dichte des Begreifens eintauchen, in ihren unverständlichen Grund, um neue Probleme des Begreifens und
der Übersetzung schaffen zu können, und so die Unsicherheit des Sinns mit dem Anderen, diesem
unbezwingbaren Anderen, zu teilen. Tatsächlich, wie er von Schlegel übernimmt: „Wenn man in einer
Mittheilung der Gedanken zwischen absolutem Verstehen und absolutem Nichtverstehen abwechselt, so
darf das schon eine philosophische Freundschaft genannt werden“159 . „Ein Universalreallexicon – ist das
beste Handbuch“160 – nur existiert es nicht. Zusätzlich ist keines der Wörter dieses Lexikons mit einem
metaphysischen Sinn an sich beladen, der in den Buchstaben fixiert wäre; der Sinn ereignet sich nur in der
einen und bestimmten Handlung, das Wort auszusprechen, und es damit zum Leben zu erwecken: „Was ist
mehr, wie Leben?“161 fügt Novalis hier übrigens vielsagend hinzu.
Es wäre falsch den lebendigen dynamischen Perspektivismus Novalis‘ mit einer Philosophie, die die
Fixierung der Bestimmungen vernachlässigt, zu verwechseln, denn die „Stabilisierung” spielt zu gleichen
Teilen mit der Bewegung in ihrer metaphysischen Spekulation, in der Praxis der Naturwissenschaften und
der Literatur. In der Lage, sich in sich selbst versunken zu erfahren, gefangen in seiner „Gestalt”, bewusster
als sonst einer über die Schwierigkeit, Einfluss auf das Schicksal zu haben, über den Ausweg aus der
zwanghaften Wiederholung, also der Fatalität – man braucht nur einen Blick in die Tagebücher zu werfen –
unterstreicht Novalis de facto den teils aporetischen, manchmal gar unmöglichen Charakter der
„Übersetzung“ von Sinn. So vermeidet er die Verwechslung der Übersetzung des Anderen mit der
unverhofften Verwandlung ins Andere und er bemüht dabei keine Apologie des reinen Werdens. So
vermeidet er sorgfältig, die Einzigartigkeiten praktisch untereinander austauschbar zu machen (das wäre
die Falle jedes zu ernsten Nomadentums). Wir müssen also versuchen, der ursprünglichen Perspektive und
der Problematik von Novalis zu ihrem Recht zu verhelfen. Das Universalreallexikon existiert nicht, da das
Wirkliche selbst ein Wortschatz im Werden ist: Ein sinnliches, tastbares Buch, das eine unendliche Masse
an Worten aller Längen, hervorgehoben oder ausgestrichen, ihren unauslöschlichen Stempel dem Papier
aufdrückend, und dennoch kontinuierlich neugeschrieben, enthält. Das Wirkliche ist also, da man von ihm
spricht, die Poiesis selbst, wie es das oben zitierte Fragment aufzeigt: „Die Poesie ist das ächt absolut
Reelle. Dies ist der Kern meiner Phil[osophie]. Je poetischer, je wahrer“162 . Wenn der Übersetzer in diesem
Rahmen der Dichter des Dichters ist – davon sind wir zu Beginn ausgegangen – ist der Mensch im
Allgemeinen vielleicht der Übersetzer des Übersetzers. Der Deutsche Idealismus mit seiner Versessenheit
auf das Selbstbewusstsein schwingt bei Novalis immer mit. Aber das ist eine andere Geschichte.
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
157
WTB, II, 420.
WTB, II, 229.
WTB, II, 233.
160
WTB, II, 420.
161
WTB, II, 420.
162
WTB, II, 420.
158
159
!
163
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