_______________________________________________________________________ SWR 2 Musikstunde mit Ulla Zierau, 12. März 2013 "Eine geistige Kostümgeschichte" Streifzug durch Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit (2) Willkommen zu unserer Lektüre der Kulturgeschichte der Neuzeit von Egon Friedell, dessen Todestag sich am 16. März zum 75. Mal jährt. Lesen wir die ersten Sätze der Einleitung: „Durch die unendliche Tiefe des Weltraums wandeln zahllose Sterne, leuchtende Gedanken Gottes, selige Instrumente, auf denen der Schöpfer spielt. Sie alle sind glücklich, denn Gott will die Welt glücklich. Ein einziger ist unter ihnen, der dieses Los nicht teilt: auf ihm entstanden nur Menschen. Wie kam das?“ Fragt Friedell. „Hat Gott diesen Stern vergessen? Oder hat er ihm die höchste Glorie verliehen, indem er ihm freistellte, sich aus eigener Kraft zur Seligkeit emporzubringen? Wir wissen es nicht. Einen winzigen Bruchteil der Geschichte dieses winzigen Sterns wollen wir zu erzählen versuchen“. Schreibt Friedell und diese Erzählung ist seine Kulturgeschichte geworden, er beginnt an der Zeitenwende vom Mittelalter zur Renaissance und endet beim ersten Weltkrieg, dazwischen viele Ereignisse, von denen wir uns die musikalischen heraussuchen wollen, die ersten finden wir im zweiten Buch, unter der Überschrift: Barock und Rokoko. ---------------------------------------------------------------------------------------------Musik 1 Johann J. Fux: Intrada C-Dur / Freiburger Barockorchester Leitung: Gottfried von der Goltz M0063001 013 3‘30 ---------------------------------------------------------------------------------------------2 Intrada C-dur von Johann Joseph Fux mit dem Freiburger Barockorchester unter der Leitung von Gottfried von der Goltz. „Die Ouvertüre der Barocke“ lautet das erste Kapitel in Friedells Buch über Barock und Rokoko. Um Vollständigkeit geht es ihm dabei nicht, im Gegenteil er strebe immer und überall Unvollständigkeit an. Er betont: „Wir können die Welt immer nur unvollständig sehen: sie mit Willen unvollständig zu sehen, macht den künstlerischen Aspekt. Ich versuche nur immer ein einzelnes Segment oder Bogenstück, eine bescheidene Vedute ganzer großer Zusammenhänge und Entwicklungen zu geben.“ Das heißt also Momentaufnahmen, Augenblicke sind Friedell wichtig: Eine Anekdote, eine Handbewegung, ein einziges Detail könne ein Ereignis schärfer, einprägsamer charakterisieren als eine ausführliche Schilderung. Friedell pointiert: „die Anekdote in jederlei Sinn erscheint mir als die einzige berechtigte Kunstform der Kulturgeschichtsschreibung“. Mit einer Anekdote, einer Handbewegung beschreibt er bildhaft das Pudern im Rokoko: „Das Pudern, das zur vornehmen Toilette unerlässlich war, ob es sich um eigenes oder falsches Haar handelte, war eine äußerst schwierige Prozedur: man schleuderte den Puder gewöhnlich zuerst gegen die Zimmerdecke und ließ ihn von da auf den Kopf herab rieseln, das Gesicht schützte man dabei durch ein Tuch. Kaunitz pflegte des Morgens durch ein Spalier von Lakaien zu schreiten, die ihn möglichst gleichmäßig bestäuben mussten. Graf Brühl besaß 15hundert Perücken, die dauernd unter Puder gehalten wurden: „viel für einen Mann ohne Kopf“, sagte Friedrich der Große.“ 3 In der Sonate Friedrich des II. hört man mit ein wenig Fantasie den Puder von der Decke rieseln. --------------------------------------------------------------------------------------------Musik 2: Friedrich II: Flötensonate h-moll, Siciliana und Vivace Emanuel Pahud, Jonathan Manson und Trevor Pinnock M0295605 127+ 130 5‘26 ---------------------------------------------------------------------------------------------Emanuel Pahud, Jonathan Manson und Trevor Pinnock mit zwei Sätzen aus der Flötensonate h-moll von Friedrich dem Großen, Siciliana und Vivace. Mit den Puderperücken Friedrich des Großen sind wir mitten drin im zweiten Buch der Kulturgeschichte der Neuzeit. „Barock und Rokoko“ heißt es. In dieser Welt des Barock und Rokoko habe die Musik die Hegemonie, schreibt Friedell. In der Renaissance sei die Plastik die bestimmende Kunst gewesen, im Barock sei es die Musik – ein überreich besetztes Orchester schmettere uns allen seine Schöpfungen entgegen. Bedeutsame Neuerungen seien die Instrumentalstücke wie die sonata, da gibt es die Kirchensonate und die Sonata da camera, hier in der SWR 2 Musikstunde eine von Arcangelo Corelli. --------------------------------------------------------------------------------------------Musik 3 Arcangelo Corelli: Sonata da camera B-Dur, op. 4 Nr. 9 Ensemble Aurora M0325731 034 / 36 4’42 --------------------------------------------------------------------------------------------Ensemble Aurora mit Preludio und Corrente aus der Sonata da camera B-Dur, op. 4 Nr. 9 von Arcangelo Corelli. 4 Instrumentalmusik auf dem Vormarsch im Barockzeitalter – der mehrstimmige a cappella Gesang wird durch einen instrumental begleiteten Sologesang verdrängt – die Melodie führende Oberstimme, gesungen oder von einem Instrument gespielt, wird durch fortlaufende Akkorde begleitet, der Generalbass oder Basso continuo wird zum führenden Prinzip, so beschreibt es Egon Friedell. Das Generalbass Zeitalter beginnt: In der Ausdruckskraft der Melodie erkennt Friedell das Spielerische und Artistische der Barocke, ihre Vorliebe für das Malerische und die Stimmung, ihr Wille zum gesteigerten Raffinement, zur Farbe und Nuancierung, Wucht und Ausdrucksfülle“. --------------------------------------------------------------------------------------------Musik 4 G. Fr. Händel: Lascia ch'io pianga Arie der Almirena, 2. Akt Albrecht Mayer, Oboe / Sinfonia Varsovia M0055350 007 4‘00 --------------------------------------------------------------------------------------------„Lascia ch'io pianga“ – Lass mich weinen, Arie der Almirena aus der Oper Rinaldo von Georg Friedrich Händel, in der Bearbeitung für Oboe und Orchester mit Albrecht Mayer und der Sinfonia Varsovia. Friedell schreibt unter dem Stichwort „Hegemonie der Oper“ in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit von den ersten Oratorien um 1600 in Rom, sie seien eine effektvoll, künstlerische Ausdrucksform, die sich jedoch zur Oper verhalte wie der Karton zum Gemälde. Die Oper wurde mit Dafne geboren. Auf einen Text von Ottavio Rinuccini und Musik von Jacopo Peri. Karneval 1597 fand in Florenz die Uraufführung statt, die Musik ist leider weitgehend verloren gegangen. Es war noch keine Oper, wie wir sie heute kennen, bemerkt Friedell, mehr musikalische Deklamation als Gesang, also eine Art Sprechgesang. Den entwickelte Claudio Monteverdi dann kunstvoll weiter. Friedell schwärmt von Orfeo. 5 Die Musik trete immer mehr in den Vordergrund, übernehme eine selbstständige Rolle. Wir gehen in der SWR 2 Musikstunde noch einen Schritt weiter und hören das Lamento d‘ Arianna aus der Oper Arianna von Monteverdi. Das Klagelied der Ariadne löste damals eine wahre Euphorie, ein Monteverdi-Fieber aus, über Jahrzehnte war diese komplexe Musiksprachlichkeit höchster und vollkommener Ausdruck einer Todessehnsucht. Aus jeder Note, aus jeder Phrase quillt Verzweiflung, Klage und Trostlosigkeit Markant hierbei die chromatische Aufwärtsbewegung und der abfallenden Tritonus Intervall. -------------------------------------------------------------------------------------------Musik 5 Claudio Monteverdi: Lasciatemi morire Lamento d'Arianna Véronique Gens / Le Concert d’Astrée, Emmanuelle Haim, M0323970 004 7’12 --------------------------------------------------------------------------------------------Véronique Gens und Le Concert d’Astrée unter der Leitung von Emmanuelle Haim mit dem Lamento d'Arianna von Claudio Monteverdi. Monteverdi verfeinerte den Gesang, spickte ihn mit Verzierungen, arbeitete mit Zwischenspielen und Klangmalereien. Nicht nur für Friedell ist Monteverdi der Erfinder des Duetts und des Geigentremolos. In dem Madrigal Tancredi und Clorinda zeichnet er mit wuchtiger Sprache den Zweikampf klangmalerisch nach, man hört das Rasseln der Schwerter, das Springen der Pferde, die erhitzten Gemüter. 6 -------------------------------------------------------------------------------------------Musik 6 Claudio Monteverdi: Der Kampf zwischen Tancredi und Clorinda, Ausschnitt / Françoise Semellaz und Nicolas Rivenq, Les Arts Florissants / William Christie M0073226 014 2‘11 -------------------------------------------------------------------------------------------Ein Ausschnitt aus Claudio Monteverdis „Kampf zwischen Tancredi und Clorinda“. Solisten waren Françoise Semellaz und Nicolas Rivenq. William Christie leitete Les Arts Florissants. Monteverdi kürte die Oper erstmals zur Königin, in Venedig entstanden erste Opernhäuser, Heinrich Schütz schrieb die erste deutsche Oper, Daphne, all das zählt Friedell in seiner Kulturgeschichte auf und kommt dann von den Anfängen der Oper nach Spanien, wo die Frühbarocke zur Blüte gelangte, er schwärmt von den rauschenden Sprachenwundern Calderons, von unerbittlichen Naturalismus Riberas und der vollkommenen Entrücktheit, Unwirklichkeit und Transzendenz el Grecos. Das Barockzeitalter versteht Friedell, wie jede geschlossene Weltanschauung, als einen Versuch mit der Wirklichkeit fertig zu werden, deren Widersprüche aufzulösen. Der Rationalismus herrsche vor, der Versuch, alle Erscheinungen dem Verstand zu unterwerfen. Durch den Rationalismus gelange eine ungeheuere Kluft in die Seele des modernen Menschen, die ihn auseinanderreiße. Der Rationalismus unterminiere den Glauben und damit die Wirklichkeit. Glauben und Wirklichkeit - Friedell kommt nach Frankreich, Religionskriege und le grand siècle mit Richelieu, Mazarin, dem Sonnenkönig und seinem Theater von Versailles samt dem berühmten Hofkomponisten Lully. 7 ------------------------------------------------------------------------------------------Musik 7 Jean Baptiste Lully: Marche pour la cérémonie des Turcs Les Concerts du Monde / Keith Clark M9039984 001 2‘09 ------------------------------------------------------------------------------------------Marche pour la cérémonie des Turcs aus der Comédie Ballett „Le bourgeois gentilhomme“ von Jean Baptiste Lully. Keith Clark leitete Les Concerts du Monde. Lully hat seine Musik in den Dienst des Theaters gestellt und gleichzeitig die große Oper, die tragédie lyrique für sich monopolisiert. Er war nicht nur Komponist, sondern auch Intendant, Dirigent, Regisseur, ein von seiner Kunst besessener, so charakterisiert ihn Friedell. Lullys musikalischer Verdienst liege in der Kunst der Rhythmik, der Deklamation und in der Ausstattung der Szenerie. Er komponierte musikalische Gewitter, Erdbeben, Vulkanausbrüche oder auch Balletteinlagen und Chöre. Friedell meint: „alles ist erfüllt von strenger Ordnung und Klarheit, Klangfülle und Klangreinheit, lichtvoller, angenehm fallender Kadenz. Der Musik muss es naturgemäß am vollkommensten gelingen, sich ganz zu mathematisieren, mit dem cartesianischen Geiste der Symmetrie zu erfüllen“. Friedell über französische Barockmusik. ------------------------------------------------------------------------------------------Musik 8 Jean Baptiste Lully: Chor der Amazonen aus Bellérophon, Kammerchor Namur / Les Talens Lyriques / Christophe Rousset M0282935 020 2’50 -------------------------------------------------------------------------------------------- 8 Kammerchor Namur und Les Talens Lyriques unter der Leitung von Christophe Rousset mit dem Chor der Amazonen aus Bellérophon von Jean Baptiste Lully. Immer wieder bündelt Friedell in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit die Gedanken des barocken Zeitalters, spricht vom Kultus der Form. Das Barocke sei nicht nur eines der Formfreudigsten und Formgewaltigsten, sondern auch eines der Formhörigsten und förmlichsten Zeitalter der Weltgeschichte. Das zeige sich in der äußeren Erscheinung der Menschen, Perücke, Kostüm, Körperhaltung, Schritt, Gebärde, Gefühlsausdruck seien in ein geheimes Quadratnetz gebannt. Es gehe allein um den äußeren Eindruck der Würde und Gravität und Friedell verweist auf die körperliche Korpulenz, er nennt es sogar Fettleibigkeit, die damals in Mode war. Er entwirft folgendes Bild: „Den mächtig geröteten Kopf mit den Backentaschen und dem Doppelkinn, den fassförmigen Unterleib, die langsamen Armbewegungen, den bedächtigen Gang mit hochgehobenem Kopf und nach hinten geworfenem Oberkörper, den ermüdeten, leidenschaftslosen Gesichtsausdruck, so haben wir genau den körperlichen Habitus, der dem Barockmenschen als Ideal vorschwebte“, so Friedell. Alles in festen Formen, der Mensch, Schlösser, Gärten, die Gesellschaft, die Kunst und auch die Musik. 9 -------------------------------------------------------------------------------------------Musik 9 J.S. Bach: Canon alla Decima Andreas Staier, Cembalo M0071894 025 4’18 -------------------------------------------------------------------------------------------Andreas Staier spielte auf dem Cembalo Canon alla Decima aus Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge. Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit in den SWR 2 Musikstunden, anlässlich des 75. Todestages des Schriftstellers und Schauspielers. Wir kommen zum dritten Kapitel seines Buches über Barock und Rokoko, das nennt er „Agonie der Barocke“. Darin begegnen wir Karl VI, römisch-deutscher Kaiser und Erzherzog von Österreich, politisch eher unentschlossen, ein Traditionalist, aber ein großer Theaterliebhaber, - weiß Friedell zu erzählen, „er ließ die prachtvollsten Ausstattungsstücke aufführen, die Europa vielleicht jemals gesehen hat, war selbst Musiker und Komponist und wirkte bei seinen Hauskonzerten und Opernvorstellungen häufig mit. Umgangssprache am Hofe war italienisch, überhaupt alles Italienische war in Mode, die Sprache, die Musik. „Überall herrschte, vornehmlich auf titillazione degli orecchi, auf Ohrenkitzel ausgehend der Belcanto“, lesen wir bei Friedell, „die aus Italien importierte Kunst der Bravourarie, mit ihren italienischen Konzertmeistern, Primadonnen und Kastraten. 10 Einer von den führenden Italienern in Wien war Metastasio, er lieferte drei Generationen von Komponisten seine meisterhaften Libretti, die nach Meinung Friedells, selbst schon Melodramen waren und das begleitende Orchester souverän kommandierten. Friedell erklärt: „Text und Ton sind bei ihm daher nicht im Kampfe um die Vorherrschaft, auch nicht parallel koordiniert, sondern zwei Seiten derselben Sache, eine ideale Einheit Hierauf beruht seine einzigartige Stellung, zumal in einer Zeit, die alle Kunst musikalisch empfand und das ganze Leben als eine Art Spieloper konzipierte“. Friedell über den Meisterlibrettisten Metastasio und seine Zeit. So viel für heute aus Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit. Morgen geht es weiter mit Gluck, Haydn und der interessanten Lebenskurve von Mozart. Hier noch eine Arie aus der Oper Olimpiade“ von Antonio Caldara, die 1733 in Wien uraufgeführt wurde. Das Libretto schrieb Metastasio. -------------------------------------------------------------------------------------------Musik 10 Antonio Cajdara : L'Olimpiade, Arie des Megakles, 3. Akt Philippe,Jaroussky, / Concerto Köln / Emmanuelle Haïm, M0270195 001 4’13 ------------------------------------------------------------------------------------------ Literaturangabe: Alle Zitate Friedells stammen aus der Kulturgeschichte der Neuzeit, Verlag C.H.Beck, München 2012 11