Schauspielhaus Zürich Zeitung #5

Werbung
1
Schauspielhaus
Zürich
Zeitung
#5
2
3 Barbara Frey über
Traum und
Offenbarung
Seit dem Altertum hielten die Menschen
Träume für berichtenswert. Ebenso
spielen sie seit jeher eine bedeutende
Rolle in der Dichtung. Das mag
einerseits damit zu tun haben, dass der
Mensch weder für noch gegen das
Träumen etwas unternehmen kann und
somit über eine Art Dauerreservoir an
Visionen verfügt, aus dem er jederzeit in
den verschiedensten Kunstformen
schöpfen kann. Andererseits wurde den
Träumen immer auch ein prognostischer
Gehalt zugeschrieben, etwas
Hellseherisches, Prophetisches. Dass
die schönsten (Wunsch-)Träume in
Erfüllung gehen mögen, steht auf jedem
Geburtstagskärtchen – und man mag
nicht darüber nachdenken, dass es auch
eine ‚Erfüllung‘ der grauenhaftesten
Alpträume geben könnte, einen Transfer
von geträumten Schrecknissen in eine
bittere Wirklichkeit. Wenn Träume ‚wahr‘
werden können, dann können sie es
jedoch im Guten wie im Bösen. Aber wer
gibt uns die Träume ein?
Mit dieser Frage hat sich Shakespeare
immer wieder beschäftigt und sein
„Sommernachtstraum“ handelt ebenso
von der peinigenden Kraft nächtlichen
Phantasierens wie sein „Richard III.“.
Im einen Fall wird naive erotische
Romantik von der rohen Kraft sexueller
Obsessionen aufgefressen, im anderen
wird politische Praxis unterspült –
und am Ende verschlungen – von einem
permanenten Alptraumterror, in
dem Schuld und Sühne, Opfer und
Täter, Intrige und Mord schrecklich und
possenhaft durcheinander purzeln.
„... Nie schliess der Schlaf dein Todesauge
dir, / nur wenn ein Schreckenstraum
dich überfällt / und dich mit widerlichen
Teufeln jagt ...“ (Richard III., 1/3) –
dies schleudert Queen Margaret dem
künftigen König Richard III. entgegen –
und im 4. Akt gibt Lady Anne, Richards
Frau, kurz vor ihrem gewaltsamen Tod
das Echo: „... denn keine Stunde hab
in seinem Bett / ich je genossen goldnen
Tau des Schlafs, / sein Alptraum weckte
jedesmal mich auf …“ (Richard III., 4/1).
Shakespeares Interesse galt den
fliessenden Grenzen zwischen
Öffentlichem und Privatem, zwischen
Schlafzimmer und politischer
Machtzentrale, zwischen Fakten und
Fiktion. Für ihn war alles real; folglich
waren Träume für ihn nur die andere
Seite einer Wirklichkeit, in der Männer
und Frauen vergeblich versuchen, ihre
Ängste zu besiegen, ihre Territorien von
den Zumutungen ihrer nächtlichen
Heimsuchungen freizuhalten. Für ihn
wurde jeder zu einer bemitleidenswerten
Kreatur, der versuchte, die drängenden
Visionen seiner schuldbeladenen Seele
auszulagern, um an irgendein politisches
oder sonstiges Ziel zu gelangen. Das
hat mit Psychoanalyse und modernen,
therapeutischen Deutungsmustern
genauso wenig zu tun wie mit christlicher
Morallehre; ihm ging es um eine
andere Form von Wahrheit. „Aber ist
es denn wirklich nicht ganz gleich, ob es
ein Traum war oder nicht, wenn dieser
Traum mir die Wahrheit offenbart hat?“,
fragt Dostojewski.
Das Unheimliche bei Shakespeare ist die
Wiederkehr der Toten, der Ermordeten als
Geister. In „Hamlet“ als reale Erscheinung
im Wachzustand des Protagonisten,
in „Richard III.“ als Traumgestalten. Sie
beschwören den Tod des Tyrannen,
wortkarg und unbeirrbar. Richard stirbt.
Sein Alptraum wird wahr. Die Getöteten
sind mehr als eine blasse Erinnerung
oder ein Phantasma des Unbewussten;
sie weisen in die Zukunft. Bei
Shakespeare verweist der Terror der
durchträumten Nacht auf die Realität.
Aus Traum wird Geschichte.
Clarence wird unmittelbar vor seiner
Ermordung, die sein Bruder Richard
angeordnet hat, im Traum zum Propheten
seines eigenen bevorstehenden
Untergangs. Doch obwohl auch Clarence
sich in den Wirren um die Thronfolge
schuldig gemacht hat, fühlt man mit ihm,
wenn er mit der Schilderung seines
bösen Traums beginnt: „Ich hatte eine
grauenhafte Nacht, / so voll von Träumen,
Angst und Tod, / dass ich als frommer
Mann und Christenmensch / nicht eine
Nacht wie die noch einmal will, / könnt
ich mir kaufen selbst die schönste
Welt: / so voll von schlimmstem Terror
war die Nacht.“ (Richard III., 1/4)
Inhalt
3 Vorwort
4 Das wird Gott mir nicht glauben –
Auszug aus „FaustIn and
out“ von Elfriede Jelinek
8 Lukas Bärfuss über Macht und
Erinnerung bei „Richard III.“
10 Eugen Sorg über die Lust am Bösen –
„Richard III.“ im Pfauen
13 Roland Koberg über die verschollene
Uraufführung von Kafkas
„Amerika“ 1957
15 Schon gesehen? Szenen aus dem
Repertoire – Fotogalerie
20 Eine Lehre der Wahrnehmung –
Judith Gerstenberg über
Ruedi Häusermann
24 Wundersam verknotete Existenzen –
der Schauspieler Markus Scheumann
im Porträt
26 3D im Kopf – Schicht mit
Konstrukteur Albert Brägger
28 Man hörte Dürrenmatt lachen –
Ins Theater mit Peter Nobel
30 Mörderisches Zürich – Kolumne von
Lukas Bärfuss
Titel
Edgar Selger, Sarah Hostettler,
Frank Seppeler in „Faust 1–3“
Rücktitel
Ensemble in „Geschichten aus
dem Wiener Wald“
4
5 Aus „FaustIn and out“ von Efriede Jelinek
Das wird Gott mir
nicht glauben
Während man im Pfauen „Faust 1–3“ gibt,
während zwei Männer Johann Wolfgang
von Goethes Verse sprechen, einen
Pakt schliessen und das Frauenideal vors
innere Auge holen, läuft zeitgleich
irgendwo in der Nähe in einem Keller vor
30 ZuschauerInnen die Uraufführung von
Elfriede Jelineks „FaustIn and out“. Vom
neuen Theatertext der österreichischen
Nobelpreisträgerin – im Original länger als
„Faust I“ – dringt nur wenig auf die
grosse Bühne. Er wurde nach Angaben
der Autorin geschrieben, um als
„Sekundärdrama“ das Hauptdrama zu
begleiten, um „kläffend neben dem
Klassiker herzulaufen“. Die Möglichkeiten
der Realisierung, so Jelinek, seien
„unbegrenzt“. Im Rahmen von Dušan
David Pařízeks Projekt „Faust 1–3“ heisst
das: Das störende Frauenstück bleibt
vorerst im Keller, im schallgeschützten
Musikzimmer des Pfauen …
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin
bringen wir an dieser Stelle einen Auszug
aus „FaustIn and out“. Es spricht die
„FaustIn“, eine Frau, die weiss, was einer
Margarete von heute widerfahren
kann, wenn Männer an Mädchen ihre
patriarchischen, gottgleichen
Allmachtsansprüche ausleben und wieder
einmal der Befehl ertönt: „Mädels aller
Altersstufen: Marsch in den Keller, ab mit
euch!“ Die Perspektiven mischen sich
und Gretchens Tragödie erfährt eine
gespenstische Überschreibung. Man
blickt in exemplarische (österreichische)
Keller, wie etwa in jenen, in den die
zehnjährige Natascha Kampusch entführt
wurde oder in den die Zweitfamilie von
Josef Fritzl jahrzehntelang eingesperrt
war. Mit Faust-Zitaten versucht frau sich
die Welt zu erklären, aber manchmal
offenbaren die Zitate im neuen Kontext
erst ihre ganze Abgründigkeit.
Zu dumm! Bin über vierzehn Jahr doch
alt. War aber einmal zehn, als ich hier
runterkam. Jetzt über vierzehn, die andre
Dame dort schon sechzehn. Wir sind
auf alles schon vorbereitet worden. Mein
schönes Fräulein, darf ichs wagen,
meinen VW-Kastenwagen und meine
Prügel Ihnen anzutragen? Kann ungeleitet
nach Hause gehn, werde umgeleitet,
komme ungelegen, nein, sehr gelegen,
ich komme, ich ging just vorbei, und jetzt
„Alles muss raus. Jeder Trieb muss raus.“ Frank Seppeler, Sarah Hostettler, Edgar Selge in „Faust 1–3“
bin ich da. Wer ist das? Wieso kommt
das mit der Religion denn jetzt schon?
Wie ich es damit halte? Ach so. Wie Sie
es damit halten! Danke. Das macht schon
eher Sinn. Über mich hat jeder Gewalt.
Einfach jeder. Gott zuerst, dann jeder
andre. Gott vielleicht sogar später. Zuerst
ein anderer. Da kommt ein jeder daher.
Nein, da kommt immer nur er. Da
komme ich ausgerechnet an das einzige
Wesen, das Gott einmal persönlich
gekannt und ihn sofort imitiert hat, was
gleichbedeutend ist mit: erkannt, sonst
hätte Papa ihn ja nicht nachmachen
können, nachäffen, nicht wahr, und was
war der Erfolg? Dass es danach nicht
mehr sein wollte wie er, sondern mehr
als er! Bla bla bla. Das kann auch nur mir
passieren, dass ich ausgerechnet so
jemanden kennenlerne! Ich komme zum
einzigen, der das Unverständliche
verstanden hat, indem er nicht Gott sein
wollte, der er doch damals gut hätte sein
können. Er hatte die Wahl. Und dann das.
So abstossend kann doch nicht einmal
Gott sein, dass man um keinen Preis sein
will wie er! Na, um diesen Preis schon.
Hab vorhin nicht gesehen, dass der Preis
auf dem Schild gestanden ist. Man zahlt,
und dann ist man Gott. Man zahlt, und
dann ist man auf Urlaub in Thailand. Man
zahlt, und dann wird man massiert.
Man tritt dort überhaupt in Massen auf,
sagt man mir. Man muss dort kein Mass
kennen. Das ist sehr lustig. Man hat
Spass mit Frauen und Kindern. Man hat
Spass mit anderen Frauen und fremden
Kindern. Man zahlt, und dann hat man
das neue Auto. Man zahlt, und dann hat
man das gewünschte Gut, das man gut
selber hätte sein können. Man ist sich
aber nichts wert. Man ist verkauft. Man
ist verraten und verkauft. Dieser unreine
Geist in seinem umweltfreundlichen
Hybrid-Aufschwung wäre zwar eine
Imitation einer Imitation gewesen, denn
Gott soll ein guter Menschenimitator
sein, sagt man, allerdings kriegt er es nie
ganz hin, obwohl er angeblich schon
ziemlich perfekt sein soll, er kommt den
Menschen schon recht nahe, wenn er
sich bemüht, aber das wäre immer noch
besser als ich zu sein! Gott zu sein, Alles
zu sein: immer noch besser als ich.
Bla bla bla. Aber das wird Gott mir nicht
glauben, der wird mir nicht glauben, dass
ich in einem Kellerloch lebe, das jemand
sich eigens die Mühe gemacht hat zu
graben, soviel wird kaum jemals für einen
anderen Menschen geleistet. Trotzdem,
ich lebe hier gezwungenermassen,
allerdings mit einem Papa, der mir hilft,
das zu geniessen und auch selbst
geniessen kann. Aber er wird es wissen,
Gott wird es wissen, er wird es nicht
glauben können, aber er wird es schon
wissen, noch bevor es ihm gesagt wird.
Er ist allwissend. Glauben sollen dann
die anderen. Der will Mensch sein und in
der Welt aufgehen. Ich bin im Keller ausund eingegangen, nein, nicht aus, nur
ein, in den Keller eingegangen und aus
dem Keller nie mehr ausgegangen, als
wäre der Keller schon das ewige Leben
gewesen. Der ist aber nur ein Abschnitt,
der zur Wohnung gehört und in der Miete
inkludiert ist. Ich möchte eher, dass mir
die Welt endlich aufgeht. Nicht Untergang.
Aufgang! Aus meinem heimeligen
Stübchen raus, ins Offene. Erkennen,
dass das Sein das Nichts ist. Es lohnt
sich nicht. Ach, wäre das schön, etwas
zu erkennen! Ich möchte ein Studium
beginnen. Aber leider ... keine
Erleuchtung! Erleuchtung: noch nicht
eingetroffen. Ich lasse ihr vorn beim
Kellereingang ein Licht brennen, falls
sie noch kommt. Ich bin womöglich eine
Imitation dessen, der einen andren
imitiert hat, bloss um mir zu sagen, wer
ich sein soll. Gott sagt. Welcher? Ich
weiss zu gut, dass solch erfahren Mann
mein arm Gespräch nicht unterhalten
kann. Das weiss ich schon von meinem
Papa. Alles andre natürlich auch.
Sie finden, das sei ganz natürlich? Na ja.
Gott wird auch nicht viel anders sein.
Die Männer sind doch alle gleich. Es gibt
nur sie. Ich suche mir immer nur
Auslegungsbedürftiges und erkenne nur
meine eigene Bedürftigkeit. Also
zumindest die Ähnlichkeit Gott/Geist wäre
nicht zu bestreiten gewesen. Mit dem
Geist rede ich ja die ganze Zeit schon.
Immer will der ein andres Programm im
Fernsehn sehn, um sich zu nähren. Meist
Sport. Wenn der Papa da ist: Sport.
Wenn der Geist über mich kommt: Sport.
Mein Geist ist gut genährt. Ich bin es
oft nicht. Ich kenne beides nicht, nicht
Gott, nicht Geist. Nicht Gott, nicht Geist.
Nur den Vater. Ich kenne nur den Vater.
6
7
„Er hat mich der Mutter vorgezogen.
Ich bin dazu in den Keller verzogen.“
aus „FaustIn and out“
von Elfriede Jelinek
„Ihr seid wohl viel allein“: Miriam Maertens, Frank Seppeler, Sarah Hostettler, Franziska Walser und Edgar Selge in „Faust 1–3“
Und was ist mit der Natur? Die muss ich
mir nicht erklären, die ist einfach schön.
Hab sie zwar lang nicht mehr gesehn,
doch, doch, die Natur ist nicht Fräulein,
aber schön, man will sie aber trotzdem
sehn. Man sieht sie überhaupt viel zu
selten, die Natur, das sagen Menschen
im Fernsehn, die uns die Natur
kleinschneiden, damit sie auf den
Bildschirm passt, sie wird auf
Bildschirmgrösse zugeschnitten, und
dann wird sie vorgezeigt, ja, im Fernsehn
zeigt die Natur auf wie ein Schulkind,
die einzige Natur, die mir zugänglich,
wenn auch nicht betretbar ist, dort kann
man sie nicht übersehen. Dort kann man
sie sehen und nicht: übersehen. Man
kann sich an ihr nicht sattsehen. Die
kommt viel zu selten vorbei, die Natur.
Weiss doch, dass wir nicht bei ihr
vorbeikommen können. Das Universum
kommt im Fernsehn vorbei, und ich
schaue es mir an. Bei mir kommt es nie
vorbei, aber ich kann es mir im Fernsehn
anschauen. Vielleicht kommt die Natur
zu Ostern? Guter Zeitpunkt. Da haben
wir sie ganz besonders vermisst. Da ist
sie erwünscht. Das wäre ihre nächste
Chance, sich zu zeigen. Leider kein
Spaziergang. Der Spaziergang fällt heuer
wie jedes Jahr ins Wasser, das in sich
hineingefallen ist und einen Bach bildet,
der nur noch wegwill. Die Natur steht ja
nicht still. Die Natur kann man zwar
erklären, wenn man nur genug studiert
hat, wenn man die Naturgesetze erforscht
hat, aber was soll man machen, wenn
man sie kaum je sieht, wenn man vor
lauter Bäumen den Wald nicht sieht, in
dem man doch die ganze Zeit schon
herumgeht? Also herumgehen kann ich
nicht, das steht fest. Ich sitze fest. Mein
Dasein ist irgendwie festgefahren, aber
fahren kann ich auch nicht. Ich kann hier
unten Formeln studieren und anwenden,
okay. Also ich könnte, ich kann aber
nicht. Bla bla bla. Das heisst, ich könnte
das einmal können, wenn ich es gelernt
hätte. Und als Formeln wären sie für
mich durch die Abendschule vielleicht
verständlich geworden, und trotzdem
bliebe dann das, wovon sie sprechen,
was sie deuten, das Unverständliche.
Derzeit alles unverständlich. Bla bla bla.
Rhabarber Rhabarber Rhabarber. Also
bin ich schon wieder bei einem Schöpfer
gelandet, bei meinem Vater, der mein
Schöpfer, Erhalter und Vorenthalter ist,
das ist bequem, dafür muss wiederum ich
nichts mehr lernen. Mein Vater und Mann
lernt für mich. Ich muss mich um nichts
kümmern. Er holt sogar die Windeln fürs
Baby, ja, das, welches überlebt hat,
Pampers aus einem fernen Supermarkt
von entfernteren Bergen für nur ein Stück
Baby. Gäbe es zwei davon, müsste er
die doppelte Menge kaufen, ein riesiger
Packen. Das fiele dann schon auf. Ach
was, das fällt niemandem auf! Wohin ich
auch renne, ein, zwei Meter im Quadrat,
mehr geht nicht, aber diese ein, zwei
Meter kann ich auch springen, nicht
überspringen, aber springen, das könnte
ich, wo ich auch bin, überall glotzt mich
ein Schöpfer an, mein Vater, der mir
dieses Leben bereitet hat und nun
ernsthaft erklären will, dass er mich so
wollte, wie er selber aber nie hätte sein
wollen. Warum denn sonst ich? Wie
er ausgerechnet mich aber haben wollte.
Er hat immer den Andren geschaffen,
aber wie oft kommt jemand wie ich dabei
heraus! Als könnte ich über meinen
Tellerrand hinausschauen und mich als
einen Anderen begreifen, der es auch
geschafft hat, geschaffen zu werden!
Sein Abfall, des Schöpfervaters Müll, aber
auch unsrer, da muss ich gerecht sein,
die Kinder machen auch viel Mist, der
Müll also bleibt für mich als Existenz
übrig, die Erde und der Müll, die bleiben
mir, die Kinder, die Erde, der Müll, kein
Hund, die bleiben mir, denn der Vater
hat mich nicht gewollt, jedenfalls nicht so,
er hat mich als eine Andere gewollt, er
hat mich gewollt, aber als Tochter, oder
nein, er hat mich nicht als Tochter
gewollt, er brauchte nur zu wählen, und
dann hatte er mich, er hatte mich, die
Mutter kam vor mir, jetzt aber komme
ich vor ihr. Er hat mich der Mutter
vorgezogen. Ich bin dazu in den Keller
verzogen. Die Mutter durfte oben bleiben.
Die Glückliche! Aber sie ist immerhin
meine Mutter. Er hat mich geschaffen,
und dann hat er mir sogar einen Ort zum
Leben geschaffen, im Keller, im tiefen
Keller sitz ich hier, mein Vater! Was rede
ich da, das weisst du eh! Ich war als eine
Andere gewollt, die ich zu gern selber
kennengelernt hätte, aber es ist immer
ich dabei herausgekommen, ohne raus zu
können, ich bins!, zwar nicht immer, aber
mindestens in der Hälfte aller Fälle bin
es ich, die hier vorkommt, nein, es sind
noch mehr Kinder da, ich habe aber keine
gute Chance, deswegen übersehen zu
werden. Doch der Schöpfer übersieht
nichts, kein Haar fällt vom Kopf, das der
Schöpfergeist übersehen würde, da nützt
einem kein heisses Bemühn, er kommt
über mich und haucht mich an, ich rieche,
was er gegessen hat, etwas mit Zwiebel,
sowas kommt immer raus, ich komme
hier nicht raus, er erschafft mich, der
schafft mich!, obwohl ich doch fertig bin,
längst fertig, er hat mich ja fertiggemacht,
echt fertig. Und jetzt ist er endlich auch
fertig. Hat abgeschüttelt. Ausgetrunken
und abgespritzt und abgeschüttelt das
Bäumchen. Bla bla bla. Rhabarber. Die
andere Hälfte wäre die schlechtere.
Ich bin die bessere. Ich bin die bessere
Hälfte meines Vaters geworden. War ganz
leicht. Die erste Hälfte hat er nicht mehr
gemocht. Es war ganz leicht. Nein,
anders. Es war furchtbar schwer. Mir
fehlen die Worte. Ich weiss, dass Sie das
nicht bedauern würden, denn da sind sie
natürlich schon wieder, die lieben Worte,
waren wohl nur kurz verreist. Anders als
ich. Ich bin ganz weg, dass meine Worte
zu mir zurückgekehrt sind. Als auch ich
wieder zu mir gekommen war und keinen
andren Weg und keinen andren Ausweg
mehr hatte, konnte ich es kaum glauben,
wo und unter welchen Bedingungen
mein Ich ich sein musste. So. Ich bin ein
schlecht bestelltes Feld, das im Netz
des Tores, im Aufscheinen der Flutlichter
ganz anders ausgeschaut hat, man hat
die Grösse aber nicht gesehen, man hat
meine Grösse einfach nicht gesehen.
Überhaupt hat mich keiner mehr gesehen.
Ich gäb was drum, wenn ich nur wüsst,
wer heute wieder mein Herr gewesen ist.
Ach ja, weiss schon! Jetzt fällt es mir
wieder ein. Viel Auswahl hab ich ja nicht.
Ich fülle das Feld jetzt aus, wie von mir
verlangt. Ich würde auch mehr ausfüllen,
aber man gibt mir keinen Fragebogen,
was ich will und was nicht. Ich wurde
bestellt und habe den Käufer dann
enttäuscht. Er gibt mich grade wieder
zurück. Immer wieder gibt er mich zurück.
Aber nur er ist da, mich zu nehmen.
Und den Müll, der ich bin, muss ich auch
noch runtertragen. Jeden Tag die Stiege
runter. Zuerst Mann, dann Kinder, dann
kein Hund.
Faust 1–3
von Johann Wolfgang von Goethe
mit dem Sekundärdrama
„FaustIn and out“ von Elfriede Jelinek
(Uraufführung)
Regie und Bühne Dušan David Pařízek,
Kostüme Kamila Polívková, Musik
Roman Zach
Mit Edgar Selge, Frank Seppeler;
Sarah Hostettler, Miriam Maertens,
Franziska Walser
Ab 8. März im Pfauen
8 Essay
9
Macht und
Erinnerung
„Gibts Neues noch in unserm Wackelstaat?“
aus „Richard III.“
von Wiliam Shakespeare
Louise Bourgeois, Extrême tension, 2007
Von Lukas Bärfuss
Das Stück „Richard III.“ wird in
Shakespeares Werk unter die Historien
eingereiht und tatsächlich existierte im
15. Jahrhundert ein englischer König mit
diesem Namen. Dieser Mann, Richard,
Herzog von Gloucester, ein York und
damit Parteigänger seines Bruders und
amtierenden Königs Eduard IV., hatte
seinen Vater und einen älteren Bruder
in den Rosenkriegen verloren. Er musste,
nachdem Heinrich VI. und damit die
Lancasters auf den Thron gelangt waren,
mit dem gestürzten König nach Holland
ins Exil fliehen. Aber nicht allzu lange.
Die Yorks kehrten zurück, erlangten die
Macht wieder, aber bald starb Eduard
und der Kampf um den Thron begann
von Neuem. Am Ende sass Richard auf
dem Thron, für kurze zwei Jahre. Seine
Politik, seine Taten waren alles andere
als rücksichtsvoll. Er führte Krieg,
liess verhaften und ermorden – und er
war mit diesem Verhalten ein ziemlich
gewöhnlicher Angehöriger seiner Kaste.
Was ihn allerdings aus seinesgleichen
heraushebt: Er war der letzte Herrscher
aus dem Hause der Plantagenets,
ein ursprünglich französisches
Herrschergeschlecht, das immerhin
300 Jahre Englands Geschick bestimmt
hatte. Mit Richard enden die Rosenkriege,
der dreissigjährige Streit der Häuser
York und Lancaster, beides Seitenlinien
der Plantagenets, um die Macht in
England. Sein direkter Nachfolger,
Heinrich VII., der Richard in der Schlacht
von Bosworth besiegte und tötete,
war der erste Tudor auf dem Thron,
eine Dynastie, die fünf Regenten
hervorbrachte – als letzte Elisabeth I.,
die jungfräuliche Königin, die einem
ganzen Zeitalter den Namen gab und
den Aufstieg Englands zu einer
Weltmacht begründete und unter
deren Herrschaft William Shakespeare
seine Stücke schrieb.
Die Ansprüche der Tudors waren von
Anfang an schlecht begründet. Der erste
ihrer Dynastie, Heinrich VII., war ein
illegitimes Kind, seine Familie war offiziell
von der Thronfolge ausgeschlossen.
Weil die dynastische Legitimität fehlte,
musste Heinrich seine Krone auf dem
Schlachtfeld erobern. Er war der letzte
englische König, dem dies gelang. Aber
der Ruch der Usurpation blieb während
ihrer ganzen Regentschaft von 120 Jahren
an den Tudors haften. Legitimität war
für die Könige alles. Nicht nur das Amt
und die Würde – das physische Überleben
hing davon ab, die Rechtmässigkeit der
Ansprüche belegen zu können. Elisabeth I.
hatte bereits als Kind Gelegenheit, diesen
Kampf aus nächster Nähe zu beobachten.
Ihr Vater, Heinrich VIII., hatte ihre Mutter,
Anne Boleyn, durch einen Staatsmord
hinrichten lassen, weil sie ihm keinen
männlichen Thronfolger gebären konnte.
Und sie selbst liess ihre Cousine aufs
Schafott führen: Maria Stuart wurde an
einem Februarmorgen des Jahres 1587
der Kopf abgeschlagen. Aber die
Ansprüche der Stuarts waren damit nicht
aus der Welt und tatsächlich begann nach
Elisabeths Tod die Ära ihrer Regentschaft.
Die Tudors hatten also jedes Interesse
daran, Richard III. so schlecht wie
möglich und die eigene Usurpation als
Befreiung darzustellen. Die Dämonisierung
des letzten Königs aus dem Hause
Plantagenet war Staatsräson. Man liess
die Dokumente, die Richard in einem
guten Licht zeigten, wie etwa den
Beschluss des englischen Parlaments zu
seiner Einsetzung, den Titulus Regius,
vernichten und installierte eine eigene
Geschichtsschreibung. Raphael Holinshed
schrieb zu Elisabeths Zeiten eine Chronik
Englands, aus der Shakespeare sich oft
für seine Stücke und auch für Richard III.
bediente – und die selbstverständlich ganz
nach dem Geschmack der Tudors war.
William Shakespeare – ein Propagandist?
Der Hund seiner Herrin? Er war gewiss
kein Aussenseiter. Der Dichter bewegte
sich in seiner Gesellschaft erfolgreich
und betrieb sein Theater-Unternehmen
mit Gewinn. Er trat mit seiner Truppe,
den „Chamberlain’s Men“, am Hof vor der
Königin auf. Shakespeare war ein Kind
seiner Zeit, inhaltlich, formal, er wusste,
was sein Publikum zu sehen und zu
hören wünschte und erzählte ihnen die
genehme Geschichte. Aber das ist
nicht alles. Es gelang ihm, seine Zeit
und ihre Machthaber zu feiern und
gleichzeitig zu kritisieren.
Er zeigt in „Richard III.“ das Gemetzel um
die Macht. Er zeigt die Logik hinter dem
Machtkampf: Wenn niemand mehr da
ist, der seine Ansprüche anmelden kann,
ist der Letzte, der übrigbleibt, der König.
Natürlich vergisst und negiert dieser
Machiavellismus alles, was wir christlich
und menschlich nennen – die
Freundschaft, das Vertrauen und das
Mitgefühl, aber im Kampf um die blanke
Existenz sind das vielleicht
Nebensächlichkeiten. Das Ringen um das
physische Überleben schildert
Shakespeare in seinem Stück. Richard
watet durch ein Meer aus Blut, er lässt
seinen Bruder, seine Neffen, seine Frau
und seinen engsten Berater umbringen,
um schliesslich alleine auf dem
Schlachtfeld zu stehen, verlassen von
allem Lebendigen, begleitet nur von den
Geistern jener, die er töten liess. Ein
Verrückter, der nach einem Pferd schreit.
Alleine die genaue Darstellung ist eine
Kritik an den Mächtigen und ihrer
Machenschaften. Aber Shakespeare geht
weiter. Bei ihm ist der Kampf ums
Dasein ein Kampf um und mit der
Sprache. In der ersten Szene des dritten
Aktes formuliert es Richard selbst ganz
deutlich: „I moralize two meanings in
one word.“ Und es ist die Entgegnung,
die Worte des Prinzen von Wales, dass
die Wahrheit, selbst ohne Aufzeichnung,
erhalten und erzählt werden solle
und zwar bis zum „all-ending day“, dem
letzten Tag. Richard benutzt die Worte
alleine als Instrumente zur Erlangung der
Macht. Seine Sprache kennt keine
Wahrhaftigkeit. Das Gemetzel wird durch
Sprache vorbereitet und vollendet und
Shakespeare hatte den Mut und die
Freiheit, das Wissen über diese Praktik
seinem Helden in den Mund zu legen:
„I say, without characters, fame lives
long.“ Ein Scheusal, das die Wahrheit
spricht und dabei lügt. Ohne Buchstaben,
„characters“, lebt der Ruhm tatsächlich
lange. Es sind die Sieger, die die
Geschichte schreiben. Die Verlierer
kommen nicht vor. Und das lässt sich
natürlich auch auf Elisabeth und ihre
Tudors beziehen.
Die Legitimität eines Königs muss immer
ein fraglich Ding bleiben und ist letzlich
nur durch das Gottesgnadentum zu
erklären. Jeder Gedanke, jedes Wort, das
diese Rechtmässigkeit bezweifelt, muss
zerstört, jede Erinnerung an die wahren
Umstände des Machterhalts ausgelöscht
werden. Shakespeare weiss, dass der
wirkliche Richard weder buckelig noch
besonders hässlich war, er weiss, dass
nicht er seinen Bruder Clarence im
Malvasierfass ertränken liess, er weiss,
dass die beiden Prinzen, die Kinder
seines Bruders, von mindestens einem
halben Dutzend Menschen hätten
umgebracht werden können. Er weiss,
dass niemand jemals wissen wird, wie
Richard wirklich war. Er ahnt, mit
welchen Mitteln die Tudors auf den Thron
gekommen sind und er spielt mit diesen
Spiegelungen. Von seiner eigenen
Königin hiess es, dass sie den Namen
ihrer verstossenen und geköpften Mutter
niemals in den Mund genommen habe.
Worüber man nicht spricht, liest
oder schreibt, das existiert nicht. Die
Tabuisierung der Geschichte, die
Konstruktion einer Lüge als Staatsräson,
das sind Konstanten des Totalitären.
Shakespeare schrieb in diesen
Verhältnissen und er nahm sich die
Freiheit, darüber zu schreiben. Und er
zeigte, dass auch das Vergessene
wiederkehren kann, in den Träumen,
der Kunst und in den Theaterstücken.
Richard III.
von William Shakespeare
aus dem Englischen von Thomas Brasch
Regie Barbara Frey, Raum Penelope Wehrli,
Kostüme Bettina Munzer
Mit Christian Baumbach, Ludwig Boettger,
Ursula Doll, Fritz Fenne, Silvia Fenz,
Lukas Holzhausen, Julia Kreusch,
Michael Maertens, Nicolas Rosat,
Susanne-Marie Wrage, Jirka Zett
Ab 31. März im Pfauen
10
11 Essay
Die Lust am Bösen
Über die Faszination des Bösen, die
Entscheidung, die eigenen Ansprüche
absolut zu setzen, und den Reflex,
wegzuschauen – aus Anlass der
Inszenierung von William Shakespeares
„Richard III.“ von Barbara Frey im Pfauen.
Von Eugen Sorg
„Die grösste List des Teufels war es“,
schrieb Baudelaire, der Dichter der
„Blumen des Bösen“, „uns zu
überzeugen, dass es ihn nicht gibt.“
Am 1. Januar 1995 erhängte sich der
51-jährige Engländer Frederick West an
einem Leintuch in seiner Gefängniszelle.
Er hatte die Ermordung von zwölf
jungen Frauen gestanden; seiner ebenfalls
verhafteten Ehefrau und Komplizin
Rosemary West wurden zehn Morde
nachgewiesen. Aber wahrscheinlich
hatte das Ehepaar Fred und Rose weit
mehr Menschen auf dem Gewissen,
einige Schätzungen rechneten mit bis zu
60 Opfern. Doch es fehlten die Beweise,
respektive die sterblichen Überreste der
jungen Frauen, die in Südwestengland
verschwanden und nie mehr auftauchten.
Zu Beginn tötete der Sohn eines
Landarbeiters alleine, so 1967, als er
seinen mutmasslich ersten Mord beging
und seine schwangere Geliebte
erschlug, zerlegte und vergrub. Er hatte
sie beseitigt, weil sich seine erste Frau
Rena, eine Prostituierte aus Glasgow,
am Verhältnis zu stören begann. Bald
darauf lernte er die damals 15-jährige
Rosemary kennen, mit der er bis an sein
Lebensende zusammenbleiben sollte.
Mit ihnen lebte auch Freds Stieftochter
aus der Ehe mit Rena, die achtjährige
Charmaine. Als er wegen Diebstählen und
Hehlerei im Gefängnis war, misshandelte
Rose die Kleine zu Tode. Fred kam
wieder frei und zusammen verscharrten
sie die tote Charmaine im Küchenboden
ihrer Wohnung. In der Schule gaben
sie an, sie sei zu ihrer leiblichen Mutter
zurückgekehrt. Diese tauchte aber bald
auf und wollte Charmaine zu sich holen.
Fred löste das Problem, indem er
Rena erwürgte, zerlegte und verscharrte.
1972 heirateten Fred und Rose und
erwarben in Gloucester ein Haus. Sie
hatten mittlerweile zwei gemeinsame
Die Grenze zwischen humaner Ordnung und Triebanarchie ist dünn und brüchig.
Kinder sowie eine weitere Tochter aus
Freds erster Ehe und stellten ein
17-jähriges Kindermädchen ein, das sich
aber bald unwohl fühlte. Beide Eheleute
brachten sie immer wieder mit sexuell
anzüglichen Bemerkungen in Verlegenheit.
Die Jugendliche kündigte und wurde kurz
darauf von den Wests abgefangen, als
sie abends ein Pub verliess. Sie wehrte
sich und begann zu schreien, worauf
sie von Fred bewusstlos geschlagen und
in den Keller der Cromwell Street 25
geschleppt wurde, wo sie mit einem
Gürtel gezüchtigt, von Rose missbraucht
und von Fred vergewaltigt wurde. Danach
bereitete Rose im Obergeschoss Tee für
alle zu. Das Paar liess die junge Frau
wieder gehen, unter der Bedingung, dass
sie für weitere Treffen zurückkehre und
niemandem von der Sache erzähle. Das
Mädchen willigte ein und ging zur Polizei.
Die Beamten überredeten sie, auf
eine Anklage zu verzichten, um sich die
demütigenden Befragungen vor Gericht
zu ersparen. Die Wests kamen mit einer
Busse von je 25 Pfund für Körperverletzung
und unzüchtige Handlungen davon. Sie
zogen daraus ihre eigenen Konsequenzen,
sie liessen von nun an keines der
Mädchen, das in den folgenden
20 Jahren in ihrem Keller landete, am
Leben. Die meisten Opfer waren junge
Autostopperinnen, die bereitwillig
einstiegen, als sie sahen, dass eine Frau
mit im Wagen sass. Sie wurden von
Fred und Rose gefesselt, gefoltert und
missbraucht, einige bis zu einer Woche
lang, dann erstickt und anschliessend
zerstückelt und im Hof oder im Garten
vergraben. Gleichzeitig betrieb das Paar
ein Bordell mit Rose als einziger
Prostituierten. Acht Kinder sollte Rose
auf die Welt bringen, vier waren von
Fred, vier von den von Rose bevorzugten
dunkelhäutigen Kunden. Fred schaute
seiner Frau gerne zu, wenn sie sich mit
anderen Männern oder den geknebelten
Frauen im Keller vergnügte. Überall
im Haus waren Videokameras installiert
und die Aufnahmen konnten an sieben
verschiedenen Geräten angeschaut
werden. Die Videos spielten sie auch den
Kindern vor, so wie diese überhaupt früh
Objekt der West’schen Gelüste wurden.
Ihre älteste Tochter Heather war 16, als
sie sich gegen den Vater auflehnte. Die
Eltern fesselten sie im Keller an ein
Gestell, vergewaltigten sie, töteten sie,
vergruben sie im Hof und errichteten
einen Barbecue-Ofen über ihrem Grab.
Die Wests galten als freundliches,
umgängliches, nettes Paar. Sie stammten
beide aus einfachsten Kreisen, in
denen Gewalt alltäglich war. Fred musste
als Neunjähriger mithelfen, Tiere zu
schlachten, und Rose wurde angeblich
von ihrem Vater missbraucht. Aber keines
ihrer Geschwister hat später Menschen
aufgeschlitzt oder wurde ein Kinderquäler.
Und nicht einmal ihre eigenen Töchter
und Söhne wiederholten an anderen
das Schreckliche, was die Eltern ihnen
unablässig angetan hatten. Die älteren
unter ihnen entwickelten im Gegenteil
Mut und ein klares moralisches
Empfinden für die Amoralität, in der
Mutter und Vater lebten.
Rose und Fred West waren nicht krank oder
schizophren oder schuldunfähig. Sie waren
keine Opfer frühkindlicher Deprivation,
keine Marionetten einer unheilvollen
Fatalität. Sie waren böse, abgrundtief
böse. So wie sich Shakespeares
Richard III. – „I am determined to prove a
villain“ – dazu entschieden hatte, ein
Schurke zu sein und alle Moralgesetze zu
ignorieren, wenn sie ihm auf dem Weg
zur Macht hinderlich waren, entschieden
sich die Wests dazu, alles aus dem
Weg zu schaffen, was ihren Triebwünschen
entgegenstand. Warum haben sie das
getan? Es gibt keine versteckten Gründe.
Sie taten es, weil sie es so wollten. Sie
hatten einen riesigen sexuellen Appetit
und starke sadistische Neigungen und
sie merzten alles aus, was die Befriedigung
gefährdete – Recht, Moral, Scham,
Mitgefühl, Menschen. Die Wests fuhren
während Jahrzehnten auf Beutefang,
planmässig, skrupellos. Fred erzählte
während der Haft, dass ihn „der entsetzte
Ausdruck auf den Gesichtern“ erregte.
In ihrem schmuddeligen Keller errichteten
sie ein De Sade’sches Universum mit
Peitschen, Aufhängevorrichtungen,
Masken, Bandagen und Videokameras.
Das Ehepaar West setzte ihre Ansprüche
absolut und reduzierte den Wert der
anderen Menschen auf deren Nützlichkeit
12
13 Reportage
Die verschollene
Uraufführung
„Ist es der Teufel, der mich so verführt?“
aus „Richard III.“
von William Shakespeare
Mitmachen gezwungen worden zu sein,
für den eigenen Gebrauch. Ihr Paradies
des Bösen an der Cromwell Street war die erhängte er sich. Seine in Haft
Hölle der unfreiwillig dorthin Verschleppten. angefangene Autobiographie trug den
Titel: „Ich wurde von einem Engel geliebt“.
Ebenso verstörend wie die Geschichte
selbst ist der Umstand, dass dem
Das Böse verletzt die Ordnung der Dinge,
Alptraum so lange kein Ende gesetzt
es hebt die sozialen Naturgesetze auf.
wurde. Hinweise und Gerüchte, dass bei
Daher ist es nicht auszurotten und hat
den Wests ungewöhnliche Sachen
immer wieder Erfolg: Man rechnet nicht
passierten, gab es immer wieder. Neben
mit ihm. Das Funktionieren des Alltags,
der frühen Anklage des ehemaligen
des gesellschaftlichen Verkehrs setzt
Kindermädchens gab es den lokalen
Vertrauen in die Verlässlichkeit der Welt
Videohändler, dem Fred Filmaufnahmen
voraus, in die Berechenbarkeit von
von gefolterten Frauen zum Verkauf
Ursache und Wirkung. Dieser Umstand
angeboten hatte. Der Händler hatte auf
hilft dem Bösen, das sich in der Regel gut
den Deal verzichtet und war stattdessen
zu tarnen weiss, sich in den Verhältnissen
zur Polizei gegangen, welche aber
einzunisten. Auch als immer wieder
nichts unternahm. Dazu kam es wegen
irritierende Hinweise auftauchten – wer
der sadistischen Erziehungspraktiken zu
hätte sich schon ernsthaft vorstellen
insgesamt 31 Besuchen der West-Kinder
mögen, dass dieses freundliche Ehepaar
in der Notaufnahme des Spitals. Die
im Kellergeschoss ein Folter- und
Ärzte behandelten Stichwunden an den
Todeskabinett betrieb? Das Böse profitierte
Füssen, Verletzungen im Genitalbereich,
aber auch von der gesellschaftlichen
eine Eileiterschwangerschaft bei einer
Lockerung der familiären Bande. Längst
15-jährigen Tochter und in der Schule
nicht alle Eltern der verschwundenen
tauchten die Kinder regelmässig mit
Mädchen gaben eine Vermisstenanzeige
blauen Flecken und Würgemalen auf.
bei der Polizei auf. Und ein weiterer Faktor
begünstigte Rose und Fred. Noch nie
zuvor hatte eine Kultur wie die westliche
1992 wurden die Wests wegen
Vergewaltigung einer 14-Jährigen verhaftet. der Nachkriegszeit existiert, die das
Im Anschluss fand die Polizei haufenweise Böse als Irrtum, als fehlgeleitetes Gutes,
als Reaktion auf Defizite oder als
pornographisches Material, darunter
99 selbstfabrizierte Videos, die die Polizei Kinderglaube, aber nicht als eigenständige
Kraft und als wesentlichen Faktor des
vernichtete, ohne sie genau angesehen
zu haben. Es kam auch zu keiner Anklage, menschlichen Seins beurteilte. Der
vorherrschende Therapeutismus, der die
weil sich das Mädchen weigerte, gegen
Grenzen zwischen gut und böse relativiert
ihre Peiniger auszusagen. Die Leiterin
der Ermittlungen war jedoch misstrauisch und jede politische oder individuelle
Schandtat als Schrei nach Hilfe verniedlicht
geworden. Ihr war zu Ohren gekommen,
und infantilisiert, hat nicht nur die
dass sich die West-Kinder zuflüsterten,
Fähigkeit zur Imagination des Abgründigen
ihre Schwester Heather sei von den
Eltern unter dem Küchenboden vergraben verloren. Um sein harmonistisches
Weltbild zu retten, wehrt er auch
worden. Es dauerte jedoch mehr als
reflexartig jede Wahrnehmung des Bösen
ein Jahr, bis sich ihre Vorgesetzten
ab. Als Fred West seinen Keller zur
durchringen konnten, das Grundstück an
der Cromwell Street umgraben zu lassen. Folterkammer umrüstete, fragte ihn eine
Nachbarin, was er baue. Er baue seine
Sie hatten sich Sorgen um die hohen
Folterkammer, antwortete West. Die
Kosten gemacht. In der Zwischenzeit war
Frau erschrak, zog es aber vor, an einen
Fred in Halbfreiheit und sollte sich
Scherz zu glauben.
später damit brüsten, noch eine Frau
umgebracht zu haben. Nach dem ersten
Knochenfund wurde Fred sofort wieder
Der Fall West ist ein Extremfall,
verhaftet und er begann stückchenweise
aber kein Einzelfall. Die Enzyklopädie der
seine Taten zuzugeben. Als er hörte,
menschlichen Grausamkeit ist
dass Rose behauptete, unschuldig und
unerschöpflich und schreibt sich laufend
von ihm unter Todesdrohungen zum
fort. Vor kurzem versetzte die sogenannte
Zwickauer Terrorzelle die Öffentlichkeit in
Aufregung. Über einen Zeitraum von sechs
Jahren hatten in verschiedenen Städten
Deutschlands zwei Männer und eine Frau
mindestens zehn Menschen erschossen,
ohne Anlass, ohne Vorwarnung, am
helllichten Tag, offenbar einzig, weil sie
Türken waren. Einige Monate vorher hatte
der Norweger Breivik beinahe 80
vorwiegend jugendliche Teilnehmer eines
sozialistischen Ferienlagers regelrecht
exekutiert, kaltblütig und mit einem
zufriedenen Lächeln. Ein Jahr zuvor war
der Skandal einer Clique amerikanischer
Soldaten ruchbar geworden, die sich „Kill
Team“ nannte und in Afghanistan Jagd
auf unschuldige Zivilisten machte. Mit den
erlegten Opfern posierten die GIs stolz
grinsend vor der Kamera und gaben an,
aus „Lust am Töten“ gehandelt zu haben.
Bei jedem dieser schockierenden
Ereignisse reagiert die Öffentlichkeit, als
würde sie zum ersten Mal davon hören
und die psychiatrischen, ideologischen,
soziologischen Erklärungen der Experten
werden ebenso schnell nachgeliefert wie
sie zu kurz greifen. Doch Gewalt und
Grausamkeit sind weder links noch rechts
noch national oder schichtspezifisch. Das
Gemeinsame an den Fällen ist, dass die
Pläne zu den Taten in einem regelarmen
Raum ausgebrütet worden sind und
vorführen, wie gross das aggressive
Potential in vielen von uns ist, wie dünn
und brüchig die Decke der Zivilisation und
wie verletzbar die Grenze zwischen
humaner Ordnung und Triebanarchie. Das
Böse ist nicht heilbar, aber man kann
sich besser vor ihm schützen, wenn man
nicht wegschaut und wenn man auf die
Rousseauschen Illusionen einer gutartigen
Menschennatur verzichtet.
Eugen Sorg, 1949 in Zürich geboren,
arbeitete nach seiner Promotion als
Psychotherapeut und Journalist. Heute
ist er Textchef bei der Basler Zeitung. Für
seine Reportagen reiste er vielfach in
Bürgerkriegsgebiete. 2011 erschien sein
Buch: „Die Lust am Bösen. Warum Gewalt
nicht heilbar ist“ (Nagel & Kimche).
Wann hat das eigentlich begonnen,
Romane für die Bühne zu bearbeiten,
speziell die von Franz Kafka?
Überraschende Antwort: im Zürich der
50er-Jahre! Frank Castorfs Adaption
von Franz Kafkas „Amerika“ in der
Schiffbau-Halle kommt am gleichen
Theater heraus, an dem schon
1957 die umstrittene Uraufführung
dieses Stoffes stattgefunden hat …
Von Roland Koberg
Der muntere, gar nicht wie Ende 70
aussehende Mann, der mich in Bern am
Bahnhof abholt, hat als Erkennungszeichen
ein, wie er am Telefon sagte, AdenauerHütchen aufgesetzt und sagt, für einen
Schweizer überraschend, „Grüss Gott!“.
Es ist der Schauspieler Hans-Joachim
Frick, kürzlich feierte er sein 55-jähriges
Bühnenjubiläum, zwei Wochen nach
unserem Treffen hat er schon wieder
Premiere: Im Berner Theater an der
Effingerstrasse spielt er einen unheilbar
kranken Patienten, der im Pyjama aus
dem Spital flieht.
Er ist der einzige noch auffindbare
Mitwirkende aus der Uraufführung von
Franz Kafkas „Amerika“ vom 28. Februar
1957 am Schauspielhaus Zürich, für
die Bühne bearbeitet von Max Brod. Auf
dem Besetzungszettel von damals
stehen 26 Namen. Sie leben nicht mehr
oder sind den Datenbanken unbekannt.
Verschollene der Theatergeschichte.
Hans-Joachim Frick, in Zürich geboren
und gelernter Kaufmann, war
als „Externist“ ans Schauspielhaus
gekommen, als regelmässiger
Gast für kleinere Aufgaben. Die Zürcher
Schauspielschule, die er damals
besuchte, war dem Schauspielhaus
angegliedert, seine Lehrer waren
die Künstler des Ensembles, viele noch
aus dem legendären Emigrantenensemble.
In „Amerika“ stand er dann plötzlich
mit ihnen auf der Bühne. Besser gesagt,
er hielt ihnen die Tür auf. Denn HansJoachim Frick verkörperte in Max Brods
Kafka-Dramatisierung den Liftboy
Renell, der im geheimnisvollen Hotel
Occidental Dienst tut – gemeinsam
mit der Hauptfigur Karl Rossmann und
weiteren Liftboys.
Bei der Uraufführung von „Amerika“ 1957 dabei: Hans-Joachim Frick
In der Lobby des Berner Hotels
Steigenberger – früher ein gemütlicher
Treffpunkt für den Schweizerischen
Bühnenkünstlerverband, dem Frick
jahrelang vorstand, heute mit Geld aus
Katar vergoldet – kramt Hans-Joachim
Frick ein altes Schwarzweissfoto hervor,
auf dem auch er selbst zu sehen ist: Aus
einiger Entfernung beobachtet Renell
stramm die Zärtlichkeiten zwischen Karl
Rossmann und Therese, der Assistentin
der Oberköchin. Zwischen den gemalten
Lifttüren scheint die Hoteluhr wie der
Mond zu leuchten. Im Rollenbuch von
Max Brod steht als Beschreibung für
Renell: „trotz seiner Jugend etwas verlebt,
hohlwangig, neigt zum Sarkasmus“.
„Hohlwangig war ich nie“, sagt HansJoachim Frick.
Renell ist Teil eines Systems, das den
17-jährigen Karl niemals ankommen lässt –
in dem Land, in das ihn seine deutschen
Eltern mit dem Schiff geschickt haben,
nachdem das Dienstmädchen von ihm
schwanger geworden war und man die
Schande fürchtete. Immer dann, wenn
der Leser auf den Gedanken kommen
könnte, jetzt ginge es mit Karl aufwärts,
jetzt dürfte eine amerikanische Vom-
Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichte
beginnen, kommt einer wie Renell und
lenkt die Geschicke zu Karls Ungunsten
um. Renell lässt einen Vagabunden ins
Hotel, der sich als guter Freund Karls
ausgibt und diesen durch sein Verhalten
desavouiert. Karl wird – wie so oft bei
Kafka – ein informeller Prozess gemacht,
in dessen Verlauf ihm nicht nur seine
Stelle, sondern auch alle Fürsprecher
verloren gehen. Karls Fazit könnte als
Motto über allen Kafka-Werken stehen:
„Es ist unmöglich, sich zu verteidigen,
wenn nicht guter Wille da ist.“
„Wir erstarrten ja vor Ehrfurcht, das gab’s
damals noch“, erinnert sich Hans-Joachim
Frick an die Proben als 21-Jähriger, der
gerade mal seine dritte Rolle spielen durfte
(die erste war Rudenz in „Wilhelm Tell“).
Regie bei „Amerika“ führte mit Leonard
Steckel eine Theaterlegende, die während
des Zweiten Weltkriegs als Antipode von
Leopold Lindtberg am Schauspielhaus
wirkte, zurück nach Deutschland ging und
nun von der Zürcher Öffentlichkeit wie ein
verlorener Sohn begrüsst wurde. Steckel
sei ein Genauigkeitsfanatiker gewesen, der
auf der ersten Probe alle Masse für Möbel,
Türen und sonstige Auftrittsmöglichkeiten
14
15 Fotogalerie
Schon gesehen?
Szenen aus
dem Repertoire
„Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns!
Jeder ist willkommen!“
aus „Amerika“
von Franz Kafka
ansagte. „Zu spät!“ war einer der Sätze,
die sich dem jungen Externisten ins
Langzeitgedächtnis brannten, weil er
dachte, eine bei der letzten Probe
besprochene Pause von drei Sekunden
zwischen Stichwort und Auftritt
einhalten zu müssen. „Ich dachte …“,
wollte Hans-Joachim Frick sagen – „Ein
Schauspieler, der denkt!“ unterbrach ihn
Steckel. Bei der Premiere stand der
Regisseur dann die ganzen 2 ¾ Stunden
beim Inspizientenpult und tröstete einen
Liftboy-Kollegen wegen einer Panne:
„Die Premiere ist nie die beste Vorstellung.“
Über alle seine Auftritte hat Hans-Joachim
Frick penibel Buch geführt, einschliesslich
der 32 Jahre, die er später am
Stadttheater Bern engagiert war. Er hat
jede einzelne Vorstellung mit Tintenfüller
in ein blaues Schulheft eingetragen,
18 waren es bei „Amerika“, darunter
Abstecher nach Winterthur und
Schaffhausen. Unter dem Titel dieser
„Tragikomödie in 16 Bildern“ steht doppelt
unterstrichen das Wort „Welt-Uraufführung“.
Wie es kam, dass diese Premiere ein
durchschlagender Misserfolg war und
ebenso in Vergessenheit geriet wie
Kafkas Karl Rossmann in den Weiten
Amerikas, das kann sich Hans-Joachim
Frick jedoch nicht erklären. Die Kritiken
hat er nicht gesammelt. Die Verrisse
fast der kompletten deutschsprachigen
Presse, vom „Spiegel“ bis zu den
„Oberösterreichischen Nachrichten“,
findet man dafür im Zürcher Stadtarchiv.
„Kafka-Pleite in Zürich“ war noch eine der
sachlicheren Überschriften. Und schuldig
gesprochen wurde immer Max Brod.
Ohne Zweifel hatte Max Brod mit seiner
Fassung seinem Freund und Gott einen
postumen Liebesdienst erweisen wollen. Er
lebte zu diesem Zeitpunkt in Tel Aviv, war
Dramaturg am Nationaltheater und
weltberühmt als der Mann, der sich Kafkas
Anweisung widersetzt hatte, einen
Grossteil seiner Handschriften zu
vernichten. Er hatte noch vor seiner Flucht
nach Palästina alle drei Romane ediert, die
erste Kafka-Biographie geschrieben und
eine sechsbändige Werkausgabe vorgelegt.
Brod hatte in Kafka schon „den grössten
Dichter unserer Zeit“ gesehen, als dieser in
literarischen Kreisen noch unbekannt war.
1912, als Kafka seinen „amerikanischen
Roman“ zu schreiben begann, erkundigte
sich Brod unentwegt nach dessen Fortgang
und liess sich neue Kapitel schicken
oder mündlich von Kafka vortragen. Dann
schrieb er in sein Tagebuch: „Herrlich!
Erstklassig! Und wie wir gelacht haben!“
Doch der Roman geriet nach dem
6. Kapitel ins Stocken, wurde beiseitegelegt,
wiederaufgenommen, fallengelassen.
Max Brods Hoffnungen, seinen Freund
bald berühmt zu sehen, zerschlugen
sich nicht zuletzt durch dessen Skrupel,
Selbstverachtung, Verzweiflung. Fünf
Jahre, nachdem alles so herrlich unter
Gelächter begonnen hatte, meinte
Brod Kafka mitteilen zu müssen: „Du bist
in Deinem Unglück glücklich.“
will, melde sich! Wir sind das Theater,
das jeden brauchen kann, jeden an
seinem Ort!“ Im Roman sind das
uneingelöste Versprechen, konterkariert
von dem Satz: „Plakate gab es viele.
Plakaten glaubte niemand mehr.“ In der
Bühnenfassung trifft Karl beim
Aufnahmeverfahren Therese aus dem
Hotel wieder, die bereits engagiert ist
und Karl eine glänzende Theaterzukunft
verheisst: „Wir spielen auf den weiten
Flächen der Vereinigten Staaten, die
Räume sind fast unendlich. Jeder spielt
die ihm passende Rolle.“ Und der
Personalchef lobt Karl, dass dieser die
Werbungen „gesehen, gelesen,
verstanden“ habe: „Das ist schon ein
Anfang, ein Zeichen der Gnade. Er
gehört zu uns. Er ist aufgenommen.“
Viel spricht dafür, dass Brod Kafka
glücklich sehen wollte und sei es
glücklich im Unglück. Seine „Amerika“Bearbeitung ist ein Beispiel dafür.
Ohnehin schätzte Brod diesen Roman
als „hoffnungsfreudiger“ und „lichter“
ein als die anderen. Kafka, so Brod in
seinem „Amerika“-Nachwort, habe ihm
anvertraut, dass der Roman versöhnlich
ausklingen sollte. Im gigantisch-grotesken
„Naturtheater von Oklahoma“, das
im fragmentarischen achten und letzten
Kapitel Werbefeldzüge wie für einen
Krieg unternimmt und schliesslich auch
Karl Rossmann aufnimmt (als Techniker,
nicht als Schauspieler), sollte dieser
„wie durch paradiesischen Zauber Beruf,
Freiheit, Rückhalt, ja sogar die Heimat
und die Eltern“ wiederfinden.
Auf dieses Stichwort begann Hans-Joachim
Frick in der „Amerika“-Uraufführung zu
singen, die handschriftlichen Noten von
Hauskomponist Rolf Langnese besitzt er
noch. Als Liftboy war er lange abgespielt,
jetzt lieh er seinen ausgebildeten Tenor
dem pompösen Schlusschor. Dieser
intonierte, damit Karls grosses Glück zum
Greifen nah werde, noch einmal die
Sätze des Werbeplakats: „Wer an seine
Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder
ist willkommen! Wir sind das Theater, das
jeden brauchen kann!“ Und dazwischen
jubelte Karl: „Ich bin aufgenommen.
Reserl, hast du’s gehört?“ Vorhang.
Matter Applaus.
Das Manuskript endet indes abrupt mit
einer Zugreise nach Oklahoma („Jetzt erst
begriff Karl die Grösse Amerikas“) und
es gehört viel guter Wille dazu, sich Karls
Wirken am „Naturtheater von Oklahoma“
nicht als eine nächste riesengrosse
Desillusionierung vorzustellen, als eine
weitere (endgültige?) Stufe treppab
ins Verschollengehen. Max Brod aber
wollte Karl Rossmann retten, vielleicht
stellvertretend für seinen Schöpfer.
So kam es, dass Max Brod das mysteriöse
Werbeplakat des „Naturtheaters“ rundum
positiv bewertete. „Jeder ist willkommen!“,
heisst es dort, und: „Wer Künstler werden
Hans-Joachim Frick aber bekam schon
bald darauf sein erstes Fest-Engagement,
in Dortmund, dem Oklahoma
Deutschlands, wenn man so will.
Amerika
nach dem Roman von Franz Kafka
Regie Frank Castorf, Bühne
Aleksandar Denic, Kostüme
Adriana Braga Peretzki, Video
Andreas Deinert
Mit Margit Bendokat, Gottfried Breitfuss,
Patrick Güldenberg, Marc Hosemann,
Robert Hunger-Bühler, Irina Kastrinidis,
Sean McDonagh, Siggi Schwientek,
Lilith Stangenberg u.a.
Ab 14. April im Schiffbau/Halle
„Geschichten aus dem Wiener Wald“ von Ödön von Horváth, Regie Karin Henkel
16
„Zwanzigtausend Seiten“ von Lukas Bärfuss, Regie Lars-Ole Walburg
17
18
19
„Der ideale Mann“ von Oscar Wilde/Elfriede Jelinek, Regie Tina Lanik
„Der Hund mit dem gelben Herzen oder Die Geschichte vom Gegenteil“ von Jutta Richter, Regie Philippe Besson
„Illusionen“ von Iwan Wyrypajew, Regie Julia Burger
20 Porträt Ruedi Häusermann
Eine Lehre der
Wahrnehmung
Wie verhalte ich mich dem Unbekannten gegenüber? – Ein Lebensthema Ruedi Häusermanns
Der Komponist und Regisseur Ruedi
Häusermann, dessen „Vielzahl leiser
Pfiffe. Umwege zum Konzert“ im
April in der Schiffbau-Box zur Uraufführung
kommt, ist am Schauspielhaus kein
Unbekannter: 2010 war „Der Hodler. Eine
musiktheatralische Einsicht“ in der Box zu
sehen, momentan gastiert sein riskanter
Unterhaltungsabend „Kapelle Eidg. Moos“
auf der Pfauenbühne. Die Dramaturgin
Judith Gerstenberg begleitet Ruedi
Häusermann und seine Kunst seit vielen
Jahren. Der hier abgedruckte Text basiert
auf der Laudatio, die sie bei der
Verleihung des Zürcher Kunstpreises 2011
an Ruedi Häusermann gehalten hat.
Es gibt Begegnungen, die eine Weiche im
Leben stellen. Eine ganz entscheidende
Weiche war meine Begegnung mit Ruedi
Häusermann, nicht nur in dem konkreten
Sinne, dass sie mich von Hamburg
nach Zürich an das Theater Neumarkt
lockte, auf dessen Probebühne ich
erstmals eine Arbeit von ihm sah, seinen
frühen Walser-Abend „Warum Forellen in
Rapperswil essen, wenn wir im
Appenzeller Land Speck haben können“,
sondern auch und vor allem im Sinne
einer Lebensschule, die mein
Bewusstsein geprägt hat, meine Sicht der
Dinge, meinen Kontakt mit der Welt, und
die mir auch die Augen geöffnet hat für
das, was „Künstler“ überhaupt meint.
Denn es beinhaltet doch weitaus mehr als
den begabten Hersteller von Werken,
mehr als die Fertigkeit zum Komponieren,
zum Spielen, zum Schreiben, zum
Regieführen, selbst wenn sie in höchster
Qualität vorliegt – es meint eine
Daseinsform, die bereit ist, all das, was
zu solch einem Leben dazugehört, auch
wirklich auszuhalten: auszuhalten die
existentielle Ungesichertheit; auszuhalten
das stetige Denken ins Offene, vorher
Nicht-Gewusste; auszuhalten die Irrpfade,
deren verschlungene Führung womöglich
in einer Lichtung endet, womöglich
aber auch nicht; auszuhalten den eigenen
21
Widerstand, keinen Zwängen nachzugeben,
aber auch keinen Verlockungen des
Betriebes; auszuhalten, sich als einzigem
Massstab zu vertrauen, da Neuland nur
alleine zu betreten ist und vage Ahnungen
schwer zu teilen sind; auszuhalten, das
Mögliche so ernstzunehmen wie das
Wirkliche; auszuhalten, sich immer wieder
lösen zu müssen von Bewährtem und
Gelungenem; vor allem aber ein Arbeiten
auszuhalten, das sich täglich vor die
Frage gestellt sieht, welche Berechtigung
es hat, welchen Wert; das bedeutet
auch auszuhalten jenen prekären Moment,
wenn das, was die Zeit, die Wochen,
Monate, ja zum Teil Jahre ausgefüllt hat,
zum ersten Mal fremden Ohren und
Augen preisgegeben wird, jenen Moment,
in dem das Selbstverständnis und die
Existenzberechtigung des Künstlers zur
Disposition stehen. Jedes Mal. Denn
in diesem Moment der Veröffentlichung
erweist es sich: Das Erarbeitete ist
alles oder nichts – es kommt darauf an,
ob die Luft und das Licht diesem zum
Eigenleben verhelfen oder es absterben
lassen. Deshalb auch wird dieser Moment,
der ein Moment der Verwandlung ist,
als Schreckens- und Glücksmoment
zugleich empfunden. Oft ist es ein langer
Weg dahin – auch das gehört dazu: die
Zeit auszuhalten, die man braucht – ein
Weg, reich an Höhenflügen und Abstürzen,
an Scham und Selbstüberlistungsversuchen.
Das alles auszuhalten und dabei die
Fröhlichkeit nicht einzubüssen.
Das ist nicht zu unterschätzen. Dieser
„Unterricht in der Kunst, die Fröhlichkeit
nicht einzubüssen“ war nicht nur der
Titel von Häusermanns zweitem WalserAbend, sondern ist ein Unterricht, den er
sich selbst verordnet. Und er ist ein
wahrer Meister darin, ihn zu erteilen.
Jener prekäre Moment, in dem ein Werk
an die Luft gelassen wird – für
Häusermann gilt das im ersten Schritt
meist für seine auf dem Goffersberg
entwickelten Kompositionen, für die er
sich in regelmässigen Abständen aus dem
Lauf der Dinge zurückzieht, sein
Selbstverständnis als Komponist auslotet,
ohne Spekulation auf Einpassung in
ein Stück. Im zweiten Schritt dann die
daraus entwickelten Theaterabende, die
ein eigenes Genre ausmachen, das am
ehesten mit „optisiertes Konzert“ zu
bezeichnen wäre, und die immer noch
schön fremd in der Kulturlandschaft
stehen – jenen prekären Moment also hat
Häusermann mit seinem in Wien im
Kasino des Burgtheaters entstandenen
Abend „Die Glocken von Innsbruck läuten
den Sonntag ein“ explizit thematisiert.
Es war der Versuch, die Innenwelt eines
Menschen erlebbar zu machen, der sich
damit beschäftigt, eine Form zu finden,
eine Materialisierung seiner Gedanken,
damit sie les-, hör- bzw. anschaubar
werden.
In „Die Glocken von Innsbruck ...“
sieht man den Bedeutungsfluss der
Dinge und Wörter im Theater, wie
sich aus Baugerüst, Kartons, Dia- und
Hellraumprojektoren, zerknülltem
Packpapier, Schlagschnüren,
marmorfurnierten Holzplatten, Stühlen,
Tschinellen, Klavieren, präpariert mit
allerlei Hausrat, plötzlich vor den Augen
des Zuschauers eine Flusslandschaft
auftut, saftige Wiesen mit Blumen, die
zuvor noch achtlos zerknülltes
Verpackungsmaterial waren, von Weitem
ein Dorf mit Kirchturm, man hört
fernes Geläut – oder nicht? –, atmende
Akkordeons evozieren schneidenden
Wind, Klaviere klingen nach Zither
und Hackbrett (oder dem einen oder
anderen Specht) – alles schön am
Hellraumprojektor protokolliert, eine
Geheimwissenschaft für Aussenstehende,
minutiöser Ablaufplan für die Beteiligten,
dazwischen immer wieder die schöne
Stimme des Dichters Händl Klaus, leise,
fast flüsternd seine „Legenden“ – feine,
abgründige Prosaminiaturen – lesend, als
Selbstgespräch, die einen erschrecken
lassen durch ihre Aufmerksamkeit auf die
Unaufmerksamkeit, dann ein Klick,
Lichtwechsel und eine Grossstadt-Skyline
tut sich auf, eine Schattenlandschaft,
bevor klar wird, dass man die ganze Zeit
nur den Aufbauarbeiten für einen
Vortragssaal beigewohnt hat. Denn
unterdessen wurden die marmorfurnierten
Bodenplatten vollständig verlegt. Der
Dichter sitzt an einem Tisch in der Mitte,
Blick ins Publikum, das Manuskript vor
sich. Der Moderator eröffnet den Abend,
Saallicht aus. Ende.
War es in dieser Arbeit das explizite
Thema, möchte ich behaupten, dass
dieser Moment der Verwandlung versteckt
Gegenstand aller Abende Häusermanns
ist. Und: der Weg dorthin. Zu begreifen,
was das in seinem Wesen ist – „Kunst“ –
verdanke ich Ruedi Häusermann, der
beharrlich forscht, wodurch ein
künstlerischer Prozess überhaupt in Gang
gesetzt wird, wie diese Welten entstehen,
die den Zuschauer staunen machen und
verzaubern, die einen wacher hinterlassen
für die Phänomene des Alltags und die
Begegnungen stiften, die nicht vorzudenken
waren.
Aber vielleicht weiss auch keiner so gut
wie er, wie schwer sie herzustellen sind.
Denn sie sind nicht zu haben als blosse
Ansammlung schöner Ideen, sondern es
geht darum, das oft über Monate
aufgelaufene Material in einen Fluss zu
bringen, einen Gesamtklang zu finden,
einen, den wahrzunehmen er den
Zuschauer und Zuhörer in seinen
Abenden lehrt. Dass Ruedi in diesem
Schaffensprozess im gleichen Zuge, in
dem diese Welten entstehen, Einblick in
sie gibt, ist ein grosses Geschenk. Ich
nehme es als Gesprächsangebot von
jemandem, der sich mir öffnet, als den
Versuch einer Kontaktaufnahme mit der
Aussenwelt, der er mitteilt, wo er gerade
steht mit seinem Verständnis. Kaum
einer gibt diesen Prozess preis, vielleicht
aber ist sich auch kaum einer seiner so
bewusst.
Jemand, der wie Ruedi Häusermann
aufgewachsen ist in einer Umgebung, in
der das Wort „Kunst“ die Ofenbank meint,
durch die der Feuergang gelegt wird – er
kommt aus einer Hafner-Familie –, weiss,
dass sich die Wirklichkeit an objektiven
Kriterien misst: Ist etwas schief oder
gerade, wird es seine Funktion erfüllen
oder muss korrigiert werden? Ist der
Feuergang zu lang geraten, qualmt es in
der Stube und die Kunst muss abgerissen
werden, damit das Husten aufhört.
Das ist bei dem anderen „Kunst“-Begriff
weniger eindeutig. Daher stempelt Ruedi
Häusermann auch jede seiner Arbeiten
mit „Garantiert kein Schwindel“ – ein
Jahrmarktsspruch, der zugleich redliche
Versicherung ist, keinem Bluff ausgesetzt
zu werden, zugleich aber auch als blosse
Behauptung die Not des Anpreisers
deutlich macht, der sich offensichtlich auf
22
23
„Muss möglich sein.“
Ruedi Häusermann
angreifbarem Terrain befindet. Denn wer
legt die Kriterien fest?
Ein Lebensthema Häusermanns ist denn
auch die Frage: Wie verhalte ich mich
dem Unbekannten gegenüber, das ich
nicht den Kategorien „gefällt mir, „gefällt
mir nicht“ unterwerfen kann, etwas,
das mich nicht automatisch in meinem
gegenwärtigen Bewusstsein bestätigt?
Ihn interessiert das freie Feld, das
scheinbar ungeordnete Material, das erst
noch seine Form sucht, seine Gestaltung,
und besonders interessieren ihn die
Zwischenstufen auf dem Weg von dem
einen Zustand in den anderen. Die
Zwischenstufen nämlich werfen einen
zurück auf sich selbst: Wie betrachte ich,
wie begegne ich dem, was mir
entgegentritt? Und ich werde mir der
Verantwortung bewusst, die mein Blick als
Zutat bedeutet. Sei es auf die Kunst, aber
auch auf das Leben.
Wir haben es hier mit einer Lehre der
Wahrnehmung zu tun. Und zwar in beide
Richtungen.
Da Ruedi Häusermann beiden Welten
zugetan ist, sowohl der handfesten als
auch der geistigen, sie beide gut genug
kennt, erweist er beiden auch
gleichermassen seine Referenz. Das
Vertraute der einen nutzt er, um die
Räume für das Unbekannte der anderen
zu öffnen. Davon zeugt auch sein
jüngster Abend „Kapelle Eidg. Moos“, in
dem er die Ländlermusik Kasi Geisers in
die Umgebung seiner eigenen Klangwelten
stellt. Dieser auch am Schauspielhaus
Zürich zu sehende Abend hatte
im Oktober Premiere in der Tuchlaube in
Aarau – da, wo vor 20 Jahren alles
begann mit Häusermanns Soloprogramm
„Schritt ins Jenseits“ – die Urzelle seiner
musiktheatralischen Arbeit. Mit diesem
ersten vollkommen eigenständigen Projekt
befreite er sich 1992 tatsächlich aus
früheren Kontexten, hinein ins Offene,
um seinem persönlichen Interesse auf
die Spur zu kommen. Er hatte nach einer
Form gesucht, der Freien Musik einen
Raum zu öffnen, der er sich schon früh,
während seines Zürcher Musikstudiums
zugewandt hatte, um sich von
Harmoniestrukturen, vom Time und von
gegebenen Formen zu befreien. Er hatte
die Grenzen für sich sprengen müssen,
um wieder neue ziehen zu können oder
vielleicht auch, um die alten Grenzen als
nicht belastend für sich neu entdecken
zu können. In den Konzerten, die er auch
heute noch manchmal, leider viel zu
selten, spielt – zumeist gemeinsam mit
dem Cellisten Martin Schütz, dem
Percussionisten Martin Hägler und dem
Soundspezialisten Philipp Läng – werden
einander ohne Erwartungen Ideen
zugespielt. Diese als solche zu begreifen,
sie einander abzunehmen oder auch,
was mitunter am schwierigsten ist, sie
vorbeiziehen zu lassen, ist die Kunst
dieses miteinander Spielens. So
durchwandern diese vier sehr eigenen
Musikerpersönlichkeiten gemeinsam
Welten, von denen sie vorher nicht
wussten, dass sie überhaupt existieren.
„Gut gelaunt! Musst Du dazu sagen!“,
würde Ruedi mir jetzt zuwerfen, hätte er
die Chance dazu. „Das ist wichtig, ohne
gute Laune geht es nicht.“
Es ist immer wieder diese Musik, die sich
permanent aus sich selbst heraus
erneuert, die Häusermann in theatralische
Kontexte setzt, obgleich wirklich kaum
etwas theaterferner ist als eben sie. Aber
Häusermann dachte: „Muss möglich
sein“, dafür ein Verständnis zu stiften, sie
hörbar zu machen für mehr als eine
Handvoll Spezialisten. Denn das war das
Los der Freien Musik, massentauglich
war sie nicht. Und so wagte Häusermann
– unterstützt von seinem langjährigen
künstlerischen Wegbegleiter Giuseppe
Reichmuth – den Schritt ins Jenseits: Er
selbst stand auf der Bühne und
verkörperte die Doppelrolle, die er für
dieses Projekt tatsächlich innehatte. Er
war zugleich Aufnahmeleiter (Regisseur)
und angestellter Künstler (Darsteller)
in einem kleinen Tonstudio. Der Künstler
produziert nach Auftrag Geräusche und
spielt auf diversen Instrumenten
Musikstücke ein, doch die Stimme des
Aufnahmeleiters aus dem Off unterbricht
ihn ständig, demütigt, verlangt neue
Versuche, bis schliesslich der so redlich
bemühte Auftragskünstler Häusermann
den Lautsprecher, aus dem diese
Ermahnungen kommen, in einem Eimer
Wasser versenkt. Endlich befreit von den
Zurechtweisungen, wie etwas zu sein
habe, geschieht das Wunder. Aus all den
stoppelnden Versuchen und
Nebengeräuschen (darunter provozierte
Zuschauerreaktionen), die bar jeder Aura
waren, entsteht plötzlich ein grossartiges
Konzert. Die im ersten Teil live
aufgenommenen Einspielungen verflechten
sich zu einer überraschenden Geschichte,
Häusermann improvisiert dazu virtuos auf
seinen Instrumenten und dem vorherigen
Chaos entwächst eine ausformulierte
Biographie, eine ganze Welt. Tatsächlich
hat man als zuhörender Zuschauer am
Ende einem Schöpfungsakt beigewohnt.
Um dieses Erlebnis zu bestätigen, aber
vor allem auch, um es einzufangen und
das Pathos zu brechen, lässt Häusermann
als Zugabe Gott als Kasperlipuppe
auftreten, die die Zuschauer mit dem
Lied „Oh, wie wohl ist mir am Abend“
entlässt.
Tatsächlich hat Häusermann in „Schritt
ins Jenseits“ ein Prinzip angelegt, das
sich auch in den anderen Abenden wieder
findet: wie aus dem Nichts, der
Unübersichtlichkeit, dem Zufälligen, dem
Unbeachteten plötzlich etwas entsteht,
von dem man erst am Ende entdeckt,
dass jedes Detail vorausgedacht war und
alles einem geheimnisvollen Plan
unterstellt war. Garantiert kein Schwindel,
alles live und Handarbeit. Wahrlich! Die
Präparation der kleinen Bühne für die
Vorstellung hat jeweils Tage gedauert und
nur Häusermann allein wusste um ihre
Gesetzmässigkeiten.
Es braucht eine grosse Liebe zu den
Dingen, sich ihnen so zu widmen. Es ist
aber in erster Linie auch eine grosse Lust
an der Zauberei, die Dinge zu verändern,
zu verwandeln, optische Täuschungen
hervorzurufen, das Gegenüber staunen
zu machen, es zu beobachten, wie
es konzentriert auf die Szene schaut
und doch nicht versteht, wie es dazu
kommen konnte, was sich ihm da
gerade auftut. Die Herstellung offen zu
zeigen, den Zauber aber zu ernten, weil
der Zuschauer unterdessen vergessen
hat, was er zuvor gesehen hat, ist
das diebische Vergnügen des Machers.
Es ist die Lust daran, das Unmögliche
möglich zu machen, das Feste, die
Materie zu verändern, sie in
Schwingungen zu versetzen – und
tatsächlich ist die Probenarbeit immer
ein schweisstreibender Kampf mit dem
sich viel erzählen über seine Art,
Menschen um sich zu scharen, sie
mitzunehmen – wirklich einzuladen – auf
diese Forschungsreisen, die jeden
verändert zurückkehren lassen, über die
wichtigen Nachgespräche in den Beizen,
die sich als Probenausklang tarnen, aber
eigentlich eine Verschwörung erzeugen.
Unbedingt hätte ich erzählen wollen über
Ruedis Lust, jede noch so alltägliche
Situation für Wert zu befinden, sie in eine
kleine Inszenierung umzuwandeln,
durch kleine Verrückungen – sei es auch
nur für eine Person – und die einen
unwillkürlich lachen machen. Eben über
jenen Unterricht in der Kunst, die
Fröhlichkeit nicht einzubüssen, die er
einem im Kleinen täglich erteilt.
Kunst lebt durch die Ausnahme und durch
eine Konsequenz. Ruedi Häusermann ist
ein solitäres Phänomen. Er ist der einzige,
der das machen kann, was er macht –
und der es wirklich macht und lebt. Denn
das, was ihn dazu treibt, ist keine Brille,
Ruedi Häusermann in der Box im Schiffbau
die er sich nach Belieben auf- und
der Satz, den wir uns während der Proben absetzen kann, sondern sein Verständnis.
Material. Erstens, weil alles, scheinbar
Diese Konsequenz, für die es keine
lachend zuwerfen und doch eben ist
absichtslos, immer penibel genau an
Erfolgsgarantie gibt, ist selten und ihr gilt
dahinter ein grosser Ernst. Grenzen nicht
der richtigen Stelle zur richtigen Zeit zu
anzuerkennen, sie erst einmal beiseite zu mein hoher, mein höchster Respekt. Sie
sein hat und weil es partout immer
ist auch mein Trost, denn in einer Welt,
etwas können muss, das seine eigentliche schieben, um frei denken zu können, ist
in der – hypnotisiert von der Gegenwart –
die erste Lektion, die man bei ihm lernt.
Funktion nicht vorsieht – zum Beispiel
die Entwurfsphantasie zunehmend
Sie ist eine Kampfansage (das ist ein
sollen Möbel einer voll ausstaffierten
verlorengeht, entwickelt das, was Ruedi
Wort, das nicht zu Ruedi passt, dennoch
Wohnstube selbständig den Raum
Häusermann tut, eine subversive
verlassen, dabei noch Klänge produzieren, sage ich es: eine Kampfansage) an die
Sprengkraft. Er ist im wirklichen Sinne ein
Wirklichkeit, wie sie sich uns darbietet.
sich mit einem Streichquartett verbinden,
Künstler.
Balkone sollen hin und wieder den
Man könnte noch viel ausführlicher
Spielern zunicken, unmerklich natürlich,
über Ruedi Häusermanns Kompositionen
ohne auftrumpfend auf diesen famosen
berichten, seine Musik, über
Effekt zu verweisen, Klaviere sollen
Mehrspurgeräte und Notationen, über die
spielend Räume durchqueren und sich
musikalischen Proben und die Konzerte
anschliessend verbeugen, selbsttätig ...
mit seinem „NichtohnemeinenSohn“Orchester in der Garage von Lenzburg,
„Muss möglich sein“ ist sein Satz.
über die feinsinnigen Abende, in denen er Vielzahl leiser Pfiffe. Umwege zum Konzert
„Muss möglich sein“ – mit diesem Satz
von Ruedi Häusermann
sich auf seine Weise vor dem Werk von
hält Ruedi Häusermann den irritierten
Blicken technischer Direktoren, manchmal Robert Walser, Karl Valentin, Adolf Wölfli, Uraufführung
Peter Bichsel, Daniil Charms, Elfriede
auch verwunderter Spieler und
Komposition und Regie Ruedi Häusermann,
Jelinek, Paul Scheerbarth, Wilhelm Busch, Bühne Bettina Meyer, Kostüme
Dramaturgen stand – unbeirrt. „Muss
Ferdinand Hodler verbeugt hat,
möglich sein“ habe ich von ihm gelernt ...
Barbara Maier, Video Ruth Stofer
gleichzeitig Auskunft gebend, welche
Bis jetzt hat er immer Recht behalten.
Mit Rahel Hubacher, Isabelle Menke,
Begegnungen und Biographien sein
Ich weiss nicht, hat Ruedi mit seinen
Philipp Läng, Herwig Ursin,
Bewusstsein geprägt haben, respektvolle
begeisterten Reden nur die Menschen
Milian Zerzawy und Annalisa Derossi,
verführt oder auch die Gegenstände? Auf Abende, die darauf verzichtet haben,
Panagiotis Iliopoulos, Iñigo Giner Miranda,
ihren jeweiligen Gegenstand dem eigenen Daniele Pintaudi (Klavier)
jeden Fall tun alle am Ende das, was er
Verständnis einzugemeinden. Es liesse
visioniert hatte. „Muss möglich sein“ ist
Ab 20. April im Schiffbau/Box
24
25 Porträt Markus Scheumann
Wundersam
verknotete Existenzen
Markus Scheumann war in dieser
Spielzeit schon der Müssiggänger Valerio
in „Leonce und Lena“, spielte den
korrupten Parlamentarier Robert Chiltern
in „Der ideale Mann“ sowie den
unerbittlich nach der Wahrheit suchenden
Matthäi in „Das Versprechen“. Demnächst
wird er mit Werner Düggelin Lord
Bolingbroke in Eugène Scribes Komödie
„Das Glas Wasser“ proben.
Von Andrea Schwieter
Den Beruf des Schauspielers könne man
nie, sagt Markus Scheumann. Und was
im ersten Moment kokett klingen könnte
aus dem Mund eines so erfahrenen
Schauspielers, der so viele grosse Rollen
gespielt hat, zeugt in Wahrheit von
grossem Respekt gegenüber seinem
Beruf. Man müsse sich zyklisch immer
wieder neuerfinden und sich dabei im
Auge behalten, weil man sich als Mensch
verändere und als Schauspieler eben
nichts anderes zur Verfügung habe als
sich, seinen Körper, seine Stimme, seine
Persönlichkeit.
Gefragt, warum er sich entschieden habe,
Schauspieler zu werden, gibt Markus
Scheumann eine fast lapidare Antwort –
nicht ohne vorausgeschickt zu haben, dass
er mangels einer aufsehenerregenderen
Geschichte alle paar Jahre einen anderen
Grund für seine Berufswahl angebe:
weil es ihm seit Schultheatertagen einfach
Spass mache und ihm damals alles
andere zu anstrengend vorkam. Insofern
war es eine Instinkt-, vielleicht auch
eine Luxusentscheidung – und nahezu
luxuriös war auch sein Weg an die
Schauspielschule. Während andere von
Vorsprechen zu Vorsprechen durch
die Republik reisen, um dann endlich
irgendwo aufgenommen zu werden,
führte ihn sein Weg geradewegs an die
Hochschule für Musik und Theater
Hamburg (aus dem wiederum sehr
lapidaren Grund, dass dort die terminlich
nächstgelegenen Aufnahmeprüfungen
stattfanden), wo er auf Anhieb den
Sprung ins Schauspielstudium schaffte.
Vielleicht auch eine Art Flucht aus seiner
Heimatstadt Dortmund, der er über all
die Jahre allerdings sehr verbunden
geblieben ist – nicht nur familiär, sondern
insbesondere auch als begeisterter
Das stetige sich Neuerfinden bleibt auch mit zunehmender Erfahrung: Markus Scheumann
Fussballfan von Borussia Dortmund.
Das Reisen durch die Republik folgte
nach der Schauspielschule: Lübeck (vier
lehrreiche Anfängerjahre, die er auf
keinen Fall missen möchte), Wiesbaden
und dann Roberto Ciullis Theater an
der Ruhr in Mülheim – eine grosse Zäsur,
weil er dort ein anderes Konzept von
Theater kennenlernte und lebte, ein
Ensembletheater der ganz besonderen,
weil familiären und vertrauten Art: In
fast jeder Produktion steht das komplette
Ensemble – ein knappes Dutzend
Schauspieler – gemeinsam auf der
Bühne, auf jeder Probe sind alle da,
unabhängig davon, welche Szene gerade
probiert wird. Vor allem aber verbinden
ausgedehnte und ungewöhnliche
Gastspielreisen, für die Ciullis Theater
an der Ruhr bekannt ist: Markus
Scheumann hat in europäischen Ländern
gastiert und u.a. im Iran, Irak, in
Usbekistan, Kasachstan, Kirgistan und
Turkmenistan (wo selbst begleitende
Journalisten nicht einreisen durften)
Theater gespielt und dabei immer wieder
festgestellt, wie global die Theatersprache
doch funktioniert. Reisen verbindet –
und vielleicht ist Markus Scheumann nicht
zuletzt durch diese Erfahrungen zu einem
absoluten Ensemblespieler geworden,
einem Teamplayer, der es liebt, sich auf
der Bühne mit seinen Kollegen die
Bälle zuzuwerfen. Er ist ein Schauspieler,
der mit jeder Rolle auch Verantwortung
für die gesamte Produktion übernimmt,
er denkt das grosse Ganze mit.
Ich werde nie vergessen, wie Markus
Scheumann, nachdem wir ihm bei seinem
ersten Zürichbesuch die Pfauenbühne
zeigten, der erleichterte Satz entfuhr:
„Wie schön, auf dieser Bühne muss ich
endlich nicht mehr schreien!“ Und in der
Tat: Nach den Theaterdampfern mit ihren
riesigen Bühnen in Köln und Düsseldorf,
seinen beiden letzten Stationen vor
Zürich, erlaubt die Pfauenbühne auch eine
leisere, feinere Spielweise – und genau
darin liegt eine grosse Stärke in Markus
Scheumanns Spiel: Er ist ein Meister
der Zwischentöne, ein Schauspieler, der
mit der Sprache umzugehen weiss, die
ungeheuerlichsten Sätze trocken in den
Raum zu setzen vermag und dabei für
jede seiner Figuren nicht nur eine eigene
Sprache entwickelt, sondern auch eine
unverwechselbare Körperlichkeit – nicht
nur, wenn sie hinter schönen Frauen
her stolpern und dabei regelrecht auf die
Fresse fallen wie in „Der ideale Mann“,
wo eine extreme Physis gesucht wurde,
sondern auch in Rollen wie dem
verklemmt-aggressiven Arzt Triletzki in
Barbara Freys Inszenierung von
„Platonow“ oder Willy Lomans geisterhaft
kuriosem Bruder Ben in „Tod eines
Handlungsreisenden“.
Markus Scheumanns Figuren sind meist
keine Gewinnertypen, sondern
grüblerische, komplizierte, wundersam
verknotete Existenzen, die es sich nicht
leicht machen – und genau damit unser
Herz gewinnen. Leicht macht es sich
auch Markus Scheumann nicht. Was
spielerisch leicht und virtuos aussieht, ist
sehr genau gedacht und erarbeitet.
Bemerkbar macht sich dies immer wieder,
wenn man in den letzten Tagen vor der
Premiere auf die Zielgerade einbiegt.
Oft ist das der Moment, in dem Markus
Scheumann noch einmal innehält und
sich und seine Figur von Grund auf
hinterfragt, ungewöhnlich zu diesem
Zeitpunkt, letzten Endes aber nur eine
Vergewisserung, auf dem richtigen Weg
zu sein. Obwohl ihm klar ist: Der Stress,
die Anspannung, das stetige sich
Neuerfinden bleibt auch mit zunehmender
Erfahrung. Auf der sicheren Seite ist man
in diesem Beruf nie.
Das Glas Wasser
von Eugène Scribe
Regie Werner Düggelin, Bühne
Raimund Bauer, Kostüme Francesca Merz
Mit Jan Bluthardt, Lukas Holzhausen,
Imogen Kogge, Franziska Machens,
Markus Scheumann, Friederike Wagner
Ab 5. Mai im Pfauen
26
27 Schicht mit dem Konstrukteur Albert Brägger
3D im Kopf
Albert Brägger ist seit 1994 Konstrukteur
am Schauspielhaus Zürich, nachdem er
vorher einige Jahre als gelernter
Hochbauzeichner in einem Architekturbüro
gearbeitet hat. Auch wenn man sich das
aus heutiger Sicht kaum mehr vorstellen
kann – als er hier anfing, wurden die
Konstruktionspläne für die Bühnenbilder
noch von Hand gezeichnet. Derzeit
arbeitet er an der Konstruktion der
Bühne für „Solaris“ nach dem ScienceFiction-Roman von Stanislaw Lem,
eine Bühnenadaption, die im Mai in
der Regie von Antú Romero Nunes im
Schiffbau/Box Premiere hat.
Von Eva-Maria Krainz
10.07 Uhr Als ich Albi, wie Albert Brägger
hier am Haus von allen genannt wird, im
Konstruktionsbüro im Schiffbau treffe, hat
er gerade einige Zeit am Telefon verbracht.
500 Quadratmeter Stahlgitterrost sind für
das Bühnenbild von „Solaris“ zu bestellen –
nicht gerade eine kleine Menge,
weshalb er herausfinden muss, welches
Unternehmen die besten Konditionen
gewährt. Die Bühne von Florian Lösche
soll aus zwei Ebenen Gitterrost bestehen
– eine am Boden der Schiffbau-Box, die
andere über den Köpfen der Zuschauer,
die sich in der Inszenierung von Antú
Romero Nunes mit den Schauspielern in
der Raumstation auf dem Planeten Solaris
befinden sollen.
10.13 Uhr Auf der Bauprobe, die etwa
drei Wochen zurückliegt, wurden die
Proportionen und Besonderheiten des
Bühnenbildes – wie in diesem Fall die
beiden Gitterrostebenen, die Anordnung
der Zuschauertribünen und verschiedene
Arten von Projektionsflächen für (Live-)
Videobilder – im Raum markiert und vom
Regieteam und der Technik überprüft,
bevor der Entwurf schliesslich von den
Werkstätten realisiert werden kann.
Albi zeigt mir seine aktuellen Pläne, die
er entsprechend der
Bauprobennachbesprechung angepasst
und überarbeitet hat. Nachher findet die
Planabgabe statt.
10.22 Uhr Albi wirft einen Blick auf die
Uhr, wir haben noch etwas Zeit. Anhand
einer Skizze, die er rasch aufzeichnet,
erklärt er mir, wie er die obere Spielebene
An seinem Schreibtisch im Schiffbau: Albert Brägger
konstruieren wird: Vereinfacht gesagt soll
die Aufhängung der Gitterrostfläche so
stabil und dabei so unauffällig wie
möglich sein. Die Konstruktion soll nicht
zu sehr schwingen, wenn sich die
Schauspieler darauf bewegen, gleichzeitig
soll Albis Stahlaufhängung die Spielfläche
und die Ästhetik des Raumes möglichst
nicht einschränken. Ich muss öfter
nachfragen, kann mir das alles noch nicht
so recht vorstellen. Er schmunzelt
und meint, in seinem Job sei es durchaus
hilfreich, „3D im Kopf“ zu haben.
10.29 Uhr Wir gehen ins Sitzungszimmer
des Schiffbaus zur Planabgabe, anwesend
sind der Bühnenbildner und die Leiter der
technischen Abteilungen. Jeder bekommt
ein Handout mit den Eckdaten der
Produktion, Fotos von der Bauprobe und
einigen Plänen, dann kann es losgehen.
Am ursprünglichen Bühnenbildentwurf,
dessen Modell im Sitzungszimmer
aufgebaut ist, hat sich einiges geändert.
Zum Beispiel wird das Publikum nicht, wie
ursprünglich geplant, auf einer einzigen
Tribüne, sondern an allen vier Seiten
des Raumes Platz nehmen. Albi erläutert
kurz die Unterkonstruktion der
Zuschauerreihen, dann geht es weiter mit
den Details zu den beiden Spielebenen.
Vor der Besprechung hat Albi erzählt,
dass er reduzierte Bühnenräume, in
denen sich aber grosse Effekte erzielen
lassen, am liebsten mag. Der „Solaris“Raum wird wohl ein solcher werden, was
die Technik vor grosse Herausforderungen
stellt. Einerseits gilt es, die vom
Bühnenbildner vorgegebene klare Ästhetik
zu erhalten, gleichzeitig muss der Raum
aber auch allen Sicherheitsanforderungen
entsprechen und der Technik ausreichend
Möglichkeiten bieten, die Ideen des
Regisseurs umzusetzen.
13.06 Uhr Kurze Pause, wir gehen
gemeinsam zum Mittagessen in die
Schiffbaukantine und ich kann Albi noch
ein bisschen zu seiner Arbeit ausfragen,
nach seinem Arbeitsaufwand für eine
Produktion zum Beispiel. Das sei je nach
Spielort und Bühnenbildner sehr
unterschiedlich, meint er, durchschnittlich
könne man von 200 bis 300
Arbeitsstunden pro Produktion ausgehen.
Bei „Merlin“ seien es aber etwas mehr
gewesen. Sehr wichtig ist ihm, dass die
Bühnenbildner Vertrauen in die
Umsetzung ihrer Ideen haben können,
wobei zwei Herzen in seiner Brust
schlagen, eines für die Kunst und eines
für die Technik. Und der Entsorgung
seiner Arbeit würde er immer mit sehr
viel Wehmut beiwohnen, auch nach fast
20 Jahren am Theater ...
14.10 Uhr Es geht weiter mit den
Konstruktionsdetails zur oberen
Spielebene. Allein das Gewicht der
Gitterrostplatten beträgt mehr als
viereinhalb Tonnen. Um sie in einer Höhe
von etwa drei Metern über dem Boden
aufzuhängen, wird zusätzlich eine ein bis
zwei Tonnen schwere Stahlkonstruktion
benötigt. Dazu kommen Klappen für
Auftritte und die Beleuchtung sowie eine
Regenanlage. Einige Punkte müssen in
den nächsten Tagen noch geklärt werden,
andere werden jetzt festgelegt. Unter
anderem, dass die Gitterrostplatten so
aufgehängt werden, wie sie aus Sicht der
Zuschauer besser aussehen, auch
wenn sie dann für die Schauspieler relativ
unbequem zu begehen sind. Aber auf
einem Raumschiff sei es schliesslich auch
nicht bequem, meint Albi.
16.03 Uhr Die Besprechung ist zu Ende,
Albi scheint zuversichtlich und zufrieden
mit dem Ergebnis. Nachdem er sich vom
Bühnenbildner verabschiedet und seine
Pläne eingesammelt hat, macht er sich
auf den Weg zurück in sein Büro, in
dem reichlich Arbeit auf ihn wartet. Sein
nächster Termin in Sachen „Solaris“
ist die Werkstattbesprechung in etwa vier
Wochen, bei der er seine Pläne an
die Theaterwerkstätten übergeben wird –
danach ist seine Arbeit abgeschlossen
und die Herstellung der „Raumstation“
kann beginnen.
Solaris
nach dem Roman von Stanislaw Lem
Regie Antú Romero Nunes, Bühne
Florian Lösche, Kostüme Judith Hepting,
Musik Johannes Hofmann, Video
Sebastian Pircher
Mit Yvon Jansen, Sebastian Pircher,
Jirka Zett
Ab 18. Mai im Schiffbau/Box
28 Ins Theater mit Peter Nobel
Man hörte
Dürrenmatt lachen
29
Die Aufführung hat mit meinen
juristischen Tätigkeiten zu tun; man
soll sich keinesfalls mit der ersten
Lösung zufrieden geben.
Hätten Sie Lust, das Bühnenbild
zu betreten? Welchen Platz würden
Sie sich darin suchen?
Ich möchte einen Polizisten spielen, weil
Dürrenmatt diese am meisten liebte.
Wie zufrieden waren Sie mit dem
Publikum?
Das Publikum war mäuschenstill und hat
langen und warmen Beifall gespendet.
Keine Klage. Man kann ja auch nichts
dafür, dass die Absicht nach Jordanien
zu den Arabern zu gehen, heute wie ein
Witz tönt.
„Hast du wieder ein Mädchen getötet, Albert?“
Am 4. Februar 2012 ging Peter Nobel
auf unsere Einladung hin in Begleitung
seiner Frau in die Premiere von „Das
Versprechen“ nach Friedrich Dürrenmatt.
Sie sassen in der Reihe 11 Parkett
auf den Plätzen 277 und 278. In den
darauffolgenden Tagen beantwortete
er den untenstehenden Fragebogen.
Peter Nobel ist Rechtsanwalt,
Universitätsprofessor, Willensvollstrecker
von Friedrich Dürrenmatt und jetzt auch
von dessen Frau Charlotte Kerr. Von
März 2000 bis Mai 2003 war er Präsident
der Schauspielhaus Zürich AG.
In skeptischer Reserviertheit, da ich
den Roman noch einmal gelesen und
die beiden Filme „Es geschah am
helllichten Tag“ und „The Pledge“ wieder
angeschaut habe.
Von woher kamen Sie zur Vorstellung
ins Schauspielhaus?
Von zu Hause.
In welchem Moment haben Sie zum
ersten Mal auf die Uhr geschaut?
Ich habe nie auf die Uhr geschaut.
Wie war der erste Eindruck, den das
Haus auf Sie gemacht hat?
Positiv wie immer.
Entsprach die Aufführung Ihren
Erwartungen?
Die Aufführung entsprach nicht meinen
Erwartungen; sie hat sie übertroffen.
Es war eine kühne Inszenierung, genau
zwischen Komödie und Tragödie. Man
hörte Dürrenmatt lachen, was er immer
tat, wenn er eine Geschichte erzählte.
Was hatten Sie an? Sind Sie aufgefallen?
Bin nicht aufgefallen, war stinknormal
angezogen.
In welcher Stimmung waren Sie in dem
Moment, als im Zuschauerraum das
Licht ausging?
Haben Sie während der Vorstellung
gelacht?
Ich habe schon beim ersten Satz
gelacht. „Sie können mit dieser
Geschichte anfangen was Sie wollen.“
Hat Sie etwas an der Vorstellung berührt?
Die unbändige Überzeugung von Matthäi.
Finden Sie, dass die Aufführung etwas
mit Ihnen zu tun hat?
Haben Sie sich nach der Vorstellung über
das Stück unterhalten? Oder haben
Sie auf dem Heimweg noch über etwas
nachgedacht, das mit der Aufführung
zu tun hatte?
Wir haben in einer Gruppe von mehr als
zehn Leuten intensiv und lange diskutiert.
Die Mehrheit war sehr zufrieden.
Welche Frage würden Sie dem Regieteam
dieser Aufführung gerne stellen?
Warum das Bühnenbild aus
Schokoladenpapier besteht?
Welches Stück würden Sie gerne als
nächstes sehen?
„Frank V., Oper einer Privatbank“.
Dürrenmatt hat mir einmal gesagt, das
sei sein bestes Stück, und er war
besonders angetan von einer Aufführung
in Spanien, die mit Rollschuhen alles
dynamisierte. Das wäre was – mit Musik –
für Barbara Frey.
Das Versprechen
nach dem Roman von Friedrich Dürrenmatt
Regie Daniela Löffner, Bühne
Claudia Kalinski, Kostüme Sabine Thoss
Mit Paula Blaser/Anna-Lou Caprez-Gehrig,
Julia Kreusch, Isabelle Menke,
Nicolas Rosat, Markus Scheumann,
Milian Zerzawy, Jirka Zett
Im Pfauen
„Nicht zu glauben, wie unvorsichtig die Mütter ihre Kinder kleiden“: Paula Blaser, Markus Scheumann und Milian Zerzawy
30 Lukas Bärfuss: Mörderisches Zürich
Gewalt, Statistik
und Theater
„April is the cruellest month“, schrieb
der englische Dichter T.S. Eliot – und er
hatte recht. Beinahe jeder fünfte Mord
wird in diesem Monat verübt. Gemäss
Kris Hollington besagt die Statistik weiter,
dass die Zeit zwischen 18 Uhr und 21 Uhr
abends bei weitem die gefährlichste des
Tages ist. Und man sollte sich, wen
wundert’s, vor den Freitagen hüten. Denn
dann ist die Gefahr am grössten, eines
gewaltsamen Todes zu sterben. An den
Freitagen, zumindest im April, sollte man
also abends zwischen sechs und neun
besser einen sicheren Ort aufsuchen. Das
wäre ein kluger Rat.
Dieser Ort kann allerdings nicht das
eigene Zuhause sein, wo ein Drittel der
Opfer zu Tode kommen. Besser also
gleich auf einen Polizeiposten. Allerdings
findet sich dort eine hohe Dichte an
Feuerwaffen. Mit ihnen werden die Hälfte
aller Morde verübt. Die Statistik als
Ratgeberin irritiert – der eigene Instinkt
bietet da mehr Sicherheit.
Und so bleibt man doch zu Hause. Und
meidet die Menschen. Denn die beste
Mordprävention ist immer noch: nicht
lieben, nicht heiraten und schon gar keine
Kinder zeugen. Schliesslich war schon
der allererste Mord einer unter Brüdern.
Und wie bei Kain und Abel ist auch
heute noch jede Tötung das Ende einer
Beziehung.
Je mehr Beziehungen, umso grösser
das Mordrisiko. Die Alternative heisst
deshalb Einsamkeit. Und tatsächlich
verbindet „Gated Communities“
und sichere Innenstädte ein gewisser
Schauspielhaus Zürich
Zeitung #5
Herausgegeben von der
Schauspielhaus Zürich AG
Zeltweg 5, 8032 Zürich
www.schauspielhaus.ch
Intendanz Barbara Frey
Diese Zeitung wird ermöglicht
durch Swiss Re und Credit Suisse.
Mangel an menschlichem Leben.
Offenbar scheint die Gesellschaft kaum
Alternativen zur Vereinzelung zu kennen,
wenn es um eine Erhöhung der Sicherheit
geht, trotz Aufklärung und Rechtsstaat.
Finden sich zwei Menschen, wird es
gefährlich. Die Konstante heisst Streit.
Zum Glück eskalieren die meisten
Auseinandersetzungen nicht – aber
manche tun es eben doch. Und warum?
Manchmal, weil durch die Begegnung und
ihre Bedingungen eine Dynamik entsteht.
Keiner alleine ist schuldig an der Gewalt.
Und keiner ist unschuldig, sondern Teil
einer Bewegung, die er nicht aufhalten
will oder kann. Der Erste Weltkrieg ist ein
verheerendes Beispiel dafür. Manchmal
gibt es einen eindeutigen Aggressor, der
jemandem seinen Willen aufzwingen will.
Und warum will er das? Weil er ein
Interesse durchsetzen will. König werden –
oder auch nur satt. Er will mehr als
das, was er bereits hat, ein Prinzip, das
spätestens im Sandkasten beginnt.
Anfängen berichtet. Man könnte das
Drama selbst als Folge der Funktion
und der Folgen von Gewalt bezeichnen.
Es gab wenig Versuche, konfliktfreies
Theater zu machen. Die Bühne lebt, weil
sie darstellt, warum Menschen anderen
Menschen Leid antun. Wie sie die Gewalt
rechtfertigen. Und, was wesentlich ist:
was die Opfer dabei fühlen. Die
Heimsuchung einer Gesellschaft durch die
Ermordeten findet im Theater täglich
seine Feier. Und bezeichnenderweise
gibt es viele Stücke, die den Beginn, aber
sehr wenige, die das Ende der Gewalt
beschreiben. Denn es wäre auch das
Ende des Theaters. Was aber, solange
es Menschen gibt, weder zu befürchten
noch zu erhoffen ist.
Und es gibt den nicht seltenen Fall, dass
der Aggressor Lust an der Gewalt an
sich empfindet. Man hört von jenen, die
getötet haben, wie bewusstseinsverändernd
diese Übertretung sein soll. Und obwohl
man es sich nicht vorstellen mag,
scheint dieser Reiz für manche Menschen
unwiderstehlich zu sein. Ganz abwegig
scheint es auch dem sogenannten
friedlichen Gemüt nicht zu sein. Der
Widerschein der Tat, die Bilder und die
Berichte über Gewalt faszinieren
schliesslich beinahe jeden. Von allen
Fällen, von allen Möglichkeiten des
Mordes, der Vergewaltigung, der
Verletzung hat das Theater seit seinen
Redaktion Lukas Bärfuss, Katja Hagedorn,
Thomas Jonigk, Roland Koberg,
Eva-Maria Krainz, Meike Sasse (Leitung),
Andrea Schwieter
Fotos
Roland Koberg S. 13, Oerendhard S. 10,
Louise Bourgeois, Extrême tension, 2007
© 2012, ProLitteris, Zurich S. 8,
Christof R. Schmidt S. 18 unten/19,
Ernst Spycher S. 20/23, T+T Fotografie
S. 1/4/6/15–18 oben/24/26/28/29/32
31
Als Partner stehen wir dem Schauspielhaus Zürich
tatkräftig zur Seite.
Gestaltung velvet.ch / Daniel Peter
Druck Speck Print AG, Baar
Auflage 20 000
Erscheint am 7. März 2012
Partner des Schauspielhauses Zürich
Grosse Auftritte sind ohne starke Partner im Hintergrund nicht denkbar.
Deshalb unterstützen wir das Schauspielhaus Zürich und andere ausgewählte
Kulturinstitutionen. Erfahren Sie mehr über unser kulturelles Engagement
unter www.swissre.com/sponsoring
32
„Ich kann nicht mehr.
Jetzt kann ich nicht mehr –“
aus „Geschichten aus dem Wiener Wald“
von Ödön von Horváth
Herunterladen