! XII. Metaphysik und Sophistik des Bildes im romantischen Deutschland. Platons Sophistes und das Problem des Verstehens bei Novalis Augustin Dumont Vorwort Der wahre Leser muss der erweiterte Autor seyn. Er ist die höhere Instanz, die die Sache von der niedern Instanz schon vorgearbeitet erhält. Das Gefühl, vermittelst dessen der Autor die Materialien seiner Schrift geschieden hat, scheidet beym Lesen wieder das Rohe und Gebildete des Buchs – und wenn der Leser das Buch nach seiner Idee bearbeiten würde, so würde ein 2ter Leser noch mehr läutern, und so wird dadurch daß die bearbeitete Masse immer wieder in frischthätige Gefäße kömmt die Masse endlich wesentlicher Bestandtheil – Glied des wircksamen Geistes1. In reinstem romantischen Stil, im letzten Fragment der Vermischten Bemerkungen, redigiert zwischen Dezember 1797 und Januar 1798, bekennt dies der Dichter, Romanschriftsteller, Philosoph, Jurist, Geologe, Mineraloge und Bergbauingenieur Friedrich von Hardenberg alias Novalis. Der, der Bezeichnung des Lesers Würdige ist derjenige, welcher in der Lage ist, am Schaffensprozess des Werkes selbst teilzuhaben, es dabei in Frage stellt und seine Wirkungen umkehrt. Das Abenteuer des Verstehens von Sinn – und gleichermaßen seiner Erschaffung – ist, diesmal mit den Worten des Blüthenstaubs, gleichzusetzen mit der Tätigkeit der Übersetzung. Der wahre Künstler, Denker oder Dichter ist ein Übersetzer. Und der wahre Übersetzer muß in der That der Künstler selbst seyn, und die Idee des Ganzen beliebig so oder so geben können. Er muß der Dichter des Dichters seyn und ihn also nach seiner und des Dichters eigener Idee zugleich reden lassen können. In einem ähnlichen Verhältnisse steht der Genius der Menschheit mit jedem einzelnen Menschen2. Ein solcher theoretisch-praktischer Hintergrund, der allen Schriftstellern der Jenaer Romantik bekannt war, erleichtert kaum – und mit voller Absicht – die historiographische Arbeit, im wörtlichen Sinne. Wenn die genaue Bestimmung der Autoren und der gedanklichen Strömungen, die jeden einzelnen Text von Novalis beeinflusst haben, schon an sich eine Herkulesaufgabe darstellt, und zwar auf Grund der Schreibart dieses Autors, muss man darauf achten, nicht über die Merkmale dieser Schreibart selbst hinaus zu gehen, die genauer gesagt auch Aufforderungen sind, „als Übersetzer“ zu lesen und zu verstehen. Novalis wiederholt überall, beispielsweise in den Teplitzer Fragmenten: „es giebt kein allgemeingeltendes Lesen, im gewöhnlichen Sinn. Lesen ist eine freye Operation. Wie ich und was ich lesen soll, kann mir keiner vorschreiben“3. Indem die Romantiker des Athenäums die Handlung des Verstehens, bzw. des Begreifens dem aufklärerischen Wunschdenken einer durchsichtigen Sinnübertragung selbst entreißen (vom „kompetenten Verstand” des Lehrers zum passiven aber wohl geneigten Verstand des Schülers), reißen sie die Handlung des Verstehens aus dem Kanon des Schreibens und des Lesens, die der Lehre der Klassiker inhärent ist, wo das Verstehen des Sinns systematisch mit verschiedenen Vorschriften in Verbindung gesetzt wird. Denn es gibt kein Verstehen des Sinns, was sich nicht als schöpferisches Teilhaben an seiner selbst, frei und selbstständig, darstellt. Wichtig ist einzig die Reflexivität, von Fichte stammend, durch die das sich selbst setzende Werk, sich zu einem neuen Zusammenhang mit seinem Leser wagt (das heißt zu seinem Anderen, durch das Werk gleichzeitig gesetzt, wie es sich selbst setzt), und sich als fähig erweist, freiwillig seine Reflexivität zu aktivieren. Sie wird dadurch nicht zurückführbar auf jegliche kanonische Hypostase, die durch die Geschichte unter der Hand aufgestellt wird, und zwar gerade auf Grund der geschichtlichen Natur des Werkes. Dieses braucht sich nicht mehr den durch die Geschichte4 – auf unbewusste und umso !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 1 Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, H-J. Mähl und R. Samuel (hrsg.), Band II: Das philosophisch-theoretische Werk, München/Wien, Carl Hanser Verlag, 1978, S. 282. (zukünftig: WTB, gefolgt von Bandangabe und Seitenzahl). 2 WTB, II, 255. 3 WTB, II, 399. 4 In Wahrheit und Methode unterwirft Gadamer in einer für unsere Begriffe antiromantischen Geste das Verstehen der Autorität der Geschichte und des Vorurteils, und glaubt so, dem „romantischen“ Fundament der Hermeneutik zu seinem Recht zu verhelfen. Von einer Beschreibung der Tat des Verstehens zur Vorstellung des Rechts der Geschichte (das im Grund nur auf einfaches Erbe zurückgeführt wird) und zur Beherrschung dieses Verständnis übergehend – von nun an von der Reflexivität und der Ironie ausgehöhlt -, muss sich Gadamer gegen Habermas (der seinerseits den kantischen Formalismus hypostasiert) für den reaktionären Charakter seines Denkens verteidigen. ! 129 ! autoritärere Weise – aufgestellten Kriterien und Werten zu unterwerfen, sondern im Gegenteil wird das Werk durch die reflexive Bewusstwerdung seiner tiefen Historizität dazu aufgefordert, die Geschichte zum Klingen zu bringen, in der Übersetzung bis hin zur Fiktion. Es geht darum, sich bei der Geschichte zu engagieren und damit zu spielen, ohne jemals dem zugleich transzendentalen Charakter des Werkes den Rücken zu kehren, der immer im Ausdruck der „transzendentalen Poesie“ mitschwingt. Tief in seiner Geschichte und in seiner Sprache, in seiner einzigartigen, ungewissen und unvorhersehbaren Differenzierung, wünscht sich das Werk gleichzeitig Überlegung und explizite Thematisierung der allgemeinen Bedingungen der Möglichkeiten des „Werk-Machens”. Solche Bedingungen notwendiger Möglichkeiten kommen nirgendwo anders als in ihren vielfältigen Neuerfindungen und speziellen Übersetzungen zum Vorschein: In den unvorhersehbaren Wirkungen, die der Autor performativ beim Leser, und vice versa auch der Leser beim Autor auch hervorbringt, da er selbst zu einem Teil des Werkes wird. Verstehen wir uns richtig. Ein solches Werk wird keinesfalls auf die, wenn man so sagen darf, Doxa des Lesers zurückgeführt, an welche es sich „angleichen“ müsste. Wenn wir in gewisser Hinsicht Erben der Frühromantik sind, dann sicherlich nicht in der gegenwärtigen Überhöhung des Individuums und in der Macht, die heute dessen Urteil über Werke zuerkannt wird (oder der Meinung die ihm dankenswerterweise durch Handel und Medien „zur Verfügung“ gestellt wird). Dieses Erbe misst sich weniger am „Empfundenen“ an welchem der Leser heute beinahe zwingend den Nächsten teilhaben lässt, selbst noch bevor das Werk „konsumiert“ worden ist. Für die Romantiker geht es viel eher – und ganz im Gegenteil – darum, die Handlung des Schreibens und die Handlung des Lesens zu entsubstantialisieren, indem man jede schöpferische Handlung auf die Macht des jeweils Anderen erhebt, das heißt wesentlich auf die Ebene des Unvorhersehbaren. Auf diesem Zusammenwirken bei einem literarischen Werk und dessen kritischer Rezeption, sei sie noch so skandalös ungerechtfertigt, bestehend, verdammen die Romantiker das Werk dazu, sich selbst zu reflektieren, um sich verständlicher in seine Geschichte einzufügen. Überflüssig es zu sagen: Diese Charakterisierung des Verstehens, die durch Schlegels und Novalis‘ Projekt einer Neudefinition der Philologie eingebracht wird, zweifelt daran, dass die kompilatorische Gelehrsamkeit, sobald diese glaubt, den überhängenden Sinn eines Textes von seiner „Geschichte“, seinen Quellen und seiner Rezeption abzugrenzen, was auch immer mit dem Verstehen un der Deutung des Sinns zu tun hat. Der Sinn riskiert es, sich vergegenständlichen zu lassen, und mit ihm das Schreiben, das dennoch dazu bestimmt ist, „Geschichte zu machen“, und die Übersetzung in Gang zu bringen. Ein Werk zu übersetzten läuft manchmal auch darauf hinaus, es zu aktualisieren. Der Weg, der von der einfache Gelehrsamkeit zur Aktualisierung eines Werkes oder eines Autors führt, ist oft sehr kurz: Die sachbezogenen Bedingungen der Realisierung und der Rezeption von Texten, von denen aus der Sinn zusammengefasst wird, verdienen es immer, in der gegenwärtigen Welt ein Echo oder zumindest eine Spur zu finden. Folglich geht es in der Frühromantik nicht darum. Novalis schreibt: „[die Philologie] ist theils philosophisch, theils historisch – jenes ist ihr reiner Theil – dies ihr angewandter. Gehlehrter im strengen Sinn ist nur der Philolog“5. Der Philologe ist im weitesten Sinne also sehr wohl der philosophische und historische Akteur des Sinnes, das heißt darüber hinaus sein Übersetzer6. Wenn Novalis fragt: „Ist nicht jeder Leser ein Philolog?“7, und dabei die schöpferische Aktivität des Lesers in der Sprache als Hauptanteil der philologischen Aktivität des Werkes selbst betrachtet, stellt er eine Frage, die die universitäre Philologie des 19. Jahrhunderts, deren Erbe mehr als ein heutiger Literaturhistoriker noch in sich trägt, negativ beantworten würde. Aber ob diese Verneinung sich auch mit der Frage befasst hat… Wenn das Auslöschen eines gewissen, der universitären Historiographie innewohnenden Habitus‘ notwendig ist, um die romantische Geisteshaltung wiederzubeleben, also einfach nur um sie zu verstehen, und um zu verstehen, was diese unter Verstehen versteht, ist es natürlich nicht sachdienlich, die Historiographie im allgemeinen zu entfernen, und die sehr realen Einflüsse nicht zu berücksichtigen oder zu untersuchen, die auf die Jenaer Schriften einwirkten, unter dem Vorwand, dass das romantische Werk poietischer Natur ist. Dies wäre ein großer Widersinn. Niemand, um mit den Autoren dieser Texte zu beginnen, hat die Texte jemals autark gewollt. Die Autarkie wäre in diesem Fall das Gegenteil der Autonomie: Die Selbstsetzung des Werkes ist in der Folge das Erkennen und das freie Einsetzen der Historizität des Sinnes, durch und mit dem Anderen, und sie hat von hier aus nichts mit der abstrakten Darstellung eines Schreibens zu tun, das jeden Bezug zur Geschichte oder zur Andersartigkeit gekappt hat, und selbstgefällig auf seine Genialität zurückgezogen ist. Die Romantiker, besonders die Brüder Schlegel, Tieck oder Schleiermacher sind übrigens selbst Autoren wichtiger historischer und philologischer Arbeiten, manchmal an der Grenze zur Gelehrtheit. Das ist natürlich nicht widersprüchlich: Eine solche Gelehrtheit !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 5 WTB, II, 388. Man liest an derselben Stelle auch: „Alles historische bezieht sich auf ein Gegebnes – so wie gegentheils alles phil[osophische] sich auf ein Gemachtes bezieht. Aber auch die Historie hat einen phil[osophischen] Theil“, WTB, II, 388. 7 WTB, II, 399. 6 ! 130 ! ist immer essenziell poietischer Natur. Alles ist also im Gebrauch der Historiographie anzusiedeln. Das 28. Fragment der Vermischten Bemerkungen, als beispielhaft für die Frühromantik im Athenäum erschienen, fasst eindeutig den Einsatz unseres Vorschlags zusammen: „Nur dann zeig ich, daß ich einen Schriftsteller verstanden habe, wenn ich in seinem Geiste handeln kann, wenn ich ihn, ohne seine Individualität zu schmälern, übersetzen, und mannichfach verändern kann“ 8 . Wir sollten das im Hinterkopf behalten, während wir weiter voranschreiten. 1. Novalis als Denker – allgemeiner Überblick Zu Beginn prüfen wir die wichtigsten historiographischen Zugangsmöglichkeiten, um das Problem des Verstehens bei Novalis darzustellen oder zu übersetzen, worin der Dichterphilosoph selbst am Ende der Fichte-Studien (1795-96) das ideale System sieht, nämlich eines, das sich als fähig erweist, „Systemlosigkeit in ein System gebracht [zu haben]“9. Dies sind mit anderen Worten die „Sprachen“, die Novalis übersetzt hat, um sie sprechen zu können (ohne dass es einen Vorzug zwischen den Sprachen der Philosophie, der Wissenschaft oder der Literatur gäbe), und auf Grundlage derer wir die Problematik herausarbeiten können: (1) Zunächst gibt es den postkantianischen Zugang, bei dem besonders drei Autoren hervorragen: Schiller, Reinhold und Fichte. Diese Zugangsweise ist insofern „gesichtert“, als die beiden erstgenannten an der Universität Jena Professoren von Novalis waren, und als die jenaer Philosophie Fichtes ihrerseits eine ständige und essenzielle Inspirationsquelle für Novalis’ Schaffen bedeutete10. Vor und nach dem berühmten Zusammentreffen bei Niethammer von Fichte, Hölderlin und Novalis im Mai 1795, arbeiteten beide Dichter über lange Monate hinweg intensiv mit den Texten des „Titans von Jena“. Novalis kannte daher diese Texte aus erster Hand, was ebenso für die Werke von Reinhold und Schiller gilt. Über den unmittelbaren Postkantianismus hinaus, machte Novalis sich mit den Gedanken Kants vertraut, dessen dritte Kritik er aber anscheinend nicht gelesen hat11, jedoch die erste und auch andere Texte, wie die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht oder die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft. In Deutschland misst ein so namhafter Kommentator wie Manfred Frank12 dem Einfluss des Kantianismus größte Bedeutung bei. Beide Einflüsse (derjenige Kants und Fichtes) werden (teils) durch das Prisma Reinholds und des Kreises der post-reinholdianer (Forberg, Erhard, Schmid, Herbert, Niethammer) wahrgenommen. Wenn Reinhold unermüdlich Kant gegen seine Verleumder verteidigt, so versucht er doch nicht weniger, ihn um das einzige Prinzip herum neu zu gestalten, welches die für ihn alleinige und einzig gültige Grundlage darstellt. So begründete er den Deutschen Idealismus. In seiner Folge hielten die großen Idealisten eine solche Grundlage tatsächlich für bei Kant fehlend: In den drei Kritiken sind so viele Absolute zu lesen (ein theoretisches Absolutes, ein praktisches Absolutes und eine absolute Verbindung zwischen ihnen). Da das Absolute absolut ist, kann es folglich nur ein einziges sein. Das einzige Prinzip Reinholds ist das Prinzip der Vorstellung. Alle Begriffe (Anschauung, Kategorie, Idee, usw.) sind bei ihm besondere Arten der Vorstellung, die auf diese Weise das Prädikat schlechthin wird, das alle anderen im Bereich des Transzendentalen trägt. Die Kritik Fichtes ist bekannt: Reinhold gäbe sich mit bloßen Fakten zufrieden, und trenne das Subjekt vom Objekt, ohne dies wirklich zu thematisieren. Mit anderen Worten spare sich der Kantschüler einen genetischen Gedankengang, in dem er beweisen müsste, dass jede Bewusstseinshandlung von einem „Tun“ herrührt, einer Tathandlung, die nicht auf eine Tatsache zurückrückführbar ist. Eine Tat ist immer „getan“ und setzt folglich eine ursprüngliche, hervorbringende Kraft voraus. Die grundlegende Reflexivität des Ichs stellt sich von nun an für Fichte als Bedingung der Möglichkeit der Vorstellung dar. Novalis bezieht sich zeitlebens und in jeder seiner Schriften auf die Fichtesche Reflexivität und schöpft aus ihr. Aber er verliert auch nie ganz das Beharren Reinholds auf der Vorstellung aus dem Blick, die auf allen Ebenen der Erkenntnis, wie auch der praktischen Handlung, gegenwärtig ist, und lässt sich sogar immer wieder von dem Verzicht auf jegliche Grundlage (darunter auch das „Faktum der Vorstellung“) der Reinhold-Schüler begeistern. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 8 WTB, II, 238. WTB, II, 200. 10 In dem, wenn man so sagen darf, „Knoten“, den das Novalissche Denken für uns darstellt, haben wir versucht, den Faden des Fichteschen freizulegen, d.h. zu übersetzen, in einem Buch, das wir uns hier zu erwähnen erlauben: A. Dumont, L’opacité du sensible chez Fichte et Novalis. Théories et pratiques de l’imagination transcendentale à l’épreuve du langage, Grenoble, Jérôme Millon, Krisis, 2012. 11 Daher fehlt den Begriff des Erhabenen in seinem Werk. 12 Vgl. beispielsweise M.Frank, Das Problem der „Zeit“ in der deutschen Romantik. Zeitbewusstsein und Bewusstsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie in Tiecks Dichtung, Paderborn, u.a., Ferdinand Schöninge, 1990; oder auch M.Frank, Unendliche Annäherung. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1997. 9 ! 131 ! Für uns bedeutet ein solches Zögern bezüglich der Frage der letzten Grundlage dennoch keine definitive Absage an Fichte, im Gegensatz zur Behauptung Manfred Franks. Ohne darüber hinauszugehen, was als „Prinzip der Ambivalenz“, als das einzige durchgängig leitende Prinzip Novalis‘ bezeichnet werden sollte, schöpft die Poiésis von Novalis unaufhörlich aus den Werkzeugen und der Kraft Fichtes, um eine – ambivalente – Theorie der Vorstellung und des reflexiven Bildes zu schaffen, welche diejenige Fichtes ab 1804, wenn auch in eine andere Richtung weisend, weitgehend vorwegnimmt. Darüber hinaus hält Novalis die intellektuelle Anschauung sein Leben lang für grundlegend, da er Fichte in einen originellen Neuplatonismus – unvereinbar mit den entwertenden Meinungen des Post-Reinholdschen Kreises – hineinschreibt. Übrigens ist das Fichte-Bild, wie es in den Schriften Franks dargestellt wird, nicht nur reduzierend bezüglich des Fichteschen Denkens selbst (was auf eine Art illusionistischen Idealismus nach Berkeley zusammengestaucht wird13), sondern auch unvereinbar mit dem Verständnis, das Novalis davon hatte. Novalis geht es vor allem um die Suche nach der letzten Begründung der Erkenntnis aus Fichtes Poiésis und sein revolutionäres Konzept des philosophischen Schreibens als performative Selbsterschaffung. Letztlich stoßen alle Kommentatoren, für die Novalis im wörtlichen Sinne nur ein relativistischer Post-Reinholdianer ist, auf folgendes Problem, das sie aber völlig außer Acht lassen: Wenn es ein kritizistisches Element gibt, das seine Stichhaltigkeit im System von Reinhold verliert, dann ist das die transzendentale Einbildungskraft. Diese wird in der Folge mit Fichte grundlegend, da die gesamte Wissenschaftslehre sich darauf aufbaut. Folglich profitieren wir von einer kritischen Lektüre Franks, angesichts der zahlreichen Textstellen, an denen Novalis die Einbildungskraft verkündet, beschreibt, oder einfach nur erwähnt. Auch von Schiller lässt sich der junge Dichter stark beeinflussen, und äußert seine Bewunderung für diesen brillanten Professor, dessen Vorlesungen er im Jahr 1790 besucht. Noch als Student schreibt er eine Apologie Friedrich Schillers14, und leistet diesem während einer langen Krankheit Beistand. Auch in der Folge blieb Novalis Schiller eng verbunden und verbrachte später (im März 1798 in Jena) einen Abend in dessen Haus, gemeinsam mit Goethe und August Wilhelm Schlegel. Novalis schöpft in seinen Schriften reichhaltig aus Schillers Wortschatz und einprägsamen Bildern. Das berühmte Symbol des Schleiers der Isis, das in den Lehrlingen von Sais erscheint, lässt sich direkt auf ein Gedicht Schillers, Das verschleierte Bild zu Sais, aus dem Jahr 1795 zurückführen. Zwei Begriffe, die seit den Fichte-Studien allgegenwärtig sind, zeigen sich als in besonderem Maße von der geistigen Nähe zu Schiller geprägt: Der Begriff des „Spiels“ und der des „Triebs“. Auf jeden Fall ist zu bemerken, dass der Trieb bei Novalis aus zwei verschiedenen Ursprüngen hervorgeht, denn Fichte und Schiller führen diesen Begriff zeitgleich in die klassische deutsche Philosophie ein, und Novalis verwendet ihn in beiden Bedeutungen. Unbedingt haben die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen oder zumindest die Vorlesungen Schillers eine nicht unbedeutende Rolle für die Entwicklung des Denkens von Novalis gespielt. Eine ästhetische Figur erlaubt, Schiller zu Folge, eine symbolische Hinwendung zur unsichtbaren und übersinnlichen Idee, ohne dabei von einer Welt (der sinnlichen) in die andere (der intelligiblen) überzutreten. Aus kantischer Perspektive heraus, stellt Schiller den Stofftrieb dem Formtrieb gegenüber. In seiner Konzeption harmonisieren beide Triebe in Wechselwirkung innerhalb der Kultur, die von einem dritten, vermittelnden Trieb reguliert wird, nämlich vom Spieltrieb. Dieser setzt sich seinerseits als Verbindung der triebhaften Dualität zusammen. Die ideale Erziehung ist diejenige, die das Spiel der Einbildungskraft aktiviert, um den Stoff- und den Formtrieb in Einklang zu bringen, und sie miteinander zu vereinbaren. In der Vereinigung des sinnlichen Werdens mit dem Sein oder der ewigen Idee verweist das Symbol, an welchem sich der Spieltrieb stößt, und welches ihn gleichzeitig aktiviert, Natur und Moral aufeinander. Diese dynamische Konzeption des Sinnlichen und der Freiheit beeindruckt Novalis und vermischt sich mit seinen eigenen Überlegungen. Trotzdem weisen wir darauf hin, dass dort, wo das Schillersche Symbol den Menschen dazu auffordert, die Wahrheit zu suchen, ohne dabei, unter Androhung der Todesstrafe (die des jungen Mannes, der in Schillers Gedicht nach Sais geführt wird), die Grenzen der Erkenntnis zu sprengen, die Überschreitung bei Novalis dagegen eine wichtige Figur ist, auch wenn dies von Kommentatoren wenig hervorgehoben wird. Denn im frühromantischen Kontext gehen die allgemeinen und notwendigen Grenzen der Erkenntnis (das a priori) niemals dem eigentlichen (historisch einzigartigen) Akt selbst voraus, durch den diese Grenzen poietisch in der Unbestimmtheit des Werk-Machens erstellt werden. Folglich bedeutet, sie zu erstellen, schon, das zuvor aufgestellte a priori rück zu übersetzen: Es gibt keine Übersetzung ohne (Grenz-)Überschreitung. Der Schleier von Sais muss bei Novalis gelüftet werden… (2) Die zweite historiographische Zugangsweise ist die der Kombinatorik. Novalis steht zweifellos im Erbe einer Tradition, die im Mittelalter von Raimundus Lullus ins Leben gerufen wurde, und die Leibniz in der Neuzeit mit seiner De Arte Combinatoria aus dem Jahr 1666 fortführt. Wesentlich interdisziplinär !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 13 Wir danken hier Alessandro Bertinetto für den Hinweis, auf den er uns im Rahmen der Diskussionen, die wir mit ihm über die Franksche Rezeption der Romantik erleben durften, aufmerksam gemacht hat. 14 Vgl. WTB, I, 103. ! 132 ! ausgerichtet, geht die kombinatorische Strömung historisch von der Theologie aus, streift dann die Philosophie und die Mathematik bevor sie die Poetik erfasst15. Es überrascht nicht, dass Novalis daran sofort Gefallen findet und mit Freude die Vorlesungen des Mathematikers und Physikers Carl Hindenburg, Professor an der Universität Leipzig und Gründervater der deutschen Schule der kombinatorischen Analysis, verfolgt. Noch während des Studiums wird Novalis auch von den Arbeiten des Logikers Hoffbauer inspiriert und begeistert sich bereits zu dieser Zeit für die Leibnizsche Idee, der zufolge die Elemente der Sprache, die sich nach kombinatorischer Methodik anordnen, mit den „realen“ Elementen des Kosmos zusammenwirken und sie reflektieren. Es gilt, eine Vielzahl von Begriffen, Vermögen, aber auch Objekten und sogar Disziplinen zusammenfügen, kombinieren und umstellen zu können, und mit ihnen nach dem Leibnizschen Begriffskalkül zu arbeiten, das nach größtmöglicher Formalisierung strebt. Solcherart war auch der Wunsch oder die Vision Hindenburgs – der übrigens auch zum Teil durch Fichtes Gedanken inspiriert wurde, woraus Novalis direkt geschöpft hat – die einer reinen Mathematik, welche in einer einzigen Formel sich selbst begründet. Aufgestellt in einer (Tat-)Handlung reiner Freiheit sollte diese Behauptung oder dieses auf dem sogenannten „Infinitinom“ aufbauende Theorem die reine algebraische Grundlage der Infinitisimalrechnung bilden16. Alle Dimensionen der Philosophie werden in der Folge durch dieses Kalkül zum Umsturz gebracht, einschließlich der transzendentalen Logik, insofern aber, als sich ihr authentisch transzendentaler Charakter – d.h ihre Kraft zur Schöpfung „transzendentaler Realität“ – dadurch verstärkt, nicht disqualifiziert. Im Fragment 238 des Allgemeinen Brouillon schreibt der Dichterphilosoph: Die Kategorieen sind das Alphabet cogitationum humanarum – worinn jeder Buchstabe eine Handlung begreift – eine philosophische Operation – einen höhern (mathematischen) Calcül – die Philosophie der Kategorieen ist von der höchsten Wichtigkeit17. Der junge Novalis erkennt auf jeden Fall im Begriffskalkül eine neuartige Methode, die mathesis universalis zurückzuerobern, indem er, wie auch Leibniz gegen Descartes, die Idee einer zu strengen Teilung von Wahrheit und Irrtum zurückweist. Bevor man eine Erkenntnis wahr oder falsch dekretiert, da (nicht) ausreichend clair et distincte, sollte die Möglichkeit der Kombinatorik auf diese Erkenntnis angewandt werden, und ihr eine Basis in dieser symbolischen Logik eingeräumt werden, deren Grundsatz folgender ist: Die Realität ist nichts anderes als ein Geflecht aus Interaktionen. Keines der Elemente existiert isoliert, es gibt nur ihre formalisierbare Bezüge untereinander. Mit anderen Worten behauptet sich hier der Perspektivismus. Und hier zeigt sich Novalis‘ Sinn für die Harmonie, sogar für die prästabilierte Harmonie von Leibniz. Dieser Harmoniesinn tritt jedoch nie klar hervor (und wird übrigens viel zu oft von den Kommentatoren überbewertet), und er tritt unaufhörlich, sei es hintergründig oder explizit, in Konflikt mit dem Konfliktsinn, was geradewegs auf Fichte und Böhme rückführbar ist. Das erste und letzte Element des Systems der Systemlosigkeit, so erinnert Novalis häufig, ist das Chaos, nicht die Harmonie. Wie dem auch sei, lohnt es sich, dem zweiten roten Faden des Novalisschen Denkens, von den ersten Anmerkungen, über das Allgemeine Brouillon, bis hin zu den Mathematischen Fragmenten, ebenso zu folgen, wie dem ersten Zugang zu seinem Werk: Der Dichter-Philosoph besaß über die Kombinatorik von Hindenburg Kenntnisse aus erster Hand. Dennoch gelangte er zum Denken eines Raimondus Lullus oder zur modernen vorkantischen Philosophie, nämlich zu Spinoza, aber auch zur Kombinatorik von Leibniz (ausgenommen der Theodizee, die er anscheinend selbst gelesen hat) nur über den Weg der verschiedenen philosophiegeschichtlichen Werke, hauptsächlich über das berühmte Handbuch von Dietrich Tiedemann, das in mehreren Bänden zwischen 1791 und 1797 erschien, und den Titel Geist der spekulativen Philosophie18 trägt. (3) Die Naturphilosophie stellt den dritten Zugang dar. Aufgrund der Auswirkungen selbst eines kombinatorischen Denkens mag es sicherlich etwas erzwungen wirken, den Zugang der Kombinatorik und der Mathematik getrennt vom Zugang der Naturphilosophie zu behandeln, da diese Bereiche miteinander verbunden sind. Jedenfalls betrachtet dieser Zugang den Einfluss der neuen „Stimmen“ der großen Naturalisten auf Novalis, deren Arbeiten, die sich auf Fragen des Mineralischen oder des Lebendigen oder des Organischen konzentrieren, sich weniger auf die Kombinatorik beziehen, und teilweise nur entfernte !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 15 Mallarmé ist möglicherweise der letzte große Vertreter des kombinatorischen Denkens in der Moderne. Dazu möchten wir auf den Artikel von Philippe Séguin hinweisen: Ph. Séguin, „Ars combinatoria universalis: un rêve poéticomathématique de Novalis et C.F. Hindenburg“, in L. Dahan-Gaida (hrsg.), Conversations entre la littérature, les arts et les sciences, Presses Universitaires de Franche-Comté, 2006. Vgl. Auch die bedeutenden Arbeiten zuvon Benoît Timmermans zu diesem Thema, besonders: B. Timmermans, „Novalis et la réforme des mathématiques” in A. Dumont und L. Van Eynde (hrsg.), Modernité romantique. Enjeux d’une relecture, Paris, Kimé, 2011; und B. Timmermans, Histoire philosophique de l’algèbre moderne. Les origines romantiques de la pensée abstraite, Paris, Garnier, 2012. 17 WTB, II, 515. 18 D. Tiedemann, Geist der spekulativen Philosophie, Bd. I-IV, Marburg, Neue Akademische Buchhandlung, 1791-1797. 16 ! 133 ! Bezüge zur Mathematik im allgemeinen herstellen19. Von diesen Autoren besaß Novalis umfassende Kenntnisse aus erster Hand. So beispielsweise über den schottischen Arzt John Brown und seiner Theorie der Reizbarkeit oder der Erregbarkeit, welche in den Fragmenten von Novalis immer wieder durchscheint. Und ebenso die wichtigen Entdeckungen des romantischen Naturphilosophen Johann Wilhelm Ritter im Bereich des Galvanismus und der Elektrochemie ganz allgemein, oder auch die Entdeckungen Franz von Baaders. Und nicht zu vergessen die Naturphilosophie von Schelling. Diese beeindruckt Novalis zunächst, und er entnimmt ihr Begriffe und Ideen, bevor er sie später kritisiert, und sich im Zuge dessen von der Freundschaft mit Schelling abwendet (1799), die kurze Zeit zuvor begründet wurde (1797). Novalis begann seine intellektuelle Reise ohne Schelling, da der zu der Zeit, in der er die Fichte-Studien – eine fragmentarische Zusammenstellung von essenzieller Wichtigkeit für seinen spekulativen Werdegang – redigierte, Schellings Texte noch nicht kannte, und er beendete diese Reise auch ohne Schelling, von dem er sich zu Beginn des neuen Jahrhunderts gänzlich lossagte20. Schließlich auch und sogar vor allem der Einfluss des Lehrers von Novalis, des Geologen und Mineralogen Abraham Gottlob Werner, der die Bergakademie Freiberg21 in ganz Europa bekannt machte. Dessen als „Neptunismus“ bezeichnete Theorie über die Gesteinsschichten der Erde, die von einem „uranfänglichen Ozean“ ausgeht, seine enthusiastische Beschreibung der verschiedenen Mineralien und sein – wahrscheinlich das erste, in diesem Bereich wirklich gelungene – Projekt einer „Geschichte der Erde“, finden in den meisten Arbeiten von Novalis einen Widerhall, selbst in den Romanen. Alle diese Autoren, zu denen auch Goethe als Botaniker und Theoretiker der Farbenlehre zu zählen ist, eignet sich der junge Ingenieur und Mineraloge auf kritische Weise seit seiner sehr umfassenden Ausbildung an der Bergakademie in den Jahren 1798 und 1799 und im Laufe seiner eigenen Forschungen über die Natur an22. (4) Die literarischen Einflüsse bilden schließlich den vierten Zugang. Die Theaterstücke, Romane, Gedichte und Essays von Shakespeare, Lessing, Schiller oder Goethe und viele mehr prägten Novalis nachhaltig. Wahrscheinlich ist Shakespeare zusammen mit Cervantes in den Augen der frühen deutschen Romantiker der genialste literarische Geist seit Homer und Platon. Ironie, „mise en abyme” und andere Anzeichen für Selbstreflexion des Werkes, die mit einem großartigen Gefühl für Geschichte verknüpft sind, und mit großer Kraft, zwischen dem Notwendigen und dem Zufälligen hin und her zu wechseln, die vielfältigen Facetten des Gemüts zu vereinen und zu systematisieren, um sie sogleich wieder ins Chaos und in die Systemlosigkeit zu bringen – all dies macht Shakespeare zum wichtigsten Wegbereiter der Romantik, selbst in den Augen ihrer Protagonisten. Kurz nach dem Tod seiner Verlobten las Novalis Romeo und Julia in der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel und war von der nächtlichen Gewalt dieses Stückes ergriffen, dessen Geist die Hymnen an die Nacht durchdringt, und er erlebte etwas später eine „heimliche Freude“ 23 beim Lesen von Hamlet. Der Goethesche Bildungsroman ist eine weitere literarisch maßgebliche Entdeckung für Novalis und seine Weggefährten. So der Wilhelm Meister, der mit der Wissenschaftslehre Fichtes und der französischen Revolution eine der „größten Tendenzen des Zeitalters“, so die berühmten Formulierung aus dem Fragment 216 des Athenäums, darstellt und dessen !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 19 Übrigens setzt Novalis manchmal explizit den Wert von allem, was das Begriffskalkül, oder das Kalkül ganz allgemein, zur Naturphilosophie und ganz grundlegend betrachtet zum Verstehen des Sinns beiträgt, herab. So liest man in den Lehrlingen zu Sais, diesem Eingreifen eines Verfechters einer Naturauslegung, die sich an die Erscheinungen gehalten ist: „Der eigentliche Chiffrirer wird vielleicht dahin kommen, mehrere Naturkräfte zugleich zu Hervorbringung herrlicher und nützlicher Erscheinungen in Bewegung zu setzen, er wird auf der Natur, wie auf einem großen Instrument fantasiren können, und doch wird er die Natur nicht verstehn. Dies ist die Gabe des Naturhistorikers, des Zeitensehers, der vertraut mit der Geschichte der Natur, und bekannt mit der Welt, diesem höheren Schauplatz der Naturgeschichte, ihre Bedeutung wahrnimmt und weißagend verkündigt“. WTB, I, 222. 20 Unserer Meinung nach lohnt es sich, den Einfluss, den Schellings Gedanken auf Novalis ausübt, in einen „qualitativen“ und einen „quantitativen“ Einfluss zu unterteilen. Wenn Novalis über einen kurzen Zeitraum hinweg Schellings Texte aufmerksam liest, und ihnen einen gewissen Teil an Intuitionen, Ideen oder Begriffen, entnimmt, werden diese Werkzeuge neuinterpretiert und in eine, nach unserer Definition neue Sprache „übersetzt“, nämlich die in die Sprache der Logologie und nicht der Ontologie. Es geht nicht darum, jegliche Ontologie bei Novalis zu negieren, sondern darum, festzustellen, dass die Ontologie der Logologie untergeordnet ist, oder, aus anderer Perspektive mit ihr gleichzeitig existiert – auf den folgenden Seiten wird sich zeigen auf welche Weise. Der schwer einzusehende Punkt besteht darin, dass die Logologie nicht nur die menschliche Sprache betrifft: sie betrifft ebenso das Ganze (und seine Stadien) in seiner reflektierten Selbstdarstellung. In diesem Sinne sind das Streben nach Ganzheit und das Interesse für das Materielle bei Schelling und Novalis gleichbedeutend. Jedenfalls ist der Rahmen, innerhalb dessen sich diese Bestrebungen ausbreiten, ganz der Schellingschen Perspektive eigen. Wir zeigen im Laufe dieser Abhandlung, dass, um diesen alternativen Rahmen zu schaffen, ein ursprünglich neuplatonistisches Gedankenfundament benötigt wird, wie das der Sophistik, das durch das feinen Verständnis Fichtes gegangen ist – dieser Philosoph ist für uns hier bedeutender als Schelling, um die Geste (oder den Geist) von Novalis zu verstehen. Das ist ein interpretativer Ansatz, den wir seit unserer Doktorarbeit verfolgen (vgl. L’opacité du sensible chez Fichte et Novalis, s.o.). Und wir freuen uns darüber, dass dies zum Thema einer freundschaftlichen Diskussion mit Olivier Schefer wurde und nach wie vor ist. 21 Erste „Polytechnische Schule” der Welt, mitbegründet von Novalis‘ Großonkel (Friedrich von Heynitz) zu Beginn des 18. Jh., heute Technische Universität Bergakademie Freiberg. 22 Vgl. dazu die verschiedenen Artikel Daniel Lancereaus und auch das ausführliche Werk von L. Margantin, Système minéralogique et cosmologique chez Novalis, ou les plis de la Terre, Paris, L’Harmattan, 1999. 23 WTB, I, 662. ! 134 ! Einfluss auf die Schöpfung des Heinrich von Ofterdingen offenkundig ist (obwohl dieses Werk Goethes dort bewusst verändert und kritisch verarbeitet wird). So verhält es sich auch mit den Texten von Ludwig Tieck – eines der engsten Freunde des Autors unter den Romantikern – dessen Werk, Franz Sternbalds Wanderungen, ebenso den unvollendeten Roman von Novalis wie auch die Malerei von Runge inspiriert. Gewisse Texte von Jean Paul, wie beispielsweise Die unsichtbare Loge, befruchteten das dichterische Schaffen von Novalis, und besonders die Hymnen an die Nacht, was auch für die Night Thoughts von Edward Young gilt, wie auch für die Theogonie von Hesiod und für das Gedicht Die Götter Griechenlands von Schiller. (5) Der fünfte und letzte Zugang, von welchem wir unsere Untersuchung aus fortsetzen wollen, ist der für Novalis oft in Anspruch genommene Neuplatonismus, in seiner ursprünglichen griechischen Ausprägung wie auch in seiner Fortführung in der rheinländischen Mystik. Natürlich, wie Frederick C. Beiser, der große amerikanische Spezialist der Frühromantik schreibt: Prima facie Novalis might seem to be the least Platonic of all the early romantics. There are few references to Plato in his letters and writings, and he did not have the infatuation with things Greek of Hölderlin, Schelling, Schleiermacher and Schlegel. Yet this impression is corrected by Friedrich Schlegel, who told his brother, after first meeting Novalis in 1792, that the “Lieblingsschriftsteller” of his new friend were Plato and Hemsterhuis24. Tatsächlich ist Novalis vom Mittelalter stärker als von der Antike fasziniert, was ihn unter den Schriftstellern des Athenäums hervorhebt (im Gegensatz beispielsweise zu den eher der Antike zugeneigten Brüdern Schlegel). Schlussendlich spiegeln die Schriften Novalis’ dennoch am stärksten das Erbe Platons wieder. Natürlich geht es hier nicht um einen historiographisch „gesicherten“ Weg: Unser Autor bezieht den Hauptteil seiner Kenntnisse über Platon auf indirektem Weg, wie über Kommentare, durch Überschneidungspunkte von Autoren und Handbüchern über Philosophiegeschichte, darunter – wieder einmal – das von Tiedemann, aber auch über das Monumentalwerk, System der platonischen Philosophie von Wilhelm Gottlieb Tennemann, Professor an der Universität Jena25. Auch wenn es wahrscheinlich ist, dass der Dichterphilosoph Platon nie selbst gelesen hat, ist dennoch mit Jean-Louis Vieillard-Baron anzumerken, dass er die Philosophie Platons für seine Zwecke umformt 26 , und das mit Hilfe der neuplatonischen Quellen, welche er teils direkt, teils indirekt ausschöpft. Der heute in Vergessenheit geratene holländische Neuplatoniker Francois Hemsterhuis war seinerzeit sehr geschätzt, besonders von seinem Freund Jacobi, der ihn in Deutschland bekannt gemacht hat. Novalis hat viel Zeit mit dem Studium seiner Oeuvres philosophiques27 verbracht, und zwar seit dem Erscheinen des ersten Bandes im Jahr 1792. Er las das Werk in der französischen Originalsprache. Im Glauben, einen Platon „in reinem Zustand“28 vorzufinden und darzustellen, begegnen wir bei Hemsterhuis in Wahrheit einer Platonlektüre im Geiste Malebranches, die sich um den Begriff des „moralischen Organs“ aufbaut. Demzufolge wohnt dem Menschen ein rein geistiges Organ inne, das von den Sinnesorganen unabhängig ist, und das Zugang zu der ideellen Seite der realen Welt ermöglicht. Der bevorrechtigte Inhalt dieses moralischen Organs ist das Ich selbst, das den Sinnesorganen verborgen bleibt. Damit gelingt dem jungen Dichter die Annäherung an die intellektuelle Anschauung Fichtes. Genauso wird er von der Zeichentheorie inspiriert, in welcher er seine Betrachtungen unterstützt und verstärkt sieht: Laut Hemsterhuis offenbaren sich die Ideen immer durch sinnliche Zeichen (deren Beziehung untereinander willkürlich ist), deren Kraft nicht nur darin besteht, das äußere Seiende zu zeigen, sondern immer auf den Menschen zu wirken und ihm die Ideen zu enthüllen. Diese Offenbarung wird als eine Art praktischer Einfluss beschrieben, wobei die sinnlichen Organe und das moralische Organ Hand in Hand arbeiten, über einem Spiel von symbolischem Widerhall und Nachhall, das seine allerletzte Vollendung in der Kontemplation findet. Später, gegen Ende des Jahres 1798 begeistert sich Novalis für Plotin. Nichts weist jedoch darauf hin, dass er die Enneaden gelesen hat: Vielmehr geht auch dies erneut von Tiedemann aus. Am 10. Dezember 1798, noch in Ausbildung in Freiberg, schreibt Novalis an Friedrich Schlegel, der zu dieser Zeit in Berlin weilt: Ich weiß nicht, ob ich Dir schon von meinem lieben Plotin schrieb. Aus Tiedemann lernt ich diesen für mich geborenen Philosophen kennen – und erschrack beynah über seine Aehnlichkeit mit Fichte und Kant – und seine idealische Aehnlichkeit mit ihnen. Er ist mehr nach meinem Herzen als beyde29. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 24 F.C. Beiser, The Romantic Imperative. The Concept of Early German Romanticism, Cambridge/London, Havard University Press, 2003, S. 72. 25 W.G. Tennemann, System der platonischen Philosophie, Bände I-V, Leipzig, Barth, 1792-1795. 26 Vgl. J-L. Vieillard-Baron, Platon et l’idéalisme allemand (1770-1830), Paris, Editions Beauchesne, 1979, S. 125. 27 F. Hemsterhuis, Oeuvres philosophiques, Paris, L’imprimerie de H.J. Jansen, 1792. 28 J-L. Vieillard-Baron, s.o., S. 81. 29 WTB, I, 679. ! 135 ! Der Dichter fügt später hinzu, dass seine Entdeckung nicht von ihm selbst stammt: Diese wundersame Übereinstimmung von Neuplatonismus und Transzendentalismus, so hätte man ihn aufmerksam gemacht, finde sich schon bei Maimon (im Falle seiner Autobiographie, die 1792-93 erschien). Wir werden auf diese Annäherung zurückkommen. Zur gleichen Zeit macht sich ein anderer Einfluss bemerkbar, nämlich derjenige von Paracelsus, Vorgänger der Naturphilosophie, Arzt, Alchimist und Mystiker der Renaissance, und selbst stark vom Neuplatonismus beeinflusst30. Dieser Einfluss ist von den Kommentatoren noch schwieriger nachzuweisen, da es unmöglich ist, eindeutig festzulegen, wie viel Novalis aus dem Paragranum (von 1530) wirklich kannte. Es ist wahrscheinlich unmöglich, diesen Wissenshintergrund analytisch von dem Einfluss eines anderen neuplatonischen Mystikers, der bei Novalis Bewunderung hervorruft, abzugrenzen, nämlich von dem Jakob Böhmes. Gemeinsam mit Meister Eckhart, den Novalis zwar nicht erwähnt, der aber seit der Verwendung der Triaden in den Fichte-Studien stets im Hintergrund spürbar ist, ist Böhme für den jungen Romantiker sowie auch für den gesamten Deutschen Idealismus von unermesslicher Bedeutung. Miklos Vetö schreibt: „Novalis und Tieck führen das Gedankengut Böhmes in die deutsche Kulturwelt ein, durch sie lernen die großen Philosophen der Zeit seine Schriften kennen“31. Von diesem Gedankengut ist Novalis richtiggehend „erfüllt”, und zwar weit mehr als nur durch die genaue Beschäftigung mit seinen Werken, auch wenn er bedeutende Teile davon gelesen hat. Am 23. Februar 1800 schreibt er, Böhme paraphrasierend, an Tieck (den er, wie Schelling und Bader, sehr intensiv studierte): Jacob Böhm les ich jetzt im Zusammenhange [der Redaktion seines Romans, Heinrich von Ofterdingen, A.D.], und fange ihn an zu verstehn, wie er verstanden werden muß. Man sieht durchaus in ihm den gewaltigen Frühling mit seinen quellenden, treibenden, bildenden und mischenden Kräften, die von innen heraus die Welt gebären – Ein ächtes Chaos voll dunkler Begier und wunderbaren Leben – einen wahren, auseinandergehenden Microcosmus32. Der junge Romantiker sagt nicht, was er von Böhme liest, und nichts weist darauf hin, dass er ihn erst so spät entdeckt hat – vielmehr scheint er ihn in neuem Kontext wieder zu lesen. Er erwähnt ihn auch im Entwurf des Heinrich von Ofterdingen (dessen Stil und manchmal auch Inhalt von Böhme beeinflusst sind, besonders in der Episode der sexuellen Ausschweifung in dem Klingsohrsmärchen) und noch an der einen oder anderen Stelle. Wichtig ist dabei die diffuse Anwesenheit des mystischen Neuplatonismus, und die Spuren, die er auf die Arbeit von Novalis hinterlässt, deren religiöses Gedankengut unserer Ansicht nach mehr davon geprägt ist als von dem Pietismus des Grafen von Zinzendorf 33. Jedenfalls existiert eine durchdringende Verwandtschaft zwischen der „Lehre der Signaturen“ (im 20. Jh. von Ernst Jünger neubelebt), auch Theorie der Analogien genannt, von Paracelsus entwickelt – der in den Bereichen der Toxikologie, Pflanzenheilkunde und Psychosomatik Pionier-Arbeit geleistet hat – und der über ein Jahrhundert später erschienenen De signatura rerum von Böhme 34 . Gestützt durch die Theorie der linguistischen Zeichen von Hemsterhuis und Fichte wird das Aufeinandertreffen der Lehre Böhmes und Paracelsus im Gedanken von Novalis zu einem explosiven Gemisch, dass die Konstruktion seiner Logologie entzündet: „Der Mensch spricht nicht allein – auch das Universum spricht – alles spricht – unendliche Sprachen./ Lehre von den Signaturen“35. Die Idee Böhmes, der zufolge die Welt ein Text ist, in welchem sich die göttliche Allmacht widerspiegelt und darin also ablesbar ist, trifft für Novalis genau zu, der sich schon früher die Frage stellte, in wiefern die „Hieroglyphe“ des Fichteschen Ichs, verstanden als Kraft, Bilder zu erschaffen, zu lesen oder zu entschlüsseln sei. Der Quasi-Sensualismus und die ganz neue Beharrlichkeit Böhmes für den Körper, den Affekt, den Wunsch und die Einbildungskraft – beschrieben mit Hilfe von visuellen Metaphern und Spiegelmetaphern –; seine Metaphysik des ursprünglichen Abgrundes (die später von Schelling aufgegriffen wurde), des Chaos oder des dunklen Grundes, der dazu berufen ist, sich konfliktgeladen zu spalten, um sich wieder zu erkennen und zu erleben und zwar im Abbild; die unendliche Dunkelheit der !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 30 Vgl. A. Koyré, Paracelse, Paris, Allia, 2004. M. Vetö, Nouvelles études sur l‘idéalisme allemand, Paris, L’Harmattan, 2009, S. 17. WTB, I, 732. 33 Die Eltern von Novalis, vor allem sein Vater, waren dieser lutherianischen Kirche sehr zugeneigt, deren strenge Bildung natürlich ihren Teil zur Formung des Charakters des Dichters beigetragen hat. Man könnte beinahe sagen, dass diese religiöse Strömung durch die vollständige Absage an die Welt, an die Freude und das Sinnliche im Allgemeinen, für Novalis als Gegenreaktion die Anziehungskraft des Sinnlichen noch stärker macht. Dieser hat zu seinem Vater eine eher unstete Beziehung. Sein Vater war ein schreckhafter Mann, hart, sich und andere mit Vorwürfen überhäufend, und von einer an Fanatismus grenzenden Religiosität. Novalis empfand dagegen eine große Zärtlichkeit und wahres Mitgefühl für seine Mutter, auch wenn das Leiden sich dadurch in die Beziehung einfügt. Schwer depressiv durchleidet die Mutter von Novalis tatsächlich schwere melancholische Krisen, die an Wahnsinn grenzen. Novalis wird so sehr früh mit Geistesstörungen konfrontiert, die in seinem Werk auf verschiedene Weisen mitschwingen. 34 Vgl. J. Böhme, Sämtliche Schriften, 11 Bände, Hg. Willi-Erich Peuckert, Stuttgart – Bad Cannstatt, Frommann-Holzboog, 195589 35 WTB, II, 500. 31 32 ! 136 ! Materie, und der paradox erscheinenden beschützenden Gewalt der Natur: All diese vielen Themen Böhmes begeistern Novalis und leben in seinem Schaffen fort. Es verwundert nicht: Die Mystik Böhmes ist im Grunde eine tragische Mystik, die, wie auch die Gedichte der Hymnen an die Nacht, durch die Frage des Blickes verfolgt wird. Es ist unmöglich, etwas zu sehen, ohne gesehen zu werden – gesehen zu werden von dem Urgrund der Dinge selbst, die „sprechen“, und des Universums, das „spricht“. Die Anschauung eines solchen grundlegenden Gesehen-Werdens enthüllt Böhme übrigens die tragische Koexistenz der Gegensätze innerhalb des Einen. In diesem Zusammenhang wird das Auge des Seienden nicht deshalb mystisch, weil es mit Gelassenheit den vom Urgrund ausgehenden Blick empfängt, und ihm die Trennung und Spaltung bekannt gibt. Im Gegenteil betont Böhme entscheidend die Angst, die Verwirrung und das Trauma – aber auch das Vergnügen – des Spiels der Blicke, durch welche das Seiende sich der Welt und sich selbst öffnet, ebenso wie in den Hymnen an die Nacht. Der „Mystizismus“, um den es hier geht, erscheint folgerichtig auf dieses Spiel der Blicke, das gleichzeitig beklemmend und ekstatisch ist. Das für Böhme und mehr noch für Novalis Bedeutende besteht im völligen Sich-Hingeben an die reine Dunkelheit des nächtlichen Blickes. Maximierung des Perspektivismus, gewolltes Übersteigern der Sprache der vielfach kombinierten Dinge, die schwindelerregend „sprechen“, die Einführung eines Blickes aus dem Abgrund – all das geht bei Novalis an die Grenzen der Aporie, da er buchstäblich eine Gewalt hervorbringt, die ohne Lösung und ohne dauerhafte Versprechungen ist. In der dunklen Nacht gibt dieser Blick jedenfalls keine onto-theologische Antwort auf das Rätsel der Dinge, die sprechen, aber er enthüllt für sich selbst das oben angedeutete „alles spricht“. In diesem Sinne nimmt das Auftreten eines Blickes von unten nicht vorlieb damit, die Vielheit der möglichen Antworten (der Blicke in Ihrer Vielheit) auf das Rätsel des Inder-Welt-Seins zu „befördern“, ohne sich einer besonderen zuzuwenden – und wahrt insofern den Perspektivismus. Novalis verwertet diese Intuitionen Böhmes neu und vermischt sie mit einem nun veränderten Fichte: Die Grundlage des Seins, um in der Spaltung von Ich und Nicht-Ich zu ek-sistieren, könnte schon ein Blick durch das Auge sein, durch das ich sehend werde. So gibt es nichts Sicheres und dies tritt bei Novalis in Konkurrenz zu seiner Vorliebe zur Harmonie von Leibniz. Wenn die Arbeiten des Mediziners, Botanikers und Theosphen Kurt Sprengel uns nicht helfen, die neuplatonischen Werke, deren Kenntnis Novalis aus erster Hand bezog, zu kennen, so verhelfen sie uns immerhin dazu, eine solche Aufklärung in den Wind zu schreiben. Nachweislich hat Novalis zur Zeit des Allgemeinen Brouillons diesen Autor aufmerksam gelesen und seine Gedanken weiterverwendet. Sprengel propagiert eine absichtlich synkretische und „philosophische“ Medizin, und vereint mehrere Dialoge Platons mit den Enneaden von Plotin, mit bedeutsamen Texten von Paracelsus und mit persischer Magie (den Chaldäas und der Kabbala), wobei alle diese Elemente innerhalb einer doch zumindest geschraubten Theorie interagieren, bei der aber nur das Resultat bzw. die Wirksamkeit zählt, wie es schon der Titel zu seinem Aufsatz andeutet: Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneikunde36. Vor allem dieser Charakter der Umsetzung oder der Wirksamkeit, so könnte man sagen, wird überall hervorgehoben und von Novalis aufgegriffen: Die Namen der Sprachen, aber auch eher indirekt das organisch Erlebte, das der Körper innerlich erprobt, sind Aktionen. Alles hängt so von der Art und Weise ab, auf die eine Kraft mit einer anderen interagiert, und davon, was sie als „Störung“ in der Sprache oder im Organismus hervorbringt. Diese Theorie der Pathologie tritt in Dialog mit dem Novalisschen Begreifen des Fichteschen Transzendentalismus und der seinerzeitigen Ausarbeitung der Logologie. Daher wird Novalis nie den Neuplatonismus und die rheinländische Mystik „kommentieren“, wie er einst Fichte oder Reinhold kommentierte. Trotz seiner unendlichen Neugier und seines Sinns für die Vielheit der Erkenntnis, sucht der zweifellos noch junge Novalis zur Zeit des Allgemeinen Brouillons und seiner neuplatonistischen Arbeiten keinen philosophischen Lehrmeister mehr. Gleichzeitig kommen seine unleugbaren Zickzack-Bewegungen, die nicht eine Unzulänglichkeit seines Denkens sind, sondern sogar dessen Orientierung, nicht im Geringsten einem Fehlen einer eigenen Perspektive oder einer eigenen „Stimme“, wie es Stanley Cavell bezeichnet hätte, gleich. Ausgehend vom Problem der schöpferischen Einbildungskraft und ihrer Sprache im Fichteschen Kontext, begegnet Novalis dem Stil, den Formulierungen und vor allem der Atmosphäre des Neuplatonismus und der Mystik und saugt dies insofern in sich auf, als diese Elemente sein System der Systemlosigkeit konsolidieren. Dieses wirkt übrigens spontan als rationalistischer Filter37 der Themen, die !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 36 K. Sprengel, Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneikunde, Halle, 1792-94 (Bd. I-III), und 1799 (Bd. IV). Unserer Meinung nach schadet der Novalis-Forschung nichts mehr als die gefährliche Vereinnahmung des Dichter-Philosophen durch einige zeitgenössische Strömungen der religiösen Anthroposophie und anderer spiritueller Ideologien, um nicht zu sagen charismatischer Bewegungen. Noch problematischer als die einfach nur naiven Kommentare von Armel Guerne (in Frankreich), machen die Arbeiten (beispielsweise eines Jean Moncelon, die uns als „Lehrlinge“ des Dichters gewinnen will, vgl.: http://novalis.moncelon.com), die zunächst sachlich Anfang des 20. Jh. von Emile Spenlé begonnen wurden, und in Folge von Maurice Besset fortgeführt wurden, aus der Romantik von Novalis eine Karikatur der Schwärmerei. Ohne sich in der Lektüre der Texte um die philosophische und philologische Strenge zu kümmern, und dabei absichtlich die reflektierenden Fragen und den Kontext des Athenäums außer Acht lassen und die starke Komplexität des Novalisschen Schreibstils nicht wahrnehmend und alle Zweideutigkeiten oder widersprüchlichen Forderungen dieses postkantianischen Werkes, wie auch seine Ironie leugnend, geben sie sich damit zufrieden, die bei Novalis allgegenwärtigen mystischen Themen aufzugreifen, sich dafür zu begeistern, und ergehen sich 37 ! 137 ! die Theosophie oder die neuplatonistische Medizin hervorgebracht haben, und beschäftigt sich vielmehr damit, diese Themen zu einer Synthese zu bringen, als sie schrittweise zu kommentieren. 2. Überschneidungspunkte zwischen den verschiedenen Herangehensweisen: Die poetische Konstruktion der Welt und das Problem des Sinnlichen Zunächst versuchen wir jede der fünf Herangehensweisen untereinander zu verbinden, oder sie wechselseitig auf ihre Bezüge und Anklänge zu untersuchen. Der Neuplatonismus gilt hier als roter Faden. Auch wenn dieser Zugang der historiographisch am wenigsten abgesicherte ist, so wird er sich doch als geeignet erweisen, auf die anderen Zugangsarten auszustrahlen und mit ihnen in Synergie zu treten. Es ist daher diese Herangehensweise, die wir in ihrer Komplexität und umfassenden Bedeutung für Novalis‘ Denken begreifen müssen. Gehen wir zu Beginn von einer konkreten historiographischen Tatsache aus, bevor wir sie sodann auf die Ebene der philosophischen Reflexion erheben wollen. Eine hermeneutische Möglichkeit von Tiedemann, die unsere Aufmerksamkeit erregt, verdient es, hier behandelt zu werden. Wie bereits erwähnt, zeigt Novalis sich vom Vater des Neuplatonismus ganz in Bann geschlagen, dem er vor allem vermittels der Schrift Der Geist der spekulativen Philosophie begegnet. Der Autor dieses Handbuches nun steht seinerseits Plotin allerdings stark kritisch gegenüber, dem er, von der Kantischen Philosophie geprägt, vorwirft, ein System der reinen Begriffe zu entwerfen, welches unabhängig von der sinnlichen Erfahrung bestehe, und damit „logische Emanation” und „physische Erzeugung”38 verwechsle. Daher ist es umso bemerkenswerter, dass im Fragment 908 des Allgemeinen Brouillons Novalis sich von dieser Kritik inspirieren lässt und sie auf Fichte anwendet. Aber wenn er selbst die Annäherung an Plotin vollzieht, lässt er zumindest teilweise die kritische Tragweite dieses Arguments beiseite: Das logische Schema der Wissenschaft hat Fichte gleichsam zum Muster einer realen Menschenkonstruktion und Weltkonstruktion gewählt. Seine Ähnlichkeit mit Plotin. Fichte tut durch geschriebene Worte und Wortformeln – Kombinationen – innere Wunder – oder er hält sie für eine willkürliche Wunderhandlung39. Nirgends grenzt sich der Autor von dieser Methode ab. Das, was einer Kritik ähneln könnte, ist es nicht wirklich in den Augen eines Lesers, der Novalis kennt, und der für dessen offenkundige Leidenschaft für die Macht der Kombinationen von „Worten und Wortformeln“ empfänglich ist. Selbstverständlich unterstützt der Hintergrund des Leibniz’schen Logizismus die Idee einer rein logischen Weltkonstruktion. Aber wenn die kritische Tragweite von Tiedemanns Argument hier außer Acht gelassen wird, geschieht dies aus zweierlei Gründen: Einerseits da die Fichte-Studien, die drei Jahre zuvor entstanden sind, und sich ganz unmittelbar mit dem Erbe Fichtes auseinandersetzen, im Gegenteil die in der Wissenschaftslehre ausführlich behandelte Unmöglichkeit betonen, sich von der sinnlichen Erfahrung abzuwenden. Dies hat Novalis sicher nicht ganz vergessen und daher muss er sich hier nicht eigens damit auseinandersetzen. Andererseits, da Novalis in erster Linie vollständig darum bemüht ist, den grundlegend konstruktiven, bzw. konstruktivistischen Charakter der Philosophie aufzuwerten, indem er sich versönlich zeigt mit der „wunderlichen” Erschaffung, d.h. Konstruktion der Welt von Fichte und Plotin, die für Tiedemann zum Problem wird. In Wahrheit nämlich – und das ist für uns der entscheidende Punkt – möchte Novalis uns dazu zwingen, einen gewissen logizistischen Konstruktivismus und das Sinnliche, welches in bzw. durch die Vorstellung und das Bild verkörpert wird, zusammenzudenken. Ohne diese Prämisse lässt sich nicht verstehen, warum zwei Seiten später, diesmal im Stile Tiedemanns, der dieser Frage aber weniger Bedeutung beimisst, Novalis von der Transzendentalphilosophie fordert, dass sie die Erfahrung dort zu suchen habe, wo sie wirklich ist, und sich so zu einem „tätigen Empirismus“ verwandelt, der sich wiederum der Poetik annähert. Folglich ist die Poietik für die Frühromantik gleichzusetzen mit der Konstruktion und der Produktion des Neuen – was ja auch der etymologischen Bedeutung des Wortes poiesis entspricht. Hier zeigt sich eine häufig in Novalis‘ Werk vorkommende Art von Denkweise. Novalis fordert also von der Transzendentalphilosophie, dass sie die Ansprüche des sinnlichen Experimentieren geltend macht, und er fordert weiterhin von der Transzendentalphilosophie, dass sie sich weitaus gewagter bei der „logischen“ Organisation der Welt konstruktiv zeigen solle (so viele Bedingungen, die einfach von Plotin hätten erfüllt werden können!). Auf den Punkt gebracht, soll die Transzendentalphilosophie poetischer werden: !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! schließlich mitleidig in umso schädigendere und reaktionäre Nachrede, als sie guten Willens sind. All dies geht nicht im Geringesten auf das Projekt von Novalis ein. 38 Vgl. D. Tiedemann, s.o., Bd. III, S.363ff. 39 WTB, II, 684. ! 138 ! Plotin war schon in betreff der meisten Resultate – kritischer Idealist und Realist. /Fichtes und Kants Methode ist noch nicht vollst[ändig] und genau genug dargestellt. Beide wissen noch nicht mit Leichtigkeit und Mannigfaltigkeit zu experimentieren – überhaupt nicht poëtisch – Alles so steif, so ängstlich noch. Die freie Generationsmethode d[er] Wahrheit kann noch sehr erweitert und simplificirt – überhaupt verbessert werden. Da ist nun diese ächte Experimentirkunst – Die Wissenschaft des thätigen Empirismus. (Aus d[er] Tradition ist Lehre geworden) (Alle Lehre bezieht sich auf Kunst – Praxis.) Man muß d[ie] Wahrheit überall vergegenwärtigen – überall repraesentiren (im thätigen, producirenden Sinn) können40. Hier wird deutlich erkennbar, auf welche Art und Weise Novalis die Kommentatoren benutzt und wie er sie in seine eigenen „philosophischen Operationen“ verwickelt, bevor er sie dann auf seinem weiteren Denkweg liegen lässt. Diese Textstelle ist nicht zu verstehen, wenn man die Unebenheiten in Novalis‘ Gedankengut glättet, ebenso wie die Zweideutigkeiten und die scheinbar widersprüchlichen Forderungen. Um es mit einer bekannten und in diesem Kontext nicht uninteressanten Redewendung zu benennen, scheint es, als wolle Novalis auf mehreren Hochzeiten tanzen ! In Jena, in einer Umgebung postkantianischer und kritischer Atmosphäre ausgebildet, freundet Novalis sich umso leichter mit Tiedemanns Ideen bezüglich der Notwendigkeit einer sinnlichen Erfüllung der logischen Kategorien, an, als er selbst zum Zeitpunkt, an dem er dieses Fragment schreibt, mitten in der Ausbildung zum Mineralogen steckt, und sich mit den Besonderheiten und Eigenheiten beschäftigt, die er sieht, fühlt und beschreibt. Jedoch distanziert er sich von dem Kommentator, als dieser, darum besorgt, Doktrinen aufzustellen, ohne sich um die philosophische Geste, d.h. um die Poietik zu kümmern, die den theoretischen Grundentscheidungen der Philosophen vorausgeht, alles beiseite lässt, worin sich der gleichzeitig perspektivistische und konstruktivistische Charakter des Denkens zeigt. Mit anderen Worten trennt er sich von Tiedemann, sobald dieser der Performativität des Schreibens nicht genügend Raum zuerkennt, wie er es beispielsweise bei Plotin tut. Diese Dimension ist so wichtig, dass Novalis, in diesem Fragment auf noch nicht dagewesene und überraschende Weise Poiesis und Praxis identifiziert41. Diese Überlegungen sind nicht allein aus sich selbst heraus verständlich. Kant und Fichte, die übrigens an anderer Stelle für ihre transzendentale Poietik gelobt werden, müssen sich manchmal, so wie es hier der Fall ist, eine gewisse Trockenheit oder eine gewisse Strenge in der Generationsmethode vorwerfen lassen, deren unangefochtener Meister in der Transzendentalphilosophie dennoch Fichte bleibt42. Darüber hinaus steckt dieses Fragment Grenzen der Philosophie Kants und Fichtes auf dem Gebiet des tätigen Empirismus ab. Das ist der Gipfel! Kam Novalis nicht auf seine Kosten in „Wortformeln“ der verschiedenen „logischen Weltkonstruktionen“, die mutmaßlich unabhängig von der Erfahrung sind? Und wie kommt Plotin seinerseits zu einer genetischen Philosophie, die gleichzeitig von einem perspektivistischen Logizismus und von „der ächten Experimentirkunst”, von diesem „Genie zum Experimentiren”43 getragen wird ? Es ist ein Geheimnis, vor allem in dem Maße, wie Tiedemann allein Novalis in die Philosophie Plotins einführt, und wie er sich was ihn anbelangt vom Neuplatonismus abkehrt. Aber auf jeden Fall – und das ist das wesentliche – muss man, Novalis zufolge, das Sinnliche „experimentieren“, in genau dem gleichen Maße in dem man dieses in einem logischen System konstruiert. Darüber hinaus, so zeigt es die zitierte Textstelle gegen Ende an, wird die neue Verschmelzung von sinnlichem Experimentieren und Logizismus in der Nähe von Vorstellung und Bild zu suchen sein, welche als System der Systemlosigkeit zu verstehen sein wird. Aber spinnen wir den selben Faden noch ein bisschen weiter. Tiedemann wirft Leibniz in aller Schärfe vor, den selben Fehler wie Plotin zu begehen, nämlich die Prinzipien mit den Dingen zu verwechseln. Von Kant noch einmal inspiriert, seinerseits selbst aufmerksamer Leser von Hume, weist Tiedemann den leeren Perspektivismus des Vaters der modernen Kombinatorik zurück. Wenn die sinnliche Erfahrung nicht die verschiedenen Monaden erfüllen kann, d.h. ebenso die verschiedenen Gesichtspunkte, die das Universum von sich selbst hat, und die nur logische Prinzipien, die von Gottes Gnaden unmittelbar ontologischen Wert haben, garantieren, so geht es nicht um einen echten Perspektivismus. Aus Tiedemanns Sicht genügt es, aus Leibniz einen Schwärmer oder sogar einen Neuplatoniker zu machen. Er wird übrigens explizit in die Nähe !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 40 WTB, II, 687. Wir danken Jean-Christophe Lemaître für diesen Hinweis. 42 Wie wir bemerkt haben, benutzt Novalis gerne französische Begriffe, wie es seit dem 18. Jahrhundert üblich war. Novalis verwendet diese allgemein um den Sinn in Umlauf zu bringen. Fichte benutzt lieber die Wörter von germanischer Wurzel, besonders wenn er über die Tätigkeit redet; er benuzt z.B. den Begriff Hervorbringung bzw. Hervorbringen. Seinerseits aber spricht Novalis von einer Generationsmethode (ein Begriff das er auch anderswo gefunden haben könnte). In diesem Themenbereich geht Novalis bei Übersetzungs-Vorgängen ziemlich systematisch vor, wobei er abwechselnd die lateinische oder germanische Ursprungsbedeutung heranzieht, je nach dem aktuellen Kontext. 43 WTB, II, 488. 41 ! 139 ! von Jacob Böhme gerückt44. Wenn sie auch unter anderem durch das Thema der Ursprache miteinander verbunden sind, scheint dieser Vergleich heute für uns erzwungen, da sich die theosophischen Spekulationen der Renaissance und der Rationalismus der postcartesianischen Monadenlehre nur wenig ähnlich sind. Wieder einmal nimmt Novalis diese Kritik bereitwillig auf, und, obwohl er ihren Voraussetzungen nicht vollständig zustimmt, macht er sich indirekt diesen Vergleich Tiedemanns zu eigen. Tatsächlich kann letzterer unempfänglich für jegliche konstruktivistische Poietik sein, so hat er dabei doch nicht weniger recht, wenn er von den Begriffen fordert, dass sie sich durch die bloße Anschauung ausweisen. Wenn er das ist, was im eigentlichen Sinne ein Perspektivist gennant werden kann, so legt Novalis seit den FichteStudien wiederholt nahe, dass die aller abstraktesten Kombinationen die Wahrnehmbarkeit selbst, und damit die Sinnlichkeit ganz allgemein, auf die Probe stellen müssen. So hinterlässt der Geist des Transzendentalismus unauslöschliche Spuren bei Novalis. Das funktioniert nicht ganz problemlos, da der junge Schriftsteller keinesfalls auf die Leibniz’sche Vielfalt begrifflicher Kombinationen verzichten möchte. Im Werk mit dem Titel Symbolismus und symbolische Logik schreibt John Neubauer folgendes: Novalis glaubt daher in Übereinstimmung mit Kant, dass die philosophische Analyse reiner Begriffe keine synthetische Wissenschaft ergibt [in diesem Sinne irrt also die klassische Metaphysik, AD], er sieht aber in der Konstruktion (‚Plastisirung‘) von a priori Anschauungen die Möglichkeit einer durch die Einbildungskraft hervorgebrachten neuen Metaphysik45. Demnach würde er, schenkt man Neubauer glauben, vorschlagen, die kantische Trennung von mathematischer und philosophischer Erkenntnis zu beseitigen wollen, wobei die mathematische Erkenntnis (d.h. die Erkenntnis die ihre Begriffe in der reinen Anschauung konstruieren kann) das Allgemeine im Besonderen, ja sogar im Einzelnen, intuitiv unmittelbar erkennt, während die philosophische Erkenntnis (d.h. die durch Begriffe diskursiv-reflektierende Erkenntnis) das Besondere nur im begrifflichen Allgemeinen betrachtet. Genauer stellt sich in unserem Sinne bei Novalis die Frage nach einer Kombinatorik, die, auf Fichte zurückgehend, durch die intellektuelle Anschauung erst ermöglicht wird: Novalis, der hier in gewisser Weise an Schelling anknüpft, sieht nicht ein, weshalb alle Kunst und alle Wissenschaft einschließlich der Philosophie nicht auf die gleiche Weise wie die Mathematik funktionieren sollte, indem sie sich einzig auf die reine Selbstanschauung stützt, welche – darauf ist nachdrücklich hinzuweisen – nur, und zwar auf Grund der transzendentalen Einbildungskraft, gleichzeitig mit der Einschränkung der sinnlichen Anschauung existiert oder hervorgebracht werden kann. Die Leibnizsche Kombinatorik verwandelt sich in Konstruktion und in hervorbringende Einbildungskraft von sinnlichen Perspektiven. Die Kombinatorik, wie auch die ganze Algebra sind beide selbst nur eine Sache der Einbildungskraft, der Schaffung von allgemeinen und notwendigen Vorstellungen, und deshalb schreibt Novalis in Allgemeinen Brouillon: Algeber und combin[atorische] Analysis sind durchaus kritisch. […] Sonderbar ist es, daß man die Analysis meistens nur zu höherer Geometrie oder Mechanik gerechnet hat. Sie, mit Inbegriff d[er] comb[inatorischen] An[alysis], sind auch eigentlich transcendente Geometrie und Mechanik. Sie beschäftigen sich mit den tabellarischen Formen (Figuren) und Bewegungen der Zahlen oder Größenzeichen. (Vid. Leibnitzens Vorrede bey Hindenburg.) […] Die Wort und Zeichenmalerey gewährt unendliche Aussichten. Es lassen sich auch eine Perspectiv und mannichfache tabellarische Projectionen der Ideen in ihr denken, die ungeheuren Gewinn versprechen. Eine sichtbare Architektonik – und Experimentalphysik des Geistes – eine Erfindungskunst der wichtigsten Wort und Zeichen Instrumente läßt sich hier vermuthen46. In der Mathematik, wie auch in der Philosophie, könnten wir es zu tun haben mit der unmittelbaren „Absprache”, bzw. Übereinstimmung des Allgemeinen mit dem Besonderen, z.B. in der Vorstellung, im Schreiben, in der einzelnen Perspektive selbst. Letztere wäre immer unterstützt von einer intellektuellen Anschauung, deren Gebrauch, je nach der Art der angestrebten Reflexivität (philosophisch, mathematisch, poetisch, usw.), klarerweise nicht derselbe ist. Eine solche Erkenntnis wird in allen Fällen in der Anschauung konstruiert worden, gemacht worden sein, wie eine Wort- oder Zeichenmalerei. Seien wir indessen ehrlich: Nirgendwo macht Novalis sich die Mühe, Stufe für Stufe die Beweisführung darzulegen, die es ihm zu ermöglichen scheint, die Forderungen des Kantianismus und die grenzenlose Offenheit der leibnizschen Kombinatorik zu vereinen. Vereinzelte Anmerkungen, einige Gleichungen, verbunden mit Kommentaren und allgemeinen Überlegungen zur Mathematik genügen dafür nicht. Aber das Verlangen, !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 44 D.Tiedemann, s.o., S.356. J. Neubauer, Symbolismus und symbolische Logik, Die Idee der „Ars Combinatoria“ in der Entwicklung der modernen Dichtung, W.Fink Verlag, 1978, S.102. 46 WTB, II, 625-626. 45 ! 140 ! den Fichteschen Transzendentalismus und die Mathematik in eine Theorie oder eher eine Praxis der Darstellung, bzw. der Vorstellung, bzw. der Repräsentation, der symbolischen Konstruktion der sichtbaren Welt, zusammenzufassen, kann dennoch als ausreichend explizit betrachtet werden: Deutlich wird etwas nu[r] [du]rch Repräsentation. Man versteht eine Sache am leicht[este]n, wenn man sie repraesentirt sieht. So versteht man das Ich nur insofern es vom N[icht]-I[ch] repraesentirt wird. Das N[icht]-I[ch] ist das Symbol des Ich und dient nur zum Selbstverständniß des Ich. So versteht man das N[icht]-I[ch] umgekehrt, nur insofern es vom Ich repraesentirt wird, und dieses sein Symbol wird. In Hinsicht auf die Mathem[atik] läßt sich diese Bemerckung so anwenden, daß die Mathem[atik], um verständlich zu seyn, repraesentirt werden muß. Eine Wissenschaft läßt sich nur durch eine andre wahrhaft repraesentiren. Die paedagogischen Anfangsgründe der Mathem[atik] müssen daher symbolisch und analogisch seyn. Eine bekannte W[issenschaft] muß zum Gleichniß für die Mathematik dienen und diese Grundgleichung muß das Princip der Darstellung der Mathematick werden./ […] /Gott selbst ist nur durch [Re]praesentation verständlich./47. Sehen bedeutet demnach Repräsentationen zu erzeugen, und sehen zu lassen, was wiederum bereits eine Handlung des Verstehens und des Vorlegens einer Interpretation darstellt: Ein irgendeiner Teil einer Verbindung, bzw. Kombination ist stets Träger einer symbolischen Realität, die, wenn sie sich der Repräsentation entzöge, sich ebenso der Lektüre, der Interpretation und der Übersetzung, die daraus zu machen wäre, entzieht. Dies ist genau das hermeneutische Problem des Verstehens, welches hier unvereinbar mit der mathematischen Repräsentation erscheint. Die Mathematik wird als ein in die äußere Welt gekehrter Verstand gesehen, ein sichtbarer Verstand, der symbolisiert und sinnlich erfassbar ist und daher interpretiert werden kann: Am Ende ist die ganze Mathemat[ik] gar keine besondre Wissenschaft – sondern nur ein allgem[ein] wissenschaftliches Werckzeug – ein schönes Werkzeug ist eine Contradictio in adjecto. Sie ist vielleicht nichts, als die exoterisirte, zu einem äußern Object und Organ gemachte Seelenkraft des Verstandes – ein realisirter und objektivirter Verstand. […] – Alles soll aus uns heraus und sichtbar werden – unsre Seele soll repraesentabel werden – Das System der Wissenschaften soll symbolischer Körper (Organsystem) unsers Innern werden. – Unser Geist soll sinnlich wahrnehmbare Maschine werden – nicht in uns, aber außer uns. / Umgekehrte Aufgabe mit der Äußern Welt./48. Erinnern wir uns hier an das oben zitierte Fragment, in welchem Novalis, von Fichte inspiriert, die kantischen Verstandeskategorien nicht als starre Struktur, sondern als Handlungen, die zum „Sprechen“ gebracht werden müssen, gleichsam als das Alphabet des menschlichen Denkens (Alphabet cogitationum humanarum) und dessen kombinierbare Buchstaben, betrachtet. Wenn man die Mathematik einem Verstand gleichsetzen kann, dann muss auch sie zum sprechen gebracht werden können, wie es Novalis wiederholt suggeriert. Sie muss an unserem imaginativen Verständnis der Welt teilhaben, das heißt an unserer Produktion von Sinn in oder als Welt, da man nicht übersetzen oder interpretieren kann, ohne gleichzeitig zu produzieren. „Eine sinnlich wahrnehmbare, zur Maschine gewordene Einbildungskraft ist die Welt. Die Einbild[ungs]Kr[aft] ist am leichtesten und ersten zur Welt gekommen oder geworden“49. Daher verbinden viele der Fragmente Mathematik und Grammatik („die eigentliche Sprache ist ein Logarythmen System“ 50 ), oder Mathematik und Übersetzung („MATHEM[ATIK]. Die Perspectiv ist gleichsam die Lehre von der Übersetzung – oder Flächenkomposition – der Körper“51) miteinander. Kurz gesagt, muss man Perspektiven (die ebenso „Ergebnisse“, bzw. Wirkungen einer schöpferischen Kraft sind) erschaffen und konstruieren, die über die Philosophie, die Naturwissenschaften und die Literatur untereinander logisch angeordnet sind, und zwar in der Art und Weise des „tätigen Empirismus”. Solche Perspektiven müssen anders gesagt eine Vielfalt von sinnlichen Erfahrungen fördern, die selbst Übersetzungen und Interpretationen „in actu“ sind. Es ist natürlich keine Selbstverständlichkeit. Was ergibt sich daraus ? Im Fall der einzigen Transzendentalphilosophie ist es angebracht, verschiedene Perspektiven direkt auf dem Boden des tätigen Empirismus zu erschaffen, die sich als allgemeine und notwendige Bedingungen der Möglichkeit der sinnlichen Erfahrung darstellen. Es handlet sich um die transzendentalen Perspektiven, die die besonderen Perspektiven, die man von der Welt haben kann, ermöglichen. Was soll das bedeuten? Plotin scheint diese Unternehmung geglückt zu sein, aber der Dichterphilosoph hatte nur geringe und indirekte Kenntnis davon. Der „Fichteanismus“ von Novalis ist in dieser Hinsicht aufschlussreicher und vorrangig. Denn in der Auseinandersetzung mit dem von Novalis „neuplatonisierten” Fichte fordert der Dichterphilosoph zum ersten Mal von der Philosophie, dass sie den !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 47 WTB, II, 478. WTB, II, 484. 49 WTB, II, 484. 50 WTB, II, 624. 51 WTB, II, 606. 48 ! 141 ! tätigen Empirismus und die konstruktive Logik / Poietik anknüpft. Und das nicht deshalb, weil die Philosophie Fichtes in dieser Hinsicht enttäuschend wäre, sondern vielmehr weil sie, trotz ihrer offenkundigen Unvollkommenheit in den Augen von Novalis, die Frage geradezu herausfordert und bewusst eine solche Anknüpfung, ja sogar Legierung, entwickelt hat. Wie er mehr als drei Jahre nach den Fichte-Studien, und trotz einiger aufeinanderfolgender Enttäuschungen bei seiner Lektüre des Jenaer Meisters, schreibt: „Selbst Fichtens Phil[osophie] ist nicht ganz frey von genialischer Empirie“52. Dies ist eine Behauptung, die für einen orthodoxen Fichteaner überraschend wirken mag, nicht aber für Novalis. Er schreibt dies an mehr als einer Stelle, etwa im Allgemeinen Brouillon: Alles kann zum Experiment – alles zum Organ werden. Ächte Erfahrung entsteht aus ächten Experimenten (Versuche sind Experimente.) Fichte lehrt das Geheimniß des Experimentierens – er lehrt Thatsachen und Thathandlungen, oder wirckliche Sachen und Handl[ungen] – in Experimente und Begriffe verwandeln53. Die Logologischen Fragmente von 1798, zentral für den Werdegang von Novalis, beanspruchen diese Abstammung von Fichte: <Es wäre wohl möglich, daß Fichte Erfinder einer ganz neuen Art zu denken wäre – für die die Sprache noch keinen Namen hat. Der Erfinder ist vielleicht nicht der fertigste und sinnreichste Künstler auf seinem Instrument – ob ich gleich nicht sage, daß es so sey – Es ist aber wahrscheinlich, daß es Menschen giebt und geben wird – die weit besser Fichtisiren werden, als Fichte. Es können wunderbare Kunstwercke hier entstehn, wenn man das Fichtisiren erst artistisch zu betreiben beginnt54>. „Fichtisieren“ lässt sich aus Novalis‘ Feder erstaunlicherweise als Synonym für „poietisieren“ verstehen. Und man könnte das „Fichtisieren“ auf viele Arten erweitern, zum Beispiel auch als „Biblisieren“. In einem Brief an Friedrich Schlegel vom 7. November 1798 erinnert Novalis an ein gemeinsames Projekt die Bibel betreffend, zugleich der Traum sie neu zu schreiben bzw. deren Exegese umzustürzen, aber auch die „Theorie der Bibel” zu überdenken, wobei die Bibel mit ihrem Vermögen die Schrift und die Bildung der Wörter zu reflektieren als Ideal aller Enzyklopädie betrachtet wird. So appelliert er an eine „Universalmethode des Biblisirens“55. So wie die Bibel stelle die Enzyklopädie des Wissens also eine „symbolische, indirecte, Constructionslehre des schaffenden Geistes“56 dar. In dieser Weise muss man den Allgemeinen Brouillon verstehen. Es handelt sich nicht um ein oberflächliches Spiel von abstrakten Kombinationen, welche die leeren deterministischen und wirklichkeitsfremden Strukturen des Wissens klar hervorheben würden. Es handelt sich im Gegenteil um die Schöpfung, um die sinnliche Konstruktion – symbolisch und geeignet zur Interpretation – eines Systems der Systemlosigkeit, in welchem die Elemente zirkulieren und sich verändern, teils unvorhergesehen und teils unvorhersehbar: Die Präexistenz der logischen Perspektiven auf die Realität würde nämlich eine Interpretation ihrer Symbolhaftigkeit verhindern, da es keine Interpretation, bzw. Übersetzung gibt, ohne Schaffung von Neuem. Als Erbe von Leibniz bzw. Paracelsus interessiert sich Novalis natürlich für erwartete Analogien und für verschiedenste Anordnungen, aber wertet ebenso sehr die Unterschiede, die Dissonanzen, Aporien, Zufälle und unvorhergesehenen Zusammenstöße zwischen den Perspektiven auf. Sein Anliegen ist weniger die Vorherbestimmtheit der Dinge aufzudecken, als sie vielmehr zum Sprechen zu bringen, ihnen eine sinnliche Stimme zu geben und sie folglich performativ zu machen, so wie er es in seinen mathematischen Schriften zu den algebraischen Zeichen beschreibt57. Die Perspektiven bringen die Realität zum Sprechen, sie „instituieren”, sozusagen, die Realität. Dieser originale Perspektivismus der Performativität hat nun ein spezifisches Verhältnis mit dem Unvorhersehbaren zur Folge. Wenn man die performative Seite der Perspektiven annimmt, so muss man jene des Unvorhersehbaren auch annehmen, da man zwar auf die Auswirkungen der Performativität spekulieren kann, sie aber im Voraus nicht kennen kann. Novalis wird so dazu geführt, dem Zufall und der Zufälligkeit in einer Vielzahl von Fragmenten eine große Bedeutung beizumessen. Natürlich empfindet die Novalis’sche Systematik eine Abneigung dagegen, eine Seite zu bevorzugen, sei es das System oder der Zufall. In einer Systematik dieser Art wird das „Allersystematischste“ zugleich das am stärksten dem Zufall zuneigende: Das Individuum wird das Vollkommenste, das rein Systematische seyn, das nur durch einen einzigen abs[oluten] Zufall individualisirt ist – z.B. durch seine Geburt. In diesem Zufall müssen alle seine übrigen Zufälle, die unendliche Reihe seiner Zustände, eingeschachtelt liegen, oder noch besser, als seine Zufälle, seine Zustände determinirt seyn. Ableitung eines individuellen Lebens aus einem einzigen Zufalle – einem einzigen Act der Willkühr. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 52 WTB, II 708. WTB, II, 630. WTB, II, 314. 55 WTB, I, 673. 56 WTB, I, 673. 57 Vgl. etwa WTB, II, 484. 53 54 ! 142 ! Zerlegung Eines Zufalls – Eines großen Acts der Willkühr in mehrere – in Unendliche – durch allmäliche Aufnahme – langsame, successive Eindringung – Geschehung. Ein Romanschreiber macht eine Art von Bouts rimes – der aus einer gegebenen Menge von Zufällen und Situationen – eine wohlgeordnete zweckmäßige Reihe macht – der Ein Individuum zu Einem Zweck durch alle diese Zufälle, die er zweckmäßig [erfunden hat] hindurchführt. Ein eigenthümliches Individuum muß er haben, das die Begebenheiten bestimmt, und von ihnen bestimmt wird58. Dieser Textauszug schwächt die Novalislesart, für welche die Würfel in den Texten Novalis’, z.B. im Heinrich von Ofterdingen, bereits im Voraus gefallen sind, zugunsten einer Kombinatorik, die gleichzeitig esoterisch und deterministisch ist. Novalis bekundet überall sein Interesse für den von Schiller entlehnten Begriff des Spiels, der auf jegliche Tätigkeit ausgeweitet wird: „<Spielt Gott und die Natur nicht auch? Theorie d[es] Spielens. Heilige Spiele. reine Spiellehre – gemeine – und höhere. Angewandte Spiellehre.>“59 Die (Un-)Bestimmtheit wird ausgespielt von dem Ich und der Welt, und die Aktivität des Spielens selbst bestimmt sie. Es geht auch darum, das Geschehen zu denken. Im Ganzen strebt Novalis, wie übrigens die anderen Romantiker auch, danach, zwei wesentliche Elemente gleichzeitig zu denken. Einerseits versucht er durch die Poiesis die allgemeinen und notwendigen Bedingungen unseres Verhältnisses mit der Welt erscheinen zu lassen (denn, so schreibt er: „<Der Künstler ist durchaus transscendental>“60). Unter dem Ausdruck „die Welt“ ist übrigens bereits die Schöpfung für die Fichte lesenden Schriftsteller des Athenäums, zu verstehen, da das menschliche, sowie das nicht-menschliche poietisch-praktische Handeln die Welt ist 61 . Andererseits strebt er danach, das Unvorhergesehene zu denken, insofern es sich um die Zufälligkeit der Geschichte handelt („Der Dichter betet den Zufall an“62), bzw. um das große metaphysische Unbekannte, das plötzlich den Schleier unserer Erkenntnisse zerreißt („Das Unbekannte, Geheimnißvolle ist das Resultat, und der Anfang von Allem“63). 3. Eine metaphysische Sophistik? Unauffälig haben wir an den Ufern von Platons Sophistes angelegt. Es ist gleichzeitig die spezifische Besonderheit und der „Anspruch” des Bildes, so wie es in diesem grundlegenden Dialog erarbeitet wird, die widersprüchliche Forderungen der Poietik zu versalmmeln, und sich dennoch schlussendlich davon abzuwenden. Es ist bekannt, wie sehr der Sophistes den Neuplatonismus geprägt hat. Wenn Novalis seine Kenntnisse darüber vor allem aus Vergleichen bezieht, so mündet sein Weg, verkürzt zusammengefasst auf den vorherigen Seiten, beinahe auf ganz natürliche Weise in die Problematik des Sophistes. Es ist nicht unwichtig, dass diese bei Fichte selbst schon in bewunderungswürdiger Weise anzutreffen ist, wie es Alessandro Bertinetto und Christoph Asmuth mit großer gedanklicher Schärfe nachgewiesen haben64. Noch überraschender: Seit seinen Fichte-Studien intensiviert Novalis durch seine brillante Intuition die Kraft dieses Gipfeltreffens. Zunächst indem er den frühen Fichte, seines Platonismus kaum bewusst, mit diesem verbindet, und indem er versucht, ausgehend von der bahnbrechenden Zusammenfügung von Fichte und Neuplatonismus eine neuartige Position heraus zu arbeiten, die der Sophistik zu ihrem Recht verhelfen soll – einer Sophistik ganz aus dem Geist der Transzendentalphilosophie! Es geht für uns natürlich nicht darum, der Exegese des Platondialoges beizuwohnen, die man ja im Übrigen unter Beleuchtung der Erkenntnisse aus dem Parmenides, dem Theaitetos und in Hinblick auf den Politikos interpretieren muss. Hingegen ist es unbedingt notwendig, das Novalissche Projekt im erforderlichen Ausmaß mit dem Sophistes in Einklang zu bringen65. Die Untersuchungen Novalis’ zur Transzendentalphilosophie bringen ihn seit seinen frühesten !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 58 WTB, II, 369. WTB, II, 555. 60 WTB, II, 323. 61 Die Welt, genauer gesagt die Natur in ihrer Materialität selbst, nimmt an der praktisch-poietischen Erzeugung teil – diese ist also nicht nur „subjektiv“, so haben wir begriffen. Ohne sie verfehlt man die Problematik der Naturphilosophie. 62 WTB, II, 691. 63 WTB, II, 536. 64 Vgl. etwa: A.Bertinetto, „“DurchEinheit“. L’immagine come transcendentale (tra il Sofista e la Dottrina della scienza)”, in L. Bagnetto und J.C. Leveque (hrsg.), Immagine e scrittura, Roma, Valter Casini, 2008 ; A. Bertinetto, “”Die absolute Kraft des Bildes“. Image et conscience de soi dans la Doctrine de la science de Fichte”, in Fichte-Studien, 2012, N.42 ; Ch. Asmuth, „Die Lehre vom Bild in der Wissenstheorie Johann Gottlieb Fichtes », in Ch. Asmuth (hrsg.), Sein – Reflexion – Freiheit. Aspekte der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes, Amsterdam, B.R. Grüner Publishing Company, 1997. 65 Die frühen deutschen Romantiker sind von Platon besessen, begonnen bei Friedrich Schlegel, der ihm seine heute verschollene Habilitationsschrift widmet, bis hin zu Scheiermacher und seinem riesenhaftigen Projekt einer Ausgabe und einer Übersetzung der kompletten Platonwerke, und seinem Wunsch, einen „deutschen Platon“ zu erschaffen. Die Romantiker übermitteln uns einen immer unzurückführbaren Platon, und vor allem unzurückführbar auf einen schwer dualistischen Platon der schulmeisterlichen Vulgata; es geht um einen konfliktdenkenden, widerspruchsdenkenden Platon, den Denker der Aporie. Vergl. unter anderem die Nr. 16 von Kairos, „La Grèce au miroir de l’Allemagne“, (Toulouse le Mirail, 2000). 59 ! 143 ! Schriften dazu, diese – und damit ist zur selben Zeit die Transzendentalphilosophie, die er beschreibt und, gleichermaßen, diejenige, die er zu entwickeln wünscht – als Sophistik zu charakterisieren. „Transscendentale Filosofie ist Sofistik – aber in welchem Sinne?“66 fragt er daher schon im Jahr 1795. Diese Charakterisierung fügt er der, weiterhin mitschwingenden, neuplatonistischen Konnotation hinzu, welche er gleichzeitig wiederum dem Fichteschen Transzendentalismus beifügt. Es soll nun darum gehen, diese ganz neue, oder zumindest ungewöhnliche Problematik, verstehen zu wollen. Natürlich zögert der Dichterphilosoph erwartungsgemäß sein ganzes Leben lang seine Übereinstimmung mit der Sophistik, oder vielmehr seine heimliche Faszination für sie, einzugestehen, die naturgemäß nur schwer mit seiner Begeisterung für Platon, Plotin, Böhme oder Hemsterhuis in Einklang zu bringen ist. Das vierzehnte der Logologischen Fragmente präsentiert sich entsprechend klassisch: Sofisten sind Leute, die aufmercksam auf die Schwächen der Philosophen und Kunstfehler, dieselben zu ihrem Vortheil oder überhaupt zu gewissen unphilosophischen, unwürdigen Zwecken zu benutzen suchen – oft die Philosophie selber. Diese haben also eigentlich nichts mit der Philosophie zu thun67. Indessen steht diese Art Urteil neben vielen anderen Fragmenten – deren Aufzählung hier müßig wäre – die stilistische, rhetorische oder sogar akustische Probleme erörtern und dabei die Wirkungskraft des Wortes ins Zentrum rücken, und in welchen Novalis in grundlegender Weise die Philosophie in ihrer Ganzheitlichkeit und Vollständigkeit mit jedem dieser Elemente zu verflechten trachtet. Die Zuneigung der Sophisten für Geld und Ansehen wird natürlich angeprangert, und erschwert es dem Autor erheblich, vor den Augen der Öffentlichkeit eine, wenn auch reduzierte, Form von „Sophistik“ zu übernehmen. Darüber hinaus distanziert er sich von jeglichem einseitigen Relativismus und beschäftigt sich stetig ebenso stark mit der traditionellen Metaphysik wie mit dem Transzendentalismus. In diesem Sinne kann selbst der Konventionalismus eines Gorgias und eines Protagoras, das genaue und strukturierte Verständnis der Sprache eines Prodikos oder eines Antiphons, Novalis nicht befriedigen. Die Frühromantiker können diesen Denkern keine Gerechtigkeit widerfahren lassen, da ihnen noch nicht deren übermächtige Prägung durch die Überlieferung Platons, aber auch durch diejenige späterer Generationen von weit oberflächlicheren und bestechlicheren Sophisten, bewusst ist. Dies erklärt vermutlich die Schwierigkeiten von Novalis, sich das Konzept der Sophistik endgültig anzueignen. Die romantische Poietik ist weder ein interessierter Relativismus, noch ein rudimentärer Nominalismus, der der Idee einer wirklichen sinnlichen „Ausweisung” – wie Husserl sagen würde – unseres Schaffens gegenüber indifferent wäre. Novalis besteht aber überall auf der Poiésis: „Denken ist Sprechen. Sprechen und thun oder machen sind eine nur modificirte Operation. Gott sprach es werde Licht und es ward“68. Das bedeutet, die philosophische Geste, das, wodurch Poiesis entsteht, hängt sicherlich mit dem Stil, der Form, den Assonanzen, dem Ton und all den vielen Zutaten zusammen, die für die „Operationen“ des Denkens – um diesen rückläufign Begriff aufzugreifen – unerlässlich sind. Dies stellen auch die Brüder Schlegel und Schleiermacher nachdrücklich klar. Dies erklärt, warum Novalis sein Projekt „magischer Idealismus“ nennt. Stil, Form, Ton, usw. sind nicht zweitrangig in Bezug auf die Operationen selbst, sondern sie sind die Elemente wodurch das Denken als Konstruktion, Schöpfungskraft, und als Vermögen Wirkung hervorzubringen, möglich ist. Wenn man nicht über Kräfte sprechen kann, ohne sich mit ihnen zu verbinden, wie Novalis glaubt, wenn man den Bedingungen der Möglichkeit unserer Erfahrung der Welt nicht begegnen kann ohne diese als Welt zu erschaffen, so kann die Wirkungskraft nicht einfach eine „Nebenwirkung“ des philosophischen Diskurses sein. Tatsächlich, und nicht ohne Anklänge an Bacon, auch wenn es hier um die Reflexivität des Diskurses selbst, bzw. um das Handeln im Allgemeinen geht, schreibt Novalis: Wir wissen etwas nur – insofern wir es ausdrücken – i.e. machen können. Je fertiger und mannichfacher wir etwas produciren, ausführen können, desto besser wissen wir es – Wir wissen es vollkommen, wenn wir es überall, und auf alle Arth mittheilen, erregen können – einen individuellen Ausdruck desselben in jedem Organ bewircken können69. Folglich passt sich die Wirksamkeit des reflexiven Wissens daran an, was in oder von der selbstschöpferischen Kraft ausgehend, sich festigt, und sich als vollendetes Produkt auszeichnet. Wie Novalis allenthalben wiederholt, und dabei den klinischen Sprachgebrauch absichtlich ausschöpft, sind die Krankheit, die Pathologie oder das durch die Poiesis enthüllte Symptom (der transzendentale Dichter beschäftigt sich mit dem „Symptom a priori“70) Spuren; das heißt, dasjenige, welches von ihr (der Poiesis) selbst realisiert wird, und ebenso das, woran sich selbst der quantitative Zusammenstoß (die Kraft) messen !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 66 WTB, II, 44. WTB, II, 316. 68 WTB, II, 531. 69 WTB, II, 378. 70 WTB, II, 587. 67 ! 144 ! oder anpassen muss, um unser Verständnis von Sinn und Wahrheit wachsen zu lassen. Die Wahrheit hat immer Anteil an den von ihr gesetzten Handlungen, und wir interpretieren niemals einen der Interpretation oder der Übersetzung schon vorausgehenden Sinn, denn diese Handlungen sind selbst der Sinn. Offensichtlich zeigt sich hier ein sophistisches Erbe, das Novalis vorsichtig erahnt und zulässt, meistens bezogen auf das Fichtesche Projekt einer subversiven Umgestaltung des Kantianismus – denn dieser wird in der Wissenschaftslehre zur genetischen Selbstkonstruktion der transzendentalen Welt71. Fichte dient Novalis in gewisser Weise als Bürge: Der Dichter scheint sich zu sagen, dass man dem Jenaer Meister keinen Relativismus vorwerfen kann, und dass sein Verständnis des Transzendentalismus, welches vollständig auf die Operationen ausregichtet ist, es erlaube, auf den vielleicht zu sperrigen Begriff der Sophistik zu verzichten. Das trifft auch auf alles nach den Fichte-Studien zu. Zur Zeit des Allgemeinen Brouillons, wird der „Titan von Jena“ abermals als der Garant für die Möglichkeit einer poietischen Transzendentalphilosophie wahrgenommen, und auf diese Weise sophistisch: Philol[ogie] und Philosoph[ie] sind Eins. / Jeder Anfang ist ein Actus d[er] Freyheit – eine Wahl – Construction eines abs[oluten] Anfangs. Fichtens Ich – ist ein Robinson – eine wissenschaftliche Fiction zur Erleichterung d[er] Darstellung und Entwickl[ung] d[er] W[issenschafts]L[ehre] – so der Anfang d[er] Gesch[ichte] etc. – Schilderung des phil[osophischen] Naturstandes – eines isolirten Princips – oder Begriffs. Jeder Begr[iff] ist ein Ich – Ich ist ein allg[emeines] Gedanken molécule. Behandlung jedes Begr[iffs] – nach der Fichtischen Ichformel72. Die Formeln, bzw. Moleküle des Denkens, durch welche man sich in die Erfindung der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung hineinstürzt (um das Spiel der Kräfte, welches die Erfahrung darstellt, verstehen zu können, muss man damit experimentieren), verweisen bei der Fichtelektüre von Novalis weniger auf das fälschlich und angeblich Akosmismus, als vielmehr auf das positive Risiko des Denkens, das Leben in der Einsamkeit eines Robinson zu erleben. Es geht sehr wohl darum, aus einer fiktiven Insel eine reale Welt und aus den abstrakten Molekülen einen konkreten Leib zu erschaffen, aber die Welt oder der Leib lassen sich nicht verstehen, ohne sie in der Fiktion zu konstruieren. Vereinigt die ungekannte und explosive Mischung von neuplatonistischer Metaphysik und Sophistik, die Novalis aus der Wissenschaftslehre herauszulesen glaubt, nicht schon, wenn in seinen Augen auch noch begrenzt, die widersprüchlichen Forderungen der Poietik? Man ist, etwa mit Manfred Frank, zu leicht geneigt zu glauben, dass Novalis, indem er die Wissenschaftslehre seit 1795 als „Sophistik des reinen Ichs“ 73 bezeichnet – auch wenn Fichte diese Gleichsetzung wohl nicht geschätzt hätte – eine regelrechte unilaterale Kritik des Fundaments erarbeitet. Das bedeutet aber, die übliche Zweideutigkeit und Ambivalenz seines Denkens zu vergessen. Denn wenn er die Transzendentalphilosophie in dieser Textpassage zu verbessern beabsichtigt, so kritisiert er gar nicht die Sophistik, gegenüber der er, entgegen der klassischen Tradition, eine heimliche Bewunderung hegt. Novalis gibt jedenfalls keinerlei Hinweis darauf, dass diese Terminologie einen Vorbehalt von seiner Seite aus bedeuten würde. Im Fragment 46 der Fichte-Studien schlägt er in die gleiche Kerbe, und synthetisiert damit seine ersten spekulativen Bemühungen: „Filosofie ist also – Sofistik des Ich – transcendentales Bild unseres Bewußtseyns“74. Dies ist besonders interessant, wenn man die ersten brillanten Entwicklungen in dieser Schrift berücksichtigt. Es ist schwer zu glauben, dass der hier verwendete Begriff der Sofistik rein pejorativ ist, gerade wenn man um die entscheidende Rolle weiß, die das Bild darin spielt. Dies führt uns nun zum Sophistes. Die Frage Platons im Dialog ist, den Status dessen zu bestimmen, was unvermittelt vom Nichts ausgehend zu einer ousia wird, allein durch die Tatsache, dass es produziert wurde. Der eleatische Fremdling wird vorgestellt als ein „Freund derer, die sich zum Parmenides und Zenon halten“75. Aber er unterscheidet sich auch von ihnen, und ist damit fähig, die Aporien des Eleatischen zu übersteigen und gleichzeitig seine ontologischen Forderungen aufrechtzuerhalten. Er verbindet explizit das Reale und die Produktion vor Theaitetos: Wo nur immer jemand, was zuvor nicht war, hernach zum Dasein (ousia) bringt, sagt man, dass der Bringende es mache, das Gebrachte aber gemacht werde. […] !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 71 „Fichte ist der Bearbeiter der Kantischen Kritik – der 2te Kant – das höhere Organ, insofern Kant das niedre Organ ist. Inwieweit ist er dies vollkommen? Er sezt die Leser da nieder, wo sie Kant aufnimmt. Seine W[issenschafts] L[ehre] ist also die Philosophie der Kritik – ihre Einleitung – ihr reiner Theil. Sie enthält die Grundsätze der Kritik. Aber meinem Bedünken nach fehlt ihr viel zu diesem ihrem Ideal“. WTB, II, 571. 72 WTB, II, 645. 73 WTB, II, 36. 74 WTB, II, 41. 75 Platon: Der Sophist, 216a; in Sämtliche Werke in drei Bänden. Bd. 2, unveränderter Nachdruck der 8. durchgesehenen Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004; Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. ! 145 ! So könnte man demnach dies alles zusammenfassend die hervorbringende Kunst nennen76. Wenn eine ousia durch das Wort oder einen Kunstgriff erschaffen worden ist, muss man dann sagen, dass sie auf die gleiche Weise wie die anderen Dinge existiert? Sie existiert wahrscheinlich, aber nur als Bild, behaupten der Sophist. Platon gibt bekanntermaßen in diesem Dialog weder dem Sophist noch Parmenides recht. Bis hierher stellt die Ontologie des Eleaten, wenn auch zu eng gefasst, im Prinzip eine Waffe gegen die Sophistik dar, indem sie behauptet, dass ein absolutes und wahres Sein sehr wohl existiere. Aber diese Waffe wendet sich jetzt gegen ihren Benutzer, denn wenn nur das Sein ist, und das Nicht-Sein absolut nicht ist, lässt sich schwer einsehen, wie man dem Sophisten vorwerfen soll, das NichtSein zu schaffen, und an Stelle der Wahrheit die Illusion ins Leben zu rufen. Außerdem, zu sagen, dass das Nicht-Sein nicht ist, bewirkt schon, dass es durch das Wort zum Existieren gebracht wird. Und auch wenn das Wort heimlich zur Stille zurückführt, – sei es diejenige des Sokrates77 oder später bei der negativen Theologie – so bestätigt eine solche Performanz auf widersprüchliche Weise die eleatische Ontologie und legitimiert gleichzeitig die Sophistik. Das Problem des Bildes, das heißt das Problem des Nicht-Seins, der Täuschung oder des Scheins ist also sowohl für die Möglichkeit der Ontologie, als auch für die Charakterisierung des Sophisten bestimmend. Zunächst nach Art der Diairesis auf sechs verschiedene Weisen durch die Gesprächspartner definiert (vom Jäger der jungen Reichen, über einen Fachmann des Widerspruchs, bis hin zum Seelenreiniger), erscheint der Sophist im weiteren Verlauf des Dialogs als eine Art „Zauberer“: Wegen des Sophisten aber sage mir dieses: ob so viel schon gewiß ist, dass er als ein Nachahmer des Wirklichen zu den Zauberern gehört, oder ob wir noch zweifelhaft sind, dass er nicht etwa doch von allem, worin er zu widersprechen geschickt ist, davon auch die Erkenntnis in der Tat besitzen möchte?78 Hier sind wir nun an einem wichtigen Punkt angelangt: Der Sophist gibt sich nicht damit zufrieden, Gewinn zu schlagen und die Erkenntnisse über das Sein zu verfälschen, sondern er ist bestrebt, mittels seiner Technik, diese „scheinbare Erkenntnis von allen Dingen“79, Erkenntnisse hervorzubringen, die nie die Wahrheit selbst, sondern immer nur eine scheinbare Wahrheit preisgeben. Darüber hinaus gibt er vor, das Sein hervorzubringen, doch selbst wenn er „Nachbilder“80 hervorbringt, erschafft er nur Bilder, die nicht die Realität sind. Seine Magie besteht also im Schaffen von Illusionen. Dennoch scheint die Gleichung, die der Schöpfer des „magischen Idealismus“ 81 in den Poetizismen von 1798 zwischen Betrachtungen über die Medizin von Brown und über die Philosophie Fichtes (zwei „handelnde“ Disziplinen) aufstellt, auch auf Theaitetos und den Fremdling anwendbar zu sein: „Magie ist = Kunst, die Sinnenwelt willkhürlich zu gebrauchen“82. Das ist vielleicht nicht viel, aber doch einiges. Denn den Sinn und das Wort zu „gebrauchen“– es handelt sich um Techniken – führt unweigerlich dazu, Bilder hervorzubringen. Wenn diese Magie nicht wirksam wäre, könnte Novalis nicht in aller Deutlichkeit !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 76 Sophistes, 219b-c. Zudem sollte man die rätselhafte Stille der zweiten Sokrates hinzufügen: Ein junger Sokrates, der komplett stumm bleibt. 78 Sophistes, 234e – 235a. 79 Sophistes, 233c. 80 Sophistes, 236a. 81 In unserem Sinn sucht Novalis diesen Ausdruck bei Erhard Schmid, der ihn aus antifichtescher Einstellung heraus geprägt hat. Schmid beschuldigt Fichte, einen schlechten Hyper-Logizismus geschrieben haben, in welchem das philosophierende Bewusstsein sich auf unverschämte Weise die Macht an sich nimmt, Materie nur durch Gedanken zu erschaffen, so wie ein Magier. Auch wenn dieses Klischee über den Fichteanismus sich lange gehalten hat, so musste Novalis zur selben Zeit Fichte nicht zwangsläufig auf diese Art lesen. Mit völlig überraschender Geste übernimmt er seinerseits mit positiver Ironie eine beleidigende Bezeichnung, und deutet damit an, dass über Fichte hinaus gehen gedenkt im „konstruktivistischen“ Begreifen des Transzendentalismus. Manfred Frank und seine Schule sehen keinerlei nennenswerten Unterschied zwischen dem Gedanken Novalis‘ und Schmids oder anderer Post-Reinholdianer. Dabei haben sie diese Wiederaneignung völlig übergangen. Der Magier ist gewiss derjenige, der die Illusion eines exzessiven Glaubens im Fundament zerstört, indem er seinem Publikum vorschlägt, vor ihnen die Operationen oder Handlungen zu reflektieren, durch welche diese Illusionen überhaupt funktionieren konnten. Aber er ist derselbe, der, und zwar ohne Widerspruch, genauso zur Reflexion, die die Welt bildet, aufruft; auch derjenige, der dazu auffordert, das Spiel der Kräfte „anzunehmen”, und in die magischen Operationen, hinter denen es keine Welt an sich gibt, keine Wahrheit die sich versteckt hält, nur verdeckt durch entfremdende Zauberkunststück, hineinzuwagen. Die romantische Legierung von schöpferischer Begeisterung und Ironie besteht gerade darin, die zwei Operationen, nämlich die konstruierende und die dekonstruierende, zusammen zu halten, und immer wieder auf die Spannung zwischen den beiden hinzuweisen. Man muss das 338 Fragment aus dem Allgemeinen Brouillon erneut lesen, das ein Paidoyer für eine Philosophie ist, die sich fähig zeigt, die Kräfte auszuspielen, und sich in dieses Spiel hineinzuwagen. Der Post-Reinholdsche „Novalis”, der als trauriger und ernüchterter Dekonstrukteur oft von den Kommentatoren vorgestellt wird, bleibt im Grunde sehr scheu gegenüber der Kräfte. Jedoch verliert sich Novalis in seinen Zaubertricks, über die er mit Hilfe der Naturphilosophie, der Poesie und der Spekulation versucht zu zeigen, dass die Welt Einbildungskraft ist. Infolgedessen gehen wir mit Ives Radrizzani (siehe seinen Artikel in diesem Buch) nicht einig: Novalis interessiert sich nicht für die toten Resultate der Wissenschaftlshre Fichtes, sondern für den Prozess, für die magischen Operationen, d.h. das Hervorbringen des Denkens (das der Sinn selbst des „magischen Idealismus” ist) und er hat gar nicht die „sterblichen Überreste” der fichteschen Begriffe vor den Augen. Sonst versteht man nicht die konstruktivistische Poiesis des Novalis. Klar und deutlich aber bietet Novalis eine andere Taktik im Vergleich zu Fichte an, und infolgedessen ändert der Sinn des Tuns. 82 WTB, II, 335. 77 ! 146 ! schreiben: „Dichten ist zeugen“83. Der Sophist ist, wie der Dichter oder der Philosoph, ein Magier der in der Lage ist, eine imaginäre Realität zu erschaffen. Aber man kann dem Sophisten nichts vorwerfen, wenn es unmöglich ist, das Nicht-Sein zu (er-)zeugen. Oder ist es doch möglich? Diese Frage positiv zu beantworten, bedeutet einen Widerspruch in sich selbst und ist falsch. Ein Blatt Papier, eine Bank in der Sonne, ein Strand, ein Gedanke, ein Traum, ein Eindruck, aber auch die Leere, das Fehlen und das Nichts ist alles dem Sein eingeschrieben, das als einziges ist. Dies ist der Sinn des Urteils ohne ausgesprochene Anrede, das der Fremdling an Theaitetos richtet, welcher noch an eine hermetische Trennung zwischen dem Existierenden, das heißt dem Wahren, und dem Scheinbaren, das heißt dem Falschen, glaubt: „Also für nichtseiend erklärst du das Scheinbare, wenn du es doch als das Nichtwahre beschreibst. Aber ist ja doch irgendwie“84. Eine solche ontologische Wahrheit kann eigentlich auf den Sophisten – gegen seinen Willen – bezogen werden, und zwar, wenn er es versucht, gleichgültig gegenüber der Wahrhaftigkeit seiner Behauptung, nur die Wirksamkeit seines Worts zu ermessen, denn was er auch tut, die Wirkung ist unzweifelhaft. Hier kommen wir dem kartesianischen cogito sehr nahe: Das „Ich bin” ist nur, deshalb und in der Zeit, in der ich bin, und in der ich sage, dass ich bin. Darin, die Wirkung einer Hervorbringung zu erleben und zuzulassen, dass sie verschmilzt mit dem Sein, das einzig ist, liegt im Grund der überraschende Verbindungspunkt zwischen der Metaphysik des Einen und der Sophistik. Natürlich darf man nicht die beiden Perspektiven identifizieren, und Platon versucht nun mehr denn je, die Sophisten zu disqualifizieren. Um der Aporie, wodurch die unnachgiebigste Ontologie und die relativistischste Sophistik gleichzeitig ganrantiert werden, zu entkommen, muss man, wie der Dialog zeigt, zulassen können, dass das Nicht-Sein existiert, aber auf eine ganz bestimmte Weise. Sonst könnte sich das (Ab-)Bild, bzw. die Kopie, nicht von demjenigen unterscheiden lassen, wovon es ein (Ab-)bild oder eine Kopie ist. Das wäre hier ein großes Problem, umso mehr, als auf einer metaphysischen abstrakten Ebene, die sinnliche Welt selbst für den Platon der vorausgehenden Dialoge nur das (Ab-)Bild oder die Kopie der intelligiblen Welt ist – auch wenn die Aufrechterhaltung dieser dualistische Position durch die Niederlage des Sokrates im Parmenides beträchtlich geschwächt wird. Die Lösung Platons ergibt sich nun aus der Feststellung des Fremden, die zuvor zitiert wurde: „Aber es ist“. Dieser Ausruf bestätigt beim ersten Anschein in gewisser Weise Parmenides. Der Satz „Aber es ist“ versichert, dass das Scheinbare gleich der Wahrheit existiert, und er bedeutet – ex negativo –, dass das Nicht-Sein auf jeden Fall nicht existiert. Es besteht also gar kein Anlass, den sophistischen Schein zu beklagen. Aber er öffnet einen anderen Weg, wenn er im Gegensatz dazu einlädt, zu denken, dass der Schein, also das Nicht-Sein – im vorliegenden Fall das Bild – sehr wohl existiert. Wieso? Die Selbst-Widersprüchlichkeit endet, sobald man die Perspektive wechselt, so wie es in der Folge im Dialog passiert, und man aufhört, das Nicht-Sein einfach als Gegenteil des Seins zu betrachten. Daher muss man zu allererst aufhören, egal ob mit den Monisten oder Dualisten, das Sein als ein einfaches „etwas“85 zu bezeichnen, das mit verschiedenen Eigenschaften ausgestattet ist, und unabhängig von der zuvor erwähnten „schöpferischen Kraft“ ist. Denn, wie der Fremde es andeutet: Denn setzt er zuerst den Namen als ein von der Sache Verschiedenes, so nennt er doch zwei. […] Setzt er aber den Namen als einerlei mit ihr, so wird er entweder genötigt sein, zu sagen, er sei Name von nichts, oder wenn er sagen will, er sei Name von etwas, so wird herauskommen, der Name sei des Namens Name und sonst keines andern86. Der Monismus des Parmenides ist also nicht unfehlbar. Keinesfalls ist es erforderlich, das Nicht-Sein heraufzubeschwören (das obendrein dazu kommt), um eine Spaltung innerhalb des unbeweglichen und angeblich unbedingten Seins zu schaffen: Wenn man sagt „nur das Sein ist“, muss man unbedingt festhalten, dass die Benennung, bzw. das Verbalisieren nicht mit einem Etwas, was sie bezeichnet, übereinstimmt, und dass sie nirgendwo anders ist, als im Scheinbaren, in der Widerspiegelung oder zumindest in der „Unangemessenheit” – zumindest wenn vom Sein als einem „etwas“ ausgegangen wird, absolut und allumfassend. Zunächst einmal bedarf es schon allein einiger Worte, um das Sein in seiner absoluten Einmaligkeit erklären zu können, und dies sei bemerkenswert, wie Platon anmerkt. Grundlegender gesprochen, steht eine solche Benennung im Widerspruch zu dem Einen, welches sie benennt. Wenn man den Namen des Seins als verschieden zum dem Einen ansieht, sagen wir zwei Dinge an der Stelle, an welcher wir zu zeigen wünschen, dass es nur Eines und kein Zweites gibt. Mit anderen Worten: Es ist unmöglich das unbedingte Sein nicht zu „bedingen”, wenn man es benennt. Wenigstens bringt die Benennung die Möglichkeit mit sich, an der Bedingungslosigkeit des – unvergänglichen und unbezweifelbaren – Einzigen zu zweifeln. Es drängt sich hier also eine dualistische Ontologie gegen die Philosophie des Parmenides auf. Wenn man im Gegenzug nun aber das Sein und das Benennen des Seins als identisch annimmt, ist das Benennen nichts, nämlich nichts, als das Sein, das einzig ist. Das würde zu glauben bedeuten, man hätte nichts gesagt: das Sein habe gesprochen, und daher zwangsläufig die !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 83 WTB, II, 323. Sophistes, 240b. 85 Sophistes, 244b. 86 Sophistes, 244d. 84 ! 147 ! Wahrheit gesagt. In diesem Fall ist das Sein absolut identisch mit seiner Sprache, was den Fortbestand der Sophistik garantiert. Daraus folgt, dass, trotz der Verlängerung der Aporie, die eleatische Ontologie schließlich zunichte gemacht wird. Aber man muss noch über die Aporie hinaus gehen. Demnach genügt es, einen einzigen Kompromiss zu akzeptieren: Einerseits muss man anerkennen, dass es in gewissem Sinne nur das Sein gibt, das Eine, das alles ist, das „wahrhaft Seiende“87, wie es der Fremde ausdrückt. Die Tätigkeit der Sprache bemüht sich, es zu beweisen: Man kann nichts über das Nicht-Sein sagen, es sei denn, man integriert es ins Sein. Aber dieses muss dann andererseits auf Grund der Tätigkeit der Sprache, bzw. jeder anderen schöpferischen Tätigkeit, akzeptieren, dass es nicht mit sich selbst in seiner Einheit übereinstimmt. Man muss akzeptieren, dass die Handlung, das Sein im Bild hervorzubringen – und das Sein als Wirkung dieser Handlung zu finden – als Beteiligte und als konstitutive Bedingung dieses Seins gilt: Dieses nämlich, dass, wenn das Erkennen ein Tun ist, so folgt notwendig, dass das Erkannte leidet, dass also nach dieser Erklärung das Sein, welches von der Erkenntnis erkannt wird, wiefern erkannt, insofern auch bewegt wird vermöge des Leidens, welches doch, wie wir sagen, dem Ruhenden nicht begegnen kann88. Das erkannte Sein wird durch das Nous und im Grund auch durch das Bild im Allgemeinen bestimmt und bewegt, das heißt, sowohl die sinnliche Welt als Bild der reinen Formen als auch die Scheine der Seienden oder der sinnlichen Realitäten, die in der sinnlichen Welt von den Sophisten „magisch” erschaffen werden. Der Dialog geht nicht so weit aufzuzeigen, dass die Formen sich im Lauf ihrer Bestimmung verändern. Aber sie interagieren durch die Bewegung und den Stillstand, durch Aktivität und Passivität, innerhalb eines einzigen, umfassenden Seins, das absolut ist. In jeglicher Hinsicht ist das Erkannte, durch die Erkenntnis bewegt, nicht mehr nur deren ontologisches Gegenteil, so wie das NichtSein sich streng genommen nicht mehr als das Gegenteil des Seins darstellt. Die Formen werden durch den Intellekt in Bewegung gebracht, der sie reflektiert und sie manifest werden lässt, ohne mit ihnen zu verschmelzen: Es braucht das Zwei um das Eine zu definieren. Die Ideen sind also dazu verurteilt, im Intellekt, der sie erdenkt, immer etwas anderes als sie selbst zu sein, aber gerade das macht auch ihren Reichtum aus. Wenn es sehr wohl ein Nicht-Sein gibt – ein Zwei-Sein das, wie auch immer geartet, sich am Ende als poiesis herausstellt – ist dies nicht mehr nur der bloße Gegensatz zum unbedingten Etwas und zu seinen Eigenschaften, sondern es ist vielmehr die Negativität selbst, die immer wieder fortgeführte und gesteigerte Verschiedenheit des Seins in seiner Hervorbringung, die bewirkt, dass eine Sache oder eine Form nicht eine andere Sache oder eine andere Form ist, was wiederum bewirkt, dass das Denken, indem es die Formen und die Dinge bewegt, sich immer von diesen unterscheidet, wie auch die Bewegung vom Bewegten. Und das alles im Rahmen des Seins, des Seienden Einen, das einzig ist. „Nicht zu sein“ kommt an „verschieden sein von“ heran, und zwar in exakt dem Maße, in dem dieses Verschiedensein vom Denken, von der Sprache oder von einer anderen Tätigkeit hervorgebracht wird. Das Nicht-Sein erscheint bei Platon plötzlich und, zumindest auf den ersten Blick, wie eine unendlich wendige Bezüglichkeit, die gegenüber jeglicher Differenzierung offen ist. Wenn Bilder von sinnlichen Einzigartigkeiten existieren, sind die Abbilder davon deren Verneinung, also das, was sie in ihrer Einzigartigkeit nicht sind. Wenn übersinnliche Formen existieren, müssen sie um sich zu zeigen und zu existieren, in der differenzierten Verneinung des sinnlich Seienden erscheinen, das sie erblühen lässt. In der Folge sagt der Sophist nicht mehr das Falsche, weil er das Nicht-Sein heimlich als das Sein „durchschmuggelt” oder weil er das Scheinbare, bzw. das Nichtexistierende als das Existierende durchgehen lassen will, sondern weil er von einer Sache behauptet, dass sie etwas anders ist, als sie ist, und so auf Grund Sophistes Mangels an metaphysischen Sinn mehr Unterschied (bzw. Nicht-Sein) erschafft, als nötig wäre: Die Sache ist sowieso und von vornherein verschieden, sie ist der Unterschied selbst zwischen dem Sein, was sie dem Sein zukommen lässt, indem sie es ausspricht, und zwischen allem, was nicht ist. Einen Tisch als Stuhl verkaufen zu wollen bedeutet keine bedeutsame oder befreiende Unterscheidung, da er ja schon die Verneinung ist, das heißt die Unterscheidung von der Idee des Tisches, die das Denken hervorbringt, indem es an diesen Tisch denkt oder über ihn spricht. Von nun an kann man, mit dem Sophistes, nicht mehr von zwei Welten sprechen – einer intelligiblen und einer sensiblen Welt. Der reife Platon kehrt wieder zum Griechischen zurück: Es gibt nur das Sein, das einzig ist, es gibt nur eine Welt, eine volle und ganzheitliche Einheit, deren Manifestation sehr wohl und ohne Widerspruch das Nicht-Sein genannt werden kann. Die Formen sind immer noch nur „Potenzen“ und sie können streng genommen nicht mehr als „etwas“ aus einer anderen Realitätsebene gesehen werden. Sie sind das, was immer bereit ist, bestimmt und zugeordnet zu werden und zu leiden, und zwar unter jeglicher schöpferischer Aktivität, die sie manifest werden lassen will, das heißt, sie in Bewegung zu setzen und folglich auf die eine oder andere Weise an ihrer Realität teilzuhaben (im Sinne der Methexis). Die Formen sind reine Verfügbarkeit und !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 87 88 ! Sophistes, 248e. Sophistes, 248d-e. 148 ! Grundlage für alle schöpferischen Handlungen aus ihrem Sein heraus, wie oder als Unterschiede ihrer selbst innerhalb des Einen, das einzig ist. Für den Fremden ist dies vollkommen klar: Das, was nicht in der Lage ist, Wirkung hervorzubringen und symmetrisch davon erfüllt zu werden, existiert auch nicht. Der Dialog begann mit dem Thema des Hervorbringens von Wirkung in der Realität um den Sophisten zu charakterisieren. Nun wird versucht anzuerkennen, dass die Formen, um zu existieren, in das Spiel der Hervorbringung selbst eingebettet und ganz selbstverständlich mit der „Wirkung“ verbunden sein müssen. Was der Eleat hier für alles Seiende, welcher Art auch immer, aufdeckt, ist, teils Platon zum trotz, bei näherer Betrachtung für die Formen von wert: Ich sage also, was nur irgend ein Vermögen (dunamis) besitzt, es sei nun ein anderes zu irgend etwas zu machen, oder, wenn auch nur das mindeste von dem allergeringsten zu leiden, und wäre es auch nur ein einziges Mal, das alles sei wirklich. Ich setze nämlich als Erklärung fest, um das Seiende zu bestimmen, dass es nichts anderes ist als Vermögen, Kraft“89. „Dass dem Werden allerdings das Vermögen eigne, zu leiden und zu tun“90 ist bis zum Sophistes – Parmenides eingeschlossen – für Platon eine Gewissheit, und lässt sich nicht mit den Ideen in Einklang bringen. Durch den Besitz jener sehr speziellen „Kunst“91 die „Sprachkunst“92 genannt wird, können wir aber die Elemente der Sprache aufbauen und sie untereinander kommunizieren lassen. Ebenso bringt die Kommunikation oder die Gemeinschaft (koinonia) des Seienden und der Elemente, welche durch ähnliche Eigenschaften verbunden sind, oder auch durch die Fähigkeit, bestimmt zu sein – durch welche die Formen mehr oder weniger „sozial“ bzw. mehr oder weniger vereinzelt werden – eine neue Art von Verbindung zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein mit sich, welche beide am Anderen teilhaben müssen, und welche über die Verschiedenheit miteinander kommunizieren, da die Verschiedenheit das einzige ist, was sie gemeinsam haben. Wenn unsere Lesart den vielfältigen Nuancen dieses ungeheuren Dialoges (in welchem das Sein übrigens nur als Gattung neben dem Selbst und dem Anderen auftritt, usw.) weniger getreu nachspürt, als der Inspiration von Novalis, dann liegt das daran, dass diese unverzüglich bestrebt ist, den genauen Punkt zu erfassen, an dem der Neuplatonismus sophistisch werden kann, ohne seinen metaphysischen Anspruch zu verlieren, was folglich eine Distanzierung zur Lehre Platons nach sich zieht. Der Knackpunkt ist folgender: Für Platon besteht letzten Endes kein Grund festzustellen, dass die Formen sich tatsächlich verändern, indem sie leiden. Die platonischen Formen interessieren Novalis nicht sonderlich und er stellt eine für ihn unmittelbarere und bekanntere Realität an ihre Stelle, wie zum Beispiel die Kategorien des Verstands oder die Ideen der Vernunft. Aber das Prinzip bleibt das selbe. In dem subversiven Kontext des Sophistes, wenn das erkannte Seiende eindeutig vom erkennenden Seienden bestimmt ist, erhält der Prozess der Differenzierung die Reinheit der Formen, so wie sie gleichzeitig die Philosophie der Sophisten erhält: Das Nicht-Sein hat für den Fremden eine „unwiderstehliche” Existenz an sich, es ist, so betont er plötzlich, „in Wahrheit“, d.h. wirklich, der „jedem Seienden entgegengesetzten Teil“93. Im Inneren des Einen beinhaltet das durch die Sprache oder alle Arten von Poiésis „hervorgerufene“ Nicht-Sein plötzlich und im Wesentlichen alles, was eine Sache nicht ist. Enthusiastisch und gleichzeitig behutsam bestätigt Theaitetos: „Und auf jeden Fall, glaube ich, haben wir vollkommen richtig erklärt“94. Das Nicht-Sein ist im Sophistes sicherlich nicht mehr nur der reine und einfache Gegensatz zum Sein, denn alles, was, wodurch auch immer, bestimmbar ist, gehört zum Sein. Platon charakterisiert also das Nicht-Sein als Handeln, das sogar in „Bezug auf etwas“, das heißt immer negativ und differenzierend ist – diese neue Lösung wird sich als voller Versprechungen für die Geschichte der Philosophie erweisen. Aber er betrachtet nun das NichtSein als eine Substanz und schützt es vorjeglicher Beeinflussung, ja sogar „Verseuchung”, durch die Andersartigkeit95. Das Sein ist, angefangen von den Formen und noch enger gefasst von der Form des Seins, nunmehr in der Lage, die von der Aktivität der Intellektion herbeigeführte Veränderung anzunehmen, ohne die es unter bestimmten Berücksichtigungen nicht sein könnte, dennoch aber bleibt es ontologisch außerhalb der Veränderung. Das Sein hat wahrscheinlich keine Existenz an sich mehr von dem Punkt an, ab welchem es seiner Offenbarung im schöpferischen Denken des Sophisten oder des Philosophen nicht mehr gleichgültig gegenübersteht. Aber nur der Philosoph trennt sich sogleich von dieser Offenbarung, sobald sie die vollständige Einheit des Seins angreift. Dem Sophisten dagegen steht es frei hin und her zu laufen, mit seinen Täuschungen, seinen Urteilen, welche angefüllt sind mit !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 89 Sophistes, 247d-e. Sophistes, 248c. 91 Sophistes, 253a. 92 Sophistes, 253a. 93 Sophistes, 258e. 94 Sophistes, 258e. 95 Nestor L. Cordero hat Registerwechsel Platons gut aufgezeigt, der von 255e an zwischen den Arten der Vorschläge wechselt: „X ist verschieden von demselben“ zu „X ist nicht dasselbe“, und er macht so einen relativen Begriff absolut, nämlich das Nicht-Sein. Vgl. N.L. Cordero, „Introduction” in Platon, Le Sophiste, Paris, Flammarion, 1993, S. 58ff. 90 ! 149 ! „Schattengestalten und Abbildern und trüglichem Schein“96 erklärt der Fremdling, und bringt mehr NichtSein in den Diskurs ein, als es nötig wäre. Zögerlich bleibt Platon schlussendlich der Unantastbarkeit der Formen verpflichtet, die dennoch „wirkmächtig“ für sämtliche zukünftige Poiesis bleiben. Diese Formen wären unendlich formbar, bzw. plastisch, wenn die Handlungen, durch welche man sie verneinen und differenzieren müsste, wirklich die Schöpfer eben dessen wären, was sie verneinen. Jedoch, nachdem das Nicht-Sein am Ende als Handlung der Poiesis selbst definiert worden ist, erscheint es letzlich als Substanz. Das Bild, das in diesem Dialog sogleich eine gehobene Stellung einnimmt (denn wenn man beginnt die Sophistik auf das Niveau der eleatischen Ontologie zu heben, erhebt man damit auch das Bild auf die Höhe der Philosophie), muss sich schlussendlich damit zufrieden geben, gut oder schlecht abzubilden, denn alles, was eine Sache nicht ist, wird damit wirklicher Teil ihres Wesens, in Ewigkeit. Das Sein ist fest verbunden mit dem Nous, von dem aus es erst erfasst werden kann, gleichzeitig gehört das, was eine Sache nicht ist, in den Bereich des Seins an sich. Sie ist substantiell das, was sie nicht ist, und das Bild, dem grausamerweise das Sein fehlt, kann hier nicht viel ausrichten. Der Sophistes lädt den Leser ein zu verstehen, dass, sobald der Intellekt ein Objekt als schön beschreibt, und unsere Sinnlichkeit es sich auch als solches ausmalt, das Objekt oder das Gemälde des Objekts an der Idee des Schönen teilhat, und das, weil es diese gerade nicht ist – dies ist alles, was das Denken oder die poiesis aus der Idee des Schönen macht, die dadurch ans Licht gebracht wird. Wenn, wie Emmanuelle Rousset schreibt „das Nicht-Sein im Sein das ist, was diese Nach-Außen-Wendung aus sich heraus möglich macht“97 steht eine solche Kraft zu ermöglichen nur in losem Zusammenhang mit dem, was sie ermöglicht; viel eher befreit sie es von ihrem eigenen Sein an sich. Die Methexis beschränkt sich darauf, die Erscheinungen möglich zu machen, und verneint dabei das ihnen zu Grunde liegende Sein, aber sie kann nicht mehr an der Erscheinung Anteil haben, als am Sein. Wie in Fichtes, Schellings und Novalis’ Idealismus später weist die Kopula vom Platons Sophisten nachdrücklich darauf hin, dass das Sein das Heraustreten aus sich ist. Die Kopula gilt also hier als das Ek-sistieren und die Offenbarung, und nicht als die einfache logische Identität. Aber im Sophisten wirkt sie nicht wirklich auf das ein, was es vorgibt zu sein. Wenn folglich Novalis sich selbst dazu verurteilt, eher im Wassergraben als in der Burg des Platonismus herum zu irren, geschieht dies, wahrscheinlich aufgrund seines Eigensinns, die Formen und die Kategorien des Verstands, oder jede andere Art „allgemeiner“ Fähigkeit oder Materials denken zu wollen, wie dasjenige selbst, welches sich im Kontakt mit der Poiesis verwandelt, das heißt, sich transformiert und sich bereichert: in den „offenen“ Kombinationen (wie es die vielen „Tafeln“ der in den Fichte-Studien vorgeschlagenen Kategorien bezeugen), im Zufall, in den verschiedenen historischen Epochen (denn „die Antiken sind zugleich Produkte der Zukunft und der Vorzeit“98), und in der Klinik oder jeder anderen Form der sinnlichen Übertragung. Die Kategorien sind so gesehen nichts anderes als ihre eigene ständige Überarbeitung, ihre kontinuierliche, symbolische und sinnliche Neuerfindung im schöpferischen Bild. Die Geste des Denkens, das Denken als Geste, mit all seine „Last”, seiner sinnlichen Dichte, seinem, in einem Wort, Stil, sind die Handlung, durch welche eine Kategorie von sich selbst verschieden werden und sich so als Differenz zeigen kann. Dies kann sie unter der Bedingung, dass sie sich im Gang der Geschichte, des Diskurses, der Sprache, des Unvorhergesehenen verändert. Alles ist im Werden in der Welt des Bildes, das heißt in der Welt der Poiesis, unsere allgemeinen Vermögen eingeschlossen, welche zunächst von einer perspektivistischen Arbeit aus verstanden werden müssen. Novalis nach muss die Wissenschaftslehre selbst daran teilzuhaben, da sie die Wissenschaft der Perspektiven im Allgemeinen ist. Gibt es also nichts Unveränderliches mehr? Doch. Das einzige Element, das in einem Sinne unveränderlich ist, ist das Eine selbst. Gemäß der neuplatonistischen Inspiration, die aus dem Sophistes heraus entwickelt wird, erkennt Novalis – und das ist eine parmenidische !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 96 Sophistes, 260c. E. Rousset, Les intermittences de l‘être. Lecture du Sophiste de Platon, Paris, Verdier, 2009, S.19. 98 WTB, II, 480. Das Wichtige hier liegt in der Produktion der Antiken. Es gibt um die zehn Fragmente über die Geschichte und die Historizität im Allgemeinen oder in der Kultur. Ihr Geist ist oft den Betrachtungen Schlegels über die Geschichte sehr nahe. Die Schlegelschen Betrachtungen vermengt Novalis mit der Kombinatorik, der Naturgeschichte und der philosophischen Spekulation. Auf verallgemeinernde Weise versucht er, die Geschichte und die Philosophie in einen Dialog zu bringen. Wenn er den „antihistorischen“ Charakter (WTB, II, 707) der transzendentalen Philosophie hervorhebt, die vom Notwendigen und damit auch in gewisser Weise vom “Zukünftigen“ (ebenda) ausgeht, wie er ironische im selben Fragment anmerkt, so geschieht dies sei es um zu kritisieren, sei es um aus der transzendentalen Antihistorizität ein dynamisches Zusammenspiel mit der Geschichte zu bilden. Diese muss sich sicherlich auf das „transzendentale Zukünftige“ stützen (die Philosophie stimmt mit „dem allgemeinen DivinationsSinn“ überein, indem sie die notwendigen Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung schreibt, so präzisiert er mit Humor, s. ebenda), um die Vergangenheit neu zu interpretieren. Die Geschichte kann also die Vergangenheit schreiben, weil die Philosophie epistemologisch ihre Blickwendung legitimiert, aber dieser Schritt ist nur deshalb von Interesse, da die Wissenschaft der Divination (die Transzendentalphilosophie) paradoxerweise versagt, uns mitzuteilen, was die historische Epochen bedeuten. Das ist der Grund, weshalb alles dazu geneigt ist, sich plötzlich umzukehren: „die Zukunftslehre gehört zur Geschichte“ (WTB, II, S.555), - und die Transzendentalphilosophie gehört auch zur Geschichte! 97 ! 150 ! Errungenschaft –, dass es unmöglich ist, etwas aus dem Nicht-Sein vorher zu bestimmen, ohne gleichzeitig etwas aus dem Sein zu bestimmen, das einzig ist. Dagegen ist dort, wo das Eine (oder auch das Sein) sich offenbart, das heißt, im eigentlichen Sinne des spekulativen deutschen Idealismus, dort wo es ist, das Bild immer im Werden, das heißt Verschiedenheit, selbstschaffendes und reflexives Nicht-Sein, wobei sich das Nicht-Sein als Nichts im Bild absolut erkennt. Im Reich des (Ab-)Bildes des Seins wird alles der subversiven Kraft der „magischen Operationen“ und dem Wechselspiel der Perspektiven untergeordnet. Dieses (Ab-)Bild des Seins – und hier muss bereits die transzendentale Einbildungskraft verstanden werden – gibt sich nicht damit zufrieden, das Sein bloß abzubilden: Es realisiert das Sein. Und das, weil das Nichts des Bildes wahrhaftig und absolut das Sein erschafft, auf welchem es handeln und das philosophische Allgemeine unaufhörlich verändern kann. 4. Die Mehrdeutigkeit und Undurchdringlichkeit des Genitivs Das spekulative Problem, auf welches Novalis nun im Jahr 1795 im Zuge seiner neuplatonistischen Fichte-Lektüre trifft, ist identisch mit demjenigen, auf welches Fichte selbst zehn Jahre später stoßen wird: Wenn das Ich zu sich selbst als auto-poietisches Bild kommt, mit der Aufgabe, die Kategorien direkt aus seiner Negationskraft hervorzubringen, kann das Sein es nicht schon hervorgebracht haben. Das unveränderliche und unbedingte Sein kann nichts in Bewegung setzen, vielmehr ist es genau das, was wegen der auto-poietischen Bestimmung des Bildes erscheint und ins Unendliche geworfen wird. Aber in dem Maße wie die Unveränderlichkeit des Seins vom veränderbaren Bild nicht abhängen kann, welches immer nur „in Bezug auf“ existiert, ohne zerstört zu werden, also relativiert zu werden, wird man sagen müssen, dass das Bild nichts ist, nichts als die relativistische Negation des Seins, bzw. sein Nichts. Diese Formulierung spricht sich natürlich nicht offen gegen den Sophistes aus, sondern sie richtet nur den Dialog Platons auf einen originalen Sinn. Aber die Konsequenzen dieser Lektüre sind nun auf subtile Art „neuplatonistisch”, und zwar in genau dem Maße, in welchem sie sich auf ein offener sophistisches Gebiet begeben, als die Platonschen Schlussfolgerungen. Von Anfang an könnten diese wenigen Zeilen eines schönen Kommentars zum Sophistes sich auf den aufsehenerregenden Beginn der Fichte-Studien beziehen: Das Eine (bzw. das Sein) ist nichts, zumindest sofern sein Nicht-Sein in der Verbindung nicht zum Sein kommt. Das Nicht-Sein des Allen-Einen bescheinigt sich wegen seiner Übertragung in das vielfache Sein des Relativen. Man könnte denken, dass die Einheit nicht mehr ist, aber si war nie: sie existiert als Negation in der Proliferation. Als gebrochener Farbton und als amphibolisches Nicht-Sein, bringt uns das Sein des Nicht-Seins dazu, zu glauben, dass das Sein seiner Negation voraus ging. In Wirklichkeit beginnt das Nicht-Sein zu sein, wie alles Sein, durch die Zahl, die Diairesis und die Relation. Das Eine ist niemals nur das Nicht-Sein in den Fransen seiner Zerrissenheit. Die Negation kommt vor dem Sein. Dass das Sein ist, und das gibt schon zwei, das heißt eine Vielheit99. Der neuplatonistischen Sophistes-Lektüre schon sehr nahe, zieht diese Art des Kommentars alle Konsequenzen aus der Strategie des Fremden: Wenn alle Anzeichen dafür sprechen, dass das Eine seiner Spaltung vorausgeht, dann ist es nichts. Und dennoch – das ist nicht zu leugnen – findet Platon, obwohl er der Poiesis zu ihrem Recht verholfen hat, bedeutende Vorbehalte bezüglich der Macht der Poiesis. Das poietische Nicht-Sein wird nämlich von Platon vergegenständlicht und damit alle Zweideutigkeit des Bildes beseitigt: Da das Bild das Ding oder die Idee nur gut oder schlecht abbilden kann, wird es vielmehr aufgefordet, die Differenz (seinerselbst von der Idee) zu respektieren, ohne wirklich ein Teil davon zu sein, das heißt, dem zufälligen und ungewissen Abenteuer der Differenz beizuwohnen. Im zweiten Fragment der Fichte-Studien entwickelt Novalis das Problem vom Genitiv des Bildes, oder vom Wissen des Seins: Wissen kommt her von Was – es bezieht sich allemal auf ein was – Es ist eine Beziehung auf das Seyn, im bestimmten Seyn überhaupt nemlich im Ich. Der Accent, die Länge liegt im bestimmten Seyn beym Wissen auf dem Seyn; das Bestimmte wird nur mitgenommen, ist Accidens. Beim Fühlen ist es umgekehrt. Der Accent liegt da auf der Form, auf der Bestimmung. Das Seyn wird nur mitgenommen, ist Accidens. D[as] Bewußtseyn ist die Sfäre des Wissens. Beym Fühlen kann es nur mediat vorkommen. /D[as] Wissen wird hier lediglich in der bestimmten Bedeutung genommen/ Was für eine Beziehung ist das Wissen? Es ist ein Seyn außer dem Seyn, das doch im Seyn ist. /Theilen – vereinen/ Das Bewußtsein ist ein Seyn außer dem Seyn im Seyn. Was ist aber das? !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 99 ! E. Rousset, s.o., S. 62. Vgl. auch dazu A. Vasiliu, Dire et voir. La parole visible du Sophiste, Paris, Vrin, 2012. 151 ! Das Außer dem Seyn muss kein rechtes Seyn seyn. Ein unrechtes Seyn außer dem Seyn ist ein Bild. – Also muss jenes außer dem Seyn ein Bild des Seyns im Seyn seyn. D[as] Bewußtseyn ist folglich ein Bild des Seyns im Seyn. Nähere Erklärung des Bildes. /Zeichen / Theorie des Zeichens. / Theorie der Darstellung oder des Nichtseyns im Seyn, um das Seyn für sich auf gewisse Weise da seyn zu lassen/ Theorie des Raums und der Zeit beym Bilde100. Das Bewusstsein ist ein Bild des Seins, das heißt ein „unrechtes“ Sein, oder auch ein Sein „außer dem Seyn“, wie Novalis schreibt, aber dennoch innerhalb des Einen-Sein. Erinnern wir uns an das weiter oben zitierte Fragment: Die gesamte Philosophie von Fichte, so sagt er, ist eine Sophistik des Ichs, also ein transzendentales Bild unseres Bewusstseins. Die Schritte des philosophischen Denkens, der Weg des reflektierenden Ichs oder, mit Fichtes Worten, die ideale Reihe, stellt das reale Bewusstsein ins Bild. Dieses Bewusstsein ist aber schon selbst das transzendentale Bild des Seins. Das raum-zeitliche a priori der Sinnlichkeit muss sich selbst in den Rahmen dieses Bildes und der Zeichen eingliedern, so fügt Novalis hinzu, der häufig Bild und Zeichen verbindet, wobei das Bild der Ort ist, an welchem die sinnlichen Zeichen, während sie sich selbst als Zeichen andeuten, ihre symbolische Aktivität entfalten: „Bild – nicht Allegorie – nicht Symbol eines Fremden – Symbol von sich selbst“101 . Das Bild des Seins, welches transzendentales Bewusstsein ist, ebenso wie die vielen Bilder, die es schafft, sind nicht bloße Allegorien des Sein, sondern dessen Symbol im Goetheschen Sinn, wenn man so will: Das Bild oder vielmehr die sinnlichen Zeichen, aus denen es zusammengesetzt ist, sind die reflexive Selbstgründung, das heißt, die Selbstdarstellung ihrer eigenen symbolische Kraft. Sie treten auf, indem sie das Sein als das selbst, was interpretiert werden muss, setzen. Und dies nicht, weil das Sein, welches der Reflexion angeblich vorausgeht, innerhalb der allegorischen Verzögerung zu erwähnen wäre, sondern weil es genau durch die bildliche Reflexion erstellt, bzw. eingesetzt wird. Das Sein ist genau das, was wir ek-sistieren (Novalis unterstreicht „daseyn“), manifestieren und erblühen lassen. Das Bild bildet nicht ab: Es setzt ein. Wenn es hier nicht in unserer Absicht liegt, eine fragmentarische Sammlung, die so komplex und dicht ist wie die Fichte-Studien, zusammenzufassen, so müssen wir doch das tiefe Wohlgefallen, welches Novalis an dem Begriff des Scheins empfindet, betonen. Was auch immer die Bestimmung sei, die man dafür setzt, so bleibt das Sein oder das Eine innerhalb seiner Grenzen unbeschadet, unbedingt und unveränderlich, und Novalis empfindet die Notwendigkeit, einen neuen Begriff zu entwickeln, nämlich den des Nur Seyns, um sich dessen zu versichern: „An dem Nur Seyn haftet gar keine Modification, kein Begriff – man kann ihm nichts entgegensetzen – als verbaliter das Nicht-seyn. Dis ist aber ein copulierendes Häckchen, was blos pro Forma dran gehängt wird“102 . Das Nicht-Sein, d.h. die Herrschaft von diesem unrechten Bild, das nichts ist, ändert in keinster Weise das, was, indem es nur Sein ist, nie etwas Relatives sein kann. Oder es könnte nichts anderes sein als ein reines und absolutes Etwas, wie der Begriff des Was andeutet, das ungeheuere und absolute „Ding”, das unbewegliche Sein des Parmenides. Das bildliche Nicht-Sein erscheint in seiner Bestimmung als einfaches Sprachspiel: Es ist ganz „pro Forma“, „verbaliter”. Die verblüffende Zweideutigkeit von Novalis klingt hier schon an: Als scheine er zuerst sagen zu wollen, wir sollten uns nicht täuschen; es sei illusorisch zu glauben, dass das Nicht-Sein irgendeine ontologische Relevanz hätte. Einzig ist das parmenidische Sein und, da es absolut und unbedingt ist, erscheint es mal im Nur Seyn, mal im Was und mal sogar im Chaos (der Begriff des Chaos ist für Novalis übrigens bis in seine letzten Skizzenhefte hinein von großer Bedeutung). Weil es so kompakt ist, kann auch das Sein Parmenides mit dem reinen Zerspringen und mit der Zersplitterung zu tun haben. Aber gerade, so lehrt uns Novalis gleichzeitig, ist das pro forma Nicht-Sein, welches poietisch, „in Bezug auf“ und nichts ist, um nichts anderes als Schein oder Täuschung sein zu können, sich selbst und seinen überzogenen und widersprüchlichen Forderungen ausgeliefert, wo alles im werden ist. Das Nicht-Sein, das heißt die Existenz (ek-sistenz) des Seins (Daseyn des Seins), oder eben das Bewusstsein, bzw. das Bild, ist ganz seiner genitivischen Bedingung gewidmet: Das Bild ist unwiderruflich das Bild des Seins, welches seinerseits Nur-Sein und daher Sein von Nichts – im reinen Nominativ – ist. Novalis entfaltet die ganze Kraft und Ambivalenz dieses Nicht-Seins, durch welches nur ein Sein sein kann, denn das Relative geht logischerweise dem unbedingten Einen voran, und es ermöglicht. Die Vorliebe Novalis’ für Übertretungen macht das Bild, welches gleich zu Beginn als „unrecht” bezeichnet wurde, unwiderstehlich verlockend. Wenn es dem Existierenden zukommt, das Sein in Bezug zu setzen und es im Bilden sein zu lassen, und wenn die Einbildungskraft, dieses „Vermögen des Plastisirens“103, der !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 100 WTB, II, 9-10. WTB, II, 352. 102 WTB, II, 10. 103 WTB, II, 640. 101 ! 152 ! Ort ist, an welchem sich die Existenz als Bereich des Nicht-Rechts innerhalb Recht entfaltet, muss man zu allererst akzeptieren, dass das Bild nicht bloß kopiert: Es erschafft. In der sechsten Hymne an die Nacht, schildert Novalis alte Zeiten, in denen die Kopie seinem Vorbild oder seinem Archetyp ähnelte: Die Vorzeit wo die Sinne licht In hohen Flammen brannten, Des Vaters Hand und Angesicht Die Menschen noch erkannten. Und hohen Sinns, einfältiglich Noch mancher seinem Urbild glich“104. Dieses Zeitalter ist gerade vergangen: Die Quasierzählung der fünften Hymne belehrte uns darüber, dass es einer Epoche vor dem nächtlichen und beklemmenden Trauma angehört. Die Zeit der Kopie geht dem Auftreten der unverständlichen Nacht in ihrer gesamten Undurchdringlichkeit voran. Diess kann betrauert werden, denn mit ihr verschwand auch die ruhige Heiterkeit. Aber die „Nachtbegeisterung“, von der die Hymnen an die Nacht sprechen, lädt uns doch dazu ein, in die Nacht einzutauchen, das heißt, aufzuhören, einem Vorbild ähneln zu wollen. Die Ära der Kopie, bzw. des Abbildes, ist übrigens selbst eingehüllt in Dunkelheit, so präzisiert Novalis, und zwar in der Weise, dass diese Ära hier nur als mythische, bzw. geträumte Rekonstruktion gilt. Diese Novalissche Nacht ist bekanntermaßen ein Erbe der negativen und mystischen Theologie des Neuplatonismus. Nur war man nicht aufmerksam genug gegenüber ihrer „Laizisierung“, die sich auf subtile Weise einschleicht. Die Nacht ist zunächst der Ort eines urtümlichen Nicht-Wissens, einer Dunkelheit, zu welcher uns das Bild unaufhörlich führt: Die Offenbarung ist, und nichts anderes als, diejenige der Nacht, ebenso wie und als Schein. Letztlich besteht die Täuschung – von der beispielsweise in den Fichte-Studien die Rede ist – darin, zu glauben, dass man den Schein festmachen kann, das heißt das Bild des Seins in einer seiner Interpretationen zu fixieren ohne dem Perspektivismus Rechnung zu tragen, welchen der Genitiv prinzipiell impliziert. Der „Schein“, dieses sophistische, d.h. verbaliter „so gut wie gar nichts” von dem ausgehend man glaubt, dass das Nicht-Sein, die Relation, das Leben und die Selbstbezüglichkeit existiert, ist alles, was ist! Was ist nun der Wert dieses Scheins? Wenn er das Projekt des Fundationalismus im engeren Sinne anprangern würde, so wie Manfred Frank glaubt, wären die Folgen anders, als der Kommentator denkt (und zwar die Rückkehr Novalis‘ zu einem minimalistischen Realismus). Denn, indem der Schein sich als Schein entlarvt, bedeutet dies in der Tat, dass es nichts außer dem absoluten Sein des Parmenides gibt, also nichts außer dem ungeheueren Ding oder dem unbeweglichen und „unendlichen Stein“, wie Novalis einer Reflexion Friedrich Schlegels entnimmt: „<Der unendliche Stein kann weder stoßen – noch gestoßen werden>“105. Der Schein, der verglichen mit dem Sein nichts ist, regt im Übrigen dazu an, in dieser Art zu denken. Es gäbe dann Bewegung, Bezüglichkeit, Konflikt und Widerspruch nur in der Täuschung des sophistischen Bewusstseins, welches das transzendentale Bewusstsein selbst ist, während es „eigentlich” (oder „in der Tat”), wie Novalis subtil aber deutlich an mehreren Stellen schreibt, keine Reibungen gäbe, sondern nur das reine und unverwüstliche Sein, das absolut auf sich selbst zurückgezogene Was, eben den unendlichen Stein. Wenn zu allem Anfang das Bild unrecht ist, und die Abgeschlossenheit des Einen quid juris garantiert wird, neigt der unerwartete Transzendentalismus von Novalis dazu, die Relation zwischen der Tat und dem Recht umzustürzen. Denn die autoritäre Vorherrschaft des Einen erstickt die Möglichkeit, rechtlich fundamental von der gesamten modernen Philosophie bis hin zu Kant, eine wirkliche Relation zwischen den verschiedenartigen und widersprüchlichen Instanzen herzustellen: Dem Ich und dem NichtIch. Auch auf die Illegalität de jure des Bildes antwortet die Gewalt de facto des Seins, welche sich über den Schein erhebt und die Forderungen des Nicht-Seins auslöscht. Andere Textstellen laden jedoch dazu ein, den Schein in einem phänomenologischen Sinn zu begreifen, das heißt, das Bild müsse sich buchstäblich sein Recht erobern, das Sein abzubilden. Folglich ist der Schein im Grunde nichts anderes als dieses kreative Zögern, frei und autonom von sich selbst, in Bezug auf dasjenige, wovon es der Schein ist. Der Schein selbst besteht gleichzeitig im Anprangern und im Konstruieren des nur scheinbaren Charakters des Nicht-Seins, welches „eigentlich” nicht ist, aber dennoch sehr wohl sein könnte. Der Genitiv des Bildes (d.h. des Bildes des Seins), der ihm gleichzeitig seine Kreativität verleiht, ist nichts anderes als das Zögern des Scheins einer Beziehung. Von hier aus erzeugt das Bild Formen, Kategorien, kombinatorische Perspektiven, und so viele negative Unterscheidungen des Einen innerhalb des Einen selbst, und setzt sich reflexiv als Nichts. Eine Kategorie des Verstands wie die Kausalität ist ein „nicht“, das zum Sprechen gebracht werden muss: Nicht aber der bloße ontologische Gegensatz der Materie, die die Kausalität binden und koordinieren soll, sondern die sophistische !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 104 105 ! WTB, I, 175. WTB, II, 499. 153 ! Negativität des Einen, das diese Kategorie durch die transzendentale Einbildungskraft ausdrückt und erkennen lässt, indem sie es schreibt, übersetzt und kausal innerhalb des Sinnlichen rückübersetzt. Die Sophistik rettet, in im Hinblick auf jedes philosophische System, das von demjenigen Novalis‘ verschieden ist, unverständlicher Weise, den Transzendentalismus: Selbst wenn das Eine das „Unbegreifliche“106 ist, oder unverständlich, so wie es das „Warum” des Bewusstseins ist, ist eine von Regeln garantierte Relation zwischen Ich und Nicht-Ich möglich, eine „Vereinigung des Unvereinbaren,“107 ein „Setzen des Widerspruchs als Nichtwiderspruch“108 wird von der Poiesis ins Leben gerufen, ebenso wie diese das Verschwinden aller Relation durchführt, indem sie das Täuschungsmanöver des Scheins aufdeckt. Noch grundlegender: Novalis deutet vorsichtig aber entschieden an, dass der Transzendentalismus dieses Zögern selbst ist. Der Enthusiasmus des transzendentalen Schreibens zeigt die Zerbrechlichkeit, bzw. Ungewissheit der transzendentalen Gesetze auf, und genau dadurch „spielt” er mit ihnen (bei Novalis existiert ein „Ernst“ des Spiels). Der überwältigende §4 der Wissenschaftslehre Fichtes wird von Novalis zum Maßstab für diesen Genitiv und auf seine Weise „neu geschrieben”, der, um bereit zu sein, alle Kombinationen zu spielen, und um alle Überseztungen und alle Sprachen zu wagen, sich auf eine nächtliche Dichte stützt, auf ein Scheinen, das konstitutiv mit der Relativität die er selbst ist, verbunden ist. Wovon ist das Bild ein (Ab-)Bild, wenn sein Prinzip nichts anderes als eine Frage oder eine Aufforderung ist, sein eigenes Rätsel zu beantworten (indem er das Sein und das „Was” gleichsetzt, verleitet Novalis unauffälig dazu, ein Interrogativpronomen gleichzeitig als Substantiv zu lesen)? Der Fichtesche Übergang des Begrenzten zum Unbegrenzten, bzw. des Beschränkten zum Unbeschränkten in der selbstgesezten Tätigkeit wird systematisch bei Novalis in Formeln wie die folgende übersetzt: „Im Bewußtseyn muß es scheinen, als gienge es vom Beschränkten zum Unbeschränkten […]“109. Das Scheinen ist diejenige der magischen Operationen des Sophisten, welche der Transzendentalphilosoph ist, der das natürliche Bewusstsein als Sophistik für es selbst thematisiert und denkt. Die Poiesis spielt das Hervorbringen von verschiedensten Wirkungen, die alle Orte, Interpretationen, von dem „da” des Seins oder des Absoluten sind, das als das Unentscheidbare dort zum ek-sistieren kommt. Ist die Relation, bzw. die Existenz, bzw. der Schein, die aktive Negation des Seins, das einzig ist, ist sie die Hervorbringung und Existenz des Seins als Nichts, oder ist sie, wenn sie jegliche Relation für nichtig erklärt, nichts, und gibt es nur die Täuschung einer Relation? Die meisten entscheidenden Erklärungen der Fichte-Hefte Novalis’ vermischen absichtlich verschiedene Interpretationen der transzendentalen Sophistik, ohne jemals eine Lösung zu hypostasieren, denn die phänomenale Manifestation, der Schein, der das Eine vorstellt, lässt das Eine nur als Rätsel entstehen. Das Eine kann sich nämlich nicht von selbst offenbaren, zumindest ist diese letzte Möglichkeit nur eine Perspektive, die von der „tragischen” Selbstständigkeit des Perspektivismus des Bildes herrührt: Wenn das Gefühl Was ist, so ist Reflexion nichts und der Mensch ist die Synthese – und so umgekehrt. Beydes kann aber nur in der Reflexion statt finden, also nothwendig im Was – in der Hälfte, die just Realität ist – also ist beyde Mal das Nichts ein Nichts – also ein Was – dies ist eine Täuschung der Wechselwirkung. Die Reflexion ist Nichts – wenn sie Was ist – Sie ist nur für sich Nichts – So muß sie also doch Was dann seyn. Das Gefühl ist Nichts, wenn es in der Reflexion was ist – /Außer dieser Reflexion gleichsam ist es Nichts. / /In dieser Reflexion muß das Gefühl immer Was und die Reflexion Nichts seyn/ Wenn in der Reflexion die Reflexion Was ist und das Gefühl Nichts, so ist es in der That umgekehrt, so ist das Gefühl Was und die Reflexion Nichts. Beydes soll aber in der Reflexion statt finden – Folglich müßte das Eine immer in einer anderen Reflexion geschehn, wenn das Andre in einer andren geschähe. Die anscheinende Folge, oder die reale reflexion begründete die Ursache [,] die ideale Reflexion. Dieses schiene frey, wenn es jenes wäre – Sollte nicht etwa jenes das einfache, dieses das reflectirte Bewußtseyn seyn110. Wenn das Gefühl oder die Reflexion Was ist (oder auch das Nur-Sein, das Chaos, das nächtliche Gesicht, das uns in den Hymnen entgegen blickt, das Wunderbild oder das absolute Bild in den Lehrlingen zu Saïs, usw.), ek-sistiert dieses Gefühl oder diese Reflexion das Was in der Relation, und lässt es im begrenzten, endlichen und bedingten Bild erblühen, das bald abgesichert, bald unrecht ist. Das Sein ist immer im Anderen der Relation, durch welche es erscheint (Ich/Nicht-Ich, Gefühl/Reflexion, Gegenstand/Zustand, sind ebenso Widerspiegelungen der fichteschen Dualität in den Fichte-Studien), aber in der Tat gibt es keine Relation, es gibt nur eine Täuschung. Oder sollte es genau umgekehrt sein? Wenn die Questio facti über der Questio juris steht, bedeutet das nicht wirklich eine Niederlage der transzendentalen Questio juris, da, erinnern wir uns, die Sophistik des Ichs in ihrer Ganzheit dem !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 106 WTB, II, 16. WTB, II, 16. 108 WTB, II, 16. 109 WTB, II, 19. 110 WTB, II, 23. 107 ! 154 ! transzendentalen Bild des Bewusstseins angeglichen wird. Das Transzendentale bei Novalis führt nur mit großer Anstrengung die Ambivalenz und die Zwiespältigkeit direkt ins Herz des Projekts der Transzendentalphilosophie ein, das heißt, in jegliche Spekulation, die sich auf die Bedingungen der Möglichkeit dessen, was die moderne Philosophie generell und auf verschiedene Weisen ein „Verhältnis“ oder eine „Relation“ nennt, bezieht. Wenn Novalis auf den „unbewussten Neuplatonismus” des Transzendentalismus zurückgreift, kehrt er gleichzeitig zur konstruktivistischen oder sophistischen Geste zurück, sowohl im Einklang mit Platon als auch im Widerspruch zu ihm. An dieser Geste verschärft sich die unglaubliche Spannung, die jedem Genitiv innewohnt, welcher jede Relation trägt, oder welcher die Relation selbst ist, und zwar zwischen seiner Möglichkeit und seiner Unmöglichkeit. Wir wissen, dass es nichts außerhalb des Einzigen-Sein gibt, nur das Bild, das nichts ist, oder welches in gewisser Weise „illegal” – wenn man das „in der Tat” und „unrecht”-Spiel derart übersetzen darf – außerhalb des Seins im Sein existiert, und welches sein Recht fordert, sich innerhalb des Einen zu entfalten. Dieses vernichtet seinerseits „tätlich” (das „in der Tat“ oder „eigentliche“ aus den Fragmenten von 1795-96) jegliche Relation, welche seine Unbedingtheit aufheben könnte. Wenn dies der Fall ist, kann das Bild nichts anderes sein als der Genitiv mit seiner Ambivalenz, seiner Unsicherheit und Zwiespältigkeit, was aber auch alles seinen Reichtum ausmacht: Es gibt Kombinationen, Kategorien und Experimente nur für ein Bild, welches unaufhörlich zu der ihm innewohnenden Schwierigkeit geführt wird, zu wissen, was es bildet, und in dem ständig scheinbaren Charakter dessen, was zögert, ein echtes Phänomen zu werden. Das Eine, das Nur-Sein und das Was (oder in religiöseren Texten Gott) ek-sistiert wie oder als Ambivalenz der Entstehung, der Relation, bzw. der Erscheinung. So sind dies niemals transzendente Begriffe, denn sie sind nichts anderes als das problematische Fundament der Relation selbst, und allem, was behauptet, Relation zu sein. Der Schein ist das Selbstsetzen, die Selbstreflexion dieser „Problematizität” – um eine Formulierung Fichtes zu wählen – immer und überall zu finden. Die Problematizität wird über die verschiedensten Perspektiven des Bildlebens, d.h. der Relation, zurückgeführt, und die Relation wird immer dazu berufen, konstruiert und dekonstruiert zu werden, vielfach hervorgearbeitet und neu begonnen, auch in der Ironie und zwar deshalb, weil es sehr anmaßend wäre, wenn wir zu wissen glaubten, wohin man geht. Novalis ist ein Denker der Immanenz, d.h. des sinnlichen Lebens, bzw. des Scheins, und er gewinnt dadurch, zuerst als solcher verstanden zu werden. In den wenigen Fragmenten, die Novalis direkt auf Französisch verfasst hat, darunter zwei in den Teplitzer Fragmenten, findet man das Gleichsetzen von dem Einen des Parmenides mit dem christlichen Gott. Diese Fragmente unterstreichen noch einmal die Wichtigkeit und die Kraft der neuplatonistischen Inspiration. Im ersten Fragment äußert er sich folgendermaßen: „S’il faut, que Dieu nous aime, et que Dieu est tout – il faut bien aussi que nous soyons rien“111 . Das zweite geht noch darüber hinaus: Une forte quantité d’opinions est fondé (sic) sur le principe – que nous sommes rien. Les Meilleurs ajoutent, que nous sommes pourtant susceptibles d’une certaine Espèçe (sic) de Valeur absolue – en nous reconnoissant pour rien, et en croyant a (sic) l’amour de Dieu112. Die weiter oben angesprochene „Laizisierung“ bedeutet auch, dass Novalis, indem er wie Fichte später mit der Resonanz des christlichen Diskurses und des Transzendentalismus gleichzeitig auch mit deren „Unzurückführbarkeit” spielt, dazu auffordert, die Nacht oder die Undurchsichtigkeit des Sinns der Relation zwischen dem Einen und dessen nichtigen Bildes, für das Herz der christlichen Lehre selbst zu halten. Die Ironie spielt hier eine große Rolle. Dies bewahrheitet sich in Die Christenheit oder Europa, einem Text der weit ironischer ist, als es zunächst den Anschein hat: Die „dunkeln unendlichen Augen“113 des Messias helfen, eine Offenbarung zu begreifen, die ebenso völlig dunkel ist. Folglich werden wir in dieser Dunkelheit, bzw. in dieser Nacht, diejenige der Hymnen an die Nacht, nicht aufhören, immer tiefer hinunterzusteigen – gerade diese Geste ist bedeutungsvoll. In der ersten der Hymnen ist zu lesen: „Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnißvollen Nacht. […] In Thautropfen will ich hinuntersinken und mit der Asche mich vermischen“114 . Diese Gedichte werden übrigens auf einen letzten abfallenden Weg gebracht: Hinunter zu der süßen Braut, zu Jesus, dem Geliebten – Getrost, die Abenddämmrung graut Den Liebenden, Betrübten. Ein Traum bricht unsre Banden los !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 111 WTB, II, 397. WTB, II, 397. 113 WTB, II, 745. 114 WTB, I, 149. 112 ! 155 ! Und senkt uns in des Vaters Schooß115. Wenn das Vertrauen angerufen wird, dann aus dem Grunde, dass Angst und Wehmut seit der dritten Hymne sämtliche Heiterkeit umgestürzt haben. Die Gleichheit zwischen dem Unten – das Dunkel der Gruft, an der Novalis festhält – und dem Oben – das himmlische Dunkel der Nacht – ist ergreifend: Indem er dieses Zentrum der Erde erreicht, das im Mittelpunkt der Diskussion zwischen Plutonismus und Neptunismus stand – von der auch Novalis beeinflusst war – erreicht man so zu sagen unmittelbar den unendlichen Kosmos. Daher kauft das Himmlische, das oft als Spur des Klassizismus mit dem Göttlichen gleichgesetzt wird, keinesfalls die irdische Schwärze los: Sie sind komplementär. Auf mächtige und subversive Weise wechseln sich Textstellen in Vers- oder Prosaform innerhalb eines einzigen Gedichts ab, und damit wirft Novalis gegen den Klassizismus, der gegenüber der Vermischung von Genres Abneigung empfindet, die Kategorien des traditionellen Denkens durcheinander. Anstelle des klassischen Ideals in Versform zu dichten, stellt er dieses in einer Prosaerzählung dar, während feine Verse den Paganismus heraufbeschwören. Der Dichter wechselt so zwischen Nahem und Fernen 116 . Und inmitten dieser dichterischen Dynamik, dieses Wechsels der Strophen, in alternierenden Wellen heran rollend, verlieren das Oben (das Kosmische) und das Unten (das Irdische oder das Unterirdische) jegliche qualitative Unterscheidung, wie es sicherlich die moderne Physik wünscht, aber auch, wie es die Arbeit des Verstehens und des Übersetzens von Sinn, die das Bild selbst ist, erfordert: Das Oben kann plötzlich aus dem Unten auftauchen. In den Hymnen erlaubt es die Welle, in den nächtlichen Himmel aufzusteigen, indem sie aus dem Inneren der Hügel entspringt. Dadurch beraubt Novalis den Himmel nicht seiner Dunkelheit, um die irdische Dunkelheit nach Art der mittelalterlichen Philosophie noch erdrückender zu gestalten. Die Dichte des Sichtbaren ist umgekehrt das, wozu Himmel und Erde identisch gehören. Weiters macht die ergreifende Textstelle auf sich aufmerksam, wo der Sternenhimmel fordert, dass man in den Schoß der Erde hinabsteigen müsse, um zu ihm zu gelangen, sodass sich beide Dunkelheiten beinahe vermischen: Hinunter in der Erde Schooß, Weg aus des Lichtes Reichen, Der Schmerzen Wuth und wilder Stoß Ist froher Abfahrt Zeichen. Wir kommen in dem engen Kahn Geschwind am Himmelsufer an“117. „Der Himmel ist bey uns auf Erden“118 lesen wir dann in den Geistlichen Liedern. Man sollte beinahe sagen, dass der Himmel hier unter der Erde ist. Die französischen Übersetzungen haben oft sorgfältig vermieden, das „nieder“ wiederzugeben, das die Richtung von mehr als einem Blick bei Novalis präzisiert. Folglich gilt es, aufmerksam zu sein, denn oft ist es beim Niederschauen – in Richtung dieses Matsches mit dem sich der junge Mineraloge in Teplitz eng verbunden fühlt119 – dass man wirklich sieht: Ein Engel zieht dich wieder Gerettet an den Strand, Und schaust voll Freuden nieder In das gelobte Land120 . Es ist nicht so sicher, dass das Paradies oben ist, zumindest vereinigt sich das Oben mit dem Unten. Das Leben des Bildes verbindet sich entschlossen mit dem Leben der erwünschten und der sinnlichen Leiber, zu denen der Himmel gehört. Die folgende glänzende Textstelle der Geistlichen Lieder verdeutlicht dies: Wem heilige Gluth In zitternde Wellen das Herz schmolz, Wem das Auge aufging, Daß er des Himmels Unergründliche Tiefe maß, !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 115 WTB, I, 177. Vgl. zu diesem Thema auch das Fragment 342 des Allgemeinen Brouillons: Die „Poesie der Nacht und Dämmerung“ (WTB, II, 537), die hier anklingt, erscheint in Folge auf eine erstaunliche Überlegung über die Rolle der Vokale und Konsonanten in der Ausarbeitung sowohl einer Philosophie als auch einer Poesie, bald nah, bald fern. 117 WTB, I, 175. 118 WTB, I, 182. 119 Vgl. WTB, II, 397. 120 WTB, I, 193. 116 ! 156 ! Wird essen von seinem Leibe Und trinken von seinem Blute Ewiglich. Wer hat des irdischen Leibes Hohen Sinn errathen? Wer kann sagen, Daß er das Blut versteht? Einst ist alles Leib, Ein Leib, In himmlischem Blute Schwimmt das selige Paar. – O! daß das Weltmeer Schon erröthete, und in duftiges Fleisch aufquölle der Fels! Nie endet das süße Mahl, nie sättigt die Liebe sich. Nicht innig, nicht eigen genug, kann sie haben den Geliebten. Von immer zärteren Lippen Verwandelt wird das Genossene Inniglicher und näher121. In der Immanenz des Bildes, des Sinnlichen und des Leibs liegt also die Offenbarung. Diese lehrt uns, nichts zu sein, nichts als nichts zu sein, wo das Sein sich als Rätsel und Dichte manifestiert (der Sinn des Irdischen bleibt zu interpretieren), als Nacht, bis hin zur rheinländischen Auflösung jeglicher Identität: „Wir sinken auf der Nacht Altar“122 sagt eine wunderbare Strophe der handgeschriebenen Version der Hymnen. Die Offenbarung offenbart buchstäblich nichts, oder vielmehr offenbart sie das Nichts, das sie reflexiv als Nichts offenbart123 . In dem bildlichen Ek-sistieren des Seins, um nur nichts zu sein, erschafft und geschiet alles; eine Existenz, gegründet auf nächtlichem oder unübersetzbarem Fundament, das Novalis manchmal als Unsinn oder Chaos qualifiziert, oder – immer in böhmescher Manier – als nächtliches Gesicht – als ob das Was der Studien Augen hätte – dies selbst, das uns beim sich Sehen am Beginn der Hymnen zuschaut. 5. Übersetzung und Verstehen des Sinns Wenn als gesichert anzunehmen ist, dass das Bild ein Genitiv ist, dann ist dies die einzige Gewissheit, denn das Bild kann konstitutiv nie wissen, wovon es der Genitiv ist. Wir wissen es seit den Fichte-Studien: „Das Bild ist für das sich bewußte Ich Realität […] die reine Form der Reflexion – Medium der Realität, Negation allein – Für das Ich gar Nichts – oder Bild des Urseyns“124. Der Philosoph hatte sich in den Jahren 1795-96 bereits mit einem Magier verglichen und er musste es wagen, wollte er das Spiegelspiel zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich begreifen, selbst in dieses Spiel einzusteigen. Novalis erschuf bei dieser Gelegenheit eine Vielzahl von Begriffen, wie beispielsweise den eines Ordo inversus, welcher besagt, dass das im Spiegel reflektierte Sein (also das transzendentale Bewusstsein oder das Bild des Seins), auch umgekehrt von diesem gesehen wird, wiewohl er die Reflexion, ebenso wie die magischen Vorgänge im Spiegel selbst, unbestimmt lässt. Nachdem er in Erinnerung gerufen hat, dass der reine !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 121 WTB, I, 188-189. WTB, I, 150. „Was ist Atheisterey? Xstliche Religion“ (WTB, II, 712) bemerkt Novalis mitten in einem komplexen und irreführenden Fragment, verbunden mit der jüngsten Anschuldigung des Atheismus, die auf Fichte gerichtet ist. Es kann sein, dass die Antwort in diesem Fragment nicht auf die Frage bezogen ist. Das wäre übrigens eine indirekte und für Novalis typische Art zu antworten. 124 WTB, II, 47. 122 123 ! 157 ! Begriff des Verstands ohne dazugehörige Anschauung absolut leer bleibt, präzisiert Novalis, dass dasjenige, was rein genannt wird, „eine Täuschung der Einbild[ungs]Kr[aft] – eine nothwendige Fiction“125 ist. Es ist klar: Wir erfinden und schaffen unsere Vermögen und allgemeinen Kategorien selbst und konstruieren damit die Universalität selbst – eine illusorische Universalität. Es geht dabei nicht um die Art von Illusionen, auf die die Transzendentale Dialektik Kants aus ist, denn hier ist das Transzendentale als solches, in abstracto, ein illusorischer Spiegel. Es handelt sich auch nicht um eine empiristische Kritik, denn das Transzendentale, sowie der Begriff des Verstands, ist konstitutiv, so lesen wir, für die Fiktion, die wir schreiben müssen, um diese Fiktion verstehen zu können, die schon das gemeinsame Bewusstsein ist. Tatsächlich, wenn wie bei Platon das Sein sich anfänglich mit der Wahrheit verbindet, verpflichtet uns Novalis in den Fichte-Studien plötzlich, zu einem singulären Kompromiss: Wahrheit – Fiction oder Schein Die Einbildungskraft hat zweyerley Producte – das Wahre und den Schein. Eins schließt das Andre aus – negirt es. Identisch ist beydes – Schein ist Schein – Wahrheit – Wahrheit. Wahrheit ist die Form des Scheins – Schein ist die Form der Wahrheit. /Schein ist Geist. Wahrheit Materie/ Schein ist das Entgegengesetzte unter der Form des Gesetzten – Er scheint zu beziehen, und bezieht nicht. Er schein[t] das Bezogne zu seyn und ists nicht. Wahrheit ist das Ganze – Schein nur der Bruch – das Halbe – der das Ganze scheint und es nicht ist – Jene die positive, dieser die negative Größe126. Man könnte von Anfang an glauben, dass der Gedankenstrich, der den Schein von der Wahrheit, d.h. von allem oder von dem Einen trennt, eine wasserdichte Scheidewand ist. Aber der Gedankenstrich wird von Novalis auch an Stelle des Gleichheitszeichens eingesetzt, und wir können diese Zweideutigkeit fruchtbar machen: Die Wahrheit ist in der Tat mit der Fiktion gleichsetzbar, wenn man im Sinne des spekulativen Idealismus davon ausgeht, dass die erste die zweite ist, das heißt, die Wahrheit ek-sistiert und manifestiert sich durch und als Kiktion, durch die gestaltende Fantasie, die Bild ist. Daher kann die Fiktion, die das Bild ist, die Fiktion, die das Bewusstsein ist, oder die Fiktion, die die Transzendentalphilosophie ist, auch Schein genannt werden. Dies ist eine entschiedene Abkehr vom neuplatonistischen Erbe des Sophistes. „Schein“ ist vermutlich immer abwertender als „Erscheinung“ gemeint: Indem Novalis dieses Vokabular ausschöpft, verstärkt er, beabsichtigt oder nicht, die Gleichsetzung des Transzendentalismus (als diese Fiktion, die notwendig geschrieben werden muss) mit der Sophistik als Kunst der Wirkungen, bzw. Erscheinungen, die, im strengen Sinn genommen, als Realitäten zu verstehen sind. Er wählt nicht zwischen den beiden, zumindest nicht mehr, als er beiläufig zu einem klassischeren, empiristischen Standpunkt zurückkehrt, für welchen jegliche Art von Transzendentalismus genauso illusorisch ist, wie die klassische Metaphysik, und für welchen es keine konstitutive Fiktion zu schreiben gibt. Bei Novalis ek-sistieren, bzw. befinden wir uns bewusst beim oder im Schein, d.h. im Sinnlichen, im Endlichen. Sich ein aktives Bild des Seins oder der Wahrheit zu erschaffen, könnte bedeuten, dass man sich das Wahre einbildet, bzw. vorstellt – dass zwischen dem Einen und dem Nicht-Sein eine reelle Relation innerhalb des Einen existiert –; es könnte aber auch das Gegenteil bedeuten, und zwar, dass die Einbildungskraft, als Kraft, den Schein, d.h. das Nichts zu bilden, selbst nichts ist, und dass sie auf eine Abwesenheit, d.h. auf ein Fehlen de facto der Relation hinweist. Einzig ist also im letzten Fall das Sein des Parmenides und es gibt keine Bewegung. Novalis verstärkt diese Zweideutigkeit, indem er sie selbst als der Relation innewohnend betrachtet, und sie daher als Genitiv benutzt: Die Wahrheit, so sagt er schließlich, ist die Form des Scheins, und der Schein die Form der Wahrheit. Von einer Seite zur anderen scheint eine Relation zu existieren, die als illusionär dargestellt wird (es gibt „eigentlich” keine Relation). Ohne den Bruch innerhalb des Einen gibt es keine phänomenale Entstehung, aber trotzdem muss diese negative Größe, der nichtige Schein, das konfliktgeladene Nicht-Sein, sich damit zufrieden geben, „sein zu scheinen”. Die Phänomenalität ist dieser illusionäre Schein, und die Transzendentalphilosophie, die die Bedingungen der Möglichkeit der Erscheinung, bzw. des Scheins, reflektiert, ist doppelt scheinbar. Wir haben also im Herzen einer Reflexion über die Transzendentalphilosophie eine unentwirrbare Mischung von Kritik und Aneignung. Das Risiko des Transzendentalismus wäre tatsächlich, anmaßend an der Täuschung vorbeizugehen, indem man einseitig auf die vermutete Sicherheit des Genitivs setzt (es gäbe also einen klaren Schnitt zwischen dem Sein und dem Bild des Seins). Andererseits würde die Verweigerung, die erwartete transzendentale Fiktion zu verfassen, dazu führen, den Geist der Kritik selbst, verstanden als ständige Selbstkritik seiner eigenen Möglichkeit, zu verfehlen. Wenn man nicht auf diese Zweideutigkeit achtet, wird man nicht verstehen, warum Novalis Jahre später nach den Fichte-Studien noch den Begriff des Transzendentalen bemüht – und diesem immer positiv konnotiert. In einer kurzen !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 125 126 ! WTB, II, 87. WTB, II, 87 . 158 ! Sammlung mit dem Titel Poesie (1798), stellt er ohne Zurückhaltung seine Erwartungen an dieses Thema vor: „Von der Bearbeitung der transscendentalen Poesie läßt sich eine Tropik erwarten – die die Gesetze der symbolischen Construction der transscendentalen Welt begreift“127 . Novalis unterstreicht das Syntagma „symbolische Konstruktion“, und lädt damit dazu ein, die transzendentale Welt ebenso als das Objekt einer Konstruktion wie auch als Objekt einer Interpretation zu denken. Das Symbol ist das, worin uns der Schein, das Bild, diese „Form der Wahrheit“ wirft, welche zu verbinden scheint, aber nicht verbindet. Wenigstens fordert die Tragweite dieses Scheinens, neugeschrieben, neukonstruiert und unendlichfach experimentiert zu werden. Er stellt auch fest: <Die transscendentale Poësie ist aus Philosophie und Poësie gemischt. Im Grunde befaßt sie alle transscendentale Functionen, und enthält in der That das transscendentale überhaupt. Der transscendentale Dichter ist der transscendentale Mensch überhaupt>128 . Novalis appelliert immer an einen Transzendentalismus, den man als „konstruktivistisch“ bezeichnen könnte. Zur selben Zeit kommentiert er Hemsterhuis folgendermaßen: „Wir wissen nur, insofern wir machen“129 . Er wiederholt fast Wort für Wort dasselbe später: „Wir erkennen es nur, insofern wir es realisieren“130. In seinem Kommentar über die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft präzisiert er: /philosophiren ist soviel, als wissenschaften, Gedanken durchdenken, Erkenntnisse erkennen – die Wissenschaften wissenschaftlich und poëtisch behandeln. Sollte practisch und poetisch eins seyn – und letzteres nur absolut practisch in specie bedeuten?131 In den Vermischten Bemerkungen betrachtet er noch das Transzendentale als die höchstentwickelte Sache der Bildung, weil er keinesfalls auf die vielfachen Implikationen des Transzendentalismus verzichtet hat: „Die höchste Aufgabe der Bildung ist – sich seines transscendentalen Selbst zu bemächtigen – das Ich ihres Ichs zugleich zu seyn“132. Die Anspielung auf die Reflexivität Fichtes spielt er hier noch in vollem Maße aus. Man ist als Leser dazu angehalten, die Gesamtheit der Fichte-Studien, inklusive der anscheinend pessimistischsten Textstellen in Bezug auf die Transzendentalphilosophie (unter dem Einfluss des Kreises von Schmid), erneut durchzugehen, und dabei an die Ambivalenz princeps des Dichterphilosophen zu erinnern. Was ist die wahre Natur der fiktiven und symbolischen (d.h. transzendentalen) Konstruktion des Scheins? Ist sie nur abschätzig oder abwertend gemeint? Wenn unser Autor, angelehnt an die Skeptiker von Zeit zu Zeit, flüchtig folgendes schreibt: „Filosofie ist blos für die Theorie – die Sprache – das Denken – sie hat blos regulativen Gebrauch – dieser ist aber nicht verächtlich“133, so ist es immer wichtig bis ans Ende der nur skizzierten Überlegung zu gehen, um sich von neuem mitten auf dem Weg wieder zu finden. Wenn Novalis wieder von Fichte zu Kant zurücktritt, wie manchmal geschrieben wird, ist immer zu bedenken, dass so viel verlangt Kant gar nicht ! Die Ideen können nämlich in den Augen Kants sehr wohl regulativ sein, und trotzdem hat die Transzendentale Logik für ihn eine reale und konstitutive Relevanz, sonst wäre es besser, sich auf Hume zu verlassen (ein Autor, den Novalis bis auf zwei kleine Ausnahmen nie erwähnt)! Nun aber finden wir gelegentlich bei Novalis die Idee, dass die ganze Philosophie streng regulativ ist; anders gesagt, steht hier ständig zur Disposition der Status der Konstruktion. Um es so auszudrücken: Die transzendentale Fiktion kann notwendig nur Fiktion sein. Wir sollten jedenfalls immer aufmerksam der Tatsache gegenüber sein, dass diese, reale, Möglichkeit (d.h. die der Unbeweglichkeit des Seins und der Unmöglichkeit einer bildlichen kreativen Relation im Sein) im Herzen selbst des fiktiven Experimentierens mit dem Schein auftaucht – sie könnte aller Logik nach auch nicht anders(wo) erscheinen. Wie wir gelesen haben, steht tatsächlich kein Ausweg aus dem Schein und der Sophistik auf dem Spielplan. Es ist Sache des transzendentalen „Spiels”, diese besondere Karte auszuspielen. Die Konsequenzen dieser Geste sind für uns deutlich: Wenn die transzendentale Fiktion sich selbst reflektiert und sich dabei illusorisch erscheint, bedeutet dies, dass es also nur die überwältigende Masse des unbeweglichen Einen gibt (bzw. der Wahrheit, wie in oben zitiertem Fragment, oder eben Gott, der alles ist). Diese schreckliche Möglichkeit wird ab und zu bei Novalis unter dem Jacobischen Verzicht auf den Transzendentalismus, unter einer (dem Schein nach) heiteren Rückkehr in das alltägliche Leben, dessen Realität und Beweglichkeit durch einen willkommenen religiösen Glauben abgesichert ist, verschleiert. Die Lösung Jacobis nimmt Novalis nur während der „deflationistischen” Phasen seines „fichteschen und sophistischen Neuplatonismus” wohlwollend auf, al seine weitere Möglichkeit. Ohnehin hält sich Novalis immer eine Hintertür offen. Im vorliegenden Fall lässt sich alles innerhalb des „nicht verächtlichen“ Charakters, des regulativen Charakters der transzendentalen Fiktion !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 127 WTB, II, 325. WTB, II, 325. 129 WTB, II, 218. 130 WTB, II, 220. 131 WTB, II, 220. 132 WTB, II, 238. 133 WTB, II, 61. 128 ! 159 ! ansiedeln. Wenn die „Begriffe überhaupt […] nichts reales“134 sind, wie er erneut gegen Ende der FichteHefte nahelegt, „haben [sie] nur idealen Gebrauch“135 , so scheint er de facto immer wieder bei der „Dichtungskraft“136 darüber zu entscheiden, je nach der Perspektive, die sie zu entwickeln versucht. Und mehrfach muss gesagt werden, dass die transzendentale Fiktion die reale Fiktion, die das Leben des natürlichen Bewusstseins ist, idealisiert – und in diesem Sinne auch reguliert. So muss sich das Leben des jungen Protagonisten in Heinrich von Ofterdingen im Traum und in der Erzählung reflektieren, um sich bewusst zu werden, dass es eine Erzählung ist, und um sich fortan als Erzählung zu realisieren. So ist die fiktive Idealisierung (im deflationistischen Sinne) woanders reale Performanz und reflexive Selbstbezüglichkeit des Lebens im Schein. Wenn der Transzendentalphilosoph in gewisser Weise ein Sophist ist, geht er das Risiko ein, einen ebenso leeren Diskurs zu erschaffen, wie dieser Erschaffer des Scheins. Aber in dem Maße, in welchem der Transzendentalphilosoph, da er auch Neuplatoniker ist, nichts anderes tut, als das verneiende Leere der phänomenalen Erscheinung (die immer ein „nicht“137 ist), indem er über sie nachdenkt, erkennen lässt, muss er immer wieder all das anerkennen, was er der Sophistik verdankt, um überhaupt eine solche Reflexion anstellen zu können. Eingeengt zwischen dem Einen und seinen Erscheinungen, unfähig, ein für alle Mal zu entscheiden, ob die symbolische Konstruktion der transzendentalen Welt – d.h. die notwendige Fiktion – das Reale erdenkt, erschafft, oder auf den Boden des unbeweglichen Einen absinkt, wird der idealistische Magier immer wieder zurück zum Nichts geführt: Zum Nichts seiner Konstruktion, sei sie in Anbetracht des Einen vollständig und ganzheitlich, oder leer und absurd. In seiner Art einzigartig, ist der idealistische Magier im Herzen des romantischen Deutschlands gleichzeitig Metaphysiker und Sophist. Von diesem Standpunkt aus kann man sagen, dass von allen durch den mächtigen Sophistes Platons seither angelegten Wegen nicht nur Novalis es nicht schafft, zu wählen, aber darüber hinaus stellt er die totale Unbestimmtheit und Offenheit zwischen Perspektiven auf, wie das Abenteuer des Denkens und des sinnlichen Lebens, der Schöpfung selbst. Insofern sie sich in der Erstellung des Scheins betätigt, kann sie sich symmetrisch auch ihrer Passivität hingeben, und ihr Nichtwissen als konstitutiv für ihre Endlichkeit, bzw. als konstitutiv für ihre „Situation” des Scheins, welcher überladen ist mit einem auf unendlich viele Arten interpretierbaren Genitiv, anerkennen. In den Geistlichen Liedern lässt sich leicht die zugleich Eckhartsche und Böhmesche Forderung begreifen, das Eine durch die Vision sogar am Ort der Dualität zu erfassen, welche auf problematische Weise an die Identität, und geheimnisvoll an die Unmöglichkeit grenzt, zu wissen, worum es bei der Relation selbst, der bildliche Realität, überhaupt geht (im vorliegenden Fall zwischen Christus und dem Ich): Die Augen sehn den Heiland wohl, Und doch sind sie des Heilands voll, Von Blumen wird sein Haupt geschmückt, Aus denen er selbst holdselig blickt138. Im Zentrum dieser Gesänge, die teils religiösen Zwecken dienen sollten, ermutigt Novalis interessanter Weise die Christen: „Alle nur den Einen“ 139 zu lieben. Er könnte kaum besser Zeugnis von seinem Neuplatonismus ablegen, der sicherlich auf verschiedene Arten von der Sophistik umgewälzt worden ist, wie wir gelesen haben. In der Tradition von Eckhart, wie auch bei Novalis, um sich reflexiv als Abbild des Prinzips140 zu verstehen, genügt es, für sich selbst zu sterben. Für sich selbst zu vergehen ist, wie Alain de Libera sagt, damit gleichbedeutend, „sich selbst im Bild-Sein des Worts zu bilden, während man das Bild frei sein lässt”141. Bei Meister Eckhart ist jedoch die Seele „in der Spiegelvision des Abbildes nichts anders als der bloße Effekt des Grundes”142, d.h. des Seins, da Eckhart diese Begriffe gleichgültig verwendet.! Nun liegt bei Novalis die sophistische Hervorbringung des Effekts auf der Seite der Existenz des Grundes, d.h. auf der Seite des (Ab)Bildes, bzw. des Scheins und nicht auf der Seite des Grundes. Es geht hier nicht darum, zu behaupten, dass das Existierende sich selbst allein erschafft – das steht außer Diskussion – sondern, zu verstehen, dass der Schein der einzige „Ort” ist, an dem sich der Sinn und die Bedeutung der !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 134 WTB, II, 166. WTB, II, 166. 136 WTB, II, 98. 137 Vgl. WTB, II, 88. 138 WTB, I, 196. 139 WTB, I, 191. 140 Der Mensch ist Abbild des Prinzips, in der Mystik von Eckhart, in gleicher Weise wie Christus; daher die Verurteilung Eckharts. Vgl. O. Boulnois, Au-delà des images. Une archéologie du visuel au Moyen Âge, Vè-XVIè siècle, Paris, Seuil, 2008, S. 290. Dieses Gleichsetzen von Christus mit dem „Ich“ im Rahmen des Abbildes wird später von zentraler Bedeutung in der Fichteschen Christologie. 141 A. De Libera, La mystique rhénane, d’Albert le Grand à Maître Eckhart, Paris, Seuil, 1994, S.245. 142 Ibid. S.243. 135 ! 160 ! Phänomenalität entscheidet und spielt. Die Novalissche Nacht ist keine Aufforderung, die Augen, zugunsten einer reinen Selbstaffektion des unsichtbaren Selbst, zu verschließen, so wie sie es in der rheinländischen Tradition möglich ist143 . Zumindest wäre dies Novalis nach nur eine Perspektive, nur eine Art, das (Ab)Bild des Seins zu sein. Die Hauptsache, die sicherlich auch aus der negativen Theologie stammt, ist, zwischen dem nächtlichen „Eröffnungs-Nichtwissen” des Bildes und dem poietischen „Engagieren” für die sinnliche Welt, sozusagen, hin und her zu wechseln: „Die Erkenntniß ist ein Mittel um wieder zur Nichterkenntniß zu gelangen“ 144 bestätigt auch das Fragment 342 des Allgemeinen Brouillon, welches dem Unverständlichen durchaus den Vorzug gibt. Jede Rückkehr zur „Nichterkenntniß“ ist eine Form des Todes, eine einzigartige und auf nichts rückführbare Art – da überladen mit neuen Erkenntnissen und neuen Erfahrungen – die Nacht des Verstehens zu akzeptieren, was bis hin zur Verwechslung mit dieser führen kann: O! sauge, Geliebter, Gewaltig mich an, Daß ich entschlummern Und lieben kann145. Dieser Ruf wird durch nichts garantiert; keinerlei Sicherheit enthüllt sich im sophistischen, fiktiven Bild der Wahrheit, die solcherart in sich selbst verschlossen ist. Die „Chiffre“ der Nacht bietet sich unaufhörlich der Interpretation an: Doch unenträthselt blieb die ewge Nacht, Das ernste Zeichen einer fernen Macht146. Die Nacht ist also ebenso wenig verständlich, wie der Lehrer der Lehrlinge zu Sais – und so etwas, wie eine „Hermeneutik“ von Novalis beginnt sich nun zu entschleiern. Der Lehrer lehrt den Sinn der Mineralien, der Pflanzen und der Tiere nur, indem er die Unübersetzbarkeit, die Dichte auf der jedes Verstehen gründet, in seinem Leib selbst vergegenwärtigt, in seiner Stimme, seinem Mitsein im Raum. Und so wie die Nacht muss man dies so akzeptieren, um am Spiel des Sinns und des Un-Sinns teilhaben zu können: „Den Lehrer kann und mag ich nicht begreifen. Er ist mir just so unbegreiflich lieb“147. Man muss das Unbegreifliche hier nicht mehr als notwendig verherrlichen: Es soll gezeigt werden, dass die Übersetzung, die überall angerufen und angeregt wird, aus einem Zögern hervorquillt, auf eine nicht zurückführbare Dunkelheit, nämlich die des Genitivs, welche uns seit Anbeginn beschäftigt. Dieses Was, das auffordert, in der schöpferischen Einbildungskraft, das heißt im Sinnlichen, zu ek-sistieren, über unendliche Kombinationen, wo Zufall und Notwendigkeit sich gegenüberstehen, ist in seiner Abgeschlossenheit nur dann absolut behütet, wenn es absolut und ganzheitlich durch die Poietik zum Einsatz kommt. Für den magischen Idealismus, so haben wir inzwischen verstanden, geht es nicht darum, zu glauben, dass das „Subjekt“ die „Materie“ erfindet (dieses Agglomerat aus nicht menschlichen Sprachen, die alle „sprechen“ und sich gegenseitig ins Wort fahren). Viel eher ist es sein Anliegen, das Ausmaß zu erkennen, dass das unveränderliche Sein nur als Übersetzung existiert, als Veränderung, die durch die Sprachen der Welt fortlaufend und unendlich wird. Diese Sprachen stellen ein Kräfteverhältnis dar: „Wie sich die bisherigen Philosophieen zur Logologie verhalten, so die bisherigen Poesien zur Poesie, die da kommen soll“148 , schreibt Novalis in der Überzeugung, dass wir den Sinn noch nicht ausreichend als Übersetzung verstehen, das heißt als Erschaffung von Neuem zwischen den Universen, die „sprechen“ (denn „Die idealische Rede gehört zur Realisation der Idealwelt“149). Hier gibt es die Nacht und den Tag, wobei der Tag von seinem Nacht-Rest getragen wird. Fasziniert von den Farben und vom Licht glaubt Novalis – der übrigens eine heute verschollene physikalische Abhandlung über das Licht verfasst hat – dennoch nicht, dass man den Sinn verstehen und teilen kann, ohne radikal zu verstehen aufzuhören, ohne in die Ambivalenz oder in das Zögern dessen abzugleiten, wovon das Bild das Bild ist, und wovon der Sinn der Sinn ist. Dieses Zögern, darauf ist besonders hinzuweisen, lässt sich einzig und allein über das antreffen, was das Bild dem Sein tut, und dessen, was der Sinn der sinnlosen Nacht tut. Denn hinter dem erneuten Schreiben des fichteschen Schwebens im Zögern findet sich die Idee, dass der Sinn, sofern er schöpferisch ist, ein Symptom ist – und die unverständliche Nacht des Leibes dieses pathologische Aufbrechen trägt: „Sind Natur und Kunst schlechthin nicht Krank – und entsteht Kranckheit – blos durch !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 143 Vgl. Ibid. S.243. WTB, II, 536. 145 WTB, I, 159. 146 WTB, I, 163. 147 WTB, I, 204. 148 WTB, II, 324. 149 WTB, II, 351. 144 ! 161 ! fehlerhafte Verbindungen wie Mißgeburt etc. Abortus etc.“150. Diese fehlerhaften Verbindungen in der natürlichen oder künstlerischen Übersetzung des einzigen Seins, diese Schwierigkeiten, die Sprachen des Anderen zu finden, sind Orte, an denen das nächtliche Unverständliche sich ans Tageslicht des Sinns begibt. Daraus wird ersichtlich, dass der Mensch allein nicht das Nicht-Sein zusammenfasst. Als guter Naturphilosoph und als guter Post-Leibnizianer, der an die unbeschränkbare Vielzahl der Perspektiven anknüpft, glaubt der junge Freiberger Wissenschaftler nicht, dass der Mensch das Privileg des Nichts besitzen könnte, das heißt das Verstehen. Die Frage der Natur bei Novalis kann hier nicht entwickelt werden, da sie eine eigene Forschung für sich selbst beanspruchen würde. Die Fragmente, die sich mit den Mineralien, den Pflanzen und sogar mit den Tieren und deren Interaktionen befassen, sind zahlreich. Es ist dennoch darauf hinzuweisen, wie viel Wesentliches die Solidarität zwischen Dichter und Naturphilosoph, die in den Lehrlingen zu Saïs zum Vorschein kommt, uns im Grunde mitteilt: Wenn man ächte Gedichte liest und hört, so fühlt man einen innern Verstand der Natur sich bewegen, und schwebt, wie der himmlische Leib derselben, in ihr und über ihr zugleich. Naturforscher und Dichter haben durch Eine Sprache sich immer wie Ein Volk gezeigt151. Der innere Verstand der Natur (die, einigen Fragmenten zufolge, das Andere des Ichs in sich trägt und vice versa) ist nur für diejenigen zugänglich, die, da sie den sprachlichen und schöpferischen Charakter der Natur anerkennen, sich untereinander verstehen können und den Sinn der Poiesis teilen. Es stellt sich bei Novalis also niemals die Frage, die Außenwelt zu beseitigen. Gewiss, laut einem oft zitierten Ausspruch: „Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg“152 . Aber wenn dies so ist, dann nur deshalb, weil, wenn man in sein eigenes Innerstes, bzw. in den Schoß der Hymnen, hinabsteigt (so versteht Novalis die intellektuelle Anschauung Fichtes), man der kosmischen Nacht begegnet – erinnern wir uns an die Hymnen an die Nacht und ihre Geheimtüren. Es ist bedeutend, dass es die ängstlicheren Schüler sind, die zu Sais fragen: „Was brauchen wir die trübe Welt der sichtbaren Dinge mühsam zu durchwandern? Die reinere Welt liegt ja in uns, in diesem Quell“153 . Sie kennen die unaufhörliche Kommunikation der „Sprachen“ der Welt nicht, oder der „Naturen“ die in den Lehrlingen miteinander sprechen. Sollte man sagen, dass die anthropologische Differenz aus Novalisscher Sichtweise eine absurde Frage ist, da ja der Mensch nur eine poietische Sprache von vielen, nur eine Art, das Einzige Sein vorzustellen und zu ek-sistieren, ist? Sicherlich nicht. Es gibt per definitionem keine in ein System der Systemlosigkeit eingeordnete oder ungültige Frage. Für dieses sind in allererster Linie die Konstruktion und die logische Kombination der vielfältigen Perspektiven (d.h. in der romantischen Sprache die Fragmente) wichtig, gleichzeitig mit der Erprobung der besonderen Effekte im Sinnlichen, die durch die Worte, die Zeichen, die Affekten – so viele Schlüsselelemente des Lebens im Bild, welches ambivalent, instabil ist – erzeugt sind. Wenn „alles spricht“154 wie es der Dichterphilosoph mit Nachdruck schreibt, so spricht und übersetzt alles auf verschiedene Weise. Wahrscheinlich gibt es eine „Sympraxis“155 zwischen den menschlichen und den nicht-menschlichen Sprachen: Ihre Handlungen kreuzen sich und reiben sich aneinander. „Man kann sagen, daß die Natur – oder die Außenwelt über dem Menschen in Rücksicht auf Organisation sey – man kann sagen, daß sie unter ihm, und er das höchste Wesen sey. Sie scheint einem weit höhern Ganzen anzugehören. Ihr Wille – Verstand und Fantasie scheint sich zu dem Unsrigen zu verhalten – wie unser Körper zu ihrem Körper“156. Die anthropologische Differenz kann kein Privileg mehr sein, und auch keine Grenze mehr, die in sich existiert: Das Eigene des Menschen interessiert Novalis nicht sonderlich, da sein ganzes Denken auf das Schlagen und das poietische Wechselspiel der Eigen – und Fremdschöpfung ausgerichtet ist. Dieses Wechselspiel ist eher anzusiedeln in einem „mit-aus-einandersprechen” der Körper. Folglich hängt das Selbstverständnis der Körper – die Übersetzung, die sie schreiben und hervorbringen – am Unvorhersehbaren, das immer von außen eintrifft, und hat definitiv mit diesen „Religiöse[n], !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 150 WTB, II, 495. WTB, I, 206. 152 WTB, II, 232. 153 WTB, I, 212. 154 WTB, II, 500. 155 WTB, II, 496. 156 WTB, II, 773. Es ist anzumerken, dass Novalis bei seiner Naturphilosophie überhaupt wenig von Spinoza beeinflusst ist. Diese Situation ist originell im Kontext vom Nach-Pantheismusstreit. In diesem speziellen Fall ist die ungenaue Kenntnis, die Novalis von Spinoza hatte, nicht der Antrieb für eine gewagte Neuschaffung dieses Problemfeldes. Novalis nach ist die plastische Negativität der Sophistik eher unversöhnlich mit dem „steifen” Denken Spinozas. Vgl. die verdeckte, da leicht ironische Kritik von Novalis im Fragment 958 des Allgemeinen Brouillons (WTB, II, 693): er verweist darin (mit Bewunderung!) auf die „an sich befriedigende“ „kategorische Theologie“ von Spinoza - der also nicht in der Lage war, eine echte Philosophie zu schreiben – die alle andere Erkenntnis vernichtet und selbst den Instinkt der Erkenntnis untergräbt, was zu einer seltsamen Mischung aus Wollust und Euthanaise führt! 151 ! 162 ! moralische[n], geistige[n], poetische[n] Verbrechen“157 zu tun, was Novalis evoziert, der sich nie von seinem Sinn für Überschreitungen abringen lässt. Das bedeutet, dass wir nicht im Voraus die Sprache des Anderen und die Unterschiede, die zwischen unseren Sprachen existieren, in Syntax, Grammatik, Konjugation und Vokabular kennen können, ohne sie zu schreiben, zu sprechen und zu verraten. Wir haben außerdem Schwierigkeiten, unsere „eigene“ Sprache zu verstehen, da wir sie ständig verraten. Dies erklärt wahrscheinlich, warum, nachdem Novalis präzisiert hatte, dass wir uns nie begreifen können, hinzufügt: „aber wir werden und können uns weit mehr, als begreifen“158. Anders gesagt, werden wir uns noch in die Dichte des Begreifens eintauchen, in ihren unverständlichen Grund, um neue Probleme des Begreifens und der Übersetzung schaffen zu können, und so die Unsicherheit des Sinns mit dem Anderen, diesem unbezwingbaren Anderen, zu teilen. Tatsächlich, wie er von Schlegel übernimmt: „Wenn man in einer Mittheilung der Gedanken zwischen absolutem Verstehen und absolutem Nichtverstehen abwechselt, so darf das schon eine philosophische Freundschaft genannt werden“159 . „Ein Universalreallexicon – ist das beste Handbuch“160 – nur existiert es nicht. Zusätzlich ist keines der Wörter dieses Lexikons mit einem metaphysischen Sinn an sich beladen, der in den Buchstaben fixiert wäre; der Sinn ereignet sich nur in der einen und bestimmten Handlung, das Wort auszusprechen, und es damit zum Leben zu erwecken: „Was ist mehr, wie Leben?“161 fügt Novalis hier übrigens vielsagend hinzu. Es wäre falsch den lebendigen dynamischen Perspektivismus Novalis‘ mit einer Philosophie, die die Fixierung der Bestimmungen vernachlässigt, zu verwechseln, denn die „Stabilisierung” spielt zu gleichen Teilen mit der Bewegung in ihrer metaphysischen Spekulation, in der Praxis der Naturwissenschaften und der Literatur. In der Lage, sich in sich selbst versunken zu erfahren, gefangen in seiner „Gestalt”, bewusster als sonst einer über die Schwierigkeit, Einfluss auf das Schicksal zu haben, über den Ausweg aus der zwanghaften Wiederholung, also der Fatalität – man braucht nur einen Blick in die Tagebücher zu werfen – unterstreicht Novalis de facto den teils aporetischen, manchmal gar unmöglichen Charakter der „Übersetzung“ von Sinn. So vermeidet er die Verwechslung der Übersetzung des Anderen mit der unverhofften Verwandlung ins Andere und er bemüht dabei keine Apologie des reinen Werdens. So vermeidet er sorgfältig, die Einzigartigkeiten praktisch untereinander austauschbar zu machen (das wäre die Falle jedes zu ernsten Nomadentums). Wir müssen also versuchen, der ursprünglichen Perspektive und der Problematik von Novalis zu ihrem Recht zu verhelfen. Das Universalreallexikon existiert nicht, da das Wirkliche selbst ein Wortschatz im Werden ist: Ein sinnliches, tastbares Buch, das eine unendliche Masse an Worten aller Längen, hervorgehoben oder ausgestrichen, ihren unauslöschlichen Stempel dem Papier aufdrückend, und dennoch kontinuierlich neugeschrieben, enthält. Das Wirkliche ist also, da man von ihm spricht, die Poiesis selbst, wie es das oben zitierte Fragment aufzeigt: „Die Poesie ist das ächt absolut Reelle. Dies ist der Kern meiner Phil[osophie]. Je poetischer, je wahrer“162 . Wenn der Übersetzer in diesem Rahmen der Dichter des Dichters ist – davon sind wir zu Beginn ausgegangen – ist der Mensch im Allgemeinen vielleicht der Übersetzer des Übersetzers. Der Deutsche Idealismus mit seiner Versessenheit auf das Selbstbewusstsein schwingt bei Novalis immer mit. Aber das ist eine andere Geschichte. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 157 WTB, II, 420. WTB, II, 229. WTB, II, 233. 160 WTB, II, 420. 161 WTB, II, 420. 162 WTB, II, 420. 158 159 ! 163