Bericht - Bundesministerium für Gesundheit und Frauen

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Poliomyelitis in Tadschikistan
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Strauss R , Mutz I , Muchl R , Sagl M , Hrabcik H
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Bundesministerium für Gesundheit (BMG), Sektion III, Abt III/A/1
Vorsitzender des Nationalen Polio-Eradikationskomitees
3
Generaldirektor für Öffentliche Gesundheit, Leiter der Sektion III, Bundesministerium für Gesundheit
(BMG)
2
Kontakt:
Dr. med. Dr. phil. Reinhild Strauss
MSc (LSHTM/London), EPIET/Schweden
Leiterin der Abt. III/A/1 (Infektionskrankheiten, Seuchenkontrolle, Krisenmanagement)
BM für Gesundheit
Radetzkystraße 2
A-1030 Wien
Tel: 0664-13 22 163
E-mail: [email protected]
Allgemeine Information zu Poliomyelitis
Poliomyelitis, kurz Polio genannt, wird durch Polioviren ausgelöst und ist hoch ansteckend.
Die Viren werden im Wesentlichen über Schmierinfektion übertragen, gelangen über den
Mund in den Körper und dringen später in das Nervensystem ein, wo sie innerhalb von
Stunden vollständige Lähmungen auslösen können. Nach Angaben der WHO führt eine von
200 Infektionen zur Lähmung, zumeist in den Beinen. Von den gelähmten PatientInnen stirbt
fast jeder zehnte an Störungen der Atemmuskulatur. Da Polio durch Impfung verhindert
werden kann, eine natürliche Infektion sowie die Impfung eine lebenslange Immunität
hinterlässt und der Mensch der einzige Wirt ist, ist die weltweite Eradikation prinzipiell
möglich. Daher hat die WHO anlässlich ihrer 41. Vollversammlung am 13. Mai 1988 das Ziel
formuliert, die Poliomyelitis weltweit zu eliminieren (1). Die WHO EURO-Region wurde 2002
als Polio-frei erklärt (2). Mit dem Auftreten der Fälle in Tadschikistan könnte die
Zertifizierung der WHO EURO-Region als Polio-frei gefährdet sein. Die WHO und UNICEF
nahmen die Situation in Tadschikistan zum Anlass, zu einer Informationsveranstaltung der
Global Polio Eradication Initiative (GPEI) einzuladen, um den neuen strategischen Plan für
2010-2012 vorzustellen (Detailbericht erfolgt im Newsletter 3/2010).
Derzeitige Situation in Tadschikistan und den Nachbarländern
Laut einer aktuellen Information der WHO traten im südwestlichen Teil Tadschikistans
(Grenzland zu Afghanistan, einem der wenigen Länder weltweit, in denen weiterhin
autochthone Poliofälle vorkommen) im Jahr 2010 bislang 432 Fälle einer akuten schlaffen
Lähmung (= acute flaccid paralysis AFP), dem wichtigsten Symptom einer Polio auf. In 129
Fällen wurde eine Polioinfektion labordiagnostisch bestätigt, welche sich wie folgt auf die
verschiedenen Altersgruppen aufteilen: < 1J: 21 % (n=21); 1-5J: 62 % (n=80); 6-14J: 12 %
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(n=15); > 15J: 5 % (n=7) (3). Die Gesundheitsbehörden von Tadschikistan arbeiten eng mit
der WHO bei der Bekämpfung des Ausbruchs zusammen und es werden bereits
Impfkampagnen durchgeführt. Die WHO betont die Wichtigkeit der Polioimpfung für
Reisende, weist aber auch darauf hin, dass keine Reise- und Handelsbeschränkungen
angebracht sind.
In Tadschikistan sind in den letzten 13 Jahren keine Erkrankungen an Poliomyelitis
beobachtet worden. Das Auftreten der 129 Fälle weist auf eine Einschleppung des Virus und
Verbreitung der Infektion hin. Erste Untersuchungen zeigten eine genetische
Verwandtschaft mit einem in Indien (Uttar Pradesch) nachgewiesenen Virusstamm (3). Das
Ausbreitungsrisiko des Virus sollte nicht unterschätzt und die empfohlenen
Schutzmaßnahmen befolgt werden. In den umliegenden Ländern Kasachstan, Kirgistan und
Usbekistan wurden bislang keine Poliofälle beobachtet, es wurden aber umfangreiche
Vorsorgemaßnahmen eingeleitet und Impfkampagnen sind geplant. Allerdings wurde bereits
ein Fall nach Russland (Irkutsk) importiert - es handelte sich um ein 9-monatiges Kind aus
Tadschikistan (4).
Bild 1: Tadschikistan –Geographische Lage
Bild 2: Polio-Impfkampagne in Tadschikistan - WHO EURO-Generaldirektorin Zsuzsanna Jakab
Risikoeinschätzung des Europäischen Zentrums für die
Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC)
Das ECDC hat bislang drei Risikobeurteilungen („Threat assessments“) durchgeführt. Laut
ECDC kann eine Einschleppung von Einzelfällen in die EU nicht ausgeschlossen werden, wie
dies der nach Russland importierte Fall zeigt. Trotzdem wird das Risiko eines Polio-Ausbruchs
in der EU weiterhin als sehr gering eingeschätzt da einerseits sehr wenige BürgerInnen aus
Tadschikistan in die EU einreisen und andererseits in der EU hohe Durchimpfungsraten
bestehen. Allerdings könnte in Bevölkerungsgruppen mit geringer Durchimpfungsrate eine
Infektion stattfinden, wenn es zur Einschleppung von Einzelfällen kommt (5).
Polio-Situation in Österreich
Epidemiologie
Poliomyelitis ist in Österreich nach wie vor eine meldepflichtige Krankheit (6). Wie in vielen
anderen Ländern trat auch in Österreich nach dem 2. Weltkrieg eine schwere Polioepidemie
auf. Die höchste österreichweite Inzidenz wurde im Jahr 1947 mit 3.508 Erkrankungsfällen
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und 315 Todesfällen beobachtet. Zu einem weiteren Erkrankungsgipfel kam es im Jahr 1955
mit österreichweit 1.018 Erkrankungsfällen und 102 Todesfällen. Mit Einführung der
flächendeckenden und kostenlosen Impfung im Impfwinter 1961/62 konnte die Inzidenz
innerhalb eines Jahres von 3.65/100.000 (1961: n= 292) auf 0.1/100.000 (1962: n= 8) gesenkt
werden. Der letzte Poliofall trat im Jahr 1980 auf (7).
Abb 1b: Kinderlähmung in Österreich 1962 - 1981
Abb 1a: Kinderlähmung in Österreich 1946 - 1962
12
4500
4000
10
3500
Sterbefälle
Erkrankungsfälle
2500
2000
8
Anzahl
Anzahl
3000
Sterbefälle
Erkrankungsfälle
6
4
1500
1000
2
500
0
19
62
19
63
19
64
19
65
19
66
19
67
19
68
19
69
19
70
19
71
19
72
19
73
19
74
19
75
19
76
19
77
19
78
19
79
19
80
19
81
19
46
19
47
19
48
19
49
19
50
19
51
19
52
19
53
19
54
19
55
19
56
19
57
19
58
19
59
19
60
19
61
19
62
0
Jahr
Jahr
Impfung
In Österreich wurde bereits in den beginnenden 60er Jahren mittels kostenloser
Impfkampagnen für alle Kinder und Jugendliche bis zum 21. Lebensjahr die erfolgreiche
Poliobekämpfung eingeleitet. Die Polioimpfung ist auch jetzt Teil des kostenlosen
Kinderimpfprogrammes. Die Durchimpfungsraten bei Kindern und Jugendlichen können auf
Basis der öffentlich finanzierten Impfungen im Rahmen des Impfkonzeptes berechnet
werden. Hier liegt die Durchimpfungsrate über 95 %. Die Immunitätslage bei Erwachsenen
wird derzeit im Rahmen einer seroepidemiologischen Studie der Medizinischen Universität
Wien erhoben. Der ursprünglich in Österreich verwendete orale Impfstoff (Polioimpfstoff
nach Sabin) wurde ab 1999 durch einen Totimpfstoff (Polio-Impfung nach Salk) ersetzt, um
die sehr seltene Nebenwirkung einer vakzineassoziierten paralytischen Poliomyelitis (1 Fall
auf 890.000 Erstimpfungen) auszuschließen. Zudem bestand beim Lebendimpfstoff das
äußerst geringe Restrisiko einer Mutation, bei der Eigenschaften des Wildvirus wieder
auftreten könnten.
Umsetzung des Polio-Eradikationsprogrammes
Seit 1998 werden alle Vorgaben des WHO-Polio-Eradikationsprogrammes flächendeckend
erfüllt (Etablierung eines Nationalen Komitees zur Zertifizierung und Eradikation der
Poliomyelitis; AFP- und Enterovirus-Überwachung). Das Nationale Polio-Komitee beobachtet
derzeit die Lage und hält ad hoc Audiokonferenzen ab. Die Landessanitätsdirektionen
wurden mehrfach im Rahmen von Audiokonferenzen und schriftlichen Informationen über
die Lage in Tadschikistan informiert. Weiters wurden die für die Enterovirus-Überwachung
zuständigen Labors in Österreich nochmals auf die Notwendigkeit der Durchführung einer
PCR zur sicheren Polio-Diagnostik informiert.
Ausbruchsbekämpfung
Für den Fall der Einschleppung von Poliofällen und der damit verbundenen Gefahr eines
Polio-Ausbruches wurde vom Nationalen Komitee zur Zertifizierung und Eradikation der
Poliomyelitis ein Aktionsplan erstellt, welcher jährlich auf Aktualität überprüft und der WHO
übermittelt wird. Der Aktionsplan umfasst folgende Aktivitäten:
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Aktivierung des Krisenstabs des Bundesministeriums für Gesundheit sowie des
Nationalen Polio-Komitees
Bestätigung der Diagnose durch das nationale Polio-Referenzlabor
Management der Fälle, Ausbruchsuntersuchung samt Bericht sowie aktive
Surveillance
kostenlose Impfung aller Kontaktpersonen, welche bisher weniger als vier Dosen
(OPV oder IPV) erhalten haben sowie Beurteilung der Notwendigkeit der
Abriegelungsimpfung von Personen, welche im betroffenen Bezirk leben und weniger
als vier Dosen Polio-Impfstoff erhalten haben.
Aktuelle Impfempfehlungen für Reisende in die betroffene Region
Das BM für europäische und internationale Angelegenheiten informiert über akute
Gesundheitsbedrohungen und passt somit auch die Reisehinweise für Tadschikistan der
aktuellen Situation an (8).Wegen des Ausbruchs von Poliomyelitis in Tadschikistan wird allen
Reisenden nach Tadschikistan und die Nachbarländer Usbekistan, Kirgistan und Kasachstan
sowie Afghanistan dringend empfohlen, vor der Abreise ihren Polio-Impfstatus kontrollieren
zu lassen und bei Fehlen für eine rechtzeitige Komplettierung zu sorgen:
Ausreichend gegen Kinderlähmung geimpft sind alle Personen, welche bisher
mindestens vier Dosen Poliomyelitis Impfstoff erhalten haben und bei denen die
letzte Dosis nicht länger als 10 Jahre (bzw. bei Personen über 65 Jahren nicht länger
als 5 Jahre) zurückliegt.
Bei unzureichendem Impfschutz gegen Kinderlähmung genügt zur Komplettierung
des Impfschutzes bei Personen, welche bisher 3 oder mehr Dosen Impfstoff erhalten
haben, 1 Dosis eines Poliomyelitis-Impfstoffes (monovalent oder als
Kombinationsimpfstoff).
Erwachsene Personen, welche noch nie gegen Poliomyelitis geimpft worden sind,
benötigen für einen ausreichenden Schutz 2 Dosen des monovalenten Impfstoffes im
Abstand von 4-6 Wochen. Für Kinder ohne bisherige Impfung sind 3 Dosen
Poliomyelitis-Impfstoff (monovalent oder in Kombination; siehe Fachinformation)
notwendig.
Säuglinge ohne ausreichenden Impfschutz (<3 Dosen erhalten) sollten Reisen in das
Risikogebiet vermeiden, bis sie nach den altersentsprechenden Impfempfehlungen
ausreichend geimpft und geschützt sind.
Referenzen:
1.
2.
3.
th
World Health Organisation (1993). Global Eradication of Poliomyelitis by the Year 2000. 41 World Health
Assembly, Geneva, Switzerland Resolution 41.28 In: Handbook of resolutions and decisions of the World Health
Assembly and the Executive Board, Volume III, 3rd Edition (1985–1992). WHO, Geneva
WHO (2002). Europe achieves historical milestone as Region is declared polio-free.
http://www.who.int/mediacentre/news/releases/releaseeuro02/en/index.html
Robert Koch Institut, Poliomyelitis Ausbruch in Tadschikistan – erste Wildviruseinschleppung nach Europa
seit der “poliofrei Zertifizierung” im Jahr 2002. Epidemiologisches Bulletin, 10. Mai 2010 /Nr. 18: 166
Seite 4 von 5
4.
5.
6.
7.
8.
9.
http://www.euro.who.int/de/what-we-do/health-topics/diseases-andconditions/poliomyelitis/sections/news/2010/6/latest-epidemiological-update-on-polio (accessed 15.6.2010)
http://www.ecdc.europa.eu/en/activities/sciadvice/Lists/ECDC%20Reviews/ECDC_DispForm.aspx?List=512ff74f
%2D77d4%2D4ad8%2Db6d6%2Dbf0f23083f30&ID=788&RootFolder=%2Fen%2Factivities%2Fsciadvice%2FLists
%2FECDC%20Reviews (accessed 21.5.2010)
Epidemiegesetz 1950, BGBl. Nr. 186/1950 idgF
Halbich-Zankl H, Sagl M, Strauss R. Ausrottung der Poliomyelitis: was tragen wir in Österreich zum
Aktionsplan der WHO bei? MittSanitVerwalt10/2000:101(10):3-8
Strauss R, Sagl M, Wewalka G, Dierich M, Baumhackl U, Holzmann H, Marth E, Kuderna C, Hrabcik H, Mutz I.
WHO Polio Eradication Programme: Status quo and implementation in Austria. Wien Klin Wochenschr.
2008;120(7-8):210-6
Reiseinformationen des BM für europäische und internationale Angelegenheiten:
http://www.bmeia.gv.at/aussenministerium/buergerservice/reiseinformation/a-z-laender/tadschikistande.html?dv_staat=170 (accessed 21.5.2010)
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