Der Ton kommt aus dem Schweigen, er lebt, er geht ins

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»Der Ton kommt aus dem
Schweigen, er lebt, er geht
ins Schweigen zurück.«
Toshio Hosokawa
D6: Fr, 07.03.2014, 20 Uhr | Hamburg, Laeiszhalle
Matthias Pintscher Dirigent | Jeroen Berwaerts Trompete | Daniel Roth Orgel
Maurice Ravel Ma mère l’oye (Cinq pièces enfantines)
Toshio Hosokawa Trompetenkonzert (Europäische Erstaufführung, Auftragswerk des NDR)
Camille Saint-Saëns Sinfonie Nr. 3 c-Moll op. 78 „Orgelsinfonie“
DAS ORCHESTER DER ELBPHILHARMONIE
NDR SINFO NIEO RCHE S T ER
Das Konzert wird am 31.03.2014 um 20 Uhr
auf NDR Kultur gesendet.
Freitag, 7. März 2014, 20 Uhr
Hamburg, Laeiszhalle, Großer Saal
Dirigent:
Solisten:
Matthias Pintscher
Jeroen Berwaerts Trompete
Daniel Roth Orgel
Maurice Ravel
(1875 – 1937)
Ma mère l’oye
Cinq pièces enfantines
(1908 – 1911)
I. Pavane de la Belle au bois dormant (Dornröschens Pavane). Lent
II. Petit Poucet (Der kleine Däumling). Très modéré
III. Laideronnette, Impératrice des Pagodes (Das kleine hässliche
Entlein, Kaiserin des Volks der Pagoden). Mouvement de Marche
IV. Les entretiens de la Belle et de la Bête (Die Gespräche zwischen
der Schönen und dem Biest). Mouvement de Valse modéré
V. Le Jardin féerique (Der märchenhafte Garten). Lent et grave
Toshio Hosokawa
(*1955)
„Im Nebel“
Konzert für Trompete und Orchester
(2013)
Europäische Erstaufführung,
Auftragswerk des NDR und der Suntory Arts Foundation
Pause
Camille Saint-Saëns
(1835 – 1921)
Sinfonie Nr. 3 c-Moll op. 78 „Orgelsinfonie“
(1885/86)
I. Adagio – Allegro moderato – Poco Adagio
II. Allegro moderato – Presto – Allegro moderato –
Maestoso – Allegro – Molto Allegro – Pesante
18.45 Uhr: Auftakt mit dem NDR Jugendsinfonieorchester unter der Leitung von
Matthias Pintscher (César Franck: Sinfonie d-Moll)
2
Matthias Pintscher
Dirigent
In dieser Saison übernimmt Matthias Pintscher
die Position des Musikdirektors des Ensemble
intercontemporain und führt seine Partnerschaft als Artist-in-Association mit dem BBC
Scottish Symphony Orchestra weiter fort.
Als Komponist hat er bedeutende Werke für
international renommierte Orchester geschrieben und als Dirigent tritt er regelmäßig
in Europa und den USA auf.
Zu seinen aktuellen Debüts als Dirigent gehören
Konzerte mit dem Atlanta Symphony Orchestra,
Colorado Symphony, Orchestre Symphonique de
Québec, dem New World Symphony (America’s
Orchestral Academy) sowie der Accademia
Nazionale di Santa Cecilia in Rom. Weitere
Highlights dieser Saison sind Konzerttourneen
nach Genf, Köln und Holland mit dem Ensemble
intercontemporain, Auftritte mit dem New York
Philharmonic Orchestra, Naples und Slovenian
Philharmonic Orchestra, dem Utah Symphony
Orchestra, Saint Paul Chamber Orchestra,
Danish Radio Chamber Orchestra, dem Orchester der Opéra national de Paris, hr-Sinfonieorchester und der Dresdner Philharmonie sowie
Konzerte in Chicago und Tel Aviv. Pintscher
trat bei zahlreichen Festivals u. a. in Frankfurt,
Heidelberg, Ljubljana und Luzern auf und
dirigierte so renommierte Orchester wie die
Staatskapelle Berlin, das DSO und RSO Berlin,
das Tonhalle-Orchester Zürich, Mahler Chamber
Orchestra, Orchestre Philharmonique de France
oder BBC Symphony Orchestra.
keiten des Komponierens und Dirigierens
aufteilt, war als Komponist schon in jungen
Jahren sehr erfolgreich. Er hat Werke für so
bedeutende Orchester wie das Cleveland
Orchestra, Chicago Symphony, New York Philharmonic, London Symphony Orchestra oder
für die Berliner Philharmoniker geschrieben
und wurde mehrfach ausgezeichnet, zum
Beispiel 2012 mit einem Kompositionsauftrag
von Roche Commissions. Er arbeitet regelmäßig mit führenden zeitgenössischen Musikensembles zusammen und leitet seit 2011 den
Musikbereich des Impuls Romantik Festivals
in Frankfurt. Außerdem ist er seit 2007 künstlerischer Leiter des Heidelberger Ateliers beim
Festival „Heidelberger Frühling“, auch bekannt
als Akademie Junger Komponisten.
Matthias Pintscher, der seine Zeit gleichmäßig
zwischen den für ihn komplementären Tätig3
NDR SINFO NIEO RCHE S T ER
Jeroen Berwaerts
Daniel Roth
Trompete
Orgel
Der belgische Trompeter Jeroen Berwaerts,
Jahrgang 1975, ist seit 1999 Erster Solotrompeter des NDR Sinfonieorchesters. Er studierte
bei dem gefeierten Trompetenvirtuosen
Reinhold Friedrich in Karlsruhe. Zuvor hatte er
bereits bei verschiedenen Wettbewerben wie
dem Concours Maurice André (1991) und
Concours Européen de Jeunes Trompettistes
(1992) überzeugen können. Ausgezeichnet
wurde er auch beim internationalen Musikwettbewerb des Prager Frühlings 1997. Im gleichen
Jahr gewann er beim Concours Maurice André
sowohl den 2. Preis als auch den „Prix Feeling“
für die beste Interpretation.
Daniel Roth, weltweit als einer der führenden
französischen Orgelvirtuosen bekannt, hat
als Interpret wie als Lehrer verschiedene prestigeträchtige Positionen eingenommen. Mit
20 Jahren debütierte er an der Pariser Basilika
Sacré-Cœur in Montmartre als Assistent seiner
Orgelprofessorin Rolande Falcinelli, der er später
dort auch als Titularorganist nachfolgte, ehe
er 1985 in der gleichen Funktion an die Kirche
St-Sulpice wechselte. Von 1974 bis 1976 war
er Artist-in-Residence des National Shrine of the
Immaculate Conception und Professor an der
Catholic University in Washington D.C. Nach
Jahren der Lehrtätigkeit an Hochschulen und
Konservatorien in Marseille, Straßburg und
Saarbrücken war Daniel Roth von 1995 bis 2007
Professor für Orgel an der Musikhochschule
Frankfurt am Main. Darüber hinaus fungierte
er als künstlerischer Berater beim Bau der
Karl Schuke-Orgel in der Philharmonie Luxembourg, deren Einweihung er 2005 spielte.
Jeroen Berwaerts ist als Solist und Kammermusiker im Repertoire sämtlicher Epochen
zu Hause. Er folgte Einladungen zu zahlreichen
international bedeutenden Festivals, darunter
„Ars Musica“ in Belgien, das Takefu International Music Festival, das Bartók Festival
Budapest und das Rheingau Musik Festival.
Häufiger Gast ist er beim Schleswig-Holstein
Musik Festival, wo er 2005 Toshio Hosokawas
„Voyage VII“ für Trompete und Ensemble zur
Uraufführung brachte. Daneben trat er als
Solist mit so bekannten Orchestern wie den
Münchner und Berliner Symphonikern, dem
Jeunesses Musicales World Orchestra, der
NDR Radiophilharmonie und dem Symfonieorkest Vlaanderen unter Dirigenten wie Alan
Gilbert und Yakov Kreizberg auf. Im September
2013 spielte er die Uraufführung des Trompetenkonzerts von Hosokawa mit dem Tokyo
Philharmonic Orchestra unter Jun Märkl.
Mit diesem Werk wird er im Juni noch einmal
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in Tokio, dann mit dem NHK Sypmphony
Orchestra zu hören sein.
Nach vielen Jahren als Mitglied von Canadian
Brass hat Jeroen Berwaerts bei Stockholm
Chamber Brass eine neue kammermusikalische Heimat gefunden. Seit 2008 ist Jeroen
Berwaerts zudem Professor für Trompete an der
Hochschule für Musik und Theater in Hannover.
Parallel zu seiner rasanten Karriere als Trompeter absolvierte Jeroen Berwaerts ein Jazzgesangsstudium am Königlichen Konservatorium in Gent. Er hat mehrere Programme für
Trompete und Klavier entwickelt, in denen er
auf einzigartige Weise klassische Musik und
Jazz sowie Stimme und Trompete verbindet.
Mit seiner ersten Solo-CD „In the Limelight“
bietet er einen faszinierenden Blick auf das
Trompetenrepertoire der Romantik.
Die erste musikalische Ausbildung bekam Roth
am Conservatoire seiner Heimatstadt MulhouseAlsace. Seine Bewunderung für Albert Schweitzer brachte ihn frühzeitig zur Orgel. 1960 trat
er in das Conservatoire National Supérieur in
Paris ein, wo er u. a. von Maurice Duruflé und
Rolande Falcinelli unterrichtet wurde. Danach
folgten Studien zur Alten Musik und die Vorbereitung auf internationale Wettbewerbe mit
Marie-Claire Alain. Mit Preisen wie dem „Prix de
haute exécution et d’improvisation des Amis de
l’orgue“ (Paris 1966) und dem „Premier Grand
Prix de Chartres“ (1971) ausgezeichnet, machte
Daniel Roth seitdem eine internationale Karriere
als Konzertorganist und Solist bei berühmten
Orchestern. Darüber hinaus wirkt er als Dozent
bei Meisterkursen und Jurymitglied bei Wettbewerben. Zahlreiche Rundfunk-, CD- und
Fernsehaufnahmen dokumentieren seine Arbeit.
Als Komponist hat er Werke für verschiedene
Besetzungen mit Orgel veröffentlicht.
Für seine vielfältigen Verdienste wurde Roth
zum „Chevalier de la Légion d’Honneur“ und
„Officier de l’Ordre des Arts et des Lettres“
ernannt sowie mit dem „Honorary Fellow of the
Royal College of Organists“ (England) ausgezeichnet. 2006 erhielt er den Preis der Europäischen Kirchenmusik in Schwäbisch Gmünd.
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„Pièces enfantines“
„Ma mère l’oye“ von Maurice Ravel
Mutter Gans erzählt: Mehr als einmal hat
Ravel zum Ausdruck gebracht, dass es sich
bei „Ma mère l’oye“ um „pièces enfantines“,
um Kinderstücke handele, welche eine den
Erwachsenen verloren gegangene „Poesie der
Kindheit“ widerspiegeln sollten. Der Titel des
Stücks bezieht sich auf die berühmte Märchensammlung „Histoires au contes du temps passé“
von Charles Perrault, die mit dem Untertitel
„Contes de ma mère l’oye“ (Erzählungen meiner
Mutter Gans) versehen ist. Zwei Titel der fünf
ursprünglichen Nummern gründen auf Märchen
aus diesem Buch: „Pavane de la belle au bois
dormant“ (Dornröschens Pavane) und „Petit
poucet“ (Der kleine Däumling). Die Figur der
Laideronnette, Kaiserin der Pagoden, findet sich
in dem Märchen „Serpentin vert“ von Perraults
Zeitgenossin Marie-Cathérine Baronne d’Aulnoy.
„Les entretiens de la belle et de la bête“ (Die
Gespräche zwischen der Schönen und dem
Biest) wiederum bezieht sich auf die durch Jean
Cocteaus Film berühmt gewordene Erzählung
„La Belle et la Bête“ von Jeanne-Marie Leprince
de Beaumont.
„Ma mère l’oye“ entstand als Komposition für
Klavier zu vier Händen. Der erste Satz „Pavane“
wurde laut Manuskript am 20. September 1908
fertig gestellt, die übrigen Sätze entstanden im
April 1910. Gewidmet ist der Zyklus den Kindern
von Ravels Freunden Cipa und Ida Godebski,
Mimi und Jean, welche die fünf Stücke ursprünglich auch uraufführen sollten; es kam allerdings
ganz anders: „Weder mein Bruder noch ich“,
schrieb Mimi Godebski später, „waren aber
schon alt genug, um eine solche Zueignung
6
der Zeit zählt der Klavierunterricht zu meinen
unangenehmsten Kindheitserinnerungen.“
Ein Jahr nach Abschluss der Komposition instrumentierte Ravel seine „Sammlung kleiner
Stücke“ für großes Orchester und erweiterte
das Werk – ebenfalls 1911 – zu einem knapp
halbstündigen Ballett, wobei er die Reihenfolge
der mittleren drei Sätze vertauschte, dem
Ganzen zwei neue Abschnitte voranstellte und
zwischen die Teile der ursprünglichen Version
vier Zwischenspiele einschob. Jacques Rouché,
der spätere Direktor der Pariser Opéra, brachte
die Ballettversion nach einem von Ravel selbst
entworfenen Szenario am 28. Januar 1912
am Théâtre des Arts auf die Bühne.
„Märchenstunde im Kreise der Familie“, Holzstich von
Gustave Doré aus „Les Contes de Perrault“ (Paris 1862)
gebührend würdigen zu können. Wir sahen
darin eher eine lästige Pflichtaufgabe. Ravel
wünschte, dass wir die erste öffentliche Aufführung am Klavier zu vier Händen übernehmen
sollten. Mir jagte diese Vorstellung nur das
kalte Grauen ein; mein Bruder, der weniger
zurückhaltend war und dem das Klavierspiel
leichter fiel, hielt sich dagegen ganz gut. Trotz
der persönlichen Unterweisung durch Ravel
war ich so verkrampft, dass man schließlich
auf das hübsche Vorhaben verzichtete. Meine
Mutter musste sich damit abfinden, dass ich
kein Wunderkind, ja noch nicht einmal ein besonders begabtes kleines Mädchen war. Seit
Bei dem ersten Satz von Ravels brillant orchestrierter Orchestersuite, in der durch das meist
solistisch besetzte Instrumentarium ungewöhnliche Klangfarben akzentuiert werden, handelt
es sich um einen verhaltenen Schreittanz,
in dem expressive Flötenkantilenen über gedämpften Streicher-Pizziccati zum klingenden
Bild für das schlafende Dornröschen werden.
Im „Däumling“ schildert die Musik, wie der
kleine Protagonist des Märchens vergeblich den
ursprünglich durch Brotkrumen markierten
Rückweg aus dem Wald sucht, da diese von
Vögeln aufgepickt worden sind. Taktwechsel,
in die vereinzelte Vogelrufe hineinklingen,
verdeutlichen die aufgeregte Suche. Im dritten
Teil wird die bereits mit ihrem Namen als
hässlich charakterisierte Kaiserin der Pagoden
musikalisch unterhalten, was Ravel mit pentatonischer Melodiebildung und „chinesisch“
wirkendem Klangkolorit wirkungsvoll in Szene
setzt. Der nächste Abschnitt repräsentiert die
Unterhaltung der Schönen mit dem Biest, die –
mit einer Pause und einem Harfenglissando
markiert – mit der durch Mitleid vollzogenen
Verwandlung der Bestie in einen schönen Prinzen endet. Das letzte Stück der Suite, das mit
seiner Steigerung unverkennbar als Finalsatz
angelegt ist, erzählt kein Märchen. Die Musik
spiegelt vielmehr mit dem locus amoenus,
dem idealen Paradiesgarten, einen Topos der
Kulturgeschichte, der die Kunst seit Jahrhunderten bereichert hat: Aus dem verhaltenen
Streicher-Beginn, bei dem eingeworfene Harfenund Celestaklänge eine geheimnisvolle Atmosphäre erzeugen, weitet sich die reine C-DurMelodik zu einer großen Apotheose mit Bläsern,
Harfe und Schlagwerk, mit der das Werk
festlich beendet wird.
Harald Hodeige
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NDR SINFO NIEO RCHE S T ER
„Der Ort, an dem sich Töne und Schweigen begegnen“
Toshio Hosokawa und sein Trompetenkonzert „Im Nebel“
Spielte im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert
die althergebrachte Musik Japans, die über
Jahrtausende als mündlich überlieferte Tradition in Zeremonien und religiösen Ritualen
einer ständischen Gesellschaft eingebunden
war, im Schaffen der Tonsetzer des Inselstaats
kaum eine Rolle, besannen sich die japanischen
Komponisten der 1950er und 1960er Jahre zunehmend auf die musikalischen Wurzeln ihres
Landes, ohne dabei jedoch den westeuropäischen Errungenschaften den Rücken zu kehren.
Einer dieser Komponisten war Tôru Takemitsu,
der erklärtermaßen „viel von der Musik Debussys
gelernt“ hatte und auch von jenen europäischen Komponisten beeinflusst wurde, die sich
ihrerseits von der Musikästhetik und Philosophie Ostasiens inspirieren ließen: neben
Debussy vor allem Olivier Messiaen und John
Cage. Auf der anderen Seite zeigte der japanische Komponist u. a. mit dem Einsatz von Biwa
(Kurzhalslaute) oder Shakuhachi (Bambuslängsflöte), dass auch traditionelle Instrumente
anregende künstlerische Impulse geben
können – und prägte damit viele seiner Nachfolger. Einer von ihnen ist Toshio Hosokawa,
der 1955 in einem kleinen Vorort von Hiroshima
geboren wurde und heute zu den bedeutendsten japanischen Komponisten überhaupt zählt.
Mit 15 hörte er eine Radioübertragung von
Tôru Takemitsus „November Steps“ für Biwa,
Shakuhachi und Orchester, woraufhin er beschloss, die Musik zu seinem Lebensinhalt zu
machen. „Wenn ich musikalisch denke“, sagte
er später, „kann ich nicht wie ein europäischer
Komponist vorgehen und logische Entwicklungen planen. Ich muss meinen Empfindungen
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gegenüber den Tönen treu bleiben. Die zwanzig
Jahre, die ich in Japan gelebt habe, besonders
die Jahre meiner Kindheit, haben dieses Empfinden geprägt. Auch wenn ich mich damals
nicht für die traditionelle Musik interessiert
habe, habe ich sie doch viel gehört.“
Als 17-Jähriger begann Toshio Hosokawa in
Tokio Klavier zu studieren, die Suche nach dem
richtigen Kompositionslehrer blieb allerdings
zunächst erfolglos. Erst nachdem der junge
Student in einem Hochschulkonzert die Musik
des koreanischen Komponisten Isang Yun
kennengelernt hatte, die bei ihm den Eindruck
hinterließ, als wäre er in einen großen Fluss
„des asiatischen Klanguniversums“ eingetaucht,
stand die Wahl fest: 1976 ging Hosokawa nach
Berlin, wo Yun an der damaligen Hochschule
der Künste unterrichtete, um bei ihm, der „als
Asiat neue Musik komponiert, die nicht nur
eine asiatische Stimmung vermittelt, sondern
asiatisches Denken, asiatische Substanz enthält“ (Hosokawa), zu studieren. Das Schaffen
Yuns, der seine asiatischen Klangvorstellungen
oft mit Hilfe eines europäischen Instrumentariums realisierte, ist durch die Verschmelzung
von Elementen der fernöstlichen und westeuropäischen Kultur geprägt, ohne dabei in
exotisch anmutende Koloristik zu verfallen.
Wie oft bei der Musik Asiens ist auch bei ihm
das komplexe Wesen des einzelnen Tons mit
seinen feinen Schattierungen der Klangfarben
von zentraler Bedeutung, was mit einem entwicklungslos in sich ruhenden Zeitempfinden
in Zusammenhang steht – ein Denken, das in
den frühen 1960er Jahren durchaus in den
Toshio Hosokawa
allgemeinen Trend der westlichen Avantgarde
passte, als man das Phänomen „Klang“ näher
erkundete. Der einzelne Ton, so Yun über die
traditionelle Musik seiner Heimat, „löst sich
aus einer anfänglichen linearen Starrheit; die
Stimme geht in ein kunstvolles Tremolo über,
das Schwankungen bis zu einer Sekunde erreicht. Die Zeit ist unendlich. Der Gesang ist in
jedem Augenblick vollkommen in sich. Nichts
drängt oder eilt zu einem dramatischen Ende.“
Von Isang Yun, der bis zu seinem Tod 1995 in
Berlin lebte, übernahm Hosokawa die in der
traditionellen ostasiatischen Musik vorherrschende Praxis gleichzeitig verlaufender Klang-
schichten, die im Einzelnen heterophon voneinander abweichen, jedoch im Ganzen zu
einem monistisch-einheitlich atmenden Klangbild führen. Dabei spielten für den japanischen
Komponisten auch die Naturklänge seiner
Heimat eine wichtige Rolle: das Singen der
Vögel, das Quaken der Frösche und das Sirren
der Zikaden, von dem er in seiner Jugend an der
Küste inmitten einer damals noch an Naturkräften reichen Landschaft umgeben war. Um
sich von der als zu stark empfundenen Bindung
an seinen Lehrer zu lösen, setzte Hosokawa
seine Studien schließlich an der Hochschule
für Musik in Freiburg bei Klaus Huber fort:
„Ich war in meinem ganzen Komponieren so
von Yun beeinflusst, dass ich dachte, jetzt ist
einmal eine Entfernung nötig. Schon 1981
oder 1982 hatte ich in Darmstadt Kurse bei
Lachenmann und Ferneyhough genommen und
das Gefühl gehabt, ich sollte ergänzend noch
bei einem europäischen Lehrer studieren.“
Der Wechsel brachte neue Impulse, denn hatte
Hosokawa bisher gelernt, „was es heißt, Asiat
zu sein“, wurde er von Huber dazu angeregt,
sich intensiv mit der traditionellen japanischen
Musik auseinanderzusetzen. Er studierte Repertoire, Stilistik und kulturelle Hintergründe
der Hofmusik Gagaku und erwarb praktische
Erfahrungen mit einem traditionellen japanischen Instrumentarium. Seitdem schreibt
Hosokawa eine genuin japanische, gleichwohl
durch seine „eigene Stimmung“ geprägte
Musik, deren rhythmische Proportionen sich an
der Atemlehre der Zen-Meditation mit ihrem
langsamen Aus- und Einatmen orientieren:
„Jeder Atemzug beinhaltet Leben und Tod, Tod
9
NDR SINFO NIEO RCHE S T ER
„Forme cyclique“
Die „Orgelsinfonie“ von Camille Saint-Saëns
und Leben.“ Stetiges Fließen eines immerzu
sich verändernden Klanghintergrundes, sowie
Gestalten, die sich klar von ihm abzeichnen
oder auch mit ihm verschmelzen können,
wurden zu den deutlichen Kennzeichen jener
Musik, deren Töne so vieldeutig erscheinen wie
der ins Schweigen eingebettete Klang: „Musik
ist der Ort, an dem sich Töne und Schweigen
begegnen.“ Gleichzeitig ging es Hosokawa
immer wieder um das Erkunden neuer Farben
und Klangschattierungen – wie in seinem
neuen Trompetenkonzert „Im Nebel“, das im
Rahmen des Suntory Summer Festival 2013
von Jeroen Berwaerts und dem von Jun Märkl
dirigierten Tokyo Philharmonic Orchestra in
der Suntory Hall uraufgeführt wurde. Denn das
Werk, das kürzlich mit dem Otaka-Prize des
NHK Symphony Orchestra als bestes Orchesterstück 2013 ausgezeichnet wurde, wartet in
vielerlei Hinsicht mit großen Herausforderungen für Solist und Orchester auf und fordert
nicht nur vom Soloinstrument eine schier
unbegrenzte Klangpalette.
Voraussetzung für Weisheit sei: „Wahrlich,
keiner ist weise, / Der nicht das Dunkel kennt, /
Das unentrinnbar und leise / Von allem ihn
trennt.“ Zudem ist die Wanderung ins Dunkel
als mögliche Metapher für den Moment des
Todes unausweichlich. Denn er kommt „leise“,
unaufhaltsam, weshalb es weise zu sein scheint,
sich rechtzeitig von den Dingen der Welt loszusagen. „Hermann Hesses berühmtes Gedicht
‚Im Nebel‘“, so Toshio Hosokawa, „inspirierte
mich zu diesem Trompetenkonzert. Die Trompete steht für den Menschen, das Orchester
symbolisiert die Natur und das Geheimnisvolle,
das sie umgibt. Der Trompeter durchstreift
einsam die blinde unermessliche Natur; während er sein Lied singt, bewahrt er die Erinnerungen an die ruhmreiche Vergangenheit und
an die Gewalt des Sturms. Das Orchester
zeichnet weiche Linien, ähnlich denen östlicher
Kalligraphie. Die Solotrompete verschmilzt mit
der Sphäre des Geheimnisvollen; sie stellt sich
der Welt und versöhnt sich zugleich mit ihr.“
Harald Hodeige
Angeregt wurde Toshio Hosokawa zu seinem
neuen Werk, das an diesem Abend seine europäische Erstaufführung erlebt, durch die Lektüre von Hermann Hesses Gedicht „Im Nebel“,
in dem das lyrische Ich, umgeben von der
Natur, über Leben, Erkenntnis und Einsamkeit
reflektiert: „Seltsam, im Nebel zu wandern! /
Einsam ist jeder Busch und Stein, / Kein Baum
sieht den andern, / Jeder ist allein.“ Seinen
Höhepunkt erreicht das Gedicht in der dritten
Strophe, die zu dem ernüchternden Schluss
kommt, dass die Kenntnis des „Dunkel“ eine
10
„Es ist noch nicht so lange her, fünfzehn Jahre
vielleicht“, schrieb Camille Saint-Saëns rückblickend in der Zeitschrift „Le Voltaire“ vom
27. September 1880, „da besaß ein französischer Komponist, der die Kühnheit hatte, sich
auf das Gebiet der Instrumentalmusik zu wagen,
kein anderes Mittel, seine Werke aufführen zu
lassen, als dass er selbst ein Konzert gab und
seine Freunde und die Kritik dazu einlud. An das
Publikum, das eigentliche Publikum, war nicht
zu denken; der Name eines französischen Komponisten, noch dazu eines lebendigen, genügte,
um alle Welt zu verscheuchen. Die Gesellschaften für Kammermusik, die so zahlreich blühten
und gediehen, nahmen überhaupt nur solche
glänzenden Namen wie Beethoven, Mozart,
Haydn und Mendelssohn in ihre Programme
auf, einige Male Schumann, um einen Beweis
für ihren Wagemut zu erbringen.“
Camille Saint-Saëns im hohen Alter an der Orgel (um 1920)
Zu einer Neuorientierung kam es in Frankreich
erst nach dem Krieg 1870/71, als man nach
der durch Deutschland erlittenen militärischen
Niederlage neuen Halt für ein kulturelles
Selbstbewusstsein suchte. Unter dem Motto
„ars gallica“ gründeten Saint-Saëns und
Romaine Bussine, Professor für Gesang am
Pariser Conservatoire, die „Société National
de Musique“, welche sich zum Ziel gesetzt
hatte, Orchester- und Kammermusikwerke
französischer Provenienz aufzuführen und zu
fördern. Es stellte sich jedoch bald heraus,
dass die Mehrheit der Komponisten offenbar
noch immer der Meinung war, dass die Musik
Frankreichs außerhalb der Theatermauern kaum
entwicklungsfähig sei – ganz in der Tradition
des gequälten Ausrufes vom Schriftsteller
Bernard de Fontenelle, welcher in Jean-Jacques
Rousseaus „Dictionnaire“ überliefert ist:
„Sonate que me veux-tu?“ – „Sonate, was willst
du mir bloß sagen?“ Was die sinfonische Gattung anging, sollte es nahezu 15 Jahre dauern,
bis eine typisch „französische“ Variante vorlag,
wobei viele Komponisten, die auf diesem Gebiet zu bahnbrechenden Lösungen gefunden
haben (wie Lalo, Franck, Chausson, Dukas
und im Grunde auch Saint-Saëns mit seiner
„Orgelsinfonie“, wenn man von den beiden
früheren klassizistischen absieht), nur wenige
bzw. nur ein Werk jenes Genres geschrieben
haben. Das Nationale jener Werke liegt aller11
NDR SINFO NIEO RCHE S T ER
„Forme cyclique“ oder „bicyclette“? Camille Saint-Saëns im Fahrradanhänger (ca. 1907)
dings nicht im Folkloristischen, sondern im
bewussten Gestalten einer neuen kompositorischen Idee, die als „forme cyclique“ in die
Musikgeschichte einging – eine letztlich auf
Beethovens Fünfte und Berlioz’ „Symphonie
fantastique“ zurückgehende und von der „jeune
école française“ zu größter Meisterschaft
entwickelte Methode, aus einer kurzen thematischen Bildung alle Sätze eines Instrumentalzyklus thematisch zu entwickeln.
Von jenem zyklischen Prinzip ist auch Camille
Saint-Saëns’ 1885/86 für das Londoner Philharmonic Society Orchestra komponierte
„Orgelsinfonie“ geprägt, wobei Saint-Saëns in
jenem Werk das auf Franz Liszt zurückgehende
12
Verfahren der Thementransformation auf eine
(letztlich viersätzige) programmlose Sinfonie
übertrug. Das gesamte Werk, dessen Finale
eine seinerzeit beispiellose Monumentalität
erreicht, basiert im wesentlichen auf zwei
musikalischen Gedanken, die, nach der langsamen Einleitung miteinander verbunden, als
Hauptthema des Kopfsatzes erklingen (Allegro
moderato): dem Anfang der bekannten „DiesIrae“-Sequenz und deren freier Fortführung,
die mit zwei Sekundschritten und Terzsprung
vom Grundton zur Quinte aufsteigt, um dann
chromatisch abzusinken. Alle weiteren Themen –
auch das zuvor erklungene, aufsteigende Eröffnungsmotiv der Introduktion – sind aus dieser
Figur bzw. aus ihren Bestandteilen abgeleitet,
wobei in der Überleitung zum zweiten Thema
die nervös anmutende Sechzehntelrepetition
aus dem Hauptthema geglättet und die Musik
nach Dur gewendet wird. Der lyrisch-schwelgerische Seitensatz (der in Des-Dur beginnt und
sich schließlich nach F-Dur wendet) nimmt
diese ruhigere 6/8-Bewegung auf und erweitert
den Raum des Quintmotivs um die Sexte –
begleitet von einer freien Variante des Hauptthemas; es folgt ein kurzer Epilog, dessen Motive wiederum vom Seitensatz abgeleitet sind.
Die Durchführung kombiniert und variiert die
thematischen Gestalten, wobei nach einer
impulsiven Steigerung auf dem Höhepunkt die
Blechbläser bedrohlich das „Dies-Irae“-Motiv
intonieren. Die Reprise, die aus dieser Kulmination resultiert, führt zur getreuen Wiederholung des Hauptsatzes und zum Seitensatz,
der zunächst in F-Dur, dann in E-Dur aufgegriffen wird. Anstelle einer Wiederaufnahme des
Epilogs folgt die Überleitung zum sich anschließenden, dreiteiligen Adagio, in dem die
Orgel für einen weihevollen Tonfall sorgt, der an
Kirchenszenen der französischen Oper, eines
„Drame lyrique“ denken lässt. Saint-Saëns’
fasste die ersten beiden Sätze seiner „Orgelsinfonie“ zu einer Abteilung zusammen, da die
beiden Folgesätze (die ihrerseits zu einer zweiten Abteilung zusammengefasst werden) von
gänzlich anderem Ausdruckscharakter sind.
Jene zweite Abteilung beginnt mit einem als
Scherzo fungierenden Allegro-moderato-Teil,
dessen Abschnitte (Scherzo – Trio – Scherzo)
ebenfalls aus Varianten des Kopfsatz-Hauptthemas gebaut sind; die abschließende Coda
greift den Anfang des heiter-turbulenten Trios
(Presto) auf, in dem Saint-Saëns ein Klavier für
einige wenige Arpeggien und Skalen verlangt
hatte („brillante“). In der Coda des ScherzoSatzes erklingt dann eine Choralmelodie, in der
fast notengetreu das Adagio-Thema aufgegriffen wird. Das Finale beginnt schließlich mit
einer von einem mächtigen Akkord der Orgel
eingeleiteten triumphalen Eröffnungsgeste,
die aus der mit Akzenten versehenen und in
den Notenwerten verkürzten Choralmelodie
besteht. Es folgt ein hinsichtlich der SinfonieDramaturgie zentraler Abschnitt im 9/8-Takt,
in dem das Kopfsatzhauptthema nun selbst
zum Choral umgedeutet wird – begleitet von
einem Orgelpunkt und raschen Dreiklangsarpeggien des vierhändig besetzten Klaviers.
Der eigentliche Hauptteil des Finales beginnt
allerdings erst anschließend – mit einer strengen vierstimmigen Fugenexposition, deren
Thema aus der kurz zuvor verklungenen Choralversion des Hauptthemas besteht. Nach
einem groß angelegten Steigerungsprozess,
der in einem mächtigen Höhepunkt gipfelt,
setzt das Finalhauptthema erneut ein, wobei
das chromatische Ende der Figur zur Triolenfigur umgedeutet wird, was dem Ganzen einen
überaus hymnischen Tonfall verleiht. Nach
mehreren retardierenden Einschüben folgt auf
den Epilog eine groß angelegte Coda, deren
apotheotischer Aufschwung in eine Stretta führt,
deren mächtige Pauken- und Orgelklänge das
Werk zu einem triumphalen Abschluss führen.
Harald Hodeige
13
NDR SINFO NIEO RCHE S T ER
Konzertvorschau
Impressum
NDR Sinfonieorchester
Saison 2013 / 2014
B7 | Do, 20.03.2014 | 20 Uhr
A7 | So, 23.03.2014 | 11 Uhr
Hamburg, Laeiszhalle
Thomas Hengelbrock Dirigent
Arabella Steinbacher Violine
Sara Hershkowitz Sopran
Rodion Pogossov Bariton
NDR Chor
Chor des Bayerischen Rundfunks
Frank Martin
Polyptyque
Johann Sebastian Bach
Choräle zum Kreuzweg
Gabriel Fauré
Requiem
C4 | Do, 27.03.2014 | 20 Uhr
D7 | Fr, 28.03.2014 | 20 Uhr
Hamburg, Laeiszhalle
David Zinman Dirigent
Rudolf Buchbinder Klavier
Ludwig van Beethoven
Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur op. 58
Richard Strauss
Eine Alpensinfonie op. 64
Einführungsveranstaltungen:
27.03.2014 | 19 Uhr
28.03.2014 | 19 Uhr
Einführungsveranstaltungen mit
Thomas Hengelbrock:
20.03.2014 | 19 Uhr
23.03.2014 | 10 Uhr
AUF KAMPNAGEL
KA3 | Do, 03.04.2014 | 20 Uhr
Hamburg, Kampnagel
SCHWINGENDES WELTALL
Peter Ruzicka Dirigent
Rued Langgaard
Sphärenmusik
Peter Ruzicka
Clouds
Gustav Holst
„Mars und Jupiter“ aus
„Die Planeten“
Edgard Varèse
Arcana
John Williams
Auszüge aus der Filmmusik zu
„Star Wars“
anschließend Jazz mit der NDR Bigband
Musik-Dialoge
Gesprächskonzert mit Arabella Steinbacher
und Mitgliedern des NDR Sinfonieorchesters:
22.03.2014 | 20 Uhr
Hamburg, Bucerius Kunst Forum
Herausgegeben vom
NORDDEUTSCHEN RUNDFUNK
PROGRAMMDIREKTION HÖRFUNK
BEREICH ORCHESTER, CHOR UND KONZERTE
Leitung: Andrea Zietzschmann
Redaktion Sinfonieorchester:
Achim Dobschall
Redaktion des Programmheftes:
Julius Heile
Die Einführungstexte von Dr. Harald Hodeige
sind Originalbeiträge für den NDR.
Fotos:
Andre Medici (S. 3); Gunter Glücklich (S. 4);
Sjaak Verboom (S. 5); akg-images (S. 6, S. 11);
culture-images/Lebrecht (S. 12);
Christopher Peter Schott Promotion (S. 9);
Henry Fair (S. 14 links);
Priska Ketterer (S. 14 rechts);
Anne Kirchbach (S. 15)
David Zinman
NDR | Markendesign
Gestaltung: Klasse 3b, Hamburg
Litho: Otterbach Medien KG GmbH & Co.
Druck: Nehr & Co. GmbH
Nachdruck, auch auszugsweise,
nur mit Genehmigung des NDR gestattet.
Peter Ruzicka
Arabella Steinbacher
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Karten im NDR Ticketshop im Levantehaus,
Tel. (040) 44 192 192, online unter ndrticketshop.de
Das NDR Sinfonieorchester im Internet
ndr.de/sinfonieorchester
facebook.com/ndrsinfonieorchester
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