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O-Ton: 23:40: Das kommt daher, dass die Fragen nach Moral und Unmoral, nach Recht und Unrecht, das sind ja theologische Fragen und im Krimi geht es ja immer um elementare Fragen, weil es da fast immer um Leben und Tod geht, und von daher gibt es eine natürliche Nähe, die Frage nach Recht und Unrecht ist im Krimi immer präsent, und je intensiver das beackert wird, desto näher ist das dann auch an der Theologie. Lutz Lemhöfer, katholischer Theologe. Musik: Derrick-Thema 3. O-Ton 1:27:00. Da sind wir bei den Sinnfragen des Lebens, und selbst wenn wir sagen, wir glauben eigentlich nicht, dass da noch irgendwas kommt, sind wir bei den Sinnfragen des Lebens: ja, was ist denn, wenn ich sterblich bin, das sind wir ja alle, kommt wirklich nichts danach, oder wenn man das Gute will und dann passiert trotzdem das Böse, warum lässt Gott das zu – wenn es ihn denn gibt. Gisa Klönne, Krimiautorin. Musik: Derrick-Thema Die Kriminalliteratur hat sich gewandelt: in den 50er, 60er und 70er Jahren waren es meist Krimis in der Machart eines Edgar Wallace’, bei denen es um Spannung, aber vor allem um das Rätselraten ging, wer denn der Mörder ist. Stilistisch leichte Unterhaltung, tiefgehend waren nur die Einstiche der blutigen Messer. Musik: Bill Ramsey: Ohne Krimi geht die Mimi Doch das hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert: initiiert durch die skandinavischen Krimis von Sjöwall/Wahlöö, Hennig Mankell oder eine Hakan Nesser, fortgeführt durch Asa Larsson, Jo Nesbo oder Stieg Larsson. In einigen dieser Krimis geht es um das religiöse Milieu, und das, obwohl die skandinavischen Gesellschaften als sehr säkularisiert gelten; die lutherischen Staatskirchen vermitteln nicht gerade den Eindruck, dass der Heilige Geist dort die Gemeinden jeden Sonntag in geistliche Aufwallungen stürzt. Besonders reizvoll scheint für skandinavische Schriftsteller das sektenähnliche Gemeindeleben von fundamentalistischen Freikirchen zu sein - wie zum Beispiel in Asa Larssons Debüt „Sonnensturm“. Für die Schwedin aus Kiruna, einer Stadt weit nördlich des Polarkreises, ein Blick zurück in ihre Jugend, denn sie war selbst Mitglied einer Freikirche: 4. O-Ton: I have always …. Overvoice-Sprecherin: Anfangs habe ich immer über meine ersten beiden Bücher gesagt: Nein, ich habe nicht meinen Ärger verarbeitet, aber wahrscheinlich war es doch so, dass ich viel Wut in mir hatte, die raus musste. (…) Aber die Gemeinde war zunächst gut für mich: es gab dort Trost und Stabilität. Als meine Eltern sich scheiden ließen, war ich 16. Ich habe in der Gemeinde Freunde gefunden. Allerdings: wir durften nur religiöse Filme sehen, nur religiöse Bücher lesen, den Mädchen wurde vorgeschrieben, wie sie sich zu kleiden hatten, uns wurde genau vorgeschrieben, was wir zu glauben hatten. Und schließlich bin ich abends ausgegangen und habe Zigaretten geraucht, was vollkommen verboten war. Am Ende ihrer Schulzeit hat sie dann die Gemeinde verlassen und ist auch aus Kiruna, aus Lappland, fortgezogen. Ihre Erfahrungen in der engen Welt einer Freikirche hat sie dann in „Sonnensturm“ zu einem Bestseller verarbeitet: 5. O-Ton 1:23:30: we are always …. Overvoice-Sprecherin: Wir wollen immer gern wissen, was hinter der Fassade passiert. Das macht den Reiz aus an Verbrechen in der Oberschicht, oder das man wissen will, was passiert wirklich in scheinbar perfekten Familien, und ich fühlte mich sehr provoziert durch Leute, die von sich behaupteten: Ich kann Gottes Stimme hören, ich bin Gott näher als du, ich lebe eine besseres Leben als du. Das ist provozierend, und das führt dazu, das man hinter die Fassade schauen will. Auch in den Romanen von Henning Mankell tauchen ultrafromme Menschen auf, die sich von der Gesellschaft abgrenzen. Lutz Lemhöfer, katholischer Referent für Weltanschauungsfragen im Bistum Limburg, über den Reiz von christlich-fundamentalistischen Gruppen in Krimis: 6. O-Ton Sie verwirren und verstören manchmal eine säkulare Gesellschaft, die für tausend Verhaltensweisen eine Erklärung finden kann, aber nicht dafür, wenn einer radikal religiös ist. Diese Fremdheit, der Einbruch von etwas ganz Fremden in ein säkulares Milieu, das reizt die Schriftsteller, damit umzugehen. Das neue Buch der Kölnerin Gisa Klönne spielt auch im kirchlichen Milieu. Allerdings nicht in der Fundi-Szene, sondern in der katholischen Kirche. Leserinnen und Leser werden schon mit dem ersten Satz auf die „Farben der Schuld“ – so der Titel - eingestimmt – ein Zitat aus dem Alten Testament, aus dem Buch Hiob: Sprecherin: Nackt kam ich hervor aus dem Schoß meiner Mutter, und nackt kehre ich dorthin zurück. Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gepriesen. Gisa Klönne ist auf der Fährte ihrer Protagonistin, der Hauptkommissarin Judith Krieger, ins katholische Milieu vorgestoßen. 7. O-Ton: Der Ausgangspunkt war eben: sie hat in Notwehr getötet, wäre fast dabei ums Leben gekommen, und für sie folgt daraus die Frage: Hat sie noch das moralische Recht, Todesermittlerin zu sein, wo sie doch selbst getötet hat. Für die Recherchen des neuen Buches mit dem durchaus theologisch klingenden Titel „Farben der Schuld“ hat die Autorin auch mit Polizeiseelsorgern gesprochen: 8. O-Ton: Ich kam dann auf das Thema Beichtgeheimnis, dann kristallisierte sich das Thema raus: Okay, was wäre jetzt, wenn es da eine Verbindung gäbe zu dem nächsten Fall, den Judith Krieger ermittelt. Sie vertraut sich einem Priester an, und dieser Priester ist wiederum in einem Mord an einen anderen Priester verwickelt. So bin ich im kirchlichen Milieu gelandet. Gerade die katholische Kirche - und in Reinform der Vatikan - bieten sich für Mord und Todschlag an: Dan Browns Thriller wurden mit diesem Rezept zu Bestsellern: wie zum Beispiel Illuminati, die Story über einen Geheimbund, der versucht, die katholische Kirche zu zerstören: Hörbuch, CD 5, Take 2: Robert Langdon versuchte einen Sinn in diesen Worten zu erkennen. Ein gefährlicher Feind? Die führenden Kardinäle waren tot, der Papst war tot, Langdon fand die Antwort in den schwarzen Augen des Assassinen, der Camerlengo. Carlo Ventresca war derjenige, der sich Verlauf dieser schwerwiegenden Krise als ein Leuchtfeuer der Christen in der Welt erwiesen hatte, er war das letzte Ziel der Illiminati. 9. O-Ton: 36:35 (Lemhöfer) der Reiz kommt von der Gegenüberstellung: hier ist eine Institution, die steht eigentlich für das Gute, will für das Gute stehen und gerade da macht sich das Böse breit, vielleicht sogar in der Maske des Guten. Eigentlich ist das ein Kompliment an religiöse Institutionen, weil man sie mit dem Anspruch darauf, gut zu sein, behaftet und das bei ihnen einklagt. Ebenso wie die Kirche eignet sich die textliche Grundlage dieser Institution, die Bibel, für das Spiel der Gegensätze. So in dem Bestseller „Verblendung“ von Stieg Larsson, der im vergangenen Jahr verfilmt wurde. Hier bringen verschlüsselte Bibelverse die Hauptfiguren Mikael Blomquist und Lisbeth Salander auf die Spur brutaler Morde: 11. O-Ton: 32:50 (Lemhöfer) Einerseits: die Bibel steht für Frömmigkeit und Recht, allein wenn man die Bibel zitiert, spielt man auf diese Assoziation mit an, und wenn das dann in Zusammenhang mit grausamen Verbrechen kommt, ist das ein ganz reizvoller Verfremdungseffekt; es spielt auch eine Rolle, dass die Themen des Krimis auch in der Bibel eine Rolle spielen, Machspiele, Machtkämpfe, Mord und Totschlag, Gewalt ist in der Bibel präsent, ich behaupte sogar, die erste Detektivfigur der Weltgeschichte kommt in der Bibel vor: der Prophet Daniel, der die keusche Susanna dadurch rettet, dass er ihre Denunzianten ins Kreuzverhör nimmt und ihnen nachweist, dass sie sich widersprechen. Musik: Pater Brown- Thema Das Religiöse taucht aber noch in einer ganz anderen Weise in Krimis auf: in der Person des Ermittlers. Klassisch dafür ist Chestertons Pater Brown, jener katholische Pfarrer, der in fast 50 Büchern als Hobby-Kriminalist aktiv wurde. In Deutschland wurde Pater Brown vor allem durch die Heinz-Rühmann-Filme in den 60er Jahren berühmt. Für Petra Bahr, die Kulturbeauftragte der EKD, und den Katholiken Lutz Lemhöfer ist es keineswegs abwegig, dass ein Theologe als Ermittler dem Verbrechen nachspürt: 13. O-Ton: (Lemhöfer) Einem Theologen unterstellt man erst einmal, dass er mehr verstehen will, er will nicht nur herauskriegen: wer war es, denjenigen vor Gericht bringen und sich nicht mehr drum kümmern, man erwartet von ihm mehr Einfühlsamkeit, man erwartet von ihm eine besondere Moralität. Und man erwartet, dass Fragen von Recht und Unrecht, auch jenseits des Gesetzes, legal und legitim ist ja nicht immer das Gleiche, dass die von einem theologisch angehauchten Ermittler eine größere Rolle spielen. 14. O-Ton: (Bahr) Ein ganz klein bisschen detektivisches Gespür braucht jeder Pfarrer, die Neugier, in ganz fremde Kontexte vorzustoßen. Jedes Seelsorgegespräch ist, wenn es gut läuft, hinter die Oberfläche, auf die Spur von etwas zu kommen. Die Tatsache, dass Geistliche die Abgründe von Menschen nicht scheuen, weil sie darum wissen, dass Menschen mehr sind als das, was sie als Fassade vor sich hertragen, nicht immer gut, nicht immer richtig, nicht immer höflich, spricht dafür, dass so mancher Pfarrer ein guter Ermittler wäre. Wie zum Beispiel Polonius Fischer, den der Münchener Friedrich Ani, Deutschlands renommiertester Krimiautor, kreiert hat. In „Idylle der Hyänen“ schreibt Ani über seinen Protagonisten: CD. Hörbuch Mit 19 Jahren hatte er eine Ausbildung absolviert und eine Zeitlang in seinem Beruf gearbeitet, bevor er von einem Tag auf den anderen seine Dienstuniform ablegte und gegen einen Habit tauschte, den er dann neun Jahre lang trug. Nach dieser Zeit kehrte er abermals zur vollkommenen Überraschung der ihm nahe Stehenden seiner Zelle den Rücken und erweiterte seine frühere Ausbildung. Bis er eine Stelle in jener Abteilung fand, die er schon als 19jähriger heimlich angestrebt hatte. Polonius Fischer, aufgestiegen zum Hauptkommissar im Kommissariat 111, sorgte schon mit seinem ersten Mordfall, dessen Aufklärung er als Sachbearbeiter verantwortete, für Aufsehen – nicht nur, weil er den Hauptverdächtigen innerhalb weniger Tage überführte, sondern vor allem, weil er sich mit dem Täter in eine Zelle des Untersuchungsgefängnisses hatte sperren lassen. Dort legte der Mann, aufgewühlt von der Nähe des ehemaligen Mönchs, eine Art Lebensbeichte ab. 15. O-Ton: (Ani) Auf jeden Fall ist es eine hilfreiche Vergangenheit für ihn gewesen, die Beschäftigung mit Leben und Tod und mit den existentiellen Fragen, das ist natürlich etwas, was einen Kommissar ständig umtreibt. Erläutert Friedrich Ani. 16. O-Ton: Insofern ist er in einer etwas bevorzugten Situation, weil er einfach über diese Fragen wirklich nachgedacht hat außerhalb eines Nachdenkens in einem polizeilichen Sinne, sondern an der Grenze dessen, was man überhaupt denken kann, und es fällt ihm auch nach wie vor schwer zu begreifen, warum jemand einen Mord begeht, warum jemand nicht innehält im letzten Moment. Neun Jahre war Polonius Fischer Mönch, bevor er ins Kommissariat wechselte. Er konnte das Schweigen im Kloster nicht mehr ertragen, zweifelte an seiner Berufung, doch den Glauben an Gott hat er nicht verloren: 17. O-Ton: Jemand, der solche Brüche hinter sich hat, versteht Menschen wahrscheinlich auch gut, die selber in einer brüchigen Situation sind, also Hinterbliebene, Angehörige von Opfern, Leute, die mit einer Mordsituation zu tun haben, da ist er verständnisvoll, kann vieles nachvollziehen, ist auch eher ein intellektueller Kommissar. CD- Hörbuch: Bevor wir offiziell beginnen, möchte ich einige Verse aus den Psalmen sprechen und ich bitte Sie, mich nicht nach Erklärungen zu fragen, schließen Sie bitte die Augen. Verwirrt sah Liz ihn an er lächelte und sie schloss die Augen. Während er den Psalm rezitierte betrachtete er seine Hände die er die Innenflächen nach oben auf den rechten Knie übereinandergelegt hatte. ‚Mit lauter Stimme schreie ich zum Herrn, laut flehe ich zum Herrn um Gnade…….’ (runterblenden) 18. O-Ton: (Ani) Der Polonius Fischer hat ein paar Dinge in die neue Zeit mit rübergerettet, zum Beispiel dass, wenn er Angehörige befragt oder Bekannte und Freunde von Opfern, dass er dann plötzlich einen Psalm zitiert, das führt dazu. Das die Leute erst einmal irritiert sind und manchmal auch beruhigt werden. ….. die Gerechten scharen sich um mich, weil du mir Gutes tust. Nach einem Schweigen sagte Fischer: Sie dürfen die Augen wieder öffnen. 19. O-Ton: Und er hat etwas sehr Merkwürdiges übernommen, nämlich das Ritual des Vorlesens beim Essen, das ist ja im Kloster normal, und er hat das irgendwann eingeführt bei seinen Kollegen, das sind elf Leute, insgesamt zwölf, werden natürlich von den anderen Kollegen die zwölf Apostel genannt. Dass Friedrich Ani einen ehemaligen Mönch zum Hauptkommissar befördert hat und dass in seinen Romanen immer wieder religiöse Motive auftauchen, hat auch biographische Gründe: 20. O-Ton: Ich bin katholisch aufgewachsen in einem oberbayerischen Dorf, ich habe jeden Sonntag in der Kirche ministriert, also ich bin mit der Bibel aufgewachsen. Ich habe natürlich wie jeder Autor mich immer für die aberwitzigen Geschichten interessiert. Insofern ist es für mich ein guter Anlass, über den Kriminalroman immer mal wieder die Bibel zur Hand zu nehmen. 21. O-Ton: Bei guten Krimis geht es nie nur um juristische Schuld. Sagt die evangelische Theologin Petra Bahr. 22. O-Ton: Es ist oft so, dass die Ermittler mit dem, was sie an Recht an ihrer Seite haben, scheitern oder auch anfangen, die Sympathie für Täter zu entwickeln, weil man merkt, die Welt ist komplizierter als das Recht, und vor allem gibt es mehr als Recht und sogar auch mehr als Moral, denn es ist ja oft auch gar nicht so einfach, auch moralisch eine Tat zu bewerten, wenn etwa wie das ein „Tatort“ getan hat, ein Vater, dessen Tochter mehrmals vergewaltigt wurde, irgendwann selbst zum Täter wird, sind die moralischen Bewertungen ganz schön kompliziert. In einem guten Krimi geht es eben nicht um gut und böse, um den fiesen Täter, das arme Opfer und den edlen Polizisten, nicht nur um die gerechte Gefängnisstrafe für den überführten Mörder. 23. O-Ton: Das Recht schafft es, unsere Welt in klare Verhältnisse zu ordnen, der Krimi hat das Privileg, die klaren Verhältnisse wieder zu so ein bisschen zu verunklaren. Weil man in der Lage ist, Menschen ganz komplex zu zeigen: mit ihrer Geschichte, mit ihren Verwerfungen, mit ihrem Hass, ihren Leidenschaften: deswegen ist die Frage, wer es denn jetzt war, fast schon die Unwichtigste, im Vordergrund steht eigentlich das Panorama, was sich da entwickelt, das Seelenpanorama. Neben Schuld, Rache, Sühne und Gerechtigkeit geht es in guten Krimis auch oft das Zwischenmenschliche, um Vergebung und Buße, wie bei dem norwegischen Krimiautor Jo Nesbo. Er lässt seinen Kommissar Harry Hole im Gespräch mit einer Kollegin rasönnieren: Sprecherin: Harry holte tief Luft. „Alle Menschen haben das Bedürfnis, Buße zu tun, Beate. Du tust das und, weiß Gott, ich tue es auch. Und Raskol tut es. Das ist ebenso grundlegend wie sich zu waschen. Es geht um Harmonie, um eine lebensnotwendige Balance in unserem Inneren. Und diese Balance nennen wir Moral. (…) Niemand weiß, warum sich Raskol der Polizei gestellt hat“, sagte Harry. „Aber ich bin überzeugt, dass er das getan hat, um zu büßen. Denn für einen, dessen einzige Freiheit es war, zu reisen, ist das Gefängnis die ultimative Strafe. (...) Nehmen wir mal an, er hätte ein Verbrechen begangen, dass ihm die Balance geraubt hat. So dass er sich entschied, in vollkommener Einsamkeit zu büßen, für sich – und wenn er einen hat – für Gott“. – Beate brachte endlich die Worte über die Lippen. „Ein moralischer Mörder?“. Harry wartete, aber mehr kam nicht. „Ein moralischer Mensch ist einer, der die Konsequenzen seiner eigenen Moral zieht“, sagte er leise. „Sonst nichts“. (S. 464) 24. O-Ton: (Bahr) Unsere Gesellschaft hat ja keine offizielle Instanz fürs Vergeben, denn Vergebung geht ja nur zwischen Menschen, und eine Gesellschaft kann nicht vergeben, sie hat die Verantwortung, einen Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Vergebung funktioniert jenseits der Frage, ob jemand verurteilt wird oder nicht. Ähnlich wie vielleicht Strafverteidiger, Rechtsanwälte oder Polizisten lesen auch Theologen aus einem ganz bestimmten Blickwinkel Krimis, meint Petra Bahr: 25. O-Ton: Natürlich haben Theologen einen ausgeprägten Sinn dafür, wie zum Beispiel die Frage von Verdrängung und Vergebung thematisiert wird, insofern kann es sein, dass deshalb so ungewöhnlich viele Pfarrerinnen und Pfarrer so leidenschaftliche Krimileser und auch Tatort-Gucker sind. In Seminaren und Fortbildungen arbeitet der Theologe und Krimifan Lutz Lemhöfer manchmal mit Kriminalromanen, denn religiöse Fragen um Schuld und Vergebung, um Recht, Gerechtigkeit und Moral lassen sich durch einen Krimi manchmal einfacher transportieren als durch theologische Schriften. 26. O-Ton: 30:40: Menschen beschäftigen sich durchaus gerne mit theologischen Fragestellungen, wenn sie im fremden Gewand daherkommen. Leute, die nie die Bibel gelesen haben, lesen Dan Brown und beschäftigen sich damit, ob Jesus mit Maria Magdalena verheiratet war oder nicht. Lemhöfer sieht in Krimis fast so etwas wie eine missionarische Chance. 27. O-Ton: 39:20: Vielleicht ist es wirklich so, dass in unserer Gesellschaft die Botschaft der Religion erst über den Umweg einer Verfremdung noch mal deutlich werden kann. Was der Frankfurter aber gar nicht leiden kann: Krimis aus der Feder von Theologen, deren Absichten der Leser schon auf den ersten Seiten auf die Spur kommt: 28. O-Ton: Wenn man das zu pädagogischen Zwecken nutzt, geht das schief. Es gibt auch aus manchen frommen Verlagen Kriminalromane, aber denen trieft die Pädagogik so aus jeder Zeile, das kann man nicht lesen. Und Petra Bahr empfiehlt ihren Kolleginnen und Kollegen auf der Kanzel, doch öfter mal über einen Krimi zu predigen. 29. O-Ton: Man kann vom Krimi glaube ich auch lernen, wie man eine Geschichte so erzählt, dass sie Menschen fasziniert, und zwar Menschen ganz unterschiedlicher Milieus und Schichten, indem man exemplarisch wird und nicht so im Allgemeinen bleibt, und indem man sich traut, eine Geschichte in ihren ganzen Facetten nachzuerzählen. Und deswegen wünschte ich mir eher umgekehrt, dass diejenigen, die sich an den biblischen Stoffen versuchen, sich eher an einem Krimi als an der Gebrauchsanweisung für ein Medikament ein Beispiel nehmen.