Forschung an humanen embryonalen Stammzellen in engen

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Forschung an humanen embryonalen
Stammzellen in engen Grenzen eine Konfliktgeschichte.
Prof. Dr. Klaus Tanner
Theologische Fakultät, Universität Heidelberg
Vorsitzender der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung (ZES)
Festvortrag anlässlich der Veranstaltung der
Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung (ZES)
„10 Jahre Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen in Deutschland“
am 06.09.2012 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW)
Prof. Dr. KlausTanner
Forschung an humanen embryonalen Stammzellen in engen Grenzen - eine Konfliktgeschichte.
Forschung an humanen embryonalen Stammzellen in engen Grenzen eine Konfliktgeschichte.
1. Am 19. Dezember 2002 erteilte das Robert Koch-Institut (RKI) die erste Genehmigung zum
Import von humanen embryonalen Stammzell-Linien (hES-Zell-Linien) nach dem Stammzellgesetz1. Genehmigungsinhaber war Oliver Brüstle. Zum ersten Mal wurde ein Verfahren
angewendet, das mit dem Stammzellgesetz etabliert worden war. In diesem Verfahren sind
rechtliche Genehmigung und ethische Urteilsbildung verwaltungsrechtlich verknüpft.
Maria Böhmer, die mit Margot von Renesse, Andrea Fischer und Wolf Michael Catenhusen
2001 auf dem Weg zur Verabschiedung des Stammzellgesetzes im parlamentarischen
Verfahren entscheidende Weichen gestellt hatte, nannte das Gesetz später ein “gut
bewachtes Stadttor”. Das Gesetz habe die “Mauern des Embryonenschutzgesetzes” verstärkt
und das “Schlupfloch” geschlossen, das durch das Embryonenschutzgesetz offen geblieben
sei 2. Die Metaphorik von “Mauern” und “bewachtem Tor” lässt noch etwas von dem
Bedrohungsgefühl erkennen, das die beginnende Stammzellforschung bei Vielen in
Deutschland auslöste, ein Bedrohungsgefühl, das sich dann auch in der restriktiven Signatur
des Stammzellgesetzes niederschlug.
Mit dem Gesetz wird ein strafrechtlich sanktioniertes Verbot des Imports ausgesprochen, dann
aber ein Erlaubnisvorbehalt formuliert. Über die Ausnahmen vom Verbot wird in einem
Verfahren entschieden, in dem die Genehmigung, die das RKI erteilt, verkoppelt ist mit einer
Stellungnahme der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung (ZES). Das
Gesetz etablierte ein Modell der Regulierung, in dem der Gesetzgeber nicht alles bis ins
Detail selbst definiert. Er schafft einen Rahmen, der einen Auslegungsspielraum offen lässt,
der es erlaubt, mit einzelnen Problemlagen differenziert umzugehen. Einzelfallbezogen, ohne
schnell leerlaufenden Rekurs auf ideologisch aufladbare Großbegriffe kann in diesem
Rahmen versucht werden, der dreifachen Zwecksetzung des Gesetzes Rechnung zu tragen,
sowohl der staatlichen Verpflichtung von Lebens- und Würdeschutz, wie der grundrechtlich
garantierten Forschungsfreiheit und dem Bemühen, keine “Anreize” zu geben für die weitere
Zerstörung von Blastozysten zur Gewinnung von embryonalen Stammzell-Linien.
Sowohl das RKI wie die Kommission erhalten durch das Gesetz eine Prüfungsbefugnis. Die
Behörde muss die Stellungnahme der Kommission berücksichtigen, kann aber von ihr
abweichen (§ 6 StZG). Dieser Fall ist in den 10 Jahren gemeinsamer Arbeit, in 65 Sitzungen,
bis jetzt nicht eingetreten.
Der ethischen Bewertung durch die Kommission sind enge Grenzen gesetzt. Sie hat zu
prüfen, ob die im Gesetz in § 5 formulierten Kriterien der Hochrangigkeit, der Vorklärung “so
weit wie möglich” an Tiermodellen und die Unabdingbarkeit der Verwendung von hES-Zellen
erfüllt sind.
Das sind unbestimmte Rechtsbegriffe, unscharfe Maßstäbe, die in der Urteilsbildung der
Kommission konkretisiert werden müssen. Diese Maßstäbe müssen sich aber nach Maßgabe
des Gesetzes immer am jeweiligen Antrag herauskristallisieren. Damit bekommt die
Darlegung der Wissenschaftler eine zentrale Stellung im Antragsverfahren.
1
2
Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher
embryonaler Stammzellen (Stammzellgesetz - StZG), siehe http://www.gesetze-im-internet.de/stzg/index.html
Maria Böhmer, Als wir Parlamentsgeschichte schrieben. Ein Rückblick auf die Entstehung des Stammzellgesetzes,
in: Susann Bräcklein, Jürgen Meyer, Hennig Scherf (Hg.) Politisches Denken ist. Festschrift für Margot von
Renesse, Frankfurt a. M u.a. 2005, S. 157-168.
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Das eng gefasste, durch das Gesetz selbst festgelegte Verständnis von Ethik ist denn auch
schnell kritisiert worden. Der Philosoph Dieter Birnbacher vermochte dieser eng an der
Leine des Gesetzes gehaltenen Ethikkommission nur eine “symbolische Funktion” zuzuerkennen. Sie erfülle allerdings eine wichtige gesellschaftliche Funktion: Sie soll Akzeptanz
und Vertrauen schaffen. Das Grummeln des “professionellen Bioethikers”, der Biopolitik
und Bioethik getrennt haben möchte weil nur so sich die “Ansprüche intellektueller
Stringenz, Kohärenz und Adäquatheit” sichern ließen, ist deutlich vernehmbar 3.
Insgesamt lässt sich im Rückblick auf die zehn Jahre der Zusammenarbeit der “Zentralen
Ethik-Kommission für Stammzellenforschung” und der Genehmigungsbehörde, dem Robert
Koch-Institut, feststellen: Auf der Grundlage des Gesetzes konnte sich eine sehr
sachbezogene und sachdienliche Arbeit entwickeln. Durch das öffentlich zugängliche
Register 4 beim Robert Koch-Institut und die insgesamt neun Berichte 5 der Kommission
wird ein kontinuierlicher Überblick über das Forschungsfeld ermöglicht.
Das deutsche Modell ermöglicht eine Transparenz, die in anderen Ländern keineswegs
gegeben ist. In den USA, in denen es ebenfalls bis heute harte Auseinandersetzungen um die
hES-Zell-Forschung gibt, werden keine öffentlichen Gelder für diese Forschung ausgegeben
mit dem Argument: Etwas worüber die Nation als Ganzes zu keinem Einvernehmen
gekommen sei, sollte nicht mit dem Geld aller finanziert werden. Das bedeutet aber eben
kein grundsätzliches Verbot 6. Das Problem dieser Lösung ist offensichtlich: Es gibt keinen
Überblick über das, was im privaten Sektor gemacht wird.
Deshalb forderte die National Academy of Science 2004 ein Embryonic Stem Cell Research
Oversight Committee, das eine Monitoring-Funktion haben soll und eine gewisse
Öffentlichkeit herstellen kann, die in Deutschland mit der Institutionalisierung der ZES und
dem Register beim RKI schon etabliert ist.
2. Das Stammzellgesetz ist das Ergebnis harter politischer Auseinandersetzungen und eines
komplexen parlamentarischen Verfahrens. Mit Notwendigkeit führen solche demokratischen
Prozesse in pluralistischen Gesellschaften zu Kompromissbildungen.
Das Gesetz erhielt sein Profil weder an einem stillen Schreibtisch noch durch sog. “rein
wissenschaftliche” Expertise. Es entstand in einem politischen Prozess, in dem fachwissenschaftliche Argumente eine Rolle spielen, aber nicht allein ausschlaggebend sein können. Es
entstand in einem Prozess, in dem auch der Kampf um Macht, um Wählerstimmen, um
Meinungsführerschaft, aber auch das Interesse am Ausbalancieren von Zumutungen eine
wichtige Rolle spielten. Ethische Diskussionen finden nicht in machtfreien Räumen statt.
Sie haben einen jeweils konkreten sozialen Ort. Dieser “Ort der Ethik”, an dem Urteile
darüber gebildet werden, wie das, was in den Labors geschieht in seinen weiteren Folgen für
die Kultur zu bewerten ist, sind nicht in erster Linie die Labors der Stammzellforscher. Es
sind die Institutionen, in denen in Demokratien immer wieder neu über die Formen des
gemeinsamen Lebens reflektiert und entschieden wird.
3
4
5
6
Das Stammzellgesetz - ein Fall von Doppelmoral, jetzt in: ders.: Bioethik zwischen Natur und Interesse, Frankfurt a.
M. 2006, S. 375 - 393.
Register genehmigter Anträge nach § 11 Stammzellgesetz, siehe
http://www.rki.de/DE/Content/Gesund/Stammzellen/Register/register_node.html
Tätigkeitsberichte der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung (ZES) gemäß § 14 ZES-Verordnung,
siehe http://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/ZES/Taetigkeitsberichte/taetigkeitsbericht_node.html
Vgl. den Report des Presidents Council on Bioethics: Monitoring Stem Cell Research vom Januar 2004, S. 37 “that
the question at issue is not, whether research using embryos should be allowed, but rather whether it should be
financed with the federal taxpayers dollars.”
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Dieses Verfahren des Umganges mit unterschiedlichen Überzeugungen hat selbst einen
ethischen Wert. Es ist ausgerichtet auf die Ermöglichung eines weiteren friedlichen
Zusammenlebens in konfliktgeladenen Situationen und die Achtung der Freiheit Andersdenkender. Die parlamentarischen Verfahren zwingen zur Wahrnehmung anderer
Positionen, zu Such- und Abwägungsprozessen zwischen konfligierenden Auffassungen
und realisieren eben dadurch ein demokratisches Grundprinzip: die Achtung und
Anerkennung der Überzeugungen möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger.
Auf dieser Ebene des demokratischen Ethos liegen wichtige Gründe dafür, die Zumutungen
an diejenigen zu begrenzen, die anderer Meinung sind. In der Anerkenntnis der Tatsache,
dass es Bürger und Politiker gibt, die in der Abschätzung von Gefahren der Embryonenforschung zum Urteil kommen, solche Forschung sollte besser ganz unterbleiben, liegen die
Gründe dafür, die Zumutungen an solche Positionen zu begrenzen. Dieses ethische und
politische Bemühen hat sich in den engen Grenzen niedergeschlagen, die das Stammzellgesetz der Forschung setzt:
­ In Deutschland dürfen keine hES-Zell-Linien hergestellt werden,
­ es dürfen nur Zell-Linien importiert werden, die aus “Embryonen” gewonnen wurden,
die nicht mehr in der IVF verwendet werden,
­ die Verwendung neuer hES-Zell-Linien wird begrenzt durch die Stichtagsregelung,
­ die zulässigen Forschungsarbeiten werden begrenzt auf Grundlagenforschung und die
“Entwicklung diagnostischer präventiver oder therapeutischer Verfahren zur
Anwendung beim Menschen” (§ 5 StZG)
Diese Restriktionen provozieren immer wieder auch scharfe Kritik. Im Juni dieses Jahres
hat sich einer der weltweit führenden Stammzellforscher, Rudolf Jaenisch, in einem
Interview sehr kritisch zur deutschen Diskussionskultur und zur Rechtslage geäußert:
“Meine ganze Forschung wäre in Deutschland unmöglich gewesen. Das ist ein wichtiger
Grund, weshalb ich nicht nach Deutschland zurückgegangen bin. Diese ideologisch
verhärtete Diskussion, diese wahnwitzige Bürokratie, das schreckt mich ab. In den USA gibt
es auch strenge Kontrollen, aber die Forschung wird nicht behindert. Und genau dazu führt
die deutsche Gesetzgebung. ” 7
3. Diese erste Genehmigung, die das Robert Koch-Institut 2002 erteilte, war der Abschluss
eines langen, gesellschaftlich breiten und konfliktreichen Diskussionsprozesses.
Nachdem 1998 in den USA aus “überzähligen Embryonen” Stammzell-Linien gewonnen
wurden und Oliver Brüstle solche Zell-Linien aus Israel und den USA importieren wollte,
ging in Deutschland eine erneute heftige Diskussion los, die schließlich auf den Weg zum
“Stammzellgesetz” führte. Auf diesem Weg wurden auch Positionen revidiert. Die DFG hat
z.B. im Mai 2001 ihre weitgehend ablehnende Stellungnahme zur hES-Zellforschung aus
dem Jahr 1999 aufgegeben. Angesichts der Tatsache, dass es in der hES-Zellforschung
“beachtliche Fortschritte” gegeben habe - so Ludwig Winnacker - plädierte die neue
Stellungnahme 8 für ein zweistufiges Verfahren: In einem ersten Schritt sollte der Import von
im Ausland hergestellten embryonalen Stammzell-Linien erlaubt werden.
7
8
Experten-Interview “Hoffnung aus der Petrischale”, Berliner Zeitung vom 14.06.2012, siehe http://www.berlinerzeitung.de/teil-4--gesundheit/experten-interview-hoffnung--aus-der-petrischale,16311166,16385810.html
Empfehlungen der DFG zur Forschung mit menschlichen Stammzellen vom 03.05.2001, siehe http://www.dfg.de/
download/pdf/dfg_magazin/forschungspolitik/stammzellforschung/empfehlungen_stammzellen_03_05_01.pdf
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In einem zweiten Schritt könnte den Wissenschaftlern in Deutschland die Gewinnung
embryonaler Stammzell-Linien erlaubt werden. Nur der erste Schritt wurde in Deutschland
dann mit dem Stammzellgesetz möglich.
Die Wurzeln der Diskussionen und Konflikte reichen aber hinter das Jahr 1998 zurück. 1978
war in England das erste IVF-Kind geboren worden, Louise Brown. Mit der Methode der
künstlichen Befruchtung erreichte das menschliche Verfügen über menschliches Leben eine
neue Stufe. Eine intensive und kontroverse Diskussion begann um die neuen Zugriffsmöglichkeiten auf Embryonen, die durch die Befruchtung außerhalb des weiblichen Körpers
entstanden. In Deutschland wurde eine neue Runde der Diskussion um Reichweite und
Grenzen des Schutzes der “Menschenwürde” und um die “Instrumentalisierung”
menschlichen Lebens eingeläutet. Der Deutsche Bundestag setzte 1984 eine erste EnqueteKommission “Chancen und Risiken der Gentechnik” ein. Unter dem Vorsitz von WolfMichael Catenhusen nahm sie eine Vermessung der Themenfelder vor, bündelte die
kontroversen gesellschaftlichen Debatten und gab wichtige Impulse durch Symposien,
Anhörungen und eine eigene Publikationsreihe.
Ein Strang dieser Diskussionen mündete in die Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes im Jahr 1990. In diesem Strafgesetz wurde mit einer subtilen Unterscheidung von
“Vorkernstadien” und “Embryonen” die künstliche Befruchtung ermöglicht und zugleich
sollte die Entstehung “überzähliger” Embryonen verhindert werden. In diesem Gesetz von
1990 wurde auf dem Stand der damaligen Wissenschaft ein Schutzauftrag des Staates nicht
nur für “Embryonen” sondern für alle “totipotenten” Zellen festgeschrieben (§ 8 ESchG).
Auf dem Stand der damaligen Wissenschaft heißt: Vor der erfolgreichen Anwendung von
Methoden der Klonierung („Dolly“) 9.
Die Leistung, die die Abgeordneten in den Jahren 2001/2002 mit der Verabschiedung des
Stammzellgesetzes vollbracht haben, wird nur deutlich, wenn sie im Kontext der damaligen
Diskussionslage gesehen wird. Bis zum Schluss musste um eine Mehrheit für eine Erlaubnis
des Imports gerungen werden - gegen eine Phalanx von Kritikern in allen Parteien.
Wichtige Meinungsführer hatten dezidiert ein Verbot der Embryonenforschung gefordert.
Der damalige Bundespräsident Johannes Rau sprach sich in seiner Berliner Rede vom 18.
Mai 2001 genauso klar gegen die Ermöglichung solcher Forschung in Deutschland aus, wie
die damalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin, der ehemalige Bundesverfassungsrichter (Benda, Böckenförde) oder der Präsident der Bundesärztekammer Jörg
Dietrich Hoppe. Gegensätzliche Standpunkte und harte Kontroversen gab es in fast allen
größeren gesellschaftlichen Gruppen.
Am 14.01.2002, im Vorfeld der Bundestagsdiskussion vom 30.01.2002, schrieben Kardinal
Lehmann und der Ratsvorsitzende an alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages und
baten sie “eindringlich” um ein “klares Votum für die Würde und den Schutz des Menschen
von Anfang an”. Den Befürwortern der Forschung wurde vorgeworfen, sie seien für die
“Vernichtung embryonaler Menschen” 10. Noch am 30. Januar, unmittelbar nach der Debatte,
wurde verlautbart, die Entscheidung sei “mit großer Enttäuschung” 11 aufgenommen worden.
9
10
11
Wilmut, I., et al., Viable offspring derived from fetal and adult mammalian cells. Nature, 1997. 385(6619): p. 810-3.,
siehe http://dx.doi.org/10.1038/385810a0
Kirchen schreiben an Bundestagsabgeordnete : Votum für Schutz des Menschen von Anfang an erbeten / Pressemitteilung der EKD vom 17.01.2002, siehe http://www.ekd.de/presse/pm6_2002_kirchenbrief_mdbs_menschenschutz.html
Zur Entscheidung des Deutschen Bundestages über den Import menschlicher embryonaler Stammzellen / Pressemitteilung der EKD vom 30.01.2002, siehe http://www.ekd.de/presse/pm9_2002_kock_lehmann_embryonenimport.html
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Die kontroverse gesellschaftliche Diskussionslage bildete sich ab in der EnqueteKommission des Deutschen Bundestages “Recht und Ethik der modernen Medizin”.
Diese Enquete-Kommission unter dem Vorsitz von Margot von Renesse veröffentlichte am
21. November 2001 ihren Zwischenbericht “Stammzellforschung” 12. Eine Mehrheit von 17
der 24 anwesenden Mitglieder hatte sich dafür ausgesprochen, jeglichen Import zu
verhindern.
Eine Minderheit um die Vorsitzende Margot von Renesse, die dann eine Schlüsselrolle im
Prozess der Erarbeitung des Stammzellgesetzes und im Werben für eine parlamentarische
Mehrheit spielte, votierte für einen begrenzten Import unter “engen Genehmigungsvoraussetzungen”.
In der Hochzeit der Konflikte um die Regulierung der Stammzellforschung liegt auch die
Geburtsstunde des Ethikrates. Einen Monat nach der Enquete-Kommission legte der
“Nationale Ethikrat” seine Stellungnahme 13 vor, in der 15 Mitglieder den Import
befürworteten, 10 ihn ablehnten.
Wie schwierig die Lage Anfang 2002 war, zeigten die Abstimmungsergebnisse nach der
mehr als vierstündigen Debatte im Deutschen Bundestag am 30. Januar 2002. Die wohlbegründete Eigenlogik des parlamentarischen Verfahrens ebnete schließlich den Weg zu
einer Mehrheit.
Ein Antrag (14/8101 Wodarg u.a.), in dem für ein vollkommenes Verbot des Imports von
Stammzellen plädiert worden war, die aus Embryonen gewonnen werden, erhielt in einer
ersten Abstimmung 263 Stimmen. Das waren mehr Stimmen als jeweils für die Anträge, in
denen für ein prinzipielles Verbot, das aber Ausnahmen zulässt (14/8102 Böhmer/v.
Renesse/Fischer-u.a. - 225 Stimmen) bzw. für eine weitgehende Freigabe des Imports
(14/8103 Flach u.a. - 106 Stimmen) plädiert worden war. Damit hatte keiner der Anträge die
erforderliche Stimmenzahl erhalten und die beiden “bestplazierten” Anträge gingen in einen
zweiten Abstimmungsgang. In ihm entfielen auf den Antrag der Abgeordneten Böhmer/v.
Renesse/Fischer 340 Stimmen und auf den Antrag Wodarg 265 Stimmen 14. Damit war der
Weg frei für die Erarbeitung des Stammzellgesetzes.
Am 25. April 2002 verabschiedete der Deutsche Bundestag in seiner 233. Sitzung mit
großer Mehrheit das “Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang
mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen” 15. Am 1. Juli 2002
trat das Gesetz in Kraft.
4. Das Gesetz hat de facto für deutsche Wissenschaftler den Weg eröffnet zu einer
Forschung mit hES-Zell-Linien in engen Grenzen. Die Verabschiedung des Gesetzes fachte
zunächst nochmals Kritik an.
So bezeichnete etwa der damalige CDU-Bundestagsabgeordnete und stellvertretende
Vorsitzende der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" Hubert
Hüppe am 12. Juli 2002 die neue Stammzellen-"Ethik-Kommission" als ein
“Abnickgremium”. Die Kommission sei “einseitig mit Befürwortern der verbrauchenden
12
13
14
15
Zweiter Zwischenbericht der Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin : Teilbericht
Stammzellforschung, BT 14/7546 vorgelegt am 21.11.2001, S. 58, siehe
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/14/075/1407546.pdf
Zum Import menschlicher embryonaler Stammzellen / Stellungnahme des Nationalen Ethikrats vom Dezember
2001, siehe http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/Stellungnahme_Stammzellimport.pdf
Vgl. das Plenarprotokoll der 214. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 30.01.2002, siehe
http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/14/14214.pdf
Vgl. das Plenarprotokoll der 233. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 25.04.2002, siehe
http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/14/14233.pdf
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Embryonenforschung besetzt”. Die von der Bundesregierung
Kommission lasse keine strengen ethischen Beschränkungen
Stammzellenforschung erwarten 16.
zusammengestellte
der embryonalen
Längerfristig betrachtet hat das Gesetz die Debatte befriedet. Die heftigen Kontroversen mit
Vorwürfen, die zum Teil unter die Gürtellinie gingen, ebbten ab und eine Versachlichung trat
ein.
10 Jahre später, aus heutiger Sicht ist es oft nicht mehr plausibel zu machen, mit welcher
Heftigkeit zunächst auf ganz unterschiedlichen Foren gestritten wurde.
Ein wichtiger Teil der damaligen Debatten kreiste immer wieder um die Frage des sog.
“Status des extrakorporalen Embryos” 17. Im Rückblick auf diese sich im Kreise drehenden
Statusdiskussionen zeigt sich: Philosophen, Juristen, Ethiker, Kirchenvertreter und
Theologen verharrten weitgehend in ihren Beschreibungssprachen. Immer wieder wurde
ums Terrain fürs eigene Fach gekämpft. Die Statusdiskussionen eröffneten kaum neue Wege
der Annäherung oder der Lösung, weil sie einen Argumentationstypus befördern, der an
statischen Setzungen orientiert ist und die Bedeutung unterschiedlicher Handlungskontexte
stark abblendet. Die Debatte blieb aporetisch und ebbte deshalb auch ab.
Herausgebildet haben sich labil und prekär bleibende Formen des Umgangs mit dem
Dissens, wie sie sich auch am Stammzellgesetz ablesen lassen. Das Gesetz ist in dieser
Hinsicht auch ehrlich, insofern es diese schwierige Gemengelage der Abwägung und der
Suche nach einem schonenden Ausgleich (praktische Konkordanz) zwischen verschiedenen
Grundrechten nicht verschleiert sondern offenlegt.
Durch diese politischen Anstrengungen wurde 2002 ein Weg für den Umgang mit
bleibendem Dissens gefunden, der allen etwas zumutet und doch zugleich befriedend in der
politischen Kultur gewirkt hat.
5. Eine weitere Etappe in der deutschen Konfliktgeschichte der Stammzellforschung ist der
Weg, der zur Änderung des Gesetzes im Jahr 2008 führte. Vier Jahre nach der
Verabschiedung des Gesetzes mehrten sich Stimmen, die sich für eine Änderung der
“Stichtagsregelung” aussprachen.
Die Stichtagsregelung, um die in den Jahren 2006 - 2008 erneut gestritten wurde, ist im
Herbst 2001 aus den USA “importiert” worden. Das Stichtagsmodell geht zurück auf
“remarks” von Präsident George W. Bush, die er am 9. August 2001 auf seiner Ranch in
Texas machte 18. Bush sprach sich dafür aus, staatliche Fördermittel nur für die “ca. 60 ZellLinen” zu verwenden, die seinen Informationen zufolge zu jenem Zeitpunkt bereits
existierten. Forschung, zumal privat finanzierte, wurde damit nicht verboten. Am Schicksal
der Embryonen, die für die Herstellung getötet worden seien, könne nichts mehr geändert
werden und es sei ethisch legitim, diese embryonalen Stammzell-Linien für einen guten
Zweck zu nutzen.
Dieser Hintergrund ist wichtig zum Verständnis des Satzes mit dem ein Leitgedanke im
deutschen Gesetzgebungsprozess formuliert worden war: “Von Deutschland darf kein
Anreiz zur Tötung von Embryonen für die Forschung ausgehen”.
16
17
18
http://www.huberthueppe.de/bio/020712.shtml
Vgl. pars pro toto die “Ergebnisse” des vierjährigen BMBF geförderten Projekts Giovanni Maio (Hg), Der Status
des extrakorporalen Embryos. Perspektiven eines interdisziplinären Zugangs, Stuttgart u. Bad Cannstatt, 2007
President Discusses Stem Cell Research vom 09.08.2001, siehe
http://georgewbush-whitehouse.archives.gov/news/releases/2001/08/20010809-2.html
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Nach der Entscheidung für eine Stichtagsregelung in den USA begannen die National
Institutes of Health eine Stammzellbank einzurichten und starteten ein aufwendiges
Forschungsprogramm, um die Eigenschaften dieser Zell-Linien zu bestimmen. Dabei stellte
sich heraus, dass es zwar vermutlich 78 “stichtagsgerechte” Linien gibt, davon aber nur 22
verwendbar sind. Die naturwissenschaftlichen Grundlagen, auf denen das Stichtagsmodell
aufbaute, erwiesen sich bald als sandiger Boden.
Nach dem im deutschen Gesetz festgelegten Stichtag, dem 1. Januar 2002, haben
Wissenschaftler neue hES-Zell-Linien etabliert. Es ist gelungen Zellen zu kultivieren, die
nicht mehr durch tierische Nährmedien verunreinigt sind, und Modellsysteme für
Krankheiten wurden entwickelt. All diese Zellen durften von deutschen Wissenschaftlern
nicht verwendet werden.
Verschärft wurde die Lage dadurch, dass die Stammzellforschung sich nicht national isoliert
betreiben lässt, sondern international in hohem Maße vernetzt ist. Deutsche Forscher
werden einerseits aufgefordert, sich an EU-Förderprogrammen zu beteiligen und mit
ausländischen Wissenschaftlern zu kooperieren. Andererseits müssen sie sich dann in
solchen Verbundprojekten aus bestimmten Forschungsfeldern ausklinken, wenn dort mit
Zell-Linien gearbeitet wird, die nach dem deutschen Stichtag gewonnen wurden. Sie sollen
im Wettrennen mitmachen, aber zuerst werden ihnen die Füße gebunden.
Erschwerend kam hinzu, dass die strafrechtlichen Bestimmungen im Hinblick auf die
Beteiligung deutscher Wissenschaftler an Forschungsprojekten im Ausland nicht klar waren.
Rechtssicherheit ist ein wichtiges ethisches Gut. Sie war für deutsche Wissenschaftler nicht
gegeben und deswegen bestand politischer Handlungsbedarf.
Eine Initialzündung für die neuen Kontroversen war die Stellungnahme, die die Deutsche
Forschungsgemeinschaft im Oktober 2006 veröffentlichte 19. In diesem Papier wurde nach
einer ausführlichen Darstellung der Veränderungen in der Forschungslandschaft die
vollkommene Aufhebung des Stichtages gefordert. Die “Berlin-Brandenburgische
Akademie der Wissenschaften” sprach sich am 13. Dezember für einen “rollenden Stichtag”
aus 20. Das Präsidium der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina forderte im
April 2007 ebenfalls eine Abschaffung des Stichtages 21.
Die durch diese Stellungnahmen ausgelösten Diskussionen zeigten, dass das
Konfliktpotential der Stammzellforschung immer noch hoch war. So warf etwa der Kölner
Kardinal Meisner der Bundesforschungsministerin Annette Schavan vor, sie beuge sich dem
“Druck von Interessenvertretern” aus der Wissenschaft und sei “unwahrhaftig”, weil Frau
Schavan wie Kanzlerin Angela Merkel sich für eine Änderung des Stammzellgesetzes in
engen Grenzen ausgesprochen hatte 22. Wieder gingen die Konfliktlinien quer durch alle
Parteien und gesellschaftlichen Gruppen. Theologen wie der damalige Ratsvorsitzende
19
20
21
22
Stammzellforschung in Deutschland : Möglichkeiten und Perspektiven / Stellungnahme der DFG, Oktober 2006,
http://www.dfg.de/download/pdf/dfg_im_profil/reden_stellungnahmen/2006/stammzellforschung_deutschland_lang
_0610.pdf
Stammzellforschung und Zelltherapie : Stand des Wissens und der Rahmenbedingungen in Deutschland,
Supplement zum Gentechnologiebericht / BBAW, 2006, siehe
http://edoc.bbaw.de/volltexte/2008/824/pdf/25GDSAS5VJwao.pdf
Stellungnahme des Präsidiums der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina zur Stammzellforschung in
Deutschland, 2007, siehe http://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2007_NatEmpf_StemCells-DE.pdf
Kölner Kardinal attackiert CDU-Ministerin / Kölner Stadtanzeiger, 06.12.2007, siehe
http://www.ksta.de/politik/koelner-kardinal-attackiert-cdu-ministerin,15187246,13304406.html
Vgl. den Überblick über die Debatte um die Novellierung in Konrad Hilpert (Hg.), Forschung contra Lebensschutz.
Der Streit um die Stammzellforschung, Freiburg i. B. 2009.
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Huber, der 2002 noch für ein Verbot der Stammzellforschung in Deutschland eingetreten
war, jetzt aber den Kurs der Kanzlerin und Ministerin unterstützte, wurden als
“Steigbügelhalter” einer Politik kritisiert, die das sog. “Wertfundament” unserer
Gesellschaft untergrabe. Antonio Autiero, Mitglied der ZES, sprach im Hinblick auf diese
Debatten von einem “verletzenden Fundamentalismus” und einem “Vereinfachungswahn”
der sich erneut Ausdruck verschaffe. Diese Haltungen verdrängen was “in unserer ethischen
Tradition” als unverzichtbar für “vernunftgeleitete Anstrengungen” zur praktischen
Urteilsbildung angesehen wurde, die “Kardinaltugend der Mäßigung” 23.
Der Bundestag hat am 14.02.2008 in einer fast vierstündigen Debatte über die Novellierung
des Stammzellgesetzes diskutiert. Eine abstrakte Menschenwürde- und Status-Diskussion
wurde kaum geführt. Einen stärkeren Fokus bildete die Forschungsfreiheit. Es zeichnete
sich eine parlamentarische Mehrheit für eine einmalige Verschiebung ab.
Am 11. April 2008 hat dann der Bundestag mit einer Mehrheit von 346 Stimmen bei 228
Gegenstimmen und 6 Enthaltungen das Gesetz zur Änderung des Stammzellgesetzes
verabschiedet. Damit wurde der der Stichtag vom 1. Januar 2002 auf den 1. Mai 2007
verschoben und die Strafandrohung des StZG auf das Inland beschränkt.
Kritisch gefragt wurde, ob eine Verschiebung des Stichtages nicht dazu führt, dass die
nächste Verschiebung schon vorprogrammiert ist? Die Kritiker befürchteten, es werde nicht
bei einer einmaligen Verschiebung bleiben. Die Ethik werde damit zu einer “Wanderdüne”.
Wer so argumentiert, beschreibt politische Prozesse so als seien es Naturprozesse, deren
Ablaufgesetze sich nicht von uns bestimmen lassen.
Die Neufestsetzung des Stichtages band die grundlegenden Abwägungsprozesse eng ans
Parlament. Der Gesetzgeber macht dabei deutlich, dass er sich bleibend verantwortlich weiß
in diesen sensiblen Fragen.
6. Zwei weitere Stationen an denen sich zeigt, dass das Konfliktpotential der embryonalen
Stammzellforschung immer wieder entflammbar ist, will ich noch kurz nennen.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seinem Urteil vom 18.10.2011
„Brüstle/Greenpeace“ (C-34/10) 24 eine weitreichende Auslegung des Begriffs
„Embryo“ vorgenommen und damit eine neue Welle der Diskussion um die hES-ZellForschung ausgelöst.
In einer Pressemitteilung vom 07.12.2011 25 äußerte die Allianz der Wissenschaftsorganisationen ihre Besorgnis “über mögliche negative Konsequenzen für die Forschung aus
der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Auslegung des Begriffs
„Embryo“. Das Urteil könne dazu beitragen, die Forschung mit humanen embryonalen
Stammzellen insgesamt zu “diskreditieren” bzw. sie in einem “negativen Licht” erscheinen
zu lassen und die Forschenden “moralisch zu diskreditieren”. Im EU-Parlament wurde das
Urteil von einigen Abgeordneten verwendet, um ihre Forderung nach Einstellung aller
Förderung von hES-Zell-Forschung durch die EU zu untermauern.
23
24
25
Autiero: Verletzender Fundamentalismus, In: Die Zeit vom 03.01.2008, siehe: http://www.zeit.de/2008/02/MStammzellforschung
Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 18. Oktober 2011. Oliver Brüstle gegen Greenpeace eV., siehe
http://curia.europa.eu/juris/liste.jsf?language=de&num=C-34/10
EuGH-Urteil zu Embryonen darf nicht zu Lasten der Forschung ausgelegt werden / Pressemitteilung der Allianz der
Wissenschaftsorganisationen, 07.12.2011, siehe
http://www.dfg.de/download/pdf/dfg_im_profil/reden_stellungnahmen/2011/stellungnahme_allianz_eugh_urteil_sta
mmzellen_111207.pdf
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Prof. Dr. KlausTanner
Forschung an humanen embryonalen Stammzellen in engen Grenzen - eine Konfliktgeschichte.
Auf der EU-Ebene wird zur Zeit intensiv über das nächste Rahmenprogramm für Forschung
und Innovation "Horizont 2020" verhandelt. Dabei entbrannte eine neue Auseinandersetzung um die Förderung der Stammzell- und Embryonenforschung. Versuche, die Förderrichtlinien zu ändern, provozierten heftigen Widerstand. Auch im neuen Rahmenprogramm
sollen die Finanzierung von Embryonen-verbrauchenden Forschungsprojekten, einschließlich der Gewinnung menschlicher embryonaler Stammzellen, ausgeschlossen werden.
7. Abschließend will ich einige offene Probleme nennen, die auch in Zukunft dafür sorgen
werden, dass die Stammzelldiskussionen für weitere Unruhe sorgen werden. An erster Stelle
ist hier die Dynamik der naturwissenschaftlichen Forschung zu nennen.
­ Die deutsche Regulierung der Stammzellforschung bedient sich bis heute des Strafrechts
als Instrument. Dieses Instrument ist resistent gegen Änderungen. Das muss immer
wieder zu Spannungen führen in einem Handlungs- und Forschungsfeld, das offen ist und
sich schnell verändert. Das erfordert zumindest ein genaues Monitoring. Schon im
Hinblick auf das Embryonenschutzgesetz wurde dieses Problem klar notiert. Im
Kommentar von Keller et al. von 1992 findet sich die Forderung: “Insoweit das ESchG
notwendige Fortschritte der bundesdeutschen Wissenschaft und Technik in unverantwortbarer Weise bremst, bedarf es der fortlaufenden sorgfältigen Beobachtung. Die Straftatbestände des ESchG sind deshalb in periodischen Abständen zu überprüfen”. 26 Solch eine
Überprüfung der Straftatbestände ist bis heute, nach über 20 Jahren, nicht erfolgt.
­ Die Beschränkung der Einfuhr von hES-Zellen auf Forschungszwecke konterkariert
jenen Legitimationshorizont, an dessen ethischer Valenz kaum jemand zweifelt: Das
Interesse an Aufklärung über die Entstehung von Krankheiten bzw. die mögliche
Entwicklung von Therapien und klinisch relevanten diagnostischen Verfahren ist groß.
Die Forscher werden in eine paradoxe Situation gebracht: Permanent sollen sie ihre
Arbeit durch den Nachweis ihrer Anwendungsrelevanz legitimieren, zugleich wird der
Schritt in solche Anwendungen untersagt.
Deshalb wird auch über die Erweiterung der Einfuhrzwecke wieder diskutiert werden,
wenn die Grundlagenforschung verstärkt in Richtung Anwendung geht.
­ Das im ESchG wie StZG qua Strafgesetz festgeschriebene Kriterium der Totipotenz für
die Schutzwürdigkeit stellt einen andauernden Unruheherd in den Debatten dar. Nachdem
mit den Klonierungsverfahren eine künstliche Erzeugung von Totipotenz ohne die
“Verschmelzung von Ei und Samenzelle” (ESchG) möglich war, wurde im § 3 des
Stammzellgesetzes zwar am Begriff “Totipotenz” festgehalten, seine inhaltliche Füllung
aber geändert, indem nur noch auf die Entwicklungsfähigkeit Bezug genommen wurde
und nicht mehr auf die Kernverschmelzung. Auf die Widersprüchlichkeit dieser
Regelungen wurde immer wieder hingewiesen. Exemplarisch verweise ich auf den im
Dezember 2005 veröffentlichten Bericht der Bioethik-Kommission des Landes
Rheinland-Pfalz “Fortpflanzungsmedizin und Embryonenschutz. Medizinische, ethische
und rechtliche Gesichtspunkte zum Revisionsbedarf von Embryonenschutz- und
Stammzellgesetz”. Im Bericht heißt es, die gesetzlichen Regelungen seien normativ
widersprüchlich. „Ein stimmiges Gesamtkonzept ist erforderlich” 27.
26
27
Keller / Günther / Kaiser: Embryonenschutzgesetz : Kommentar, a.a.O., S. 87 IV B 25, Kohlhammer Verl, 1992
Fortpflanzungsmedizin und Embryonenschutz : Medizinische, ethische und rechtliche Gesichtspunkte zum
Revisionsbedarf von Embryonenschutz- und Stammzellgesetz / Bericht der Bioethik-Kommission des Landes
Rheinland-Pfalz, 12.12.2005, siehe http://www.mjv.rlp.de/icc/justiz/nav/634/binarywriterservlet?imgUid=09620dd6e553-d801-33e2-dcf9f9d3490f&uBasVariant=11111111-1111-1111-1111-111111111111
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Prof. Dr. KlausTanner
Forschung an humanen embryonalen Stammzellen in engen Grenzen - eine Konfliktgeschichte.
2006 veröffentlichten die japanischen Wissenschaftler Yamanaka und Takahashi eine Arbeit
in der gezeigt wurde, dass die Reprogrammierung von adulten Körperzellen im Prinzip
möglich ist ohne die Verwendung von Eizellen. Schnell gelang es dann auch solche
induzierten pluripotenten Stammzellen (hiPS-Zellen) aus menschlichen adulten Zellen
herzustellen. Damit begann eine neue Welle der Forschung mit einem neuen künstlich
erzeugten Typus von Zellen. Gezeigt wurde mit der experimentell induzierten Pluripotenz,
wie plastisch das Entwicklungspotential ist und wie problematisch deshalb die fixen
Grenzziehungen des Embryonenschutz- und des Stammzellgesetzes sind.
Es werden bereits automatisierte Produktionswege auf der Grundlage der iPS Technologie
entwickelt, mit denen Patienten-spezifische Zellen für Wirkstoffscreenings hergestellt
werden sollen.
Eine Arbeitsgruppe der Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften und der
Leopoldina - Nationale Akademie der Wissenschaften - hat die durch diese Methoden
geschaffenen Möglichkeiten und Herausforderungen in einer Publikation zusammengefasst,
die 2009 veröffentlicht wurde 28. Vorgeschlagen wurde, zwischen “natürlicher” und
“experimentell erzeugter Totipotenz” zu unterscheiden. Solch eine Unterscheidung hat
Konsequenzen in der Definition von Schutzbereichen. Hinter die Klarheit des Kriteriums
“Totipotenz”, das eine Schlüsselrolle in den deutschen gesetzlichen Regelungen spielt,
wurde aus dem Fortschritt der Forschung heraus ein starkes Fragezeichen gesetzt.
8. Weder die Horrorszenarien noch Heilsversprechen, die vor 10 Jahren in Umlauf gebracht
worden waren, sind eingetreten. Es gibt keine Gründe für die Annahme, die 2002
befürchteten “Dammbrüche” und das Schlittern in den Abgrund ethischer Beliebigkeit durch
die Stammzellforschung habe stattgefunden. Insgesamt kann im Rückblick auf die deutsche
Stammzellforschung seit dem Jahr 2002 gesagt werden: Die beteiligten Wissenschaftler sind
in großer Mehrheit verantwortungsvoll und sensibel auch mit den ethischen Fragen
umgegangen. Viele haben sich immer wieder neu, über ihre Arbeit im Labor hinaus,
öffentlichen Diskussionen gestellt und sich auf unzähligen Foren, Podien und Symposien
um die ethischen Fragen gemüht. Anlass zu einem Generalverdacht in Richtung
“verantwortungslose Wissenschaft” haben sie jedenfalls nicht gegeben.
Die Wissenschaft geht den langsamen Gang der hochspezialisierten Grundlagenforschung.
Dabei besteht unter den meisten Wissenschaftlern Einigkeit darüber, dass es wenig sinnvoll
ist, immer wieder neu aus politischen Interessen die Forschung mit adulten Stammzellen
gegen die hES-Zell-Forschung in Stellung zu bringen. Beim immer noch geringen
Kenntnisstand über die Zellentwicklung wird die Forschung in ganzer Breite gebraucht und
jeder Wissenschaftler, der mit adulten Stammzellen oder hiPS-Zellen arbeitet, rezipiert und
verwendet Ergebnisse aus der hES-Zell-Forschung. Im 8. Tätigkeitsbericht der ZES
(2009/2010) heißt es dazu: “Die in der Öffentlichkeit oft geäußerte Annahme, dass hESZellen lediglich für eine Übergangszeit und als bloßes Vergleichsmaterial für andere
pluripotente Zelltypen benötigt würden, wird weder durch die aus den Anträgen ersichtliche
Entwicklung der Forschungsaktivitäten in Deutschland noch durch die internationale
wissenschaftliche Entwicklung bestätigt. hES-Zellen sind nach wie vor ein eigenständiger
Forschungsgegenstand, an dem unabhängig von der Forschung an hiPS-Zellen wesentliche
wissenschaftliche Fragestellungen untersucht werden”.
28
Neue Wege der Stammzellforschung : Reprogrammierung von differenzierten Körperzellen, 2009, BerlinBrandenburgische Akad. der Wiss.: Berlin 28 S., siehe http://www.bbaw.de/service/publikationenbestellen/manifeste-und-leitlinien/BBAW_Stammzellforschung.pdf
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Prof. Dr. KlausTanner
Forschung an humanen embryonalen Stammzellen in engen Grenzen - eine Konfliktgeschichte.
Schnelle Erfolge, klinisch relevante Anwendungsmöglichkeiten hat die Forschung nicht
hervorgebracht. Mehr als ein Jahrzehnt nach der Entdeckung humaner embryonaler
Stammzellen begannen erste klinische Versuche. Die amerikanische Firma Geron startete
2008 ein Genehmigungsverfahren für eine Studie, die darauf zielte, eine Therapiemöglichkeit für Rückenmarksverletzungen zu entwickeln. Im September 2010 fanden die
ersten Versuche statt. Am 14. November 2011 gab Geron bekannt, die Studie und die ganze
Stammzellforschung werde eingestellt. Ebenfalls 2011 begannen in den USA zwei klinische
Studien zur Behandlung von Augenkrankheiten.
Die Versprechungen, die alle Entwicklung neuer Forschungsfelder im größeren Kontext
möglicher medizinischen Anwendungen begleiten, wecken in einer Welt voller Krankheit
und Leid immer wieder auch neue Hoffnungen bei Patienten. Hier ist von allen Beteiligen
Sensibilität und Zurückhaltung gefordert im Hinblick auf therapeutische Anwendungen.
Immerhin sahen sich große Wissenschaftlervereinigungen, wie die International Society of
Stem Cell Research, genötigt, kritisch zum Stammzelltourismus Stellung zu nehmen und zu
warnen vor Heilungsversprechen 29.
29
Übersetzung auf der Homepage des Kompetenznetzwerkes Stammzellforschung NRW, siehe
http://www.stammzellen.nrw.de/fileadmin/media/documents/Aktuelles/PatientenhandbuchzurStammzelltherapie.pdf
Seite 12
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