Inhaltsverzeichnis 1. Vorwort ................................................................................................................................... 1 2. Entstehungsgeschichte und Kompositionstechnik ................................................................ 3 3. Wirjag thudjad… - Blume, du sollst wissen........................................................................... 5 3.1. Analyse ........................................................................................................................... 5 3.2. Interpretatorischen Aufgaben und Schwierigkeiten ........................................................ 7 4. Székelymángorló - Geschnitzte Szekler Wäschemangel ...................................................... 10 4.1. Analyse .......................................................................................................................... 10 4.2. Interpretatorische Aufgaben und Schwierigkeiten ....................................................... 13 5. Sírkereszt a mecseknádasdi temetőben - Grabkreuz auf dem Friedhof von Mecseknádasd 15 5. 1. Analyse ......................................................................................................................... 15 5. 2. Interpretatorische Aufgaben und Schwierigkeiten ...................................................... 18 6. Schlussfolgerung .................................................................................................................. 20 7. Literaturverzeichnis………………………………………………………………..…..…...21 0 1. Vorwort György Kurtág ist zusammen mit Béla Bartók, Zoltán Kodály und György Ligeti einer der bedeutendsten ungarischen Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts. Eine besondere Rolle in seinem Œuvre spielen Liederzyklen, von denen ich Három régi sírfelirat (Drei alte Inschriften) op. 25 (1986-1987) zum Thema meiner Arbeit gewählt habe. Obwohl dieses Stück nur aus drei Liedern besteht, weist es doch eine reiche Auswahl der kompositorischen Techniken und Neuerungen Kurtágs auf: Wir erkennen die schlichte Thematik sowohl in den Texten als auch in den Melodienstrukturen; wir finden dodekaphone wie auch tonale Strukturen; ein Zusammenhang bzw. ein enges Verhältnis von Text und Musik sowie die musikalischen Darstellung verschiedener Symbole sind auch deutlich zu beobachten. Als Vorbild dieses Zyklus kann der dritte Satz von Bornemisza Péter mondásai (Die Sprüche des Péter Bornemisza) op. 7 (1963/68, rev. 1978) angesehen werden. Dort erscheinen zum ersten Mal der Tod und die Blume als Thema eines Liedes. Ein wichtiges Motto Kurtágs ist die Blume als Mensch.1 Der Zyklus Drei alte Inschriften stellt diese Themen ausführlich dar und verteilt die einzelne Themenmotive auf drei Lieder. Im Zusammenhang mit dem Tod und der Blume sind drei grundsätzliche Gedanken im Bornemisza-Text ausgedrückt, die in den Drei alten Inschriften auch erwähnt werden: die Blume als Symbol von fehlbaren, zerbrechlichen Menschen und die Trauer (erster Satz); der Weg zum Tod, der Durchgang durch die Pforte des Todes, und das Leid und Elend des Lebens (zweiter Satz); und der Blumengarten als Symbol für die Ruhe nach dem Tod (dritter Satz). So ergeben die Texte der drei Lieder einen komplexen Gedankenkreis über Trauer, Leid und die letzte Ruhe. Die vertonten Texte beider Zyklen stehen auch zeitlich nahe zu einander. In den Vokalstücken von Kurtág finden wir überwiegend Texte moderner Schriftsteller, unter anderem von Franz Kafka, Samuel Beckett, Dalos Rimma; ab und zu werden auch ältere Schriftsteller wie Hölderlin oder Petőfi vertont, die ältesten Textvorlagen sind aber (mit der Ausnahme eines SapphoFragments2) in diesen beiden Zyklen verarbeitet worden. Die Neuartigkeit von Kurtágs Liedern entsteht dadurch, dass er neue Kompositionstechniken und mit einem „stile rappresentativo“3mischt. Dieses Verfahren entdeckte Kurtág während des Studiums der Gabrieli- und Schütz-Literatur für sich und benutzte es erstmals in Bornemisza Péter 1 2 Moldován: Tisztelet Kurtág Györgynek, S. 115. Sappho: Dedike Men A Selanna für Stimme auf einen altgriechischen Text. Hommage à Konstanzia Gourzi, EMB.Work in progress, (Das Stück soll später in ein Liederbuch eingehen., Komponisten der Gegenwart, S. 18) 3 Fricke/Spangemacher: György Kurtág, Komponisten der Gegenwart, S. 5 1 mondásai (Die Sprüche des Péter Bornemisza) op. 7. Die Musik ist kompakt, gleichzeitig in der Form frei, Text und Musik hängen eng mit einander zusammen. Die Musik reagiert besonders sensitiv und ohne Verzögerung auf die kleinsten Nuancen im Text bzw. darauf, was zwar im Text nicht steht, aber geahnt wird. (Kurtág vertont oft Textfragmente, etwa von Kafka, Sappho oder Attila József; auch das erste Lied der Drei alten Inschriften ist ein Fragment. Für Kurtág ist die ausführliche und sorgsame Ausarbeitung seiner Werke von großer Bedeutung: „Ich versuche jene Kürze zu erreichen, in der alle Momente wesentlich und wichtig sind und alles Überflüssige wegzulassen, also den meisten Ausdruck und Inhalt mit den wenigsten Tönen zu vermitteln.”4 Adrienne Csengery berichtete über die gemeinsame Arbeit mit Kurtág: „Manchmal musste ich einen Ton fünfzigmal wiederholen, solange, bis endlich das entstanden ist, was er hören wollte.“ Der Ausdruck ist wichtig, aber keine Ausdrucksmittel dürfen den schönen Klang gefährden.“Aus diesem Bericht wissen wir auch, dass Kurtág seine Stücke oft durch Beispiele aus Mozart-Opern oder Schubert-Liedern veranschaulichte und so seine Sängerinnen auf die richtige seelische Einstellung und musikalische Formulierung hinführte.5 Kurtág-Stücke wirken oft wie eine Improvisation. Laut Csengery war der Komponist in der Probenarbeit stets offen für neue Möglichkeiten, weil er immer die beste Verwirklichung suchte. Es ist wichtig für Interpreten, die seine Stücke spielen, nie nur eine „fertige“ Version zu wiederholen, sondern immer für den entsprechenden Ausdruck im Moment offen zu bleiben. Dazu sagt Csengery: „für ihn ist nicht das Ergebnis wichtig. Ihn interessiert es nicht, dass ich im Moment alles löse, was er als Aufgabe vorschrieb. Er interessiert sich dafür, dass ich den guten Weg zur guten Lösung gehe.“6 Ziel meiner Arbeit ist es, kompositorische und interpretatorische Aspekte der Drei alten Inschriften vor dem Hintergrund von Kurtágs Vokalschaffen vorzustellen. 4 Moldován: Tisztelet, S. 108 5 Interiew mit Adrienn Csengery, Moldován: Tisztelet, S. 193 6 Moldován: Tisztelet, S. 195 2 2. Entstehungsgeschichte und Kompositionstechnik György Kurtág komponierte den Zyklus Drei alte Inschriftenin den Jahren 1986 und 1987. Das Hauptthema der Stücke sind Liebe, Tod und Trauer. Zu dieser Zeit hatte Kurtág bereits zwei großen Liederzyklen vorgelegt, Bornemisza Péter mondásai (Die Sprüche des Péter Bornemisza) für Sopran und Klavier op. 7. (1963/68, rev. 1978) und Poslanija pokojnoj R.V. Trusovoj (Botschaften des verstorbenen Fräuleins R.V. Trusova) für Sopran und Ensemble op. 17 (1976/1980). In der Probenphase der Trussova-Lieder hat er die ungarische Sängerin Adrienn Csengery kennengelernt, für die er in der Folge weitere Liederzyklen schrieb7. 1988 sang Csengery die Uraufführung der Drei alten Inschriften; der Pianist war Zoltán Kocsis. Die beiden Künstler haben den Zyklus auch als erste auf CD aufgenommen.8 Dieser Zyklus besteht aus drei Liedern. Die Anordnung der drei Sätze folgt in den Grundzügen einer ABA-Form: das erste und das dritte Lied sind langsam, haben eine ruhigere Stimmung und stellen deshalb einen großen Kontrast zum mittleren Stück dar, das eine tragische Geschichte erzählt und eine von Wutausbrüchen und schweren Gefühlen geprägte Atmosphäre hat. Die vertonten Texte sind chronologisch angeordnet: 1. Wijrag tudjad (1490) 2. Székelymángorló (1792) 3. Sírkereszt (1939) Die Reihenfolge der Kompositionen, nach Entstehungsdatum9: 1. Wijrag tudjad (26.-27.11.1986) 3. Sírkereszt (3.-4.12.1986) 2. Székelymángorló (7.2.1987) 7 Folgende Lieder hat Kurtág Adrienn Csengery gewidmet: Hét dal (Sieben Lieder) Op. 22 (1981), Stseni iz romana (Szenen aus einem Roman) Op. 19 (1981/82). Die folgenden Werke wurden durch Adrienne Csengery uraufgeführt und/oder eingespielt: Eszká emlékzaj (Eszká Erinnerungsgeräusch) Op. 12 (1975), Aufnahme: 1999 Hungaroton, Kafka-Fragmente Op. 24 (1985/1987) Uraufführung: 1987 Witten, Requiem po drugu (Requiem für den Geliebten) Op. 26 (1986/87), Uraufführung: 1989 London, József Attila töredékek (Attila József – Fragmente) Op. 20 (1981/82), Uraufführung: 1982 Budapest. 8 9 COL LEGNO WWE 2CD 31870 (1994) Portrait-Konzert, Salzburg Die Entstehungs- und Revidierungsdaten sind von Kurtág in der Partitur am Ende jedes Liedes vermerkt. 3 Der Liederzyklus ist geprägt von der gleichzeitigen Verwendung verschiedener Kompositionstechniken, die Kurtág von Vorbilden übernommen und weiterentwickelt hat: Im Aufbau und in der Kompaktheit des ersten Liedes ist ein deutlicher Einfluss von Webern zu spüren: Das Stück entwickelt sich aus Varianten einer sechstaktigen Melodie. Im zweiten Lied sind die großen Intervallsprünge ebenso als Webern-Reflexionen zu verstehen. Der Einfluss Bartóks ist ebenfalls zu beobachten: Im zweiten Lied finden wir innerhalb eines Taktes Zweier- und Dreier-Achtelgruppen. Diese Rhythmusgliederung übernahm Bartók aus der osteuropäischen Volksmusik und verwendete sie häufig in seinen Stücken. Betont werden in diesen Takten oft die letzten Achtelgruppen, was ein typisches Phänomen im ungarischen Volkstanz ist (Abb.1). Den Einfluss von Strawinski und Bartók können wir auch in der Verwendung des Ostinato erkennen (3. Satz, T. 10-21). Das dritte Lied schließlich ist ein gutes Beispiel dafür, dass Kurtág dodekaphone und tonale Harmonik mischt. Abb. 1: Kurtág, Drei alte Inschriften, 2. Satz, T. 16, Einflüsse von Bartók und ungarischer Volksmusik in Rhythmus und Akzenten. 4 3. Wijrag thudjad... – Blume, du sollst wissen... 3.1. Analyse Das Stück wurde am 26. und 27. November, 1986 komponiert und am 11. Februar 1987 revidiert. Der Text ist ein Fragment des ältesten erhaltenen ungarischen Liebesgedichts aus dem Jahr 1490. Der mutmaßliche Dichter, János Gugelweit, schrieb den Text auf ein Pergamentpapier, das später aber zur Buchbindung genutzt und deshalb mit Chemikalien behandelt wurde: so blieb nur noch dieses Fragment unversehrt10: Altungarisch Modernes Ungarisch deutsche Übersetzung Vyragh thudyad, theuled el Virág tudjad, tőled el kell Blume, du sollst wissen, ich muss kell mennem, mennem, fort von dir, És the yerthed kel gyazba És te éretted kell gyászba und deinetwegen muss ich mich in ewelteznem. öltöznöm. Trauer kleiden. (Aus dem Ungarischen übersetzt von Wilfried Brennecke) Die Grundmotive im Stück sind die Liebe und die damit verbundene Trauer. Das „Blumenmotiv”, das auch in anderen Kurtág-Stücken oft auftaucht11, prägt die Stimmführung dieses Liedes entscheidend: Beim ersten Blick auf das Notenbild fällt auf, wie die Stimmen im Gesang und in der Klavierbegleitung einander gegenseitig umspinnen – etwa wie die Ranken eines Rankengewächs. Die wellenförmige Melodielinie und die ineinander umschlingenden Phrasenbögen sind weitere Kennzeichen dieses Motivs (Abb. 2). 10 http://hu.wikipedia.org/wiki/Soproni_vir%C3%A1g%C3%A9nek 27.08.2014 11 Die Sprüche des Péter Bornemisza III – Tod, S.33, 40 Editio Musica Budapest 1973, Virág az ember… (Blumen die Menschen…) in Játékok, Band I, 1973–79, Editio Musica Budapest 1979, und in Játékok, Band VIII, 1982–2005, Editio Musica Budapest 2010 5 Abb. 2: Kurtág, Drei alte Inschriften, 1. Satz, T. 1-6. Die zwei Verse des Textes gliedern auch die Musik. Beiden Versen weist Kurtág eine eigene, spezifische Musik zu, die bereits im Klaviervorspiel in Form von Frage (T. 1-3) und Antwort (T. 46) vorgestellt werden: 1. eine kuppelartig nach oben führende und danach wieder absteigende Melodie; 2. eine in Quinten absteigende schreitende Melodie. In diesem sechstaktigen Vorspiel werden alle Stufen der zwölftönigen Tonleiter erreicht, aber so, dass der erste Teil (die Frage, T. 1-3) die eine Seite des Quintenzirkels aufsucht (h, fis..., ais,) und der zweite Teil (die Antwort, T. 4-6) die andere Seite (f, c..., e), obwohl es in beiden Teilen zusätzliche Töne gibt. Am Anfang ist die Dynamik pppp, lontano; im Vorspiel flüstert die Sängerin zwei Bruchstücke, die beiden Gedichtzeilen entnommen sind. Im ganzen Stück gibt es nur eine einzige poco forte-Stelle (T. 19), sonst verbleibt die Lautstärke immer zwischen ppppp und mp. Die zurückgenommene, „immaterielle“ Dynamik scheint zu symbolisieren, dass die Anwesenheit der Geliebten nur imaginär ist. Im ersten Teil (T. 1-15) des Satzes hören wir den ersten Vers des Gedichts zweimal, aber jeweils mit anderer Wortfolge. Das Klavier imitiert zunächst die Motive der Singstimme eine kleine bzw. große Sekunde tiefer als Echo (Takte 7-12). Ab Takt 13 imitiert und verziert das Klavier die durch ein pp hervorgehobene fallende Sekunde der Gesangsstimme. 6 Der zweite Teil (T. 16-24) beginnt mit einem durchgehenden crescendo, das auf den Worten „gyazba ewlteznem” (in Trauer kleiden) im poco forte endet. Auch der zweite Vers wird zwei Mal gesungen, wiederum mit veränderter Wortfolge. Die Begleitung imitiert auch hier die Melodie der Singstimme eine kleine Sekunde höher und variiert dabei deren Rhythmik (T. 16-21). 3.2. Interpretatorische Aufgaben und Schwierigkeiten Die auffallendste Herausforderung des Stückes ist die Rhythmik. Es ist keine Taktart angegeben; die Takte beinhalten freie Rhythmen, oft ohne konventionelle Notenwerte. Die Notenwerte in Singstimme und Begleitung variieren häufig, als wären sie zwei unabhängige, frei strömende Ebenen. Abb.3.: Zeichensystem von Kurtág aus Hét dal (Sieben Lieder) Op. 22, EMB, 1997, S. 16 Das Notenlesen wird zudem dadurch erschwert, dass Kurtág eigene Rhythmus-Zeichen benutzt (Abb. 3), die die geschriebenen Notenwerte verlängern oder verkürzen. Im Notenbild Kurtágs scheint dennoch alles eine genaue Bedeutung zu haben. Er benutzt detaillierte Anweisungen und notiert auch die relative Dauer von Zäsuren. Die Zäsuren sind für Kurtág 7 insgesamt von großer Bedeutung. Er arbeitete, vergleichbar mit Luigi Nono, ein eigenes Zeichensystem für die verschiedenen Zäsurlängen heraus. Die kürzeste Zäsur ist dabei kaum zu spüren. Auch Kurtágs Tempoanweisungen sollten nicht immer im Sinne traditioneller Charakterund Tempoanweisungen verstanden werden: Sie bezeichnen meist eher die innere Dynamik eines Stückes. Eine andere Herausforderung ist, dass die Singstimme und die Begleitung nicht getrennt behandelt werden können: Sie sind parallele, ineinander greifende Bestandteile des musikalischen Stoffes. Ein gutes Beispiel dafür ist, dass das Klavier häufig einen Sechzehntel- oder Zweiunddreißigstel-Auftakt zur Singstimme spielt (vgl. Abb. 4). Abb. 4: Kurtág, Drei alte Inschriften Satz 1, T. 22, Auftakt für die Singstimme Die Linien und Bögen der Melodie wandern zwischen den zwei Schichten der Musik, zwischen der Singstimme und der Klavierstimme; es entsteht so eine Art „Hybrid-Stimme“, die an keines der beiden „Instrumente“ allein gebunden ist (Abb. 5). Diese Technik erfordert die genauest mögliche Zusammenarbeit zwischen Sängerin und Pianist, und zwar nicht nur in Bezug auf die Rhythmik, sondern auch in Bezug auf die Gefühle und Stimmungen. Für die Sängerin ist es dabei besonders wichtig, gut zu intonieren, da sie fast durch das ganze Stück im Sekundabstand zur Klavierstimme gesetzt ist. 8 Abb. 5: Kurtág, Drei alte Inschriften Satz 1, T. 19-20, „Hybrid-Stimme“ Weitere Schwierigkeiten bereitet die Dynamik: Die genaue interpretatorische Darstellung der fünf verschiedenen Piano-Stufen, bis einschließlich des fünffachen Piano, ppppp, ist eine große Herausforderung; denn diese Nuancen hörbar zu machen, ist nicht nur eine Frage der Lautstärke, sondern auch eine der seelischen Feinabstimmung zwischen den beiden Interpreten. 9 4. Székelymángorló – Geschnitzte Szekler Wäschemangel 4.1. Analyse Das Stück wurde am 17.12.1986 und am 7.2.1987 komponiert (Vorarbeiten: 1967/1968/1971/1974/1982/1984). Die Wäschemangel welche den Text enthält, ist ein 60-70 cm langer und 10-15 cm breiter aus Holz geschnitzter Gegenstand, mit dem man nach dem Waschen die Kleider und Stoffe geglättet und poliert hat. Die obere Seite wurde mit verschiedenen folkloristischen Ornamenten, mit Blumen und Volksgedichten verziert. Der Text des zweiten Liedes ist in eine solche Wäschemangel eingraviert: Adál az úrnak elsőb écakát, Du gabst dem Herrn die erste Nacht, Cserei Anna fődönlakó, Anna Cserei, Leibeigene auf Erden, amiér is én Móre Gábor und darum hab' ich, Gábor Móre, bárándézma helyt kupánverdesém őt statt den Lämmerzehnten ihm zu zahlen, dem Herrn den Schädel eingeschlagen. Kászonszéken ülök nehéz kalodában In Kászonszék sitz ich, schwer in den Block gespannt. pestis vigye a görgényi hadnagyot Die Pest hol' Leutnant Görgényi. nyomoromban faragdosok robotot In einem Elend schnitz' ich dies in Fronarbeit. (Aus dem Ungarischen übersetzt von Wilfried Brennecke) Abb.7 Wäschemangel mit geschnitzten Motiven12 12 http://www.tolnaart.hu/babai/002.htm 10 Der Untertitel des Stücks ist In memoriam Bálint Endre (einer der bedeutenden Persönlichkeiten der ungarischen Avantgarde). Bálint Endre war Maler und Grafiker (1914–1986). Der Text erzählt uns eine Liebestragödie; früher gehörte es zu den feudalen Sonderrechten, dass die frisch verheiratete Ehefrau sich während der ersten Nacht ihrer Ehe dem lokalen Gutsherrn zur Verfügung stellen musste, falls er dies verlangte. Die Hauptfigur des Gedichts, Gábor Móre, ist der Bräutigam, der den Gutsherr aus Rache ermordet hat und deshalb im Gefängnis sitzt. Hier schnitzte er die Wäschemangel, mit dem Text darauf. Das Lied ist ein Rückblick: Gábor Móre singt, während er im Gefängnis schnitzt und die traurigen Ereignisse in seiner Phantasie wieder erlebt. Dementsprechend ist die Atmosphäre sehr gespannt, wir spüren die Ergriffenheit, die Verbitterung und die Wut des jungen Verliebten, dessen Leben für immer entgleist ist. Der Text am Beginn (über die aus Not untreu gewordene Frau) ist mit den Intervallen der kleinen None und der großen Septime untermalt: die reine Oktave – das ruhige, glückliche Leben – wird dadurch „verdorben“. Singstimme und Klavier bewegen sich parallel, der Bass imitiert das Anfangsmotiv (T. 2). Wo aber der Name der Frau erwähnt wird, ändern sich blitzartig Tempo und Stimmung: poco sostenuto, espressivo, mit semplice, tenuto-legato in der Singstimme (Abb. 8). Abb. 8: Kurtág, Drei alte Inschriften Satz 2, T. 3, plötzliche Stimmungsänderung Diese kurze Ergriffenheit über die süßen Erinnerungen an die Frau dauert aber nicht lange; das Tempo wird unruhig, mit den Anweisungen precipitando und molto crescendo (T. 5) naht das bevorstehende Drama: die Bilder des Mordes (T. 9). In der Singstimme folgen immer größere Sprünge, die Amplitude der Melodie weitet sich, das Klavier spielt glissando: der Mann begeht den Mord in düsterem Seelenzustand. 11 Jetzt spielt nur noch das Klavier weiter, und deutet die Ereignisse nach der Tat, die Verhaftung, das Weinen, mit betonten, scharfen, lauten Tönen an (T. 11-12). Am Ende dieses Abschnitts weist ein Komma darauf hin, dass nach der kurzen Pause ein neues Bild erscheinen wird: Die Erinnerungen, das Glück und auch die blutige Tat sind vorbei, die Gegenwart ist leer, lethargisch, trocken. Die Lautstärke ist subito piano/pianissimo, die Anweisungen sind molto rubato, pesante, und sie passen sehr gut zur Situation: Auch die Seele und die Ketten von Gábor Móré sind schwer. In ihm kocht nur noch die Bitterkeit, die Wut, die er vergeblich versucht zu unterdrücken. Die Spannung dieser Takte ist extrem: In der rechten Hand der Klavierstimme hören wir schnelle Seufzermotive (Abb. 9), im Abstand einer kleinen Sekund tiefer wiederholt, der Bass spielt Motiv vom Anfang des Stücks, auch die Kleine-Non-Sprünge greifen immer tiefer, die ganze Begleitung bewegt sich abwärts, als würden sie den Kampf in der Seele von Gábor symbolisieren. Abb.9: Kurtág, Drei alte Inschriften Satz 2, T.13-14, Seufzermotive in der Klavierbegleitung Der bisher zurückgehaltene Groll bricht nun blitzartig aus: Die Singstimme wechselt in einem einzigen Takt zuerst auf flüsternd-zischendes Sprechen, dann auf plötzliches Geschrei, und Gábor verflucht den Leutnant Görgényi, der ihn festgenommen hat. Diese Phrase hat das größte Intervall in der Singstimme: eine Duodezime (T. 15). Der folgende Satz des Gedichts teilt uns in Worten, Melodie und Rhythmus die Monotonie und Dumpfheit des Lebens im Gefängnis mit. Das zentrale Motiv dieser Monotonie wird in der Begleitung mehrmals wiederholt und variiert (T. 17, 29). Das Nachspiel ist ein ununterbrochenes, 12 verzweifeltes (disperato) crescendo, was die Aussichtslosigkeit und ungewisse Zukunft der Hauptfigur erahnen lässt. 4.2. Interpretatorische Aufgaben und Schwierigkeiten Im diesem Satz spielen die unterschiedlichen Betonungsarten eine große Rolle: Sie drücken die dramatische Entwicklung der Ereignisse und die damit verbundenen rauen Gemütsbewegungen aus. Unter diesen Betonungsarten sind auch ganz spezielle zu finden, wie zum Beispiel der doppelte Keil oder der punktierte Keil (Abb. 10). Im Meer der vielen Marcati und Betonungszeichen helfen die crescendo-decrescendo-Bögen dem Pianisten, das Stück nicht lediglich als ein einziges durchlaufendes Gewirbel zu spielen. Es ist eine heikle Aufgabe, die von den fast immer klingenden marcato-Tönen schwere Begleitung und die sich manchmal in tiefen Lagen bewegende Singstimme auszubalancieren. Bei den vierstimmigen Stellen sind die einzelnen Stimmen mit verschieden starken Betonungszeichen markiert um die Stimmen voneinander zu trennen und den polyphonen Klang zu verstärken (T. 2,11). Abb. 10: Kurtág, Drei alte Inschriften Satz 2, T. 36-38, der doppelte und punktierte Keil Die Sängerin wird durch die Effekte, die rohe Gefühle ausdrücken sollen, stark in Anspruch genommen. Am Anfang des Stückes dürfen die robusten, ohne vibrato zu singenden Töne nicht schwerfällig werden; das Tempo molto agitato treibt nach vorne und die Sängerin muss dabei auch noch betonte Vorhalte und Verzierungen singen können. Wo der Text den Namen der Frau, Anna Cserei, erwähnt (T. 3-4), hat die Sängerin zwei Takte, um wieder Ruhe zu finden, bevor der Teil über den Mord ihre ganze Energie in Anspruch nimmt. 13 In der Dramaturgie des Liedes fällt dem Pianisten eine große Aufgabe zu: Mit seinen Phrasen muss er feine Nuancen der menschlichen Seele ausdrücken können. In den Takten, wo Gábor Móré den Leutnant verflucht (T. 15), muss er etwa die pianissimo-Seufzer mit einer solchen Spannung spielen, dass sie die aufkochende Wut antizipieren können. Bei der Gestaltung dieser Phrasen helfen ihm auch die crescendo-decrescendo-Wellen, die den sich annähernden Wutausbruch darstellen. In den vierstimmigen Teilen der Klavierbegleitung haben die Stimmen im Verhältnis zu einander versetzte, komplizierte Rhythmusformen, die eine große Herausforderung für den Pianisten darstellen. 14 5. Sírkereszt a mecseknádasdi temetőben – Grabkreuz auf dem Friedhof von Mecseknádasd 5. 1. Analyse Das dritte Stück des Zyklus ist die Vertonung einer Grabinschrift aus Ungarn. Der Text ist auf dem Grabkreuz eines jungen deutschen Mädchens auf dem Friedhof von Mecseknádasd zu lesen: Hier ruhet in Gott Theresia Hengl, gestorben am 27 März 1939 im Alter von 29 Jahren. In der schönsten Blüte meines jungen Lebens zehrte mich das Fieber auf. Drum muss ich noch im Lenze ins kühle Grab hinaus. ′S ist Gott dein Wille und ich bin stille. Das war ihr letztes Schreiben. Ruhe sanft in Frieden. Kurtág hat das Stück am 3. und 4. Dezember 1986 komponiert und am 10. Dezember revidiert. Der Untertitel erläutert: Epilog zum „Seelenvogel“ von Ilona Bakó (Abb. 11).13 Die Stimmung des Liedes wird vom Text stark geprägt und mit zahlreichen musikalischen Mitteln verstärkt und betont. Die allgemeine Lautstärke ist pp bis pppp. Im Aufbau können wir drei Teile unterscheiden, die zugleich auch eine Art „Symmetrie“ darstellen: Am Anfang singt zunächst die Erzählerin (T. 3-9), dann folgt ein Textteil des Mädchens (In der schönsten Blüte... , T. 10-26), daraufhin wird das Lied von der 13 Ilona Bakó ist eine bedeutende ungarische Textilkünstlerin, deren Werke von Motiven und Symbolen der ungarischen bäuerlichen Volkskunst geprägt sind. Sie arbeitet gern mit Textil, Holz, Glas und Metall. Ihre Textilstatuen sind überwiegend menschliche Figuren, die am Kreuz befestigt und somit künstlerische Spiegelungen der Grabkreuze der Friedhöfe sind. Ihre bevorzugten Themen sind der Traum, die Macht, der Krieg, das Ende, die Geheimnisse des Körpers. (http://www.mkisz.hu/files/92_01.pdf) 15 Erzählerin abgeschlossen (T. 27-31). Die Grenzen dieser Textteile sind mit Fermaten deutlich gekennzeichnet. Abb. 11, Seelenvogel von Ilona Bakó14 Diese Einteilung kommt auch in der Klavierstimme zur Geltung: im ersten und letzten Teil hören wir chromatisch nach unten schreitende Seufzermotive, als Zweierbindung, von g' bis c'. Die Phrase ist damit aber nicht beendet: der zweite Takt wiederholt das Motiv, lässt aber den letzten Seufzer weg; so haben wir das Gefühl des Unvollendeten. Das ist das Symbol des frühen Todes, mit dem das Lied auch endet (Abb. 12). Die Gesangsstimme ist teilweise auch chromatisch geführt; an manchen Stellen wird auch quasi parlato vorgeschrieben: auf diese Weise erscheint das Bild der Erzählerin (T. 5). Schon in den ersten drei Takten finden wir alle Töne des zwölftönigen Tonleiters. Abb. 12: Kurtág, Drei alte Inschriften Satz 3, T. 1-2, Symbol des frühen Todes 14 http://www.mkisz.hu/files/92_01.pdf 16 Der Mittelteil (T. 10-26) hat einen ganz anderen Charakter. Kurze, tonale Phrasen wecken die Atmosphäre einfacher Schönheit. Die Melodie ist volksliedartig und hat eine nach unten neigende Bewegung (T. 16-21). Die abwärts schreitende Melodie kann auch als der Weg zum Grabe gedeutet werden. Die Stimme bewegt sich im Tonumfang g' bis d''. Die Begleitung spielt diese Rahmentöne, in leeren Quinten. Hier singt die Verstorbene selbst: „In der schönsten Blüte meines jungen Lebens zehrte mich das Fieber auf / Drum muss ich noch im Lenze / Ins kühle Grab hinaus.” Während dieser Melodie wird der Tiefpunkt des Stückes erreicht: Die einfache Schönheit des frohen, jungen Lebens wird mit den Worten „Fieber“ und „Grab“ zerstört. Hier kommen auch chromatische Schritte hinzu (T. 14-15), welche die am Anfang noch intakte Melodie auflösen. Gleichzeitig wird die Begleitung immer lauter, bis ein sforzato und der tiefste Ton im Stück erklingt: musikalisches Symbol des Grabs (T. 20-21). Abb. 13: Kurtág, Drei alte Inschriften Satz 3, T. 20-22, der himmlische Akkord Der darauffolgende „himmlische“ Akkord (Abb. 13) im vierfachen pianissimo kommt ganz unerwartet und richtet den Blick der Verstorbenen, aber auch des Zuhörers nach oben, zu Gott. Mit diesem Akkord wird die Musik ganz tonal, danach wird sie allmählich wieder atonal. Beim Text „S ist Gott dein Wille und ich bin Stille” ist das Mädchen schon beruhigt. Die Begleitung geht von Schritt zu Schritt den Quintenzirkel hinab, bis wir von d'' über g'-c'-fb-es-as as des der Kontra-Oktave in der Oktave erreichen (T. 23-27). Dieser pppp, pesante zu spielende Akkord mit Fermate ist die Grenze zum dritten, letzten Teil des Textes (T. 27-32); er deutet auf die Unwiderruflichkeit des Todes hin und könnte gleichzeitig auch das Zeichen 17 sein, dass das Mädchen Ruhe gefunden hat (Abb. 14). Die letzten zwei Zeilen: „das war ihr letztes Schreiben / Ruhe sanft in Frieden”, wird von der Erzählerin gesungen, und in der Begleitung mit den Anfangsmotiven gefärbt. Die Auflösung der Dissonanz entfällt, es bleibt nur die leere Stille zurück. Abb. 14: Kurtág, Drei alte Inschriften Satz 3, T. 25-27, der Akkord der Ergebung in den Tod 5. 2. Interpretatorische Aufgaben und Schwierigkeiten Eine der größten Herausforderungen dieses Liedes ist es, die Stimmung eines Friedhofes und der Trauer hervorzurufen, aber gleichzeitig auch die einfache Natürlichkeit der volksliedartigen Melodie im Mittelteil zu bewahren, wobei deren Begleitung das Geläut der Kirchenglocke als Kontrast andeutet (T. 10-13). Die pp-Artikulation der sich parallel bewegenden Stimmen in der Klaviereinleitung und die unbetonten Endungen der Seufzermotive erfordern detaillierte Ausarbeitung; die Aufgabe ist umso schwieriger als die linke Hand ihre Motive mit entgegengesetzter Betonung spielen muss (T. 3-5). Gleichzeitig muss man auch beachten, dass die Phrase über der Linie der betonten-unbetonten Seufzertöne immer leiser werden muss (perdendosi). Im Mittelteil des Stücks steht ein großer Kontrast: nach der Zwölftönigkeit des Anfangs hören wir hier eine tonale Melodie; die Sängerin soll wie ein Bauernmädchen, in einfacher Tongebung singen. Als die Idylle im Text mit den Worten „zehrte mich das Fieber auf” zerreißt, fällt auch die Tonalität in der Singstimme und der Begleitung auseinander. Ein schmerzhaftes crescendo führt bis zum Grab, worauf die Ergebung in Gottes Willen folgt. 18 Im letzten Teil des Stücks (T. 29-32) kehrt die ursprüngliche Stimmung zurück, aber das Tempo ist noch langsamer und ruhiger als am Anfang. 19 6. Schlussfolgerung Bedeutsam an diesem Liederzyklus ist, wie die Symbolik der Musik und des Notenbilds eine neue Perspektive für Interpreten und Zuhörer eröffnet. Musik und Text sind in fast allen Takten eng verbunden und aufeinander bezogen und dieser enge Kontakt ist auch beim Hören gut zu verfolgen. Die feinen Schattierungen der Tempoanweisungen und Rhythmen ermöglichen es den Ausführenden, die Stücke bis in feinste Nuancen auszuarbeiten. Der kompakte Stil und reiche Inhalt der Lieder helfen den Musikern, sich in die Stimmung der Komposition zu vertiefen und somit eine glaubwürdige Interpretation zu erarbeiten. 20 7. Literaturverzeichnis -Dobszay, László: A Greeting to György Kurtág on his 70th Birthday, in: Hungarian Music Quarterly 7.1996, H. 1–2, 3–4 - http://hu.wikipedia.org/wiki/Soproni_vir%C3%A1g%C3%A9nek - Morvai, Judit: Bakó Ilona, http://www.mkisz.hu/files/92_01.pdf -Komponisten der Gegenwart -Kroó, György: Miért szép századunk zenéje? (Warum ist die Musik unseres Jahrhunderts schön?), Budapest (Gondolat) 1974, S. 107 -Moldován, Domokos: Tisztelet Kurtág Györgynek (Ehre für György Kurtág), Rózsavölgyi és társa 2006, S. 108, 115, 193, 195 -Morvai, Judit: Bakó Ilona, http://www.mkisz.hu/files/92_01.pdf -Spangemacher, Friedrich: György Kurtág, in: NZfM 143.1982, H.9 -Spangemacher, Friedrich: György Kurtág, in: Komponisten der Gegenwart, Heister, HannsWerner, und Sparrer, Walter-Wolfgang, München, 1992, S. 5, 18 -Spangemacher, Friedrich: Mit möglichst wenig Tönen möglichst viel sagen. Ein Gespräch mit dem Komponisten György Kurtág, in: Neue Zürcher Zeitung, 13./14. Juni 1998, 65–66 21