kurzgeschichte

Werbung
KURZGESCHICHTE
von Claudia Gürtler*
in Knall zerriss die frühmorgendliche Stille.
Jaromir Seiler fuhr aus dem Schlaf
und stand mit dem linken Fuss auf.
Der Tag war also bereits gelaufen!
Er tappte auf blossen Füssen ins Badezimmer. Unterwegs ereilte ihn der erste einer ganzen Reihe von Unglücksfällen: Er trat in einen Reissnagel.
Verzweifelt hüpfte er auf dem rechten
Fuss, obwohl er seit seiner letzten
Schulturnstunde vor 18 Jahren nicht
gehüpft war, und so verstauchte sich
Jaromir den Fuss.
Durch die Lupe betrachtet nahm die
Stichverletzung durch den Reissnagel
bedrohliche Ausmasse an. Jaromir
überlief es kalt. Wenn Bakterien eindrangen, war ihm eine schwere Infektion sicher.
Er konnte sich aber nicht überwinden,
die Wunde zu desinfizieren – Desinfektionsmittel brennen höllisch! –
und kompensierte mit einem dicken
Verband, den er skeptisch betrachtete.
War er nun rundum gut verbunden?
Oder sollte er die Ambulanz rufen?
Dass er in einer Stunde ein wichtiges
Kundengespräch hatte, fiel ihm ein,
als er sich beim Rasieren schnitt. Wie
peinlich! Weder vor dem Kunden noch
vor seiner Freundin Svenja wollte Jaromir wie ein Schuljunge dastehen, der
wenig Übung mit der Rasur hatte.
Svenja sah stets perfekt aus, denn sie
joggte morgens im Park.
Jaromir setzte Kaffee auf. Brot war keines da. Er sah auf seine Füsse hinunter
und wollte in der Bäckerei anrufen;
man solle ihm frische Croissants bringen. Das Telefon klingelte ins Leere,
und Jaromir wunderte sich. Als er die
Espressomaschine vom Herd nahm,
schwappte heisser Kaffee über seine
Finger. Er suchte nach Eiswürfeln. Vergebens. Es waren keine da. Zum ersten
Mal an diesem schwarzen Morgen
fluchte er laut – und quetschte sich die
Finger, als er die Kühlschranktür zuschlug.
Missmutig schlürfte er seinen Kaffee
und vermisste die Croissants. Natürlich hätte er sie selbst holen können,
aber eine Wespe hätte ihn belästigen
und stechen können. An einem Tag
wie diesem wäre er unterwegs vermut-
45
Illustration Peter Wanner
E
Gut verbunden –
ein rabenschwarzer Tag im
Leben des Jaromir Seiler
lich auch von einem Hund gebissen
worden. Auf der Flucht wäre er gestürzt und wäre mit dem Kopf auf dem
Gehsteig aufgeschlagen …
Jaromirs Gedankenfluss wurde durch
das Rappeln des Briefkastens unterbrochen. Der Zeitungsmann hatte die
Zeitung eingeworfen, pünktlich um
sechs, wie immer.
Ungewohnt spontan beschloss Jaromir, die Pechsträhne anzunehmen
und den Kundentermin fahren zu lassen. Er würde seinen Job verlieren und
Svenja nie wiedersehen, dafür aber ein
neues Leben beginnen: Ein langweiliges und ungefährliches Leben innerhalb seiner vier Wände, wo alle seine
Knochen heil blieben.
Jaromir machte es sich mit der Zeitung
gemütlich. Als er sie aufschlug, fiel es
ihm wie Schuppen von den Augen. Es
war Sonntag! Das Knallen, das ihn geweckt hatte, war die Fehlzündung von
Nachbars Motorrad gewesen, der zu
seiner sonntäglichen Drei-Pässe-Fahrt
aufbrach. Die Bäckerei war geschlos-
sen, und Jaromir hatte keinen Termin
und keine Chance verpasst. Morgen
würde der Schnitt im Gesicht kaum
noch zu sehen sein, und das Kundengespräch würde problemlos über die
Bühne gehen.
Jaromir liess das Telefon bei Svenja
klingeln, bis sie ausser Atem den Hörer
abnahm. Sie kam gerade vom Joggen
zurück.
Dann kroch er unter die Decke zurück.
Svenja würde am Bahnhof Croissants
für ihn holen, denn ein Patient, der
sich am selben Tag geschnitten und
verbrüht hatte, der eine Stich- und
eine Platzwunde hatte, vom Hund gebissen und von der Wespe gestochen
worden war, hatte ein Anrecht auf
Trost.
Liebevoll betrachtete Jaromir das Telefon. Es ging eben nichts über gutes
Verbunden-Sein!
*Claudia Gürtler ist Autorin und Bibliothekarin.
Auf www.graueinsel.ch stellt sie sich und ihre
Bücher vor. Sie lebt in Allschwil (BL).
Herunterladen