Any Ad Tastes Supreme with …»: Der Flirt der

Werbung
«Any Ad Tastes Supreme with …»
Der Flirt der Werbung mit der Provokation
Schriftliche, überarbeitete und erweiterte Fassung des Vortrags vom 13. April 2004
im Rahmen des Medienkolloquiums «Werbung in publizistischen Medien. Inserat
und Werbespot als Medium» (Sommersemester 2004; Blum/Hess-Lüttich/Groner)
Universität Bern
Institut für Medienwissenschaft
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Jonathan Sejnoha
Muristrasse 55
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Kaspar Manz
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Matr.-Nr. 01-132-026
«Any Ad Tastes Supreme With …» – Der Flirt der Werbung mit der Provokation
Jonathan Sejnoha / Kaspar Manz | Schriftliche Fassung des Referats von 13. April 2004
Provokante Werbung: Die Werbeindustrie zwischen Moral und
Leistungsdruck
Ich werde mein Referat mit folgendem Zitat von Ulrich Eicke eröffnen:
«Werbung soll den Verkauf von Waren und Dienstleistungen unterstützen. Steigende Umsätze und ein wachsendes BSP gelten als Beweise, dass sie für Unternehmen ebenso nützlich und sogar unentbehrlich ist wie für die gesamte Volkswirtschaft» (Eicke 1991: 9)
Ulrich Eicke ist trotz seiner ernüchternden und eindeutig für die Werbung sprechenden Aussage keineswegs ein Freund der Werbebranche. In seinem Werk mit
dem Titel «Die Werbelawine» übt er, mit absichtlicher Vernachlässigung ihrer
ökonomischen Bedeutung, in voller Linie Kritik an der Werbebranche und an
den Werbungsproduzenten. Er geht sogar soweit, Werbung mit einem Arzneimittel zu vergleichen, dessen «Nebenwirkungen» zu ungeahnten Schäden führen. Unter Nebenwirkungen versteht Eicke die diejenigen Auswirkungen beim
Rezipienten die über die Ziele der Werbeproduzenten – nämlich den Absatz angepriesenen Produktes zu erhöhen – hinausgehen.
Es ist unumstritten, dass Werbung Einfluss auf uns ausübt, ferner erscheint es
durchaus logisch, dass dieser Einfluss nicht zwangsläufig positiv auf uns einwirkt. Ob wir nun im Zug sitzen, ein Magazin lesen, im Kino sitzen, Radio hören, auf der Strasse laufen oder mit dem Auto unterwegs sind: Werbung verfolgt
uns in allen möglichen Formen und Inhalten auf Schritt und Tritt, und obwohl
es vielen von uns lange Zeit gelingen mag, sich ihr zu entziehen; früher oder
später schenken wir alle einem Plakat oder einem lustigen Werbespot unsere
volle Aufmerksamkeit und lassen uns, sei es nun bewusst oder unbewusst, von
ihr beeinflussen; daran kann auch die Mündigkeitstheorie von Kant nichts ändern.
Ulrich Eicke appelliert in seiner Arbeit an die Vernunft der Werbetätigen, sich
ihrer Rolle als meinungsbildende und moralvermittelnde Instanz bewusst zu
werden und ihre Macht nicht zu missbrauchen. Doch scheint diese Forderung,
die in ähnlicher Form auch vom deutschen Presserat geäussert wurde, keinen
Anklang bei den Werbetreibenden gefunden zu haben.
Malte Buss, Autor des Buches «Manipulation mit Millionen» und selber in der
Werbebranche tätig, verweist auf die zwei gängigen Möglichkeiten, Werbung
zu betreiben. Einerseits gibt es die Möglichkeit, den Rezipienten geduldig mit
idealen Produkten, idealen Menschen und idealem Aussehen (Extra, Supra, Ul-
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tra Plus) zu berieseln, andererseits erreicht man Aufmerksamkeit, indem man
aggressive oder gar schockierende Wege (Provokation) einschlägt.
Tatsache ist, dass unsere Gesellschaft heute viel werbemüder bzw. abgestumpfter gegen Werbung ist, als es die Menschen vor 20 Jahren waren. Für Unternehmen ist es heute schwierig geworden, mit Reklamen unsere Aufmerksamkeit
zu erwecken, die Werbeindustrie ist gezwungen, radikalere Mittel einzusetzen,
um Aufmerksamkeit zu generieren. Die Provokation der Rezipienten bzw. das
gezielte Spiel mit den gefährlichen Nebenwirkungen der Werbung ist ein wirksames Mittel, sich längerfristig im Gedächtnis der Zuschauer einzunisten.
Wie aber funktioniert provokante Werbung, mit welchen Mitteln werden empörte Reaktionen bei den Rezipienten hervorgerufen? Michael Jäckel und Jan
D. Reinhardt versuchen, den Prozess der Provokation anhand der provokanten
Kommunikation zu veranschaulichen. Damit Kommunikation als provokativ
durchgeht, müssen laut den Verfassern des Readertextes vier Bedingungen erfüllt sein. Uns erschien dieser Provokationsbegriff ein wenig zu eng geschnürt,
viele in unseren Augen provokative Elemente lassen sich mithilfe dieses Modells
nicht erklären, doch dazu später.
Erstens muss der Rezipient der Werbung – respektive deren Informationsgehalt
– als nicht normativ interpretieren (Nicht-Normatives ist Nicht-Erwartetes und
somit ein Überraschungsmoment), zweitens muss der Werbekonsument dieser
Werbung Intentionalität, also eine gewisse Absicht zuweisen. Den dritten Punkt
der Formel stellt die Differenz zwischen der Information und der Absicht der
Werbung beim Rezipienten dar; schliesslich muss derselbe durch die Werbung
zu empörter Anschlusskommunikation verleitet werden.
Werbungen transportieren neben dem direkten Produktbezug auch moralische
Botschaften; hierzu das Zitat von Reichertz aus dem Reader:
«Viele Unternehmen erhoffen sich wirtschaftlichen Erfolg aus dem Umstand,
dass sie eine Ausfallbürgschaft übernehmen. Sie tun das mittels Werbung, was
die Kirche, die Wissenschaft und auch die Politik einmal taten, jedoch aus unterschiedlichen Gründen zunehmend weniger überzeugend vermögen: die Vertretung und Legitimierung gesellschaftlicher Normen.» (Reichertz 1998, 296;
zitiert nach Jäckel/Reinhardt 2003: 540)
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Jonathan Sejnoha / Kaspar Manz | Schriftliche Fassung des Referats von 13. April 2004
Dies ist aber genau das, was man von der Werbung nicht erwartet, man erwartet
von Werbungen belogen, getäuscht und zum Kauf des jeweiligen Produktes direkt oder indirekt aufgefordert zu werden. Vielleicht erwarten wir nicht einmal
belogen zu werden, jedoch ändert das nichts an der ihr zu Grunde liegenden Absicht, den Konsumenten in seinem Kaufverhalten einem bestimmten Produkt
oder einer Dienstleistung gegenüber zu manipulieren.
Diese sture Erwartungshaltung der Werbekonsumierenden ist genau das, was
sich die Schöpfer von provokanten Werbekampagnen zu Nutze machen und
gegen uns ausspielen. Niemand von uns erwartet, dass Shell in einer Werbekampagne zu allgemeinem Umweltschutz aufrufen würde, kurz nachdem sie
eine Bohrinsel im Meer versenkt haben, oder dass der Moderiese Benetton sich
ernsthaft mit Kinderarbeit in Afrika auseinandersetzt, obschon diese Informationen nicht unwahr sind. Beim Rezipienten bewirkt die Wahrnehmung einer
solchen Werbung die bereits erwähnte Diskrepanz zwischen Information und
Intention der Werbebotschaft und führt zu einer Irritierung.
Der eigentliche Wirkungsbereich der provokativen Werbung beginnt eigentlich
erst mit der von den Werbetreibenden angestrebten empörten Anschlussdiskussion der Rezipienten. In Michel Schenks heute vielleicht etwas veraltete Arbeit mit dem Titel «Wirkungen der Werbekommunikation» (Köln 1990) aus den
90er Jahren werden diverse Wirkungsmodelle vorgestellt, die von traditionellen
Stimulus-Response-Modellen bis zu neueren Forschungsansätzen wie zum Beispiel dem «Involvement-Modell» reichen. Das «AIDA-Modell» des Readertextes
fällt auch unter die Kategorie der einseitigen gradlinigen Stimulus-ResponseModellen und eignet sich nur bedingt zur Visualisierung der Werbekommunikation, es fehlen sämtliche Rückkoppelungseffekte sowie die verschiedenen
Einflusssphären, die auf Werbetreibende einwirken.
Dennoch lässt sich mit Hilfe der modifizierten «AIDA-Formel» im Readertext
der Prozess, den provokative Werbungen auslösen, gut darstellen. Die Anschlussdiskussion, die öffentliche Empörung sind die eigentliche Triebkraft
der provokanten Werbung. Obwohl zu provokative Werbekampagnen ziemlich
schnell zurückgezogen werden sowie ihre Hersteller von Beschwerdebriefen aus
aller Welt überschüttet oder sogar verklagt werden, sind Kampagnen dieser Art
oftmals mit Erfolg gesegnet. Berichterstattungen in den Medien sowie öffentliche Proteste sind unbezahlbare Werbung für einen Markennamen. Andererseits
stellt sich die Frage nach den Grenzen des Zumutbaren in der Werbung und inwiefern sie zu Verwahrlosung der Gesellschaft beiträgt. Wer sich eingehender
mit der gesellschaftlichen Stellung der Werbung auseinandersetzten möchte,
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der sollte sich unbedingt einmal «Die Werbelawine» von
Ulrich Eicke zu Gemüte führen.
Zwischen Humor und Provokation
Die Schwelle zwischen Provokation und Humor in der Werbung ist äusserst durchlässig. Was für den einen noch als
Witz durchgeht, verletzt jemand anderes schon in seinen
Gefühlen. Diese Tatsache lässt denn auch erkennen, auf
welche Gratwanderung sich Werber begeben, wenn sie provokative Werbung machen. Kaum eine andere Werbeform
muss so zielgruppenspezifisch kreiert werden. Die Funktion von provokativer Werbung ist ja gerade, dass es die
«Eingeweihten» und die «Anderen» gibt. Die Eingeweihten
stören sich nicht an der Werbung, und grenzen sich genau
mit dieser Ansicht von denjenigen ab, die sich darüber empören. Damit ergibt sich eine Art virtueller Seilschaft mit
der beworbenen Marke: «Ich und [hier Marke einsetzen]
gegen den verklemmten, langweiligen, moralinsauren
Rest der Welt». Wird nun aber die gewünschte Zielgruppe nicht erreicht, also keine pseudo-positiven Meinungen
zur Kampagne generiert, kann das Ganze fehl schlagen
und negative Publicity nach sich ziehen. Dabei wird dann
oft die Firma als vermeintlicher Absender an den Pranger
gestellt, statt der beauftragten Werbeagentur. Mit diesen
Folgen vor den Augen werden denn die wenigsten provokativen Kampagnen tatsächlich verwirklicht; eine «StandardKampagne», die schöne Leute in schöner Umgebung mit
einem schönen Packshot des Produkts und einem schönen
Slogan präsentiert, ist ein weit sicherer Wert. Gleichzeitig
erklärt diese Scheu der Industrie vor allzu bissigen Kampagnen auch, warum dann realisierte provokative Kampagnen in der Werbebranche jeweils einen regelrechten Hype
verursachen: bedeutet das doch (aus der Sicht der Werber)
nichts anderes, als dass die Blockade aus langweiligen
Zahlenfuchsern und übervorsichtigen Managern durchbrochen werden konnte.
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Braucht es den Bruch mit der Moral, um zu provozieren?
Laut der Definition von Rainer Paris braucht es einen Bruch mit den moralischen Grundsätzen, damit eine Werbung provozierend ist. Die Tatsache, dass
mit einem solchen Bruch schnell und relativ effizient Aufmerksamkeit generiert
werden kann, sollte aber nicht zur voreiligen Folgerung führen, dass dies der
einzige Weg ist. Wir sind der Meinung, dass Werbung existiert, die genauso
provozierend (im Sinne von herausfordernd und aufmerksamkeitserzeugend)
ist, aber mit der «Moral» überhaupt nicht in Konflikt kommen muss. Es reicht
völlig, wenn die Werbung ganz bewusst mit den Erwartungen des Rezipienten
an die Werbung spielt und sie nicht oder auf unerwartete Weise erfüllt.
Erwartungen des Rezipienten an Werbung
Um Werbung als Werbung zu erkennen und mental sofort auszublenden, muss
der Rezipient im Grunde nur zwei Dinge erkennen: Eine Marke, die als Absender der Werbung fungiert sowie ein «Werbeversprechen», was ihm der Kauf gerade dieser Marke bringen soll. Diese zwei Dinge gelten für die Image-Werbung,
bei der Produktwerbung, bei der ein konkretes Produkt zum Kauf angepriesen
wird, kommt noch das Produkt dazu. Mit diesen zwei, bzw. drei Elementen wird
die Werbung schon erkannt – und in den meisten Fällen gleich wieder vergessen. Werden nun genau diese Erwartungen getäuscht, obwohl der Rezipient erkennt, dass es sich um Werbung handeln muss (eine Tatsache, die zum Beispiel
durch das Umfeld gegeben sein kann), so ist er verständlicherweise irritiert. Ein
Beispiel kann dies weiter verdeutlichen:
Im Kino, während des Werbeblocks vor Beginn des Hauptfilms: Auf der Leinwand ist
plötzlich eine düstere, schon fast bedrohliche Landschaft zu sehen. Ein Leuchtturm
steht auf einem Pier, hohe Wellen brechen daran, der Himmel ist von dunklen Wolken
verhangen. Dazu eine Stimme: «Was geschah wirklich am 30. März 2004 in Dalarö?
Finden Sie es heraus: Senden Sie eine SMS an [Eine Nummer wird eingeblendet] oder
besuchen Sie www.dalaroe.ch.» Danach wird die Leinwand wieder dunkel.
Weder ein Absender wurde gegeben, noch ein Werbeversprechen, noch ein Produkt. Der Zuschauer ist ratlos. Die Tatsache, dass danach andere Werbungen
laufen, verstärkt die Unsicherheit bloss noch – denn das bestätigt, dass es wirklich Werbung war, für was auch immer, und nicht etwa ein Trailer für einen
Mystery-Thriller. Untersucht man den Vorgang genauer, erkennt man, dass dieser Werbefilm durchaus Ähnlichkeit mit «klassischer» provokativer Werbung
hat. Durch das Fehlen sämtlicher Elemente, die ein Rezipient normalerweise
von Werbung erwartet, lässt sich der Film als nicht-normativ bezeichnen. Auch
Intention ist klar ersichtlich: Der Film wird im Werbeblock gezeigt, und das
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kann kein Zufall sein: die meisten Leute sind sich wohl bewusst, wie teuer eine
solche Schaltung heutzutage ist. Die Informationsdifferenz ergibt sich aus dem
einfachen Grund, dass der Rezipient nicht erkennen kann, wer für was wirbt.
Durch die erkennbare Intention ist ersichtlich, dass etwas beworben werden
sollte, aber was genau, entzieht sich dem Betrachter. Erst mit der Anschlusskommunikation wird die Definition schwieriger. Paris definiert diese als klar
moralisch gefärbt, bei der man sich entweder von der Werbung distanziert oder
sie aber bejaht und sich damit von den «Verweigern» distanziert. Trotzdem kann
meines Erachtens von Anschlusskommunikation gesprochen werden. So ist es
möglich, weitere Zuschauer nach dem «Sinn» dieser Werbung zu befragen. Oder
man schickt in der Tat eine SMS an die angegeben Nummer.
Es erscheint in diesem Sinn also geschickter und sinnvoller, nicht von Anschlusskommunikation, sondern besser von «Involvement» zu sprechen: das
Ziel einer solchen provokativen Werbung ist erreicht, wenn der Rezipient mehr
tut als nur die Werbung zu vergessen. Dieses Involvement kann dabei äusserst
verschiedene Formen annehmen: In der «klassischen» Form ergeben sich empörte Protest- und Leserbriefe, hier werden Rezipienten zum Surfen aufgefordert, andere Formen beschränken sich auf Gespräche in Peer-Groups.
Wie erfolgreich eine solche Kampagne sein kann, beweist «Der Fall Angie Becker». Im Sommer 1999 schaltete die Plakatgesellschaft apg eine Plakatkampagne, die das Porträt einer jungen Frau zusammen
mit dem Text «Wer kennt Angie Becker?» zeigte.
Der «Absender» war schon – wie beim obigen Beispiel – nicht erkenntlich. Diese Plakate hingen 9–10
Tage und erhielten hohe Beachtung: sogar Tageszeitungen begannen fröhlich mitzurätseln. Nach
dieser Zeit wurden die Folgeplakate aufgehängt,
die folgenden Text zeigten: «Angie Becker beweist:
Mit apg-Plakaten wird man im Nu bekannt.» Eine
anschliessende, von der apg in Auftrag gegebene
Umfrage ergab, dass sich 32 % der Befragten ohne
Hilfe an die Kampagne erinnern konnten. Eine
ähnlich hohe Rate erreichte 1992 in einer anderen
Umfrage ein Benetton-Plakat mit einem noch blutigschleimigen Neugeborenen. Natürlich münzt die apg dieses Resultat gleich in
ein Verkaufsargument für Plakatwerbung um. Der Erfolg der Kampagne liegt
jedoch nicht, wie das die apg vermitteln will, am Medium Plakat, sondern vielmehr an der Form, die durch das Fehlen eines Absenders Aufsehen erregt.
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Um zum Dalarö-Beispiel zurückzukehren: besucht man die angegeben Website,
entdeckt man ein Detektiv-Gewinnspiel, dessen Auflösung schliesslich auch erkennen lässt, von wem die Werbung stammt: In Dalarö, einem kleinen Küstenort in Schweden sollen 30 Personen gleichzeitig ein neues Volvo-Modell gekauft
haben. Damit sind sämtliche Fragen, die man zuvor hatte, beantwortet. Oder so
scheint es zumindest. Bei näherer Betrachtung ergeben sich jedoch Fragen.
Wenn eine Autofirma Werbung macht, so will sie Autos verkaufen – denkt man.
Die Leute jedoch, die in der Lage wären, einen Volvo zu kaufen, bzw. sich mit
dem Gedanken beschäftigen, ein Auto zu kaufen, werden bestimmt nicht beim
Anblick eines sturmumtosten Leuchtturmes zum Volvo-Vertreter rennen. Noch
werden sie (da sie schon fortgeschritteren Alters sind und keine Zeit für solche Kindereien haben) eine SMS an die angegebene Nummer senden, noch die
Website besuchen. Diejenigen, die das wohl am ehesten machen, sind Jugendliche, die entweder gar nicht Auto fahren können, oder es eben gerade gelernt
haben, aber mit Sicherheit noch nicht genügend Geld für einen Volvo haben.
Zwar wird vordergründig mit der Vorstellungen eines neuen Volvo-Modelles geworben, die Stossrichtung der Kampagne ist jedoch eine andere: dem Besucher
der Website soll vermittelt werden, dass Volvo-Autos so gut sind, dass gleich
30 Personen gleichzeitig eines kaufen. Diese Aussage soll sich einprägen, um
dann irgendeinmal, wenn der jetzige Besucher genügend Geld hat, aus dem
Zusammenhang (also der Werbekampagne) gerissen wieder aus dem Unterbewusstsein aufzutauchen: Ich habe mal irgendwo gehört, dass Volvo-Autos sind
so gut seien, dass irgendwo gleich 30 Leute am gleichen Tag das gleiche Modell
gekauft haben … Besser kann der Sleeper-Effekt wahrscheinlich gar nicht angewendet (und dargestellt) werden.
Exkurs 1: Die Rolle des Corporate Designs
Wer die Dalarö-Werbung gesehen hat und ein «typographisches» Gedächtnis
hat, wird der Aussage, dass kein Hinweis auf den Absender vorhanden sei, wohl
widersprechen. In der Tat gibt es einen Hinweis, der jedoch äusserst dezent ist:
die eingeblendeten Schriftzüge sind in der firmeneigenen Schrift gesetzt. Diese – äusserst prägnante – Schrift wird von Volvo schon seit längerem für Werbungen und Publikationen eingesetzt. Wer diese Schrift also wieder erkennt,
wird den Absender der Werbung erraten können. Die meisten Rezipienten haben dieses Auge für Schriftzüge jedoch nicht – so dass bei ihnen nur ein vager
Dejà-vu-Effekt bleibt. Hier setzt nun die wichtige Rolle des «Brandings» ein: je
stärker sich eine Marke optisch von anderen abheben kann und je unverwechselbarer sie ist, desto eher kann sie sich erlauben, in Variationen, Ausschnitten
oder blossen Reminiszenzen zu erscheinen. Coca-Cola kann sich erlauben, nur
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noch Ausschnitte ihres Schriftzugs auf Werbeplakaten zu zeigen, der Rezipient erkennt es trotzdem. Prägnante Schriften können die Rolle des eigentlichen
Logos übernehmen und erlauben eine grössere Freiheit bei der Gestaltung von
Werbung. Ein Beispiel ist etwa der Autokonzern Mercedes-Benz, der seit Jahren mit einer schmalen Antiqua wirbt und es dadurch möglich ist, auf Bilder
von Autos verzichten zu können. Marlboro hat zum einen auch einen leicht erkennbaren Schriftzug, zum anderen wurde aber auch eine unverwechselbare
Bildsprache entwickelt, die selbst ohne Schriftzug
leicht wieder erkennbar wäre.
Exkurs 2: Warum provoziert die
Werbung von Benetton?
Die Werbekampagnen von Benetton werden immer
wieder gerne als das Paradebeispiel für provokative
Werbung präsentiert. Es stellt sich jedoch die Frage,
was an den Kampagnen wirklich provozierend ist.
Schaut man sich nämlich die Bildmotive genauer
an, wird man unweigerlich erkennen, dass die wenigsten Bilder auf Schockeffekten (es gibt Ausnahmen) aufbauen, sondern sehr sorgfältig komponiert wurden. Das wirklich Schreckliche wird gar
nicht gezeigt, der Betrachter muss die Bedeutung,
die Story des Bildes selber erschliessen. [Bild Soldatenfriedhof, Elektrischer Stuhl]. Selbst ein noch
blutig-schleimiges Neugeborenes wird in ästhetisch-klinisch weisser Umgebung gezeigt. [Bild
des Babys] Das Bild ist des öftern als provozierend bezeichnet worden. Um nach der Definition
von Rainer Paris zu gehen, müssten mit dem Bild
also moralische Grenzen übertreten worden sein.
Bloss: was ist an einem Neugeborenen moralisch
verwerflich? Selbst die Begründung, so was könne
möglicherweise Persönlichkeitsrechte verletzen,
wird durch die offensichtlich bewusste Komposition des Bildes (die Aufnahme wird also mit den
Eltern geplant und abgesprochen sein) widerlegt.
Die Provokation liegt auf einer anderen Ebene. Die
Werbung scheint nicht für Benetton zu werben.
Das Neugeborene ist nackt – und steckt nicht, wie
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wir das von sonstiger Kleiderwerbung gewohnt sind, ein Kleidern der beworbenen Marke. Kleidung ist in der Werbung nicht präsent. Es fehlt also das Produkt,
das man als durchschnittlicher Kleiderkäufer angepriesen sehen möchte. Benetton hat wie sämtliche Kleidermarken das Problem, dass sie Produkte anbieten, die sich von jenen anderer Anbieter objektiv in keiner Weise unterscheiden.
Benetton muss also – genau wie alle Anbieter – ein Lebensgefühl verkaufen. Die
Kampagnen sind also nichts anderes als Imagewerbung, wo es, laut obiger Definition, möglich ist, kein Produkt zu präsentieren. Man könnte es in der Tat so
nennen, mit der Einschränkung, dass reine Imagekampagnen bei Kleidermarken kaum vorkommen. Die meisten Kleiderwerbungen sind sowohl Image- wie
auch Produktkampagnen. Mir persönlich wäre keine andere Marke bekannt,
die so wie Benetton reine Imagekampagnen benutzt. Diese Tatsache ist Teil der
Irritation. Doch die Provokation geht weiter als das. Benetton zeigt nicht erfolgreiche, glückliche und fröhliche Menschen, so wie die restliche Werbung.
Benetton zeigt die Schattenseiten (Oder, im O-Ton: «Die Welt, wie sie wirklich
ist, wenigstens einen Teil» (Zitiert aus Schmidt/Spiess 1994: 67)). Dahinter ist
clevere Berechnung. Benetton gibt damit dem Käufer das Gefühl, dass er eine
sozial gute Tat tut, wenn er Kleidung von Benetton kauft: die Welt wird toleranter, Armut wird zurückgedrängt, die Hungernden werden genährt. Und das
ist in der Tat eine Provokation, wenn auch auf Umwegen: es folgt nichts anderes, als dass Benetton soziale und humanitäre Probleme heranzieht, um für
sich mehr Gewinn zu generieren – was schlussendlich humanitär dann doch
nicht so hilfreich ist. Persifliert wird das Ganze zusätzlich, wenn man weiss,
dass auch Sisley zum Benetton-Konzern gehört; und Sisley hat mit humanitären
Aktionen definitiv nichts mehr am Hut: sämtliche Kampagnen zeigen dekadente Yuppies in verschiedenen Stadien der Entblössung, und kaum ein Bild ist zu
finden, das keine sexuellen Referenzen enthält. Trotzdem: Benetton ist längst
nicht die einzige Firma, die eine solche («scheinheilige» (Schmidt/Spiess 1994:
67)) Strategie verfolgt: auch «The Body Shop» gehört dazu, neueren Datums sind
etwa Starbucks oder die Label engagement (von Migros) und Coop NaturaPlan zu nennen, die eine ähnliche Strategie verfolgen, indem sie dem Konsumenten einen sozialen Mehrwert beim Kauf der Produkte suggerieren.
Resume
Werbung provoziert immer dann, wenn eine Reaktion hervorgerufen, im Grunde also nichts anderes als «Involvement» generiert werden soll. Gehen ältere
Publikationen wie etwa die von Werner Kroeber-Riel (1993) noch davon aus,
dass dieses Involvement vor allem vom Rezipienten allein abhängig ist, versucht
die Werbung heute, auch dann Involvement zu generieren, wenn die Voraussetzungen des Rezipienten (genügend Zeit, besonderes Interesse für ein Produkt)
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nicht dafür sprechen. Den Rezipienten mit einem Bruch von moralischen Regeln anzugreifen, stellt dabei nur der Beginn der Möglichkeiten dar. Werbung,
die sich offensichtlich «doof» gibt (wie etwa die von Mediamarkt) kann dabei,
wie in der Diskussion im Anschluss an unser Referat bemerkt wurde, genauso
provozierend wirken, da der Rezipient ganz bewusst für nicht voll genommen
wird. Moralische Grenzen werden dabei aber kaum gesprengt. Trotzdem: zu
Reden gibt auch diese Art von Werbung, womit auch hier Involvement erreicht
wurde. Werbung, die sich den Regeln der Werbung verweigert, geht dabei einen
anderen Weg: die Provokation besteht in der Tatsache, dass dem Rezipienten
Informationen vorenthalten werden, die er sonst regelgerecht aufgedrängt bekommt. Werbung wird also zu einem gewissen Masse selbstreferenziell und
lädt zum Spielen ein.
Die Tatsache, dass letztendlich immer vorsichtige Manager über Werbekampagnen entscheiden, hat bis jetzt wohl noch des Öftern verhindert, dass allzu provokative Werbung tatsächlich realisiert wurde. Andererseits wäre intelligente
Werbung, die spielerischer, ästhetischer und unkonventioneller daher kommt,
durchaus wünschenswert.
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Jonathan Sejnoha / Kaspar Manz | Schriftliche Fassung des Referats von 13. April 2004
Bibliographie
Eicke, Ulrich (1991): Die Werbelawine. Angriff auf unser Bewusstsein. München.
Jäckel, Michael; Reinhardt, Jan D. (2003): Aufmerksamkeitsspiele: Anmerkungn zu provokanter Werbung. In: Willems, Herbert (Hrsg.) (2003): Die Gesellschaft der Werbung. Kontexte und Texte. Produktionen und Rezeptionen. Entwicklungen
und Perspektiven. Wiesbaden
Kroeber-Riel, Werner (1993): Strategie und Technik der Werbung: Verhaltenswissenschaftliche Ansätze (4. Auflage). Stuttgart
Sager, Jürg (1999): Der Fall Angie Becker
Schenk, Michael; Donnerstag, Joachim; Höflich, Joachim (1990):
Wirkungen der Werbekommunikation. Köln.
Schmidt, Siegfried J.; Spieß, Brigitte (1994): Die Geburt der schönen Bilder:
Fernsehwerbung aus Sicht der Kreativen. Opladen
Bildverzeichnis
Bilder der Benetton-Kampagnen (Titelbild der Arbeit, Soldatenfriedhof, Elektrischer Stuhl, Neugeborenes): http://www.benetton.com/press
«Wer kennt Angie Becker?»: Aus Sager, Jürg (1999): Der Fall Angie Becker
Restliche Bilder aus: Pricken, Mario (2004): Kribbeln im Kopf: Kreativitätstechniken & Brain-Tools für Werbung & Design (5. Auflage). Mainz
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