9783941216068_Leseprobe05

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Vernunft, Verantwortung und Unvergänglichkeit
Dritter Teil:
Zeit und
Unvergänglichkeit
Sechster Baustein:
Zeit als Form oder
formbare Zeit?
Kant und die
Kosmologie
der Gegenwart
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Vernunft, Verantwortung und Unvergänglichkeit
Sechster Baustein
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Dritter Teil: Zeit und Unvergänglichkeit
Vorbemerkungen
Das Zeitverständnis der Juden, Christen und Muslime hängt
mit dem Glauben zusammen, dass das Leben eines jeden
Menschen ein in sich bedeutsames individuelles Drama darstellt, dessen letzter Akt ein jenseitiges Gericht bildet. So wie
hier eine geschlossene, lineare Vorstellung von der Lebenszeit vorliegt, so werden dort, im Hinblick auf die Zeit des Kosmos als ganzem, alle unendlichen und zyklischen Vorstellungen bzw. Modelle zurückgewiesen. Das Leben des einzelnen
Menschen ist besonders für Christen ein jeweils einmaliges
Drama, die Entwicklung des Naturganzen ist kontinuierliche
Schöpfung und das Geschehen von Adam bis zur Wiederkehr
Christi ist Geschichte.
All das ist nicht so selbstverständlich, wie es zunächst scheinen mag. Henri de Lubac (Glauben aus Liebe, Einsiedeln
1992, S. 123f.) verweist zurecht darauf, dass es, nach bedeutsamen jüdischen Anfängen und Weichenstellungen, die
frühen Christen gewesen sind, die mit Entschiedenheit die
Linearität zusammen mit dem Anfang und dem Ende der Zeit
verkündet haben – vor einem ganz anders gearteten Geist
der älteren Zeit:
Quälende Gleichförmigkeit beherrscht diese endlosen Kreisläufe,
diese ‚ewige Wiederkehr’, von der nichts zu erwarten ist, und in
der immer wieder eine Weltzeit – ‚Großes Jahr’, ,Makapalka’, ‚Jubiläum’ oder wie immer sie genannt werden mag – der andren
folgt, immer von neuem beginnt, ohne dass je etwas Wesentliches geschieht. ‚Von neuem wird ein Sokrates wiederkehren und
ein jeder Mensch mit den gleichen Freunden und den gleichen
Mitbürgern, und dies nicht nur einmal, sondern des öfteren, ja
alle Dinge werden ewig wiederkehren (Memesius, De nat. hom.,
c. 38), – aber auch ewig zerstört und gestürzt werden, denn auf
die Phase des Zunehmens folgt die Phase des Zerfalls, und die
aufeinander folgenden ‚Wiedergeburten’ bedeuten damit eben
auch unaufhörlichen Tod: ‚die Unsterblichsetzung des Todes’,
sagt Maximus (Epist. 7). Es ist der Rhythmus des Yin und Yang,
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Dritter Teil: Zeit und Unvergänglichkeit
Sechster Baustein
des Ein- und Ausatmens des Brahma, des weltenerschaffenden
und weltenzerstörenden Tanzes des Shiva […]
Wie die Verabsolutierung der Zeit die Auslöschung des Gedankens der menschlichen Unsterblichkeit oder Auferstehung
in ihrem Gefolge hat, so läuft die Begrenzung der Zeit auf
den Gedanken hinaus, es müsse da etwas sein, das „nach“
der Zeit in unserem Sinne kommt und das wohl auch schon
jetzt und immer außerhalb der Zeit Bestand hat. Nochmals
de Lubac (a. a. O., S. 319f.):
Es gibt im Menschen ein ewiges Element, einen ‚Keim von Ewigkeit’, der schon jetzt ‚oberhalb der Zeit atmet’ und immer, hic
et nunc, der zeitlichen Gesellschaft sich entzieht. Die Wahrheit
seines Wesens übersteigt das Wesen des Menschen. Denn er ist
nach dem Bilde Gottes geschaffen, und im Spiegel seiner Seele spiegelt sich immerdar die Dreifaltigkeit. Aber er ist eben nur
Spiegel, nur Bild. Kehrt also der Mensch mit frevelhafter Gebärde die Beziehung um, wähnt er, die Attribute Gottes an sich zu
reißen, indem er erklärt, Gott sei nach des Menschen Bilde gemacht – dann ist es um ihn geschehen. Die Transzendenz, die er
leugnet, war die Gewähr seiner eigenen Immanenz. Nur durch
das Eingeständnis, dass er Widerschein ist, gewinnt er Eigenständigkeit, nur im Akt der Anbetung sichert er sich eine unverletzbare Tiefe.
Hier leuchtet auch eines der Paradoxe auf, die jedoch wichtiger Bestandteil der Wahrheit über den Menschen sind. Nur
der Mensch, der sich nicht vollständig in die Zeit eingebunden weiß, kann sich in der Zeitlichkeit gänzlich wohl fühlen.
Er fühlt sich von ihr nicht länger verschlungen oder eingekerkert.
Die Unsterblichkeit der Seele stellt für das humanistische
Menschenbild offenbar einen zentralen Fragenkomplex dar.
Freilich „verknäueln“ sich dabei so viele und so schwierige
Einzelfragen, dass man den Versuch, etwas mehr Licht in
diese Sache zu bringen, am liebsten gleich wieder aufgeben
Sechster Baustein
Dritter Teil: Zeit und Unvergänglichkeit
möchte: „Was ist die Seele?“, „Wie interagiert sie mit dem
Leib?“ und „Was ist Willensfreiheit und worin besteht sie?“
sind nur drei von vielen sehr gewichtigen Fragen, die hierbei ins Visier zu nehmen wären. Wir werden das indessen
nicht tun – wohl wissend, dass eine solche Politik im Zuge
der Konstruktion eines neuen Humanismus eigentlich schwer
zu vermitteln ist… Die Beantwortung dieser Fragen muss ein
Desiderat für nachfolgende Bemühungen bleiben.
Der Zugang zur Unsterblichkeitsproblematik, der nun in diesem dritten Teil erfolgen wird, verläuft über den ebenfalls
nicht gerade einfachen Weg einer Philosophie der Zeit. Im
Folgenden soll somit etwas näher von diesem rätselhaften
Phänomen die Rede sein und dies von zwei Seiten her: seitens der Naturwissenschaft und seitens der Philosophie, insbesondere derjenigen Kants. Nur ganz am Anfang und ganz
am Schluss wird noch kurz angesprochen, was zwei große
Dichter (Shakespeare und Dostojewski) über Zeit und Ewigkeit sagen. (Der besonderen Schwierigkeit des Themas „Zeit“
geschuldet, wird dieser letzte Teil ein wenig schwerer zu verstehen sein als die vorausliegenden Texte. Er ist, wie schon
der Blick auf die gehäuften Fußnoten zeigt, etwas „akademischer“ in der Form, was sich indessen schwer hätte anders
bewerkstelligen lassen.)
Diese Ausgangspunkte sind noch präzisierbar. Obwohl mehrere Naturwissenschaften mit Problemen des Zeitverständnisses befasst sind (so etwa auch die empirische Psychologie), ist hier in erster Linie die physikalische Kosmologie
angefragt, und obwohl die Zeit in verschiedenen philosophischen Disziplinen eine Rolle spielt (so etwa auch in der
Erkenntnistheorie), verortet die Schultradition die Zeitlehre
in der Metaphysik und hier nochmals genauer in der Metaphysica specialis, Abteilung philosophische Kosmologie. Bei
Kant allerdings, der die folgenden Erkundungen in dem Zwischenbereich von Physik und Philosophie anleiten soll, wird
die Zeit auf seine spezifisch „kritische“ Weise sowohl in der
Transzendentalen Ästhetik (und damit in der Tradition der
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Sechster Baustein
Epistemologie) als auch in der Transzendentalen Dialektik
(und damit in der Tradition der Metaphysik) thematisiert.
Diese Doppelstrategie erscheint sinnvoll und sie stellt einen
der Gründe dar, warum Kant auch in diesem „Baustein“ eine
prominente Rolle eingeräumt wird. Ohnehin sinnvoll scheint
es mir zu sein, die Naturwissenschaft mit der Philosophie ins
Gespräch zu bringen – nicht nur allgemein, sondern anlässlich jeweils ganz bestimmter Probleme.
Wie für alle große Literatur einschließlich der philosophischen Schriften Kants oder auch Leibniz’, so eignet auch in
Shakespeares Werken der Zeit ein gewichtiger Stellenwert.
Sie erscheint hier oft in ihrer finsteren Rolle als Zerstörerin;
so löst die Zeit etwa die Schönheit von dem Gesicht des jungen Freundes (Sonett 104, gegen Schluss):
Doch ach! So wie die Hand der Sonnenuhr
Stiehlt Schönheit von sich selbst, unsichtbar schreitend;
Dein süßes Bild, scheinbar in ewiger Spur,
Bewegt sich, täuscht mein Auge gar, entgleitend.
So hört ihr Ungeborenen meine Not.
Eh ihr noch wart, war Sommers Schönheit tot.
Zeit als Ursache des körperlichen Verfalls findet allerdings
im Tode des Menschen, der diese Zeit empfindet, eine Grenze ihrer Macht. Der in Liebe entflammte und sich wieder geliebt wissende Othello sagt im Bewusstsein des Stillstands
der Zeit im Augenblick seines Verscheidens (II, 1): „Gält es
zu sterben jetzt, das hieße, nur wahrhaft glücklich sein.“
Im „Kaufmann von Venedig“ schwärmt Lorenzo, während er
die liebreizende Tochter des finsteren Kaufmanns Shylock
kosend im Arme hält, von der himmlischen Sphärenmusik,
die nur so lange unhörbar bleibt, wie unsere Seelen noch in
diesem Körper hausen müssen (V, 1):
Wie süß das Mondlicht auf den Hügeln schläft!
Hier sitzen wir und lassen die Musik
Zum Ohre schlüpfen. Sanfte Stille und Nacht
Sechster Baustein
Dritter Teil: Zeit und Unvergänglichkeit
Wird uns Berührung süßer Harmonie.
Komm’ Jessica! Sieh, wie die Himmelsflur
Ist eingelegt mit Scheiben lichten Golds.
Auch nicht der kleinste Kreis, den du da siehst,
der nicht im Umschwung wie ein Engel singt
Zum Chor der hellgeaugten Cherubin.
So voller Harmonie sind ewige Geister.
Nur wir, weil dies hinfällige Kleid von Staub
Uns noch umschließt, wir können sie nicht hören.
Daraus folgt: Vom „Staub“ des sterblichen Leibes befreit,
werden wir eingehen ins transzendente und von himmlischer
Sphärenmusik durchtönte Geisterreicht und auf diese Weise
vor dem „Zahn der Zeit“ (auch das ist ja eine von Shakespeare stammende Metapher) gerettet sein. Aber bereits hier,
im „Staub“, gibt es etwas, das der „Vergänglichkeit“ genannten Tyrannei der Zeit systematisch entzogen ist. Die Zeit findet nämlich in der wahren und reinen Liebe eine neben dem
Tode weitere Grenze ihrer Macht. Sonett 116 lautet (in der
Übersetzung Josef Weinhebers):
Nichts trennt die wahrhaft Liebenden. Ihr Bund
Ist unzerstörbar. Das ist Liebe nicht,
Die, wenn sich Wechsel bietet, wechselt und
Selbst flüchtig, an des andern Flucht zerbricht.
Nein, Liebe ist ein trutzhaft Mal, ein Turm,
Der unberennbar leuchtet durch die Wogen,
Ein Leitstern dem verirrten Boot im Sturm,
Dem Stand nach messbar, jedem Maß entzogen.
Lieb’ ist nicht Narr der Zeit, so sehr der Zeit
Auch unterworfen Rosenmund und -wang.
Lieb altert nicht im Jahrlauf. Ihr Entscheid
Heißt Ewigkeit. Vor Tod ist ihr nicht bang.
Ist dies ein Trug, der sich an mir begibt,
Dann schrieb ich nie, hat nie ein Mensch geliebt.
Die Schlussverse sind auch unabhängig von Shakespeares
Zeitverständnis interessant, stellen sie doch eine Verbindung
her zwischen seinem Werk und seinem Lieben. Diese Verbindung erinnert wiederum an Goethe („Vermächtnis“: gegen
Schluss):
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Dritter Teil: Zeit und Unvergänglichkeit
Sechster Baustein
Du prüfst das allgemeine Walten,
es wird nach seiner Weise schalten,
Geselle dich zur kleinsten Schar.
Und wie von alters her im Stillen
Ein Liebewerk nach eignem Willen
Der Philosoph, der Dichter schuf,
So wirst du schönste Gunst erzielen:
Denn edlen Seelen vorzufühlen
Ist wünschenswertester Beruf.
(Ließe sich etwas Schöneres sagen zum Lobe des Lehreroder Professorenberufs?) Zurück zu Kant, der diesen Beruf ja
ebenfalls sehr liebte: Seine Theorie der Zeit lässt sich letztlich nur vor dem Hintergrund einer aus der reinen praktischen Vernunft hervorgehenden „postulatorischen“ Hoffnung
auf ein mit unserer raum-zeitlichen Welt unbegreiflich verbundenen Jenseits verstehen. Unter „Ewigkeit“ müsse nicht
etwa eine ins Unendliche fortgesetzte Zeit verstanden werden, sondern „eine mit der Zeit ganz unvergleichbare Größe (duratio noumenon)“, davon wir allerdings bloß einsehen
würden, was sie nicht sei:
Es ist ein, vornehmlich in der frommen Sprache, üblicher Ausdruck, einen sterbenden Menschen sprechen zu lassen: er gehe
aus der Zeit in die Ewigkeit. Dieser Ausdruck würde in der Tat
nichts sagen, wenn hier unter der Ewigkeit eine ins Unendliche
fortgehende Zeit verstanden werden sollte; denn da käme ja der
Mensch nie aus der Zeit heraus, sondern ginge nur immer aus
einer in eine andre fort. Also muß damit ein Ende aller Zeit bei
ununterbrochener Fortdauer des Menschen, diese Dauer aber
(sein Dasein als Größe betrachtet) doch auch als eine mit der
Zeit ganz unvergleichliche Größe (duratio noumenon) gemeint
sein, von der wir uns freilich keinen (als bloß negativen) Begriff
machen können. (Das Ende aller Dinge, A 495).
Zu diesem Wissen, wie die „jenseitige Zeit an sich“ (duratio noumenon) nicht vorgestellt werden dürfe, gehört auch
die Überzeugung: „Daß aber einmal ein Zeitpunkt eintreten
Sechster Baustein
Dritter Teil: Zeit und Unvergänglichkeit
wird, da alle Veränderung (und mit ihr die Zeit selbst) aufhört, ist eine die Einbildungskraft empörende Vorstellung.
Alsdann wird nämlich die ganze Natur starr und gleichsam
versteinert; der letzte Gedanken, das letzte Gefühl bleiben
alsdann in dem denkenden Subjekt stehend und ohne Wechsel immer dieselben“ (A 511). Somit muss es auch in der
„Ewigkeit“ oder „im Jenseits“ Veränderung geben und die
Frage ist nur, was sich da verändert. In Fortführung der Kantischen Gedanken ließe sich sagen: Nicht die Seelen als Wesenheiten an sich und auch nicht die im Jenseits als Reich
der Dinge an sich unbekannten Erscheinungen. Wir sehen
aber vorläufig noch nicht, was überhaupt sonst noch in Frage kommen könnte.
Es sei nochmals daran erinnert, weshalb Kant überhaupt ein
Jenseits bzw. ein ewiges Leben annimmt, ja dessen Annahme für unentbehrlich hält. Die Antwort muss lauten: aus
Gründen der Gerechtigkeit im Besonderen und aus solchen
der Beförderung der Moralität im Allgemeinen. Wir sollen
an das Gesetz der reinen praktischen Vernunft glauben und
uns nach Kräften in einen Bewusstseinszustand zu versetzen
trachten, der uns dessen Befolgung so leicht wie möglich
macht. Da wir in dieser Welt kaum einmal Belohnungen für
unsere Sittlichkeit erfahren, sind wir aufgefordert, an ein Leben im Jenseits zu glauben.
Woran zeigt sich aber die für die jenseitige Glückseligkeit
erforderliche moralische Beschaffenheit eines Menschen?
Kants Antwort ist diesbezüglich von geradezu verblüffender
Einfachheit: An seinem (guten) Willen! Die folgenden Ausführungen aus der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“
sind (zu Recht) berühmt (B 1f.):
Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte
gehalten werden, als allein ein guter Wille. Verstand, Witz, Urteilskraft, und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen,
oder Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze, als Ei-
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Sechster Baustein
genschaften des Temperaments, sind ohne Zweifel in mancher
Absicht gut und wünschenswert; aber sie können auch äußerst
böse und schädlich werden [...]; ohne zu erwähnen, dass ein
vernünftiger unparteiischer Zuschauer sogar am Anblicke eines
ununterbrochenen Wohlergehens eines Wesens, das kein Zug
eines reinen und guten Willens zieret, nimmermehr ein Wohlgefallen haben kann, und so der gute Wille die unerlässliche Bedingung selbst der Würdigkeit, glücklich zu sein, auszumachen
scheint.
Es gibt nur eines, was am Menschen noch großartiger ist
als sein guter Wille und das ist seine gute Gesinnung. Denn
sie ist es, die aus dem einzelnen guten Willensakt die Regel
macht.
Kants Vermutung zufolge ändern sich im Jenseits auch die
guten Gesinnungen nicht mehr: diese sind “etwas Übersinnliches, mithin nicht in der Zeit veränderliches“ (Das Ende
aller Dinge, A 511), weswegen sich von hier aus besehen
die Frage nach demjenigen, was sich im Jenseits überhaupt
noch verändern kann, sogar noch weiter zuspitzt. Folgt man
den Fluchtlinien der Kantischen Argumentation, so müsste
sich eigentlich eine Antwort ergeben, die man allerdings so
in den Kantischen Werken nicht finden kann und die lautet:
Im Jenseits dürfte sich die Zeit selbst, die noumenale Zeit
(duratio), verändern, während im Diesseits nur die Erscheinungen wechseln.
Sechster Baustein
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Dritter Teil: Zeit und Unvergänglichkeit
„Die Zeit selbst verändert sich nicht,
sondern etwas, das in der Zeit ist“
(Kant KrV B 58)
Ein bis zum Überdruss, an schlimmen Tagen sogar mehrmals täglich, zu hörender Gemeinplatz lautet: „Wie die Zeit
vergeht“; obwohl man versucht ist, ungehalten zu erwidern:
„Was soll sie denn sonst tun?“, meint Kant, Zeit vergehe in
Wahrheit gar nicht, verändere sich nicht, bleibe (auf gewisse, zu erläuternde Weise) stets sich selbst gleich. Sein zunächst zweifellos verwirrender Gedanke ist, vereinfacht gesagt, dieser: Nur wenn irgendetwas im menschlichen Bewusstsein unverändert bestehen bleibt, kann Wandel als
solcher überhaupt bewusst werden: Dieses „Etwas“ gibt es,
es ist die neben dem Raum zweite „reine Form der inneren
Anschauung“, die Zeit. Es gibt Hinweise darauf, dass Kant
diese Form mit der Endlichkeit bzw. Körperlichkeit des Menschen in Beziehung gesetzt hat. Die raum-zeitlichen „Dinge“,
die „Erscheinungen für das Bewusstsein“ vergehen, nicht die
Zeit im Bewusstsein, welche uns die Vergänglichkeit der Dinge erst bewusst macht.
Diese doch sehr bedeutsame und auch für seine eigene Philosophie folgenreiche Überzeugung wird überraschenderweise
nirgendwo eingehender problematisiert.1 Man erkennt, dass
dieser Sachverhalt für Kant so klar ist, dass er sich s. E. bei
ein wenig Nachdenken beinahe von selbst versteht. Möglicherweise steht die Überzeugung von der Unvergänglichkeit
der Zeit in seinem Sinne jedoch mit seiner „moralischen Eschatologie“ im Zusammenhang; beweisbar scheint mir diese
Annahme aber nicht zu sein.
1
Vgl. aber den Zusatz zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“, die „Widerlegung des Idealismus“ B 274ff. sowie die einleitenden Sätze von Kants Aufsatz „Das Ende aller Dinge“ (1794), darin immerhin in einer Hinsicht eine Veränderung der Zeit für möglich angenommen wird – hinsichtlich ihres Endes: Sie bleibt stehen, geht über
in „Ewigkeit“.
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Es sei nur kurz angedeutet, inwieweit der Grundsatz von der
Unveränderlichkeit der Zeit als irgendwie unabänderbarer
menschlicher Anschauungsform auch Kants kritische Kosmologie prägt, welche in der berühmten „Ersten Antinomie“
der Transzendentalen Dialektik vor die Alternative stellt (vgl.
KrV B 454 ff.): „Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und
ist dem Raume nach auch in Grenzen eingeschlossen“ (Thesis) contra „Die Welt hat keinen Anfang, und keine Grenzen
im Raume, sondern ist, sowohl in Ansehung der Zeit, als des
Raums, unendlich“ (Antithesis). Im „Beweis der Thesis“ in
puncto Zeit ist zu lesen:
Denn, man nehme an, die Welt habe der Zeit nach keinen Anfang: so ist bis zu jedem gegebenen Zeitpunkte eine Ewigkeit
abgelaufen, und mithin eine unendliche Reihe auf einander folgender Zustände der Dinge in der Welt verflossen. Nun besteht
aber eben darin die Unendlichkeit einer Reihe, dass sie durch
sukzessive Synthesis niemals vollendet sein kann. Also ist eine
unendliche verflossene Weltreihe unmöglich, mithin ein Anfang
der Welt eine notwendige Bedingung ihres Daseins; welches zuerst zu beweisen war.
Zunächst: Die dazu analoge Frage des Raumes dürfte sich
mit dem Einsteinschen Konzept einer vierdimensionalen
Wirklichkeit weitgehend erledigt haben. Verdeutlichen wir
dies am Beispiel einer zur Kugel gekrümmten Fläche. Diese Kugeloberfläche ist endlich, aber ohne Grenzen. So auch
die gekrümmte vierdimensionale Raumzeit – wenn es auch
kaum möglich sein dürfte, sich davon eine bildliche Vorstellung zu machen. Das tut indessen nicht viel zur Sache. Es
zeigt uns nach Einstein Geborenen lediglich, dass Kant einen
verkürzten Begriff von Empirie hatte. Nicht alle Begriffe ohne
Anschauungen sind leer und eo ipso bedeutungslos... Hierüber hat uns die Physik des 20. Jahrhunderts einige wichtige
Lektionen erteilt.
Und damit zurück zum metaphysischen Zeitproblem. Kant
verwendet in seinem Argument eine sog. „apagogische“
Sechster Baustein
Dritter Teil: Zeit und Unvergänglichkeit
Beweisform, nämlich eine solche aus der Widerlegung der
gegenteiligen Annahme. Etwas könnte beim jetzigen Zeitpunkt nie angekommen sein, wenn es bis dahin einen
unendlich langen Weg unendliche lange durchlaufen haben
müsste. Dies scheint zunächst einmal ein recht gutes apriorisches Argument zu sein (welches hier nicht sehr eingehend untersucht werden soll). Allerdings sei doch immerhin angemerkt: Die Unterscheidung von so etwas wie der
„Zeitrichtung“ spielt darin eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Zwar ist es widerspruchsfrei denkbar – wenn wohl
auch nicht physikalisch realisierbar – dass eine Unendlichkeit irgendwo beginnt, z. B. als Lichtstrahl auf der Erde, der
ohne Ende weiter „fliegt“, aber es sei undenkbar, dass etwas
in die Vergangenheit unendlich ausgedehnt ist, was nun zum
Ende kommt, z. B. dass ein unendlich lange Zeit „reisender“
Lichtstrahl jetzt mein Auge treffe. Man sollte sich freilich im
Klaren darüber sein, wie sich im Falle der Richtigkeit dieses
Gedankens eine seltsame Konsequenz auftut: Alle kosmologischen Modelle, die eine Unendlichkeit der Welt annehmen,
wären dann ja ohne viel Federlesens als sicher verfehlt anzunehmen! Gewöhnlich gilt es unter gegenwärtigen Kosmologen aber eindeutig für eine naturwissenschaftliche und damit
empirische Frage, ob die Welt einen Anfang hatte oder nicht.
Zu deren Beantwortung wird viel Mühe und werden auch
beachtliche Forschungsgelder investiert. Sollte eine apriorische Beantwortung tatsächlich möglich und vernünftig sein,
dann wären dies geradezu peinliche Fehlinvestitionen... Vielleicht vermag bereits dieses Beispiel die Relevanz eines Dialogs zwischen Physik und Philosophie, zwischen Natur- und
Geisteswissenschaft schlaglichtartig zu erhellen.
Der Beweis der Antithesis („Die Welt ist ohne Anfang“: KrV B
456) hebt mit folgendem Gedanken an:
Denn man setze: sie [die Welt] habe einen Anfang. Da der Anfang ein Dasein ist, wovor eine Zeit vorhergeht, darin das Ding
nicht ist, so muß eine Zeit vorhergegangen sein, darin die Welt
nicht war, d. i. eine leere Zeit. Nun ist aber in einer leeren Zeit
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Sechster Baustein
kein Entstehen irgend eines Dinges möglich; weil kein Teil einer
solchen Zeit vor einem anderen irgend eine unterscheidende Bedingung des Daseins, vor die des Nichtseins an sich hat [...]
Dieses Argument wirkt sogleich deutlich schwächer als das
vorausgehende. Bereits den Anfang des Gedankengangs
kann man füglich bezweifeln: „Da der Anfang ein Dasein ist,
wovor eine Zeit vorhergeht ...“. Bekanntlich hatte bereits
Augustinus dafür plädiert, die Zeit so aufzufassen, als sei
sie zusammen mit der übrigen Schöpfung entstanden. Und
vor dem Hintergrund der kosmologischen Standard- oder
Urknalltheorie scheint, bei Hinzuziehen einer theistischen
Perspektive, gerade diese Auffassung sehr viel für sich zu
haben. Kant folgt demgegenüber der Zeitauffassung Newtons, derzufolge Raum und Zeit selbst ohne Anfang und Ende
sind und somit seltsame transzendente Entitäten vorstellen,
die gewissermaßen seit Ewigkeiten darauf warten, von einer materiellen Schöpfung erfüllt zu werden. Obwohl Kant
nicht mit Augustinus, sondern mit Newton anhebt, distanzierte er sich aber auch gleich wieder von diesem, indem er
eine solche „vorgeschöpfliche“ Zeit, gesucht abwertend, eine
„leere“ nennt, deren absolute Gleichförmigkeit keinerlei Ansatzpunkt für Schöpfung bzw. – mit einem neuen Wort und
einem im Grunde alten, nämlich empedokleischen Gedanken
– Selbstorganisation biete.
Im Anschluss daran bezeichnet Kant die leere Zeit Newtons
sogar als ein „Unding“, womit er der gegenwärtig anerkannten Auffassung wieder recht nahe kommt. Undenkbar wäre
eine leere Zeit deswegen, weil Zeit immer nur als mit Dingen
bzw. Ereignissen erfüllt gedacht werden kann. Etwas zumindest Ähnliches hat dann Einstein gezeigt: Zeit gibt es immer
nur im Ensemble mit einem Inertialsystem, welches bewegte Körper enthält und nie etwas anderes als eine inhärente
Zeitmessung gestattet. Dabei wird die Zeit jedoch von der
Geschwindigkeit der bewegten Körper ebenso beeinflusst
wie von deren Massen. (Davon indessen später mehr.)
Sechster Baustein
Dritter Teil: Zeit und Unvergänglichkeit
Nun sollte deutlich geworden sein, wie Kants implizite Voraussetzung einer Unveränderlichkeit der Zeit seine Argumentation bestimmt. Zu dieser Unveränderlichkeit gehört nämlich
auch deren Anfangslosigkeit. Weil die Zeit nicht veränderlich
sein soll, darf sie a fortiori auch nicht anfangen können. Das
Postulat einer absoluten Unveränderlichkeit und damit inklusiven Anfangs-Unmöglichkeit der Zeit bestimmt damit die
Erste Antinomie auf eine höchst folgenreiche Art und Weise.
Ohne dieses Postulat wäre es mit der Antinomie schnell zu
Ende und die – von Augustin wie von Einstein geteilte – These von der Wirklichkeit eines Weltanfangs zusammen mit der
Zeit hätte ungefährdet „das Rennen gemacht“.2
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Die Zeit verändert sich, indem sie sich
ausdehnt und verkürzt
Zwar gleichen die Wege der physikalischen Forschung steilen und dornigen Bergpfaden; die fertigen Resultate dieser
Bemühungen, gewissermaßen die freien Aussichten von den
Gipfeln, stellen sich allerdings gewöhnlich als sehr viel leichter erschließ- und nachvollziehbar heraus. Auch gibt es hierzu eine stetig wachsende Zahl weitgehend solider populärer
sowie semipopulärer Darstellungen und Erläuterungen. Im
Übrigen darf es für keine philosophische oder auch nur vernünftige Verhaltensmaxime gelten, das gänzlich zu ignorieren, dessen Begründungen man nicht zur Gänze verstehen
kann. Und ohne einen gewissen Mut zur Lücke kann ohnehin niemand begründet hoffen, alten metaphysischen Fragen
und Problemstellungen, gewissermaßen dem „geistigen Urwald“, neues überschaubares Land abzugewinnen.
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Es sei hier nochmals an den erstaunlichen Umstand erinnert, dass Kant
sich ein Ende der Zeit durchaus vorstellen kann (vgl. Fußnote 1, S.
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