11 I GRUNDLAGEN DER ETHIK Eleonore Kemetmüller 1 Einführung in die Thematik Die Tätigkeit in der Pflegepraxis war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts durch die christliche Tradition der Nächstenliebe geprägt und betonte die Assistenzfunktion für Ärzte. In Anlehnung an die Medizin hat sich im Lauf der Jahre auch ein pflegerisches Berufsethos entwickelt (vgl. Höffe 2008, S. 193). „Heute gehören die Ärzte (zusammen mit dem Pflegepersonal, …) den wenigen Berufsständen an, die noch eine eigene Berufsethik kennen. (…) Zum medizinischen Ethos gehören all die Üblichkeiten: die Gewohnheiten, Sitten und Eigenschaften, die den guten Arzt bzw. Pfleger oder Forscher auszeichnen. Sie beginnen mit der selbstverständlichen Verpflichtung, die übernommene Aufgabe gewissenhaft zu erfüllen, deshalb sein Handwerk zu beherrschen und es sorgfältig auszuüben.“ (Höffe 2002, S. 9) Das Berufsethos bezieht sich unter anderem auf den Begriff der Menschenwürde und das Ziel, ein lebenswertes Leben zu ermöglichen. Die Entwicklung eines Berufskodex für die Gesundheits- und Krankenpflege hängt eng mit der berufspolitischen Entwicklung und mit der Entwicklung von nationalen Berufsverbänden zusammen. Er ist ein wichtiges Element im Professionalisierungsprozess. Arend und Gastmann beschreiben einen Berufskodex „als ein zusammenhängendes Ganzes von ethischen Prinzipien und Regeln bezüglich Zielen und Werten eines Berufes und die Haltung und das Verhalten, die für das Fördern und Evaluieren des beruflichen Handelns notwendig sind“. (Arend, Gastmans 1996, S. 11) Der „International Council of Nurses“ (ICN, Hauptsitz Genf, www.icn.ch) begann 1923 an einem Konzept für einen eigenen Ethik-Kodex zu arbeiten. Erst 1953 wurde das Ergebnis – bedingt durch die Unterbrechung der Arbeit während des Zweiten Weltkrieges − angenommen. Dieser ICN-Kodex, die „ethischen Grundregeln der Krankenpflege“, wurde seither laufend überarbeitet. Der ICN-Ethikkodex ist ein Leitfaden, der die Grundlagen für ein Handeln nach sozialen Werten und Bedürfnissen setzt. Die Pflegenden sollen ihn während ihrer gesamten Ausbildungszeit und ihres Arbeitslebens immer vor Augen haben (vgl. Frohner, Marcher 2008, S. 202–203). Die Rechte der deutschen Übersetzung aus dem Jahre 2001 liegen beim Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverband (ÖGKV). berufsethik_170x240_11-26.indd 11 26.11.12 18:24 12 Grundlagen der Ethik Der ICN-Ethikkodex hat vier Grundelemente, die den Standard ethischer Verhaltensweisen bestimmen: 1. Pflegende und ihre Mitmenschen 2. Pflegende und ihre Berufsausübung 3. Pflegende und ihre Profession 4. Pflegende und ihre KollegInnen Der ICN-Ethikkodex beschreibt vier grundlegende Aufgaben der Pflegenden: 1. Gesundheit zu fördern 2. Krankheit zu verhüten 3. Gesundheit wiederherzustellen 4. Leiden zu lindern Professionelles Verhalten in einer beruflich u. U. auch schwierigen Situation ist mehr als fachliches Wissen und praktisches Können. Professionalität bedeutet anspruchsvollen Maßstäben zu genügen. Nicht nur bei der Arbeit, die erledigt wird, sondern im gesamten beruflichen Umfeld und im Umgang mit Menschen – mit KundInnen, BewohnerInnen, PatientInnen, KollegInnen und Vorgesetzten. Professionalität zeigt sich aber vor allem dort, wo keine Gegenleistung (mehr) zu erwarten ist, sie beinhaltet damit aber auch Werte wie Anstand oder Pflichtgefühl, also „berufliches Ethos“. Barbara Carper definiert vier Elemente, die Grundlage für pflegerische Professionalität sein können und als gleichwertig anzusehen sind (vgl. Carper 1978, zit. nach: Cody 2006, S. 19–26): êê empirisches Wissen: Wissen, das verifizierbar (nachprüfbar), objektiv (nicht von Gefühlen und Vorurteilen bestimmt), sachlich (sachbezogen und forschungsbasiert) ist êê ethisches Wissen: Wissen, das uns lehrt, was wertvoll oder wertlos, gut oder schlecht, erwünscht oder unerwünscht ist êê ästhetisches Wissen mit dem Schwerpunkt auf der Kunst der Pflege (Kunstfertigkeit) êê persönliches Wissen mit der Betonung auf Selbstbewusstsein, Selbsterkenntnis und Empathie Aufgaben: A.Erzählen Sie Ihre Gedanken zum Schlüsselbegriff „Berufsethos“ einem anderen Menschen. berufsethik_170x240_11-26.indd 12 26.11.12 18:24 Fragen zur Ethik im Allgemeinen 13 B. Auf welcher Grundlage basieren alle Ethikkodizes? m Privatsphäre m Menschenrechte m Achtung der Bürgerrechte C.Suchen Sie den ICN-Ethikkodex im Internet (www.oegkv.at/internationale-verbindungen/icn.html) und diskutieren Sie ihn mit Pflegepersonen. D.Beschreiben Sie pflegerelevante Beispiele zu empirischem, ethischem, ästhetischem und persönlichem Wissen. 2 Fragen zur Ethik im Allgemeinen êê Bei welchen Fragen erwarten wir uns von der Ethik eine Orientierungshilfe? Inhalte zu ethischen Fragestellungen wären beispielsweise: Festgelegte Prinzipien, geltende Normen und gesellschaftlich anerkannte Werte. êê Welche Fragen beziehen sich auf moralische Probleme? Themen zu moralischen Problemen wären beispielsweise: Sterbehilfe, Organtransplantation, Schweigepflicht, Patientenverfügung, Gentechnik, Umweltbelastung oder Suchtverhalten. Eine rechtliche Regelung setzt schon eine Klärung von ethischen Positionen, Prinzipien der Moralität, Werten und Normen im Sinne der Moral/Sitte voraus. Die angeführten Beispiele zeigen, warum es heute einen so großen Bedarf an ethischen Positionen, Prinzipien der Moralität, Werten und Normen im Sinne der Moral/Sitte gibt − wir erleben geradezu einen Ethik-Boom. Viele gesellschaftliche Teilbereiche werden aus ethischem Blickwinkel betrachtet: Umweltethik, Bioethik, Sozialethik, politische Ethik, Technikethik, Wirtschaftsethik, Medienethik, Wissenschaftsethik usw. In diesen und anderen Gebieten entwickeln sich zunehmend weitere spezifische Bereiche angewandter Ethik, sogenannte „Bereichsethiken“ (auch Spezialethiken genannt). Von der Bereichsethik ist die Berufsethik zu unterscheiden: êê Bereichsethiken bearbeiten moralische Fragen in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen, wohingegen Berufsethiken sich mit moralischen Aspekten in Zusammenhang mit der jeweiligen Berufstätigkeit befasst. êê Eine Berufsethik ist ein Ensemble von normativen Vorstellungen zum wünschenswerten moralischen Verhalten in einem bestimmten Beruf. Sie ist je nach Art, Tradition und Auftrag des Berufes unterschiedlich ausgeprägt und besteht aus dem Berufsethos (mündliche Tradition) und den Berufskodizes (schriftliche Tradition) (vgl. Lay 2004, S. 39). berufsethik_170x240_11-26.indd 13 26.11.12 18:24 14 Grundlagen der Ethik Besondere Fragen der Ethik sind in diesem Zusammenhang: êê Was dürfen wir tun? êê Was dürfen wir nicht tun? êê Was sollen wir tun? êê Was sollen wir nicht tun? êê Warum sollen wir es tun? êê Warum sollen wir es nicht tun? Diese Fragen setzen aber voraus, dass wir etwas tun können. Je mehr medizinisch machbar ist und je schwerwiegender und langfristiger die Folgen sind, umso dringender ist die Ethik gefragt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die traditionelle europäische Ethik – mit ihrem Ursprung in der griechischen Antike – unsere heutigen komplexen Probleme überhaupt lösen kann oder ob wir nicht eine vollkommen neue Ethik brauchen. Viele der Fragen sind jedoch keine neuen Fragen, aber die technischen Möglichkeiten und das Ausmaß – und das Wissen über das Ausmaß – der Folgen sind neu. Zwei grundsätzliche Positionen lassen sich zur Beantwortung unterscheiden: êê Universalismus: Ethische Positionen und moralische Grundsätze (Prinzipien) sind für alle Menschen gleichermaßen verbindlich, unabhängig von Zeit, Ort oder besonderen Umständen. êê Relativismus: Ethische Positionen und moralische Grundsätze (Prinzipien) gelten jeweils nur für eine Gruppe von Menschen, die sich über einen gemeinsamen (kulturellen, historischen, weltanschaulichen oder religiösen) Hintergrund definiert (vgl. Hepfer 2008, S. 21). Aufgaben: A. Beschreiben Sie Beispiele zur Bereichsethik und zur Berufsethik. B. Die Position des Universalismus behauptet, dass … C. Die Position des Relativismus behauptet, dass … 3Schlüsselbegriffe a.) Ethik Der griechische Philosoph Aristoteles (384–322 v. Chr.) war der erste, der die Ethik als eigenständige philosophische Disziplin behandelte. Die Praxis – der Bereich des Handelns – ist ihr Gegenstand, eine verbesserte Praxis ihr Ziel. berufsethik_170x240_11-26.indd 14 26.11.12 18:24 Schlüsselbegriffe 15 Der Begriff Ethik leitet sich vom Wort „ethos“ her und wird in zwei Varianten verwendet: êê als Gewohnheit, Sitte, Brauch (ethisch handeln auf Grundlage von Normen oder Gewohnheit) oder êê als Charakter bzw. Tugend (ethisch handeln auf Grundlage von Einsicht und Überlegung) (vgl. Pieper 2007, S. 24–26). b.) Moral Das lateinische Wort „mos“ (Moral) ist eine Übersetzung der beiden griechischen Ethos-Begriffe und bedeutet sowohl Sitte als auch Charakter. Zu Moral oder Sitte werden jene Handlungsmuster zusammengefasst, denen – aufgrund wechselseitiger Anerkennung – normative Geltung zukommt. Die Ausdrücke Moral/Sitte beschreiben eine soziale Ordnung, sie spiegeln die Wert- und Sinnvorstellungen von Gesellschaften wider, im Sinne von Gewohnheit, Brauch oder Norm (vgl. Pieper 2007, S. 26). c.) Moralität Der abstrakte Begriff Moralität steht der Bedeutung näher, die unter sittlich gutem Charakter und darauf aufbauend zur Entwicklung einer Tugend verstanden wird. Auf der Ebene der Moralität werden Grundsätze (Prinzipien) gebildet, die die Qualität des Handelns unter dem Anspruch des Guten bestimmen. d.) Moralisch/sittlich Diese Begriffe können doppeldeutig verwendet werden: Wenn eine Handlung als moralisch beurteilt wird, so kann dies heißen, dass sie Regeln der geltenden Moral folgt, aber auch, dass sie ihren Grund in der Moralität des Handelnden hat. „Wenn ich von jemandem sage, er sei ein unmoralischer Mensch, so meine ich entweder, sein Verhalten entspreche nicht dem von den meisten anerkannten Moralkodex, oder aber, er habe einen verdorbenen Charakter.“ (Pieper 2007, S. 27) e.) Ethik/ethisch – Moral/moralisch Um die Begriffe sprachlich abzugrenzen, werden Ethik und ethisch auf der Ebene der philosophischen Wissenschaft (Moralphilosophie) verwendet, Ethik hat somit Moralität (Sittlichkeit) und Moral (Sitte) zu ihrem Gegenstand. Die Fragen der Ethik unterscheiden sich von denen der Moral dadurch, dass sie sich nicht unmittelbar auf einzelne Handlungen beziehen, sondern auf der darüberliegenden Ebene theoretisch bearbeitet werden. Auf dieser Ebene werden Grundpositionen für Handlungsvorgänge erstellt (z. B. Mitleidsethik, Diskursethik). berufsethik_170x240_11-26.indd 15 26.11.12 18:24 16 Grundlagen der Ethik f.) Gut und böse – gut und schlecht Die Frage nach der Bedeutung der Worte „gut“ und „böse“ oder „gut“ und „schlecht“ gehört zu den ältesten Fragen der Philosophie und anderer Disziplinen: Geht man nicht zum Arzt, um zu fragen, ob man nach dem Krankenstand schon arbeiten gehen kann? Zum Psychologen um zu fragen, ob man den Beruf oder Partner wechseln soll? Zum Bankfachmann, ob man seine Aktien verkaufen soll? Wo taucht hier aber das Ethische, das Moralische auf? Beachtenswert ist im genannten Zusammenhang, wie das Wort „gut“ verwendet wird. Der Arzt sagt beispielsweise: Es ist gut, wenn Sie noch einen Tag im Bett bleiben. Genau genommen müsste er bei der Verwendung des Wortes „gut“ zwei Zusätze machen. Er müsste sagen: Es ist gut für Sie und es ist gut für Sie, falls Sie in erster Linie gesund werden wollen. Diese Zusätze sind wichtig, denn bei der Problemlösung bedeutet das Wort „gut“ soviel wie: gut für irgendjemand und in einer bestimmten Hinsicht. Weitere Fragen sind: êê Was ist denn eigentlich und wirklich gut für jemanden? êê Welches ist die richtige Rangordnung der Gesichtspunkte? êê Um wessen Interessen, um wessen Gutes soll es denn im Konfliktfall vorrangig gehen? êê Welche Dinge (Eigenschaften, Zustände, Gegenstände) sind gut? Die Bedeutung und Benutzung des Wortes „gut“ ist also von der persönlichen Be„wert“ung und vom Kulturkreis, der Epoche, der Gesellschaftsschicht abhängig (vgl. Spaemann 2004, S. 11–13). g.) Gerechtigkeit Der Sinn für Gerechtigkeit hängt von der individuellen Persönlichkeit ab. Schon in der griechischen Antike war Gerechtigkeit von besonderer Bedeutung. Sie steht für die richtige Balance und für Ordnung. Ein zentrales Element der Gerechtigkeit ist die Gleichheit. Vor Gericht kann nur die strikte Gleichbehandlung aller Menschen gelten. Nach dem englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679) ist „der Mensch des Menschen Wolf“. Die natürliche Form des menschlichen Zusammenlebens ist kein rechtes und friedliches Miteinander, sondern Krieg „aller gegen alle“. Deshalb steht für die Philosophie der Neuzeit nicht mehr die personale Gerechtigkeit wie in der Antike, sondern die institutionelle, also die des Staates, im Vordergrund. Es geht darum, Regeln zu entwickeln, die ein gutes und gerechtes Zusammenleben berufsethik_170x240_11-26.indd 16 26.11.12 18:24 Schlüsselbegriffe 17 auch dann ermöglichen, wenn der Mensch selber nicht gerecht ist (vgl. Hobbes 2007, S. 171–176). So entstehen ab dem 17. Jahrhundert die sogenannten Vertragstheorien. Sie sollen die Menschen voreinander schützen und die entstehenden Gedanken der Aufklärung – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – in das Zusammenleben integrieren. Der Gesellschaftsvertrag des französischen Philosophen Jean Jacques Rousseau (1712–1778) wirkt vorbildlich (vgl. Rousseau 2008, S. 16). Der Freiheit kommt als zentrales Element von Gerechtigkeit besondere Bedeutung zu, und zwar als Begründung der menschlichen Würde. In weiterer Folge werden konkrete Menschenrechte formuliert, die als Grundrechte jedem Menschen allein aufgrund seines Menschseins zukommen und deren Unverletzlichkeit im Staat zu garantieren ist. Zu den Menschenrechten zählen neben dem Recht auf Leben und der Unverletzlichkeit der Person auch das Recht auf freie Ausübung der eigenen Religion, das Recht auf freie Meinungsäußerung, sowie das Recht auf Schutz vor fremder Willkür. Die heutige Rechtsphilosophie versucht ausgeklügelte Verfahrensregeln ohne moralische Appelle zu entwickeln, die den Menschen sozusagen automatisch ein gerechtes Ergebnis versprechen. Allein durch die Anwendung der richtigen Verfahrensregeln soll letztendlich Gerechtigkeit herrschen. In den letzten Jahren haben diesbezüglich zwei Modelle Bedeutung erhalten: die Theorie der Gerechtigkeit als Fairness, entwickelt vom amerikanischen Philosophen John Rawls (1921–2002) und die Diskurstheorie des deutschen Philosophen Jürgen Habermas (geb. 1921). Rawls konstruiert Situationen, in denen die Menschen die Grundgesetze ihrer Gesellschaft festlegen, ohne zu wissen, in welcher Weise sie künftig selber von dieser Regel betroffen sein werden: ob als Kranker oder Gesunder, Armer oder Reicher, Arbeitsloser oder Manager oder als Politiker. Durch dieses Verfahren werden alle Menschen in die gleiche Lage versetzt und niemand gerät in Versuchung, sich Gesetze auszudenken, die ihn besonders bevorzugen (vgl. Kersting 2007, zit. nach: Nida-Rümelin, Özmen 2007, S. 532). Habermas dagegen denkt nicht an fiktive Situationen, sondern an real stattfindende Diskussionen, in denen die jeweils Betroffenen über die Regeln ihres Zusammenlebens selber entscheiden. Dies soll für alle Ebenen in Staat und Gesellschaft und für alle Themen gelten: von den Menschenrechten bis zur Frage des alltäglichen Miteinanders. Nur der „zwanglose Zwang des besseren Argumentes“, so Habermas, soll im Diskurs gelten (vgl. Müller-Doohm 2008, S. 90–93). berufsethik_170x240_11-26.indd 17 26.11.12 18:24 18 Grundlagen der Ethik h.) Freiheit und Verantwortung Die menschliche Freiheit ist eines der ältesten Themen, die die Menschheit beschäftigen. Der deutsche Philosoph Julian Nida-Rümelin (geb. 1954) begründet die nie enden wollende Auseinandersetzung mit Freiheit in einem Spannungsverhältnis zwischen Selbstbild und Weltbild. Das Selbstbild zeigt den Menschen als Akteur, als Verantwortlichen. Die Freiheit, die Menschen empfinden – das Gefühl entscheiden zu können – steht unter der eigenen Kontrolle („frei und verantwortlich“). Das Weltbild zeigt eine naturwissenschaftlich bestimmte Welt mit einem Ursache-Wirkungsverhältnis, woraus für den Menschen ein begrenztes Gestaltungsvermögen folgt (vgl. Nida-Rümelin 2005, S. 8). Der Mensch nimmt wertend Stellung zu fremdem Handeln und selbstkritisch zu eigenem. Er beurteilt Äußerungen und Überzeugungen von anderen Personen und tauscht Gründe für seine Entscheidungen aus. Diese Alltagspraxis, an der alle teilhaben, hat jedoch bestimmte Voraussetzungen: Freiheit und Verantwortung. Es ist nicht vorstellbar, dass eine soziale Welt ohne „moralische Gefühle und reaktive Einstellungen“ gegenüber anderen Personen wie Verzeihen, etwas Übelnehmen oder Dankbarkeit existieren kann. Ohne diese moralischen Empfindungen und reaktiven Einstellungen gäbe es keine moralische (Werte) und soziale (Normen) Praxis der Lebenswelt (vgl. Nida-Rümelin 2005, S. 26–34). i.) Würde „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Ähnlich lautende Sätze finden sich in vielen Übereinkommen und Verträgen (z. B. Artikel 1 der Grundrechtscharta der Europäischen Union). Dieser Satz bedeutet, dass die Würde des Menschen als der höchste zu verteidigende Wert angesehen wird. Mit jeder Entscheidung zum Schutz dieses Wertes kann damit aber ein anderer Wert wie Gesundheit oder Sicherheit verletzt werden. Die Menschenwürde ist eine allgemeine Würde, die nicht nur einzelnen Menschen aufgrund eines Amtes oder besonderer Fähigkeiten zukommt, sondern allen Menschen gleichermaßen, und zwar aufgrund ihres Menschseins. Dieser Gedanke tauchte erstmals in den Schriften des römischen Staatsmannes Cicero (106–43 v. Chr.) auf. Da der Mensch denken (Verstand) und urteilen (Vernunft) kann, ist er über alle anderen Lebewesen erhaben und dies verleiht ihm eine besondere Würde. Der Mensch muss sich dieser Würde aber erst würdig erweisen und zwar durch eine sittliche (moralische) Lebensführung. Diese menschliche Würde kann mit einem religiösen Motiv – der Mensch als Ebenbild Gottes – verbunden sein. berufsethik_170x240_11-26.indd 18 26.11.12 18:24 Schlüsselbegriffe 19 Ebenso wurde in der geschichtlichen Entwicklung die Freiheitlichkeit als ein Merkmal der Würde bestimmt. Der Mensch besitzt die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, und damit zum freien und selbstbestimmten Handeln. Darin liegt seine besondere Würde begründet. Als menschliche Wesensmerkmale werden Verstand und Vernunft, Freiheit und Gottesebenbildlichkeit auch heute noch genannt, wenn es darum geht, die Würde des Menschen zu begründen. Bis heute hat im Besonderen Immanuel Kants (1724−1804) Definition Bedeutung: Die Würde des Menschen ist ein absolut innerer Wert, der über allen Preis erhaben ist. Dies bedeutet, dass die Würde nicht abhängig ist von etwas anderem wie Herkunft oder Fähigkeiten, denn sie ist nicht zufällig, sondern notwendig. Daraus folgt, dass sie allen Menschen zugesprochen werden muss – ohne Ausnahme. Ebenso, dass sie unvergänglich ist. Wie man die Menschenwürde nicht eigens erwerben muss, so kann man sie auch nicht verlieren. Wir finden sie auch nicht in unterschiedlichen Maßen vor, sondern immer gleichermaßen, nämlich vollkommen (vgl. Haltmayer, Heintel, 2004, S. 507−508). Da die Würde über „allen Preis erhaben ist“, gibt es auch keinen gleichwertigen Ersatz. Die Menschenwürde ist sozusagen „unbezahlbar“, sie kann durch nichts aufgewogen oder ersetzt werden. Insofern ist der Mensch einzigartig und darin gründet seine besondere Würde. Aufgrund der Würde kommt dem Menschen eine moralische Forderung zu – unabhängig davon, ob jemand ein „schlechter Mensch“ oder ein „Heiliger“ ist. Wir sollen aber keine schlechten/bösen Menschen sein, sondern gute. Daraus lassen sich berechtigte Ansprüche eines jeden Menschen, die in den Menschenrechten verankert sind, ableiten: das Recht auf Leben, der Wille zum Sterben (Patientenverfügung), Freiheit oder Unverletzlichkeit der Person. Die Würde des Menschen ist aber nicht nur in extremen medizinischen oder pflegerischen Situationen von Bedeutung, sondern auch im Alltag. Fallbeispiel: Angehörige verletzen die Würde des Bewohners „Bei einer Bewohnerin im Seniorenheim zeichnet sich ab, dass sie bald versterben wird. Sie isst seit einigen Tagen nichts mehr und verweigert auch das Trinken. In Absprache des Arztes und der Angehörigen bekommt die Bewohnerin einmal täglich eine 500 ml Infusion NaCl (physiologische Kochsalzlösung): Als ein Pfleger zur Gabe der Infusion in das Zimmer kommt, bemerkt er, dass der Sohn und dessen Frau begonnen haben, die privaten Dinge der Bewohnerin einzupacken. Auf den irritierten Blick des Pflegers antwortet der Sohn mit der Bemerkung: ‚Was schon mal erledigt ist, darum brauchen wir uns später nicht mehr kümmern.‘ berufsethik_170x240_11-26.indd 19 26.11.12 18:24 20 Grundlagen der Ethik Der Pfleger empfindet das Verhalten des Sohnes als unpassend und makaber. Da er nicht weiß, wie er reagieren soll, ignoriert er die unangenehme Situation, erledigt seine geplante Handlung und verlässt danach wortlos das Zimmer. Im Nachhinein ist er verunsichert darüber, ob er sein Empfinden gegenüber dem Sohn nicht hätte ausdrücken sollen.“ (Fölsch 2008, S. 124−125) Aufgaben A. „Die Fragen der Ethik beziehen sich auf konkrete Handlungen von Menschen.“ Begründen Sie, warum diese Aussage falsch ist. B. Die Bedeutung des Wortes „gut“ ist … C. Sind „Werte“ sowohl zeit- als auch kulturgebunden? D. Diskutieren Sie das Thema „Normen in der Pflege“ mit einer Kollegin und in weiterer Folge mit einem Kollegen! E. Welches Menschenbild vertritt der englische Philosoph Thomas Hobbes? Welches Menschenbild vertreten Sie? F. Welcher Grundgedanke liegt der „Vertragstheorie“ zugrunde? G. Welcher Grundgedanke liegt der Diskurstheorie zugrunde? H. Diskutieren Sie in Ihrem beruflichen Umfeld die Begriffe Freiheit und Verantwortung! I. Fassen Sie den Text zum Begriff „Würde“ zusammen und geben Sie ihn schriftlich wieder. Finden Sie anschließend pflegerelevante Beispiele für Situationen, in denen die Würde eines Menschen verletzt worden ist. 4 Wissen − Meinen – Glauben Wer sich mit Wissen bzw. Wissenschaft beschäftigt, sollte sich auch im Klaren darüber sein, was unter Wissen zu verstehen ist, und wie die Differenzierung zu Meinen und Glauben erfolgen kann. Diesen drei Begriffen ist gemeinsam, dass es sich um geistige Tätigkeiten eines Menschen (eines Subjekts) handelt – ­­ insofern sind alle Tätigkeiten subjektiv, ihre Resultate dagegen nicht. a.) Wissen Die Resultate der Wissenschaft gelten unabhängig von der Person intersubjektiv, sind also nur den Bestimmungen des Erkenntnisgegenstandes verpflichtet (sie sind, allgemein gesagt, „objektiv wahr“). berufsethik_170x240_11-26.indd 20 26.11.12 18:24