Demenz und Wertekultur

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Demenz und Wertekultur
Ethische und zivilgesellschaftliche Perspektiven
Fachtagung TERTIANUM Bildungsinstitut ZfP
Donnerstag, 28. Januar 2010, Kongresshaus Zürich
Pressemitteilung
Ralf Baumann
9300 Zeichen (mit Leerzeichen)
Die vom Tertianum Bildungsinstitut ZfP veranstaltete Fachtagung „Demenz und
Wertekultur“ im Kongresshaus Zürich stiess auf grosse Resonanz. Über 350
Teilnehmer, wollten sich aus erster Hand über ein „zivilgesellschaftliches Thema
informieren, welches nicht nur den Fachexperten überlassen werden darf“, wie
Tagungsleiter Carsten Niebergall formulierte. Dialog zwischen Ethikern und
Praktikern stand im Mittelpunkt der Tagung, um einen nicht-diagnostischen
Blickwinkel auf das Thema "Lebensfeld Demenz" zu ermöglichen. "Es geht um die
Erfindung neuer Netze der Freundschaft und darum, Menschen mit Demenz vor
allem als Mitbürger anzusehen“, betonte Niebergall.
Alzheimer und Ich
Angesichts von über 100000 Betroffenen und 300000 Angehörigen allein in der
Schweiz besteht Diskussionsbedarf, wie ein Leben mit Demenz nach ethischen
Gesichtspunkten gestaltet werden kann. Und dabei auf die Betroffenen zu hören.
Mit Spannung wurde deshalb das Referat des Psychologen und Demenzaktivisten
Richard Taylor aus Texas erwartet, dessen Buch „Alzheimer und Ich“ (Huber
Verlag) auch im deutschsprachigen Raum für Aufsehen sorgt. Nachdem vor neun
Jahren bei Taylor „eine Demenz, vermutlich Typ Alzheimer“ diagnostiziert wurde,
erklärt der 67-Jährige in Büchern, Referaten, Interviews und auf seiner Website
(www.richardtaylorphd.com), wie es sich mit „Dr. Alzheimer im Kopf“ lebt. Ohne
die Unterstützung durch seine Frau Linda wären öffentliche Auftritte für Taylor
nicht mehr möglich.
In Zürich berichtete Taylor in seinem berührenden und fesselnden Vortrag, wie
es ist, wenn man „auf sein Gedächtnis viel weniger zugreifen kann, wie Sie auf
Ihr Gedächtnis“. Taylor stellte in den Mittelpunkt seiner Ausführungen nicht die
Probleme, die Menschen mit Demenz ihren Angehörigen, Pflegern und Fachleuten
bereiten, sondern einen moralischen Imperativ im Sinne des kategorischen
Imperativs, wie er von Immanuel Kant definiert wurde (Handle so, dass die
Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könne).
„Jeden Tag bin ich dankbar, dass ich nicht der durchschnittliche Demenzkranke
bin, denn so einen durchschnittlichen Kranken gibt es gar nicht“, betonte Taylor.
Menschen ohne Demenz würden solche Kategorisierungen ausdenken, „damit es
einfacher wird uns zu verstehen.“ Doch viel wichtiger sei es, den Demenzkranken
nicht als anormal, sondern als Mitmenschen zu sehen – bis zum Tod. „Ich bin
keine Hülle, ich werde bis zum Moment meines Todes Richard sein.“ Eine
humanisierende Demenzpflege stellt das Individuum nicht den
„Durchschnittskranken“ in den Mittelpunkt und soll diesem ermöglichen, im
Heute zu leben und sich nicht daran orientieren, „wer ich gestern war“. Der
Erfolg einer Pflege bemesse sich nicht daran, wie lange Menschen mit Demenz
leben, sondern an der Lebensqualität der Menschen, so Taylor. Und dies gelte
nicht nur für Menschen mit Demenzsymptomen. Eine allgemeine
Gesundheitsfürsorge für jeden Bürger sei ein moralischer Imperativ, sagte Taylor
mit Blick auf die aktuelle Diskussion in den USA über die von Präsident Obama
beabsichtige Einführung einer staatlichen Krankenversicherung.
Alzheimer als Schreckbild
Dass eine solidarische Gesellschaft Alzheimer-Demenz nicht weiter als ein rein
medizinisches Phänomen definieren sollte, für dessen Behandlung allein Experten
zuständig sind, forderte Dr. Verena Wetzstein von der Katholischen Akademie
Freiburg im Breisgau. Ihre Thesen: Die vor rund 30 Jahren von der Medizin
erfolgte Definition der senilen Form der Alzheimer-Demenz ist ohne grossen
Widerspruch in den gesellschaftlichen Diskurs übernommen worden. Der
Pathologisierung folgte die Dämonisierung. Alzheimer-Demenz wurde zu einem
gesellschaftlichen Schreckbild. Politik und Gesundheitswesen bedienen sich der
medizinischen Kategorien und ärztlichen Terminologie, ohne sie zu hinterfragen.
Dr. Wetzstein fordert dagegen ein integratives Modell, welches die Medizin von
ihrer Alleinverantwortung entlastet und die Gesellschaft in die Pflicht nimmt.
Dazu bedarf es eine Ethik der Demenz, die einzig von der Grundannahme
ausgeht, dass allen Menschen die Gesamtheit ihres Lebens über die gleiche
Würde zukommt. Die einseitige Fixierung auf die Kognition vernachlässige die
leib-seelische Einheit des Menschen, so Wetzstein. Eine fürsorgliche Gesellschaft
müsse das Wohlergehen dementer Menschen in den Mittelpunkt ihrer
Bemühungen stellen.
Ausgrenzung und Ghettoisierung
Prof. Dr. Helmut Bachmaier, wissenschaftlicher Direktor der TERTIANUM-Gruppe
Schweiz, stellte in seinem Beitrag „Menschenwürde bei Demenz“ klar, dass aus
ethischer Sicht nicht zwischen Kranken und Nicht-Kranken unterschieden werden
dürfe. Dies wird oft vergessen, wie das Beispiel der „Ethischen Richtlinien für die
Altersheime der Stadt Zürich“ zeigt. Darin wurde die Würde mit dem Begriff
Selbstachtung gekoppelt. Letztere wurde dementen Menschen abgesprochen und
somit die Menschenwürde in Frage gestellt. Auch wenn diese „fatale
Gleichsetzung“ (Bachmeier) nach öffentlicher Kritik in einer zweiten Fassung der
Richtlinien korrigiert wurde, ist es ein Beispiel, wie leichtfertig demente
Menschen ghettoisiert werden. „Jede Ausgrenzung in Bezug auf die
Menschenwürde ist ein Kainsmal“, fasste Bachmaier zusammen. „Man schützt die
Würde der Menschen nicht, indem man sie einsperrt.“ An die Adresse der
Pflegenden appellierte Bachmaier, mehr Selbstbewusstsein zu zeigen. „Sie
können sich auf die Erklärung der Menschenrechte berufen, das kann kein
Banker.“
Die Autonomie des Augenblicks
Dr. Heinz Rüegger vom Institut Neumünster stellte die Herausforderungen für
Pflege und Betreuung in den Mittelpunkt seines Referates „Zum moralischen
Anspruch demenzkranker Menschen“. Es stehe niemandem zu, das Leben von
Demenzkranken als „unwertes Leben“ zu bewerten, nur weil es den in unserer
Gesellschaft zentralen Aspekten von Leistungsfähigkeit (Produktivität), Vernunft
(Rationalität) und Selbstbestimmung (Autonomie) nicht entspricht, betonte der
Theologe und Seelsorger. Wenn Demenzkranke ihre Fähigkeit verlieren, autonom
zu entscheiden, ist es die Pflicht derer, die sie betreuen und pflegen,
stellvertretend für sie in ihrem Sinne zu entscheiden. Patientenverfügungen
werden meist von noch nicht dementen Personen verfasst, die sich kaum wirklich
in die Lebenswelt einer demenzkranken Person einfühlen können, gab Rüegger
zu bedenken. Doch wer will beurteilen, ob sich die Meinung eines Patienten nicht
geändert hat? Die Pflege und Betreuung von demenzkranken Personen sollte
nicht auf Vorausverfügung für eine pauschal als unerwünschte Lebensform
aufbauen, sondern von einer „Autonomie des Augenblickes“ ausgehen und sich
an den aktuellen Gefühlen, Wünschen, Bedürfnissen und Impulsen des
demenzkranken Menschen auszurichten. „Wir als Profis stehen vor einer
anspruchsvollen Aufgabe, wenn wir das ernst nehmen wollen“, betonte Rüegger.
Ekel und Skandale
Doch wie sieht es im Pflegealltag aus? Diese Frage thematisierte Michael
Schmieder, Leiter des Krankenheim Sonnweid in Wetzikon, anhand eines TabuThemas: Über den Umgang mit Ekel in der Pflege und Betreuung. Schmieder
erinnerte an den Skandal in einem Zürcher Pflegeheim, als Pflegepersonal
Patienten nackt filmte und demütigte. Vor einem Jahr erregte das Thema
kurzfristig die Medien, inzwischen ist es aus den Schlagzeilen verschwunden.
„Die Politik hat nicht reagiert“, stellte Schmieder fest. Stattdessen soll in der
Pflege mit weniger Geld noch mehr geleistet werden.
„Wer von Ihnen kennt nicht den Geruch von Urin, Kot und des beginnenden
Todes?“, fragte Schmieder die Tagungsteilnehmer. Ekel wird erzeugt durch ein
Zusammenspiel aller uns zur Verfügung stehenden Sinne und durch die
Unmöglichkeit, Teile der Sinne auszuschalten. Der Geruchssinn vereint alle Sinne
(Ich kann dich nicht riechen), das Auge dagegen kann Distanz schaffen,
Menschen werden zu Objekten degradiert, wie im Falle des zuvor erwähnten
Pflegeskandals. Weil in der Pflege Ekel nicht mit Einmalhandschuhen beseitigt
werden kann, können Pflegende nur den Umgang mit Situationen lernen, die Ekel
erzeugen. „Die Enttabuisierung des Ekel ist das oberste Gebot“, sagte Schmider.
Im Pflegealltag muss darüber gesprochen werden, wie Situationen entstehen, die
Ekel auslösen. Nur so kann man sich darauf vorbereiten und daran gewöhnen.
Fragen aus dem Publikum
In der abschliessenden Podiumsdiskussion sagte Millie Braun, Stationsleiterin
Sonnweid, dass in der praktischen Arbeit mit ethischen Dilemmata wie Ekel nur
folgendes helfe: Beim Rapport darüber reden und sich weiterbilden. „Deshalb
sind bei dieser Tagung auch so viele Pflegende anwesend.“ Richard Taylor
forderte die Anwesenden auf, von Demenz betroffenen Menschen zu helfen,
„damit wir unsere Ansprüche durchsetzen können.“ Im Publikum schilderten auch
einige Angehörige von Pflegebedürftigen ihre Erfahrungen. Ihre Bitte: die
Ressourcen der Angehörigen mehr zu nutzen. Und auf die Frage aus dem
Publikum, wie man das Thema Demenz und Wertekultur jenseits von
Pflegeskandalen auf die politische Agenda setzen kann, antwortete Dr. Heinz
Rüegger, dass im Mai im Bundeshaus eine „Charta zum zivilgesellschaftlichen
Umgang mit Demenz“ überreicht werde. „Wir hoffen, dass mit der Charta eine
öffentliche Diskussion eröffnet wird“, so Rüegger. „Damit auch die Politik einen
Druck von unten spürt.“
Download der Referate unter www.zfp.tertianum.ch
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