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Religionen vom 5. Juni 2010
Michael Hollenbach: Krimis und die Religion
1. O-Ton: 55:30: Der Krimi thematisiert ja, dadurch dass er die Abgründe des
Menschen thematisiert, die ganz großen Themen: Brudermord, Liebesverrat, in
jeder Hinsicht das, was wir Schuldig-Werden nennen, die Frage nach
Verdrängung, nach Vergebung, nach Rache. Das sind ganz zentrale Themen,
die die Religion auf ihre Weise ja auch versucht zu bewältigen.
Petra Bahr, Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Musik: Derrick-Thema
2. O-Ton: 23:40: Das kommt daher, dass die Fragen nach Moral und Unmoral,
nach Recht und Unrecht, das sind ja theologische Fragen und im Krimi geht es
ja immer um elementare Fragen, weil es da fast immer um Leben und Tod geht,
und von daher gibt es eine natürliche Nähe, die Frage nach Recht und Unrecht
ist im Krimi immer präsent, und je intensiver das beackert wird, desto näher ist
das dann auch an der Theologie.
Lutz Lemhöfer, katholischer Theologe.
Musik: Derrick-Thema
3. O-Ton 1:27:00. Da sind wir bei den Sinnfragen des Lebens, und selbst wenn
wir sagen, wir glauben eigentlich nicht, dass da noch irgendwas kommt, sind wir
bei den Sinnfragen des Lebens: ja, was ist denn, wenn ich sterblich bin, das sind
wir ja alle, kommt wirklich nichts danach, oder wenn man das Gute will und
dann passiert trotzdem das Böse, warum lässt Gott das zu – wenn es ihn denn
gibt.
Gisa Klönne, Krimiautorin.
Musik: Derrick-Thema
Die Kriminalliteratur hat sich gewandelt: in den 50er, 60er und 70er Jahren
waren es meist Krimis in der Machart eines Edgar Wallace’, bei denen es um
Spannung, aber vor allem um das Rätselraten ging, wer denn der Mörder ist.
Stilistisch leichte Unterhaltung, tiefgehend waren nur die Einstiche der blutigen
Messer.
Musik: Bill Ramsey: Ohne Krimi geht die Mimi
Doch das hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert: initiiert durch die
skandinavischen Krimis von Sjöwall/Wahlöö, Hennig Mankell oder eine Hakan
Nesser, fortgeführt durch Asa Larsson, Jo Nesbo oder Stieg Larsson. In einigen
dieser Krimis geht es um das religiöse Milieu, und das, obwohl die
skandinavischen Gesellschaften als sehr säkularisiert gelten; die lutherischen
Staatskirchen vermitteln nicht gerade den Eindruck, dass der Heilige Geist dort
die Gemeinden jeden Sonntag in geistliche Aufwallungen stürzt. Besonders
reizvoll scheint für skandinavische Schriftsteller das sektenähnliche
Gemeindeleben von fundamentalistischen Freikirchen zu sein - wie zum
Beispiel in Asa Larssons Debüt „Sonnensturm“. Für die Schwedin aus Kiruna,
einer Stadt weit nördlich des Polarkreises, ein Blick zurück in ihre Jugend, denn
sie war selbst Mitglied einer Freikirche:
4. O-Ton: I have always ….
Overvoice-Sprecherin: Anfangs habe ich immer über meine ersten beiden
Bücher gesagt: Nein, ich habe nicht meinen Ärger verarbeitet, aber
wahrscheinlich war es doch so, dass ich viel Wut in mir hatte, die raus musste.
(…) Aber die Gemeinde war zunächst gut für mich: es gab dort Trost und
Stabilität. Als meine Eltern sich scheiden ließen, war ich 16. Ich habe in der
Gemeinde Freunde gefunden. Allerdings: wir durften nur religiöse Filme sehen,
nur religiöse Bücher lesen, den Mädchen wurde vorgeschrieben, wie sie sich zu
kleiden hatten, uns wurde genau vorgeschrieben, was wir zu glauben hatten.
Und schließlich bin ich abends ausgegangen und habe Zigaretten geraucht, was
vollkommen verboten war.
Am Ende ihrer Schulzeit hat sie dann die Gemeinde verlassen und ist auch aus
Kiruna, aus Lappland, fortgezogen. Ihre Erfahrungen in der engen Welt einer
Freikirche hat sie dann in „Sonnensturm“ zu einem Bestseller verarbeitet:
5. O-Ton 1:23:30: we are always ….
Overvoice-Sprecherin: Wir wollen immer gern wissen, was hinter der Fassade
passiert. Das macht den Reiz aus an Verbrechen in der Oberschicht, oder das
man wissen will, was passiert wirklich in scheinbar perfekten Familien, und ich
fühlte mich sehr provoziert durch Leute, die von sich behaupteten: Ich kann
Gottes Stimme hören, ich bin Gott näher als du, ich lebe eine besseres Leben als
du. Das ist provozierend, und das führt dazu, das man hinter die Fassade
schauen will.
Auch in den Romanen von Henning Mankell tauchen ultrafromme Menschen
auf, die sich von der Gesellschaft abgrenzen. Lutz Lemhöfer, katholischer
Referent für Weltanschauungsfragen im Bistum Limburg, über den Reiz von
christlich-fundamentalistischen Gruppen in Krimis:
6. O-Ton Sie verwirren und verstören manchmal eine säkulare Gesellschaft, die
für tausend Verhaltensweisen eine Erklärung finden kann, aber nicht dafür,
wenn einer radikal religiös ist. Diese Fremdheit, der Einbruch von etwas ganz
Fremden in ein säkulares Milieu, das reizt die Schriftsteller, damit umzugehen.
Das neue Buch der Kölnerin Gisa Klönne spielt auch im kirchlichen Milieu.
Allerdings nicht in der Fundi-Szene, sondern in der katholischen Kirche.
Leserinnen und Leser werden schon mit dem ersten Satz auf die „Farben der
Schuld“ – so der Titel - eingestimmt – ein Zitat aus dem Alten Testament, aus
dem Buch Hiob:
Sprecherin:
Nackt kam ich hervor aus dem Schoß meiner Mutter, und nackt kehre ich
dorthin zurück. Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des
Herrn sei gepriesen.
Gisa Klönne ist auf der Fährte ihrer Protagonistin, der Hauptkommissarin Judith
Krieger, ins katholische Milieu vorgestoßen.
7. O-Ton: Der Ausgangspunkt war eben: sie hat in Notwehr getötet, wäre fast
dabei ums Leben gekommen, und für sie folgt daraus die Frage: Hat sie noch
das moralische Recht, Todesermittlerin zu sein, wo sie doch selbst getötet hat.
Für die Recherchen des neuen Buches mit dem durchaus theologisch klingenden
Titel „Farben der Schuld“ hat die Autorin auch mit Polizeiseelsorgern
gesprochen:
8. O-Ton: Ich kam dann auf das Thema Beichtgeheimnis, dann kristallisierte
sich das Thema raus: Okay, was wäre jetzt, wenn es da eine Verbindung gäbe zu
dem nächsten Fall, den Judith Krieger ermittelt. Sie vertraut sich einem Priester
an, und dieser Priester ist wiederum in einem Mord an einen anderen Priester
verwickelt. So bin ich im kirchlichen Milieu gelandet.
Gerade die katholische Kirche - und in Reinform der Vatikan - bieten sich für
Mord und Todschlag an: Dan Browns Thriller wurden mit diesem Rezept zu
Bestsellern: wie zum Beispiel Illuminati, die Story über einen Geheimbund, der
versucht, die katholische Kirche zu zerstören:
Hörbuch, CD 5, Take 2:
Robert Langdon versuchte einen Sinn in diesen Worten zu erkennen. Ein
gefährlicher Feind? Die führenden Kardinäle waren tot, der Papst war tot,
Langdon fand die Antwort in den schwarzen Augen des Assassinen, der
Camerlengo. Carlo Ventresca war derjenige, der sich Verlauf dieser
schwerwiegenden Krise als ein Leuchtfeuer der Christen in der Welt erwiesen
hatte, er war das letzte Ziel der Illiminati.
9. O-Ton: 36:35 (Lemhöfer) der Reiz kommt von der Gegenüberstellung: hier
ist eine Institution, die steht eigentlich für das Gute, will für das Gute stehen und
gerade da macht sich das Böse breit, vielleicht sogar in der Maske des Guten.
Eigentlich ist das ein Kompliment an religiöse Institutionen, weil man sie mit
dem Anspruch darauf, gut zu sein, behaftet und das bei ihnen einklagt.
Ebenso wie die Kirche eignet sich die textliche Grundlage dieser Institution, die
Bibel, für das Spiel der Gegensätze. So in dem Bestseller „Verblendung“ von
Stieg Larsson, der im vergangenen Jahr verfilmt wurde. Hier bringen
verschlüsselte Bibelverse die Hauptfiguren Mikael Blomquist und Lisbeth
Salander auf die Spur brutaler Morde:
11. O-Ton: 32:50 (Lemhöfer) Einerseits: die Bibel steht für Frömmigkeit und
Recht, allein wenn man die Bibel zitiert, spielt man auf diese Assoziation mit an,
und wenn das dann in Zusammenhang mit grausamen Verbrechen kommt, ist
das ein ganz reizvoller Verfremdungseffekt; es spielt auch eine Rolle, dass die
Themen des Krimis auch in der Bibel eine Rolle spielen, Machspiele,
Machtkämpfe, Mord und Totschlag, Gewalt ist in der Bibel präsent, ich
behaupte sogar, die erste Detektivfigur der Weltgeschichte kommt in der Bibel
vor: der Prophet Daniel, der die keusche Susanna dadurch rettet, dass er ihre
Denunzianten ins Kreuzverhör nimmt und ihnen nachweist, dass sie sich
widersprechen.
Musik: Pater Brown- Thema
Das Religiöse taucht aber noch in einer ganz anderen Weise in Krimis auf: in
der Person des Ermittlers. Klassisch dafür ist Chestertons Pater Brown, jener
katholische Pfarrer, der in fast 50 Büchern als Hobby-Kriminalist aktiv wurde.
In Deutschland wurde Pater Brown vor allem durch die Heinz-Rühmann-Filme
in den 60er Jahren berühmt.
Für Petra Bahr, die Kulturbeauftragte der EKD, und den Katholiken Lutz
Lemhöfer ist es keineswegs abwegig, dass ein Theologe als Ermittler dem
Verbrechen nachspürt:
13. O-Ton: (Lemhöfer) Einem Theologen unterstellt man erst einmal, dass er
mehr verstehen will, er will nicht nur herauskriegen: wer war es, denjenigen vor
Gericht bringen und sich nicht mehr drum kümmern, man erwartet von ihm
mehr Einfühlsamkeit, man erwartet von ihm eine besondere Moralität. Und man
erwartet, dass Fragen von Recht und Unrecht, auch jenseits des Gesetzes, legal
und legitim ist ja nicht immer das Gleiche, dass die von einem theologisch
angehauchten Ermittler eine größere Rolle spielen.
14. O-Ton: (Bahr) Ein ganz klein bisschen detektivisches Gespür braucht jeder
Pfarrer, die Neugier, in ganz fremde Kontexte vorzustoßen. Jedes
Seelsorgegespräch ist, wenn es gut läuft, hinter die Oberfläche, auf die Spur von
etwas zu kommen. Die Tatsache, dass Geistliche die Abgründe von Menschen
nicht scheuen, weil sie darum wissen, dass Menschen mehr sind als das, was sie
als Fassade vor sich hertragen, nicht immer gut, nicht immer richtig, nicht
immer höflich, spricht dafür, dass so mancher Pfarrer ein guter Ermittler wäre.
Wie zum Beispiel Polonius Fischer, den der Münchener Friedrich Ani,
Deutschlands renommiertester Krimiautor, kreiert hat. In „Idylle der
Hyänen“ schreibt Ani über seinen Protagonisten:
CD. Hörbuch
Mit 19 Jahren hatte er eine Ausbildung absolviert und eine Zeitlang in seinem
Beruf gearbeitet, bevor er von einem Tag auf den anderen seine Dienstuniform
ablegte und gegen einen Habit tauschte, den er dann neun Jahre lang trug. Nach
dieser Zeit kehrte er abermals zur vollkommenen Überraschung der ihm nahe
Stehenden seiner Zelle den Rücken und erweiterte seine frühere Ausbildung. Bis
er eine Stelle in jener Abteilung fand, die er schon als 19jähriger heimlich
angestrebt hatte. Polonius Fischer, aufgestiegen zum Hauptkommissar im
Kommissariat 111, sorgte schon mit seinem ersten Mordfall, dessen Aufklärung
er als Sachbearbeiter verantwortete, für Aufsehen – nicht nur, weil er den
Hauptverdächtigen innerhalb weniger Tage überführte, sondern vor allem, weil
er sich mit dem Täter in eine Zelle des Untersuchungsgefängnisses hatte sperren
lassen. Dort legte der Mann, aufgewühlt von der Nähe des ehemaligen Mönchs,
eine Art Lebensbeichte ab.
15. O-Ton: (Ani) Auf jeden Fall ist es eine hilfreiche Vergangenheit für ihn
gewesen, die Beschäftigung mit Leben und Tod und mit den existentiellen
Fragen, das ist natürlich etwas, was einen Kommissar ständig umtreibt.
Erläutert Friedrich Ani.
16. O-Ton: Insofern ist er in einer etwas bevorzugten Situation, weil er einfach
über diese Fragen wirklich nachgedacht hat außerhalb eines Nachdenkens in
einem polizeilichen Sinne, sondern an der Grenze dessen, was man überhaupt
denken kann, und es fällt ihm auch nach wie vor schwer zu begreifen, warum
jemand einen Mord begeht, warum jemand nicht innehält im letzten Moment.
Neun Jahre war Polonius Fischer Mönch, bevor er ins Kommissariat wechselte.
Er konnte das Schweigen im Kloster nicht mehr ertragen, zweifelte an seiner
Berufung, doch den Glauben an Gott hat er nicht verloren:
17. O-Ton: Jemand, der solche Brüche hinter sich hat, versteht Menschen
wahrscheinlich auch gut, die selber in einer brüchigen Situation sind, also
Hinterbliebene, Angehörige von Opfern, Leute, die mit einer Mordsituation zu
tun haben, da ist er verständnisvoll, kann vieles nachvollziehen, ist auch eher ein
intellektueller Kommissar.
CD- Hörbuch: Bevor wir offiziell beginnen, möchte ich einige Verse aus den
Psalmen sprechen und ich bitte Sie, mich nicht nach Erklärungen zu fragen,
schließen Sie bitte die Augen. Verwirrt sah Liz ihn an er lächelte und sie schloss
die Augen. Während er den Psalm rezitierte betrachtete er seine Hände die er die
Innenflächen nach oben auf den rechten Knie übereinandergelegt hatte. ‚Mit
lauter Stimme schreie ich zum Herrn, laut flehe ich zum Herrn um Gnade…….’
(runterblenden)
18. O-Ton: (Ani) Der Polonius Fischer hat ein paar Dinge in die neue Zeit mit
rübergerettet, zum Beispiel dass, wenn er Angehörige befragt oder Bekannte und
Freunde von Opfern, dass er dann plötzlich einen Psalm zitiert, das führt dazu.
Das die Leute erst einmal irritiert sind und manchmal auch beruhigt werden.
….. die Gerechten scharen sich um mich, weil du mir Gutes tust. Nach einem
Schweigen sagte Fischer: Sie dürfen die Augen wieder öffnen.
19. O-Ton: Und er hat etwas sehr Merkwürdiges übernommen, nämlich das
Ritual des Vorlesens beim Essen, das ist ja im Kloster normal, und er hat das
irgendwann eingeführt bei seinen Kollegen, das sind elf Leute, insgesamt zwölf,
werden natürlich von den anderen Kollegen die zwölf Apostel genannt.
Dass Friedrich Ani einen ehemaligen Mönch zum Hauptkommissar befördert
hat und dass in seinen Romanen immer wieder religiöse Motive auftauchen, hat
auch biographische Gründe:
20. O-Ton: Ich bin katholisch aufgewachsen in einem oberbayerischen Dorf,
ich habe jeden Sonntag in der Kirche ministriert, also ich bin mit der Bibel
aufgewachsen. Ich habe natürlich wie jeder Autor mich immer für die
aberwitzigen Geschichten interessiert. Insofern ist es für mich ein guter Anlass,
über den Kriminalroman immer mal wieder die Bibel zur Hand zu nehmen.
21. O-Ton: Bei guten Krimis geht es nie nur um juristische Schuld.
Sagt die evangelische Theologin Petra Bahr.
22. O-Ton: Es ist oft so, dass die Ermittler mit dem, was sie an Recht an ihrer
Seite haben, scheitern oder auch anfangen, die Sympathie für Täter zu
entwickeln, weil man merkt, die Welt ist komplizierter als das Recht, und vor
allem gibt es mehr als Recht und sogar auch mehr als Moral, denn es ist ja oft
auch gar nicht so einfach, auch moralisch eine Tat zu bewerten, wenn etwa wie
das ein „Tatort“ getan hat, ein Vater, dessen Tochter mehrmals vergewaltigt
wurde, irgendwann selbst zum Täter wird, sind die moralischen Bewertungen
ganz schön kompliziert.
In einem guten Krimi geht es eben nicht um gut und böse, um den fiesen Täter,
das arme Opfer und den edlen Polizisten, nicht nur um die gerechte
Gefängnisstrafe für den überführten Mörder.
23. O-Ton: Das Recht schafft es, unsere Welt in klare Verhältnisse zu ordnen,
der Krimi hat das Privileg, die klaren Verhältnisse wieder zu so ein bisschen zu
verunklaren. Weil man in der Lage ist, Menschen ganz komplex zu zeigen: mit
ihrer Geschichte, mit ihren Verwerfungen, mit ihrem Hass, ihren Leidenschaften:
deswegen ist die Frage, wer es denn jetzt war, fast schon die Unwichtigste, im
Vordergrund steht eigentlich das Panorama, was sich da entwickelt, das
Seelenpanorama.
Neben Schuld, Rache, Sühne und Gerechtigkeit geht es in guten Krimis auch oft
das Zwischenmenschliche, um Vergebung und Buße, wie bei dem norwegischen
Krimiautor Jo Nesbo. Er lässt seinen Kommissar Harry Hole im Gespräch mit
einer Kollegin rasönnieren:
Sprecherin:
Harry holte tief Luft.
„Alle Menschen haben das Bedürfnis, Buße zu tun, Beate. Du tust das und, weiß
Gott, ich tue es auch. Und Raskol tut es. Das ist ebenso grundlegend wie sich zu
waschen. Es geht um Harmonie, um eine lebensnotwendige Balance in unserem
Inneren. Und diese Balance nennen wir Moral. (…) Niemand weiß, warum sich
Raskol der Polizei gestellt hat“, sagte Harry. „Aber ich bin überzeugt, dass er
das getan hat, um zu büßen. Denn für einen, dessen einzige Freiheit es war, zu
reisen, ist das Gefängnis die ultimative Strafe. (...) Nehmen wir mal an, er hätte
ein Verbrechen begangen, dass ihm die Balance geraubt hat. So dass er sich
entschied, in vollkommener Einsamkeit zu büßen, für sich – und wenn er einen
hat – für Gott“. – Beate brachte endlich die Worte über die Lippen. „Ein
moralischer Mörder?“. Harry wartete, aber mehr kam nicht. „Ein moralischer
Mensch ist einer, der die Konsequenzen seiner eigenen Moral zieht“, sagte er
leise. „Sonst nichts“.
(S. 464)
24. O-Ton: (Bahr) Unsere Gesellschaft hat ja keine offizielle Instanz fürs
Vergeben, denn Vergebung geht ja nur zwischen Menschen, und eine
Gesellschaft kann nicht vergeben, sie hat die Verantwortung, einen Täter zur
Rechenschaft zu ziehen. Vergebung funktioniert jenseits der Frage, ob jemand
verurteilt wird oder nicht.
Ähnlich wie vielleicht Strafverteidiger, Rechtsanwälte oder Polizisten lesen
auch Theologen aus einem ganz bestimmten Blickwinkel Krimis, meint Petra
Bahr:
25. O-Ton: Natürlich haben Theologen einen ausgeprägten Sinn dafür, wie zum
Beispiel die Frage von Verdrängung und Vergebung thematisiert wird, insofern
kann es sein, dass deshalb so ungewöhnlich viele Pfarrerinnen und Pfarrer so
leidenschaftliche Krimileser und auch Tatort-Gucker sind.
In Seminaren und Fortbildungen arbeitet der Theologe und Krimifan Lutz
Lemhöfer manchmal mit Kriminalromanen, denn religiöse Fragen um Schuld
und Vergebung, um Recht, Gerechtigkeit und Moral lassen sich durch einen
Krimi manchmal einfacher transportieren als durch theologische Schriften.
26. O-Ton: 30:40: Menschen beschäftigen sich durchaus gerne mit
theologischen Fragestellungen, wenn sie im fremden Gewand daherkommen.
Leute, die nie die Bibel gelesen haben, lesen Dan Brown und beschäftigen sich
damit, ob Jesus mit Maria Magdalena verheiratet war oder nicht.
Lemhöfer sieht in Krimis fast so etwas wie eine missionarische Chance.
27. O-Ton: 39:20: Vielleicht ist es wirklich so, dass in unserer Gesellschaft die
Botschaft der Religion erst über den Umweg einer Verfremdung noch mal
deutlich werden kann.
Was der Frankfurter aber gar nicht leiden kann: Krimis aus der Feder von
Theologen, deren Absichten der Leser schon auf den ersten Seiten auf die Spur
kommt:
28. O-Ton: Wenn man das zu pädagogischen Zwecken nutzt, geht das schief. Es
gibt auch aus manchen frommen Verlagen Kriminalromane, aber denen trieft die
Pädagogik so aus jeder Zeile, das kann man nicht lesen.
Und Petra Bahr empfiehlt ihren Kolleginnen und Kollegen auf der Kanzel, doch
öfter mal über einen Krimi zu predigen.
29. O-Ton: Man kann vom Krimi glaube ich auch lernen, wie man eine
Geschichte so erzählt, dass sie Menschen fasziniert, und zwar Menschen ganz
unterschiedlicher Milieus und Schichten, indem man exemplarisch wird und
nicht so im Allgemeinen bleibt, und indem man sich traut, eine Geschichte in
ihren ganzen Facetten nachzuerzählen. Und deswegen wünschte ich mir eher
umgekehrt, dass diejenigen, die sich an den biblischen Stoffen versuchen, sich
eher an einem Krimi als an der Gebrauchsanweisung für ein Medikament ein
Beispiel nehmen.
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