Armutsforschung und Armutsminderung

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WORKING PAPERS
07
facing poverty
Armutsforschung und
Armutsminderung eine Bestandsaufnahme aus einem ethischen
Blickwinkel
Thomas Böhler, Clemens Sedmak
University of Salzburg/Austria
Poverty Research Group
FWF (AUSTRIAN SCIENCE FUND):
RESEARCH PROJECT Y 164
Februar 2004
“Facing Poverty” is the Series of Working Papers
of an interdisciplinary research group.
Editor: Clemens Sedmak
We are focussing on
(a) interdisciplinarity in poverty research and the effort to establish
poverty research as a genuine discipline
(b) bridging the gap between academic research and humanitarian
practice, between university and NGOs.
These Working Papers are intended to be points of reference for discussion:
“Administrative and bureaucratic practice has disseminated the terms ‘working
papers’ or, notably in American idiom, ‘position papers’. These terms could be useful
in defining a certain stage and style of ni tellectual argument. A ‘working’ or a
‘position’ paper puts forward a point of view, an analysis, a proposal, in a form which
may be comprehensive and assertive. It seeks to clarify the ‘state of the art’ at some
crucial point of difficulty or at a juncture from which alternative directions can be
mapped. But its comprehension and assertiveness are explicitly provisional. They aim
at an interim status. They solicit correction, modification, and that collaborative
disagreement on which the hopes of rational discourse depend. A ‘working paper’, a
‘position paper’, is one which intends to elicit from those to whom it is addressed a
deepening rejoinder and continuation.” (George Steiner)
In this sense, we would be grateful for any comments and feedback.
Contact:
Prof. Clemens Sedmak
Poverty Research Group, University of Salzburg
Department of Philosophy
Franziskanergasse 1, A – 5020 Salzburg, Austria/Europe
[email protected]
Please visit our homepage: www.sbg.ac.at/phi/projects/theorien.htm
Working Papers, University of Salzburg, Poverty Research Group
ISSN 1727-3072
Armutsforschung und Armutsminderung –
eine Bestandsaufname aus einem ethischen Blickwinkel
Thomas Böhler, Clemens Sedmak
I. Einleitung ............................................................................................................5
II. Armutsforschung – ein Strukturierungsversuch ................................9
1. Das Phänomen der Armut ............................................................................9
2. Multidimensionalität von Armut .............................................................. 10
a. Kategorien und Unterscheidungen ...................................................... 13
b. Dimensionen von Armut ....................................................................... 17
3. Die Definition von Armut ......................................................................... 18
4. Armutsursachen ........................................................................................... 24
III. Ethik und Armut ........................................................................................ 27
IV. Ethik in der Armutsforschung und Armutsminderung .............. 41
1. Armutsforschung .......................................................................................... 43
a. Die Perspektivität in der Armutsforschung ....................................... 43
b. Forschungsschwerpunkte ....................................................................... 45
c. Datenmaterial ............................................................................................. 47
d. Zugang zur Armut .................................................................................... 49
e. Kategorien und Unterscheidungen ...................................................... 50
f. Definition von Armut .............................................................................. 52
g. Armutsmessung ......................................................................................... 54
h. Erkenntnistheoretische Probleme ........................................................ 55
i. Fazit ............................................................................................................... 55
2. Feldforschung ................................................................................................ 56
3. Entwicklungszusammenarbeit (EZA) ..................................................... 59
a. Die Dominanz des Westens in der EZA ............................................ 59
b. Schwerpunktsetzungen ........................................................................... 62
c. Marktwirtschaft und EZA ...................................................................... 63
d. Abschlussbemerkungen .......................................................................... 66
4
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Armutsfaktoren am Beispiel von Nepal ................................ 26
Abbildung 2: „Zufallsthese“ ............................................................................... 40
Abbildung 3: Armutsforschung und Armutsminderung ............................ 42
Armutsforschung und Armutsminderung
Eine Bestandsaufnahme aus einem ethischen Blickwinkel
Thomas Böhler, Clemens Sedmak
I. Einleitung
Dieser Artikel will durch Heranziehen ethischer Maßstäbe sowohl die
Disziplin der Armutsforschung als auch die praktische Armutsminderung 1
auf die Legitimität ihrer Arbeit hin untersuchen. Die Frage der Legitimität
stellt sich aus zwei Gründen: 1) Der persönliche Ausgangspunkt für diese
Untersuchung war die Feststellung von häufig sehr unterschiedlichen Ergebnissen in der Forschung und den damit verbundenen, unterschiedlichen Erfolgsraten in der Armutsminderung. Das facettenreiche und vielseitige Erscheinungsbild von Armut entmutigt oft; insbesondere wenn die
Verschiedenheit von Forschungsresultaten keine eindeutige Handlungsanweisung verspricht bzw. die Misszustände noch vergrößern. 2) Der Bereich entwicklungspolitischer Forschung und Praxis wird seit langem –
nicht zu unrecht! – kritisch betrachtet und hinterfragt: Das „verlorene“
Jahrzehnt der Entwicklungshilfe, die Dominanz marktwirtschaftlicher Gesetze in der Entwicklungszusammenarbeit heute (z.B. Public Private Partnerships) und ganz prinzipiell das demographische Argument der steigenden Bevölkerungszahlen aufgrund von Armutsminderung werden immer
wieder als Argumente dafür genannt, Armutsforschung und Armutsminderung gänzlich aufzugeben. 2
1
2
Der Begriff Armutsminderung wirkt ungewohnt und klinisch. Dennoch wollen wir ihn
dem Begriff Armutsbekämpfung aufgrund dessen Assoziation mit einer „Kampf gegen …“–Rhetorik vorziehen; er ist auch dem Begriff Armutsreduktion aufgrund seiner
mathematisch–mechanischen Konnotation vorzuziehen, obwohl das englische Pendant
poverty reduction breit akzeptiert ist. Armutsminderung wurde aus dem Englischen übernommen, und zwar von dem dort üblichen Begriff poverty alleviation. Mit Armutsminderung
meinen wir sowohl sozialpolitische Aktivitäten in industrialisierten Ländern als auch die
Tätigkeiten im Rahmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit in ärmeren
Ländern.
Letzteres Argument erscheint aufgrund ständig neuer Gefahren nicht haltbar zu sein:
HIV/Aids, Kriege, Naturkatastrophen führen ohnehin zu einer natürlichen Bevölke-
6
Nichtsdestotrotz erfolgt Armutsforschung in einer Vielzahl von Disziplinen: von ökonomischer Forschung (Armutsmessung, materiale und
monetäre Aspekte von Armut) über Soziologie, die dazu beiträgt, Problemfelder aus den unterschiedlichen stakeholder–Perspektiven zu sehen,
bis hin zu den Geschichtswissenschaften, die helfen können, vergangene
Initiativen einzuschätzen und mit den heutigen Problemfeldern in Verbindung zu bringen.
Die Ergebnisse der in der Armutsforschung durchgeführten Untersuchungen schlagen sich häufig in der konkreten Armutsminderungspraxis
nieder. Es ist daher einsichtig, dass die Forschung aufgrund der Konsequenzen ihrer Arbeit eine große Verantwortung zu tragen hat. Dabei geht
es unter anderem um folgende Bereiche:
– wissenschaftssoziologisch: Welche Forschungsschwerpunkte werden
von Institutionen ausgewählt? Wo liegt das Interesse von Armutsforschern/–forscherinnen und warum (Karriereaspekte, persönliches commitment, Forschungs– vs. Umsetzungsorientierung etc.)?
– wirtschaftlich: Für welche Forschung gibt es Finanzierung und welche – etwa wirtschaftlichen – Gründe liegen hinter diesen Schwerpunktsetzungen?
– politisch: Mit welchen politischen Überzeugungen kommen die Akteure/Akteurinnen in die Forschung und wie wird ihre Arbeit dadurch beeinflusst? Die Förderung von grassroots–Projekten beruht
auf einem anderen politischen Hintergedanken als die Förderung
des wirtschaftlichen Fortschritts in einer Region.
– kulturanthropologisch: Welche kulturellen Hintergründe und persönlichen Erfahrungen beeinflussen die AkteurInnen in der Armutsforschung in ihrer Arbeit?
Es geht dabei sowohl um die strukturellen Fragen nach der Entscheidungs– und Lenkungsgewalt in Armutsforschung und –minderung und
die dahinter liegenden Motivationen als auch um die konkrete Praxis in
der Erreichung geforderter Zielvorgaben.
Armutsforschung trägt also Verantwortung, da sie die Armutsminderung mitunter nachhaltig beeinflusst (man denke etwa an den Fähigkeiten–Ansatz von Amartya Sen und dessen Auswirkungen auf Bereiche wie
rungsdezimierung, sodass die Armutsforschung und Armutsminderung nicht für die
Übervölkerung der Welt verantwortlich gemacht werden kann.
7
ownership und andere partizipative Ansätze). Armutsminderung als die
praktische Umsetzung neuer Erkenntnisse aus der Forschung trägt zudem
Verantwortung aufgrund ihrer Nähe und ihres Kontakts zu den betroffenen Personen, die in den Minderungsprozess eingebunden sind. Gerade
die Praxis der Armutsminderung ist wiederum eine wichtige Ressource für
die Forschungsarbeit und die Theorienbildung.
Die Entwicklungen in der Armutsforschung als ein attraktives Arbeitsfeld für Akademiker und als wichtiger Mediator für wirtschaftliche
Interessen 3 lassen zunehmend erkennen, dass die Übernahme dieser Verantwortung durch Akteure/Akteurinnen, Organisationen und Regierungen nicht mehr eindeutig wahrgenommen wird. Dies ist einerseits durch
die in der wissenschaftlichen Forschung notwendige Multidisziplinarität
als auch andererseits durch die praktische Komplexität des Phänomens
Armut zu erklären. Eine Spezialisierung etwa der Forschungseinrichtungen
auf Schwerpunkte ist natürlich zu einem gewissen Grad notwendig,4 dies
steht aber der Forderung nach ganzheitlichen Ansätzen und Problemlösungen, gerade durch die Berührung vieler Disziplinen, gegenüber. Außerdem entbindet die Zerstückelung des Phänomens Armut in wissenschaftliche Untersuchungseinheiten die Forschungsgemeinschaft noch
nicht von ihrer Rolle als Verantwortungsträger.
Aus diesen genannten Gründen ist eine Betrachtung der Motivationen
– politisch, wirtschaftlich und human–ethisch nach einem Einteilungsvorschlag von Goulet5 – wichtig, um die Motivation der Akteure/Akteurinnen, die eigentlichen Beweggründe der Arbeit gegen Armut kennen zu
lernen. Ein benchmarking mittels ethischer Maßstäbe scheint für eine derartige Untersuchung am besten geeignet zu sein, denn die Wahr nehmung
der mit den Aktivitäten verbundenen Verantwortung gilt als das zentrale
Interesse.
* * *
3
4
5
Der Bereich der Public–Private Partnerships – häufig initiiert von Regierungen und großen
Hilfswerken – ist eine wichtige Anknüpfungsstelle für multinationale Unternehmen in
der technischen Zusammenarbeit. Dazu mehr unter IV.3.
Auch wenn dadurch meist nur partielle Ergebnisse im Sinne einer ganzheitlichen Minderungsstrategie geliefert werden. Vgl. Chambers, R. (1997), Whose Reality Counts?
Putting the First Last. London, 40: „Most analyses and prescriptions are partial, concentrating on
one or a few explanations and actions and ignoring others.“
Goulet, D. (1986), Three Rationalities in Development Decisions, Institute for World
Economy of the Hungarian Academy of Sciences. Budapest, 4.
8
Einleitend bleibt noch zu sagen, dass ethische Argumente – obwohl auch
sie an der Wirklichkeit orientiert sind 6 – die Minderung von Armut eben
gerade aufgrund der Vermischung mit wirtschaftlichen oder realpolitischen Zielsetzungen nicht allein determinieren können. In diesem Spannungsfeld helfen ethische Grundregeln aber bei der Beurteilung der Praxis
und werden hier eingesetzt, um eine Bezugsnorm vorzugeben, an der sich
das Handeln in der Armutsforschung und Armutsminderung orientieren
soll. Nach einem Strukturierungsversuch der wichtigsten Untersuchungsgebiete in der Armutsforschung sollen ethische Grundregeln eingeführt
und auf dieser Grundlage ethische Aspekte und Kritikpunkte angeführt
werden. Dabei gilt es zu betonen, dass eine ethische Betrachtung die
Handlungen von Individuen zum Inhalt hat und nicht die strukturellen
Veränderungen durch die Summe dieser Handlungen. Die Aufgabe angewandter Ethik liegt also in der Betrachtung von Handlungen und Handlungsfolgen Einzelner und nicht etwa der Kritik an der Armutsforschungsindustrie oder Einrichtungen der Armutsminderung.
6
Goulet, D. (1986), 7: “Ethical rationality draws its inspiration from two distinct sources. The first
is a meaning or belief system, some religion, philosophy, world view, symbolic code, or cultural universe
of norms. The second source is the world of daily experience as lived by people lacking power, status, or
special expertise.”
9
II. Armutsforschung – ein Strukturierungsversuch
1. Das Phänomen der Armut
Armutsforschung befasst sich mit der Definition, Bewertung, Messung,
dem Auftreten, den Arten, der Linderung und Verhinderung von Armut.
Dabei sind folgende Fragen wichtig: Was versteht man unter Armut und
wie ist Armut definiert? Wie definieren Arme und wie definieren Nicht–
Arme Armut? Warum ist Armut so beharrlich? Wie erleben arme Menschen ihre Situation? Was sind Anzeichen für Armut auf der Mikro– und
der Makroebene? Wie kann man Armut messen? Was spielen formelle
und informelle Institutionen für eine Rolle im Leben armer Menschen?
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Armut und politischen Systemen?
Beeinflusst das Verhältnis von Mann und Frau das Erleben von Armut in
einem Haushalt? Wie kann Armut nachhaltig reduziert werden? Wie kann
man sich und andere vor Armut schützen?
Armutsforschung als wissenschaftlicher Forschungsschwerpunkt ist
aus der Notwendigkeit heraus entstanden, dass die Situation einer immer
größeren Anzahl von in Armut lebenden Menschen verbessert werden
soll. Darin liegt ihre Begründung. Individuelle Erfahrungen mit Armut
führen aber zu einer Vielzahl an Perspektiven und Meinungen über Armut. Durch diese Vielzahl von Überzeugungen und die steigende Komplexität des Phänomens Armut nimmt die Anzahl der wissenschaftlichen
Disziplinen zu, welche Armutsforschung betreiben. Dabei ist aber die
Untersuchung und Erforschung des wissenschaftlichen Problems Armut
genau aufgrund dieser vielschichtigen Forschungsinteressen der Grund für
die Unmöglichkeit, Armutsforschung einer bestimmten wissenschaftlichen
Disziplin zuzuordnen. Sie ist momentan im Begriff, sich vielmehr zu einer
eigenen Disziplin zu entwickeln, welche zur Armutsminderung in einem
zirkulären Verhältnis steht: Die Informationsgenerierung aus der Praxis
der Armutsminderung und die Verarbeitung dieses Wissens in der eigentlichen Forschungstätigkeit führt dazu, dass die Armutsforschung für die
Tätigkeiten in der Armutsminderung, ihre Planung, Strategieerstellung und
Projektdurchführung als wichtiges Referenzsystem fungiert.
Ein weiterer Grund für den erhöhten Informationsaustausch zwischen Armutsforschung und Armutsminderung war die Tatsache, dass der
Optimismus im Bereich der Armutsminderung immer mehr verloren ge-
10
gangen ist. Man musste erkennen, dass Armut nicht einfach durch eine
bestimmte Anzahl technischer Mittel oder etwa allein durch Finanzhilfen
zu mindern ist, sondern ein sehr viel komplexeres Phänomen darstellt. Besonders die Vorstellung, dass wirtschaftliches Wachstum automatisch den
sozial schwächer gestellten Mitgliedern einer Gesellschaft hilft (trickle down
effect), stellte sich als zu einfach dar.7 Das Bewusstsein gegenüber sozialen
Problemen ist so auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung angestiegen. Es wird nach Zusammenhängen gesucht, welche sowohl die
Politik, die Wirtschaft, Kultur und Religion als auch gesellschaftliche oder
historische Voraussetzungen betreffen.
Um einen Anfangspunkt zu finden, ist es wichtig, das Phänomen der Armut in seiner Multidimensionalität zu fassen. Die vielen Dimensionen von
Armut ergeben sich einerseits aus der Vielzahl der Ursachen und Auswirkungen, andererseits aus der umfangreichen Palette der Forschungsergebnisse, die zu diversen Ansätzen und Bekämpfungsstrategien führen und
mitunter auch miteinander im Widerspruch stehen. Und dabei dürfen die
ethischen Grundmotivationen, welche für die Disziplin der Armutsforschung begründend sind, nicht außer Acht gelassen werden. Umgekehrt
müssen bereits erzielte Ergebnisse – aufgrund ihrer Folgewirkungen und
der bereits angesprochenen Verantwortung der Disziplin – daraufhin überprüft werden, ob sie bestimmten ethischen Grundgedanken entsprechen.
2. Multidimensionalität von Armut
Aufgrund der Vielseitigkeit des Armutsproblems kommen zwangsläufig
unterschiedliche Fachrichtungen zum Einsatz. In den Sozialwissenschaften entstanden etwa Fachbereiche, welche sich mit der Bekämpfung von
Armut, ihren Ursachen und Folgen beschäftigen. Auch anhand der Prioritäten der Armutsminderung lässt sich der interdisziplinäre Charakter des
Phänomens schnell erkennen: Etwa die Versorgung mit Trinkwasser und
Energie, die Bekämpfung von Krankheiten, der Schutz der Umwelt und
der Prozess der Demokratisierung befassen auch Bereiche der Politikwissenschaft, der medizinischen, biologischen und chemischen Forschung
sowie in der Umsetzung auch die Bauingenieure und andere technische
Studien, Juristen, Raumplaner, Controller, Ethnologen, Soziologen usw.
7
Vgl. Douthwaite, R. (1999), The growth illusion: how economic growth has enriched
the few, impoverished the many, and endangered the planet. Gabriola Island.
11
Die Theologie, die Geschichtswissenschaften, die Kultur– und Sozialanthropologie und die Soziologie helfen auf theoretischer Ebene, die Verpflichtung zur Armutsforschung zu etablieren, während die Politikwissenschaft, die Publizistik und die Informatik in der Bewusstseinsbildung des
Armutsproblems maßgeblich beteiligt sein können. Multidimensionalität
fordert hier also klar eine Multidisziplinarität, wenn nicht gar eine interdisziplinäre Auseinandersetzung, da sich die verschiedenen Dimensionen
von Armut gegenseitig beeinflussen und nicht getrennt voneinander, wissenschaftlich „sauber“, untersucht werden können.
Eine tragende Rolle in dieser komplexen Landschaft von Problemstellungen spielt die Ökonomie, welche die finanzielle Situation von Menschen, von Ländern und Regionen darstellt, um Vergleiche zu ermöglichen und Gefälle zu erkennen. Außerdem liefern ökonomische Ansätze
die Grundlage für armutsmindernde Strategien. 8 Ein breites Feld der Ökonomie beschäftigt sich zunehmend mit einzelnen Aspekten von Armut
(wie Hunger9, Ausbeutung 10, Entwicklung[stheorien] 11, Exklusion12, Ungleichheit und Ungerechtigkeit 13), wobei es im politischen und ideologischen Kontext immer Schwerpunktsetzungen gab und gibt. Die Globalisierungsdebatte kann heute etwa als Aufhänger dafür verwendet werden,
8
9
10
11
12
13
Auch wenn das Wachstumsargument in der Armutsforschung durchaus umstritten ist, gibt
es viele Befürworter der Trickle Down–These. Vgl. Dollar, D. und A. Kraaty (2000),
Growth is Good for the Poor. World Bank Working Paper, Development Research
Group, Washington D. C.
Vgl. Dréze, J. und A. Sen (1989), Hunger and Public Action. Oxford.
Siehe dazu auch Armutsforschung im Globalisierungskontext, z.B. Fornet–Betancourt,
R. (1998), Armut im Spannungsfeld zwischen Globalisierung und dem Recht auf eigene
Kultur. Frankfurt a.M.
Einen Überblick über Entwicklungstheorien gibt: Zapotoczky, K. und H. Berger
(1997), Entwicklungstheorien im Widerspruch. Plädoyer für eine Streitkultur in der
Entwicklungspolitik. Interdisziplinäres Forschungsinstitut für Entwicklungszusammenarbeit. Linz.
Ein lehrreiches Beispiel zu Social Choice–Theorien, Exklusion und Fähigkeiten ist Sen, A.
(1980), Equality of What?, in: S. McMurrin (Hrsg.), Tanner Lectures on Human Values,
Vol. 1. Cambridge.
Vgl. Friedman, S. und D. T. Lichter (1998), Spatial Inequality and Poverty Among
American Children, in: Population Research and Policy Review 17: 91–109; Jasso, G. (2000),
Trends in the Experience of Injustice: Justice Indexes About Earnings in Six Societies,
1991 – 1996, in: Social Justice Research 13(2): 101–121; Oddo, A. R. (2002), Bridging the
Digital Devine: Financial and Ethical Challenges, in: Teaching Business Ethics 6: 15–
25; Ahluwalia, M. (1976), Inequality, Poverty, and Development, in: Journal of Development Economics 3: 307–342.
12
kulturelle Verarmung als Forschungsgebiet zu etablieren.14 Die Rohstoffknappheit der nahen Zukunft wird vielleicht als Anlass für verstärkte Armutsforschung im Bereich Gleichheit, Verteilung und Ausbeutung dienen. Es
ergeben sich die Schwerpunkte – insbesondere in der ökonomischen, aber
auch in anderen Bereichen der Armutsforschung – nicht rein aufgrund der
Entwicklungen und der Phänomene in der sozialen Welt, sondern darüber
hinaus auch aufgrund anderer Interessen.
Die starke Förderung wirtschaftlichen Wachstums und die Einführung der Marktwirtschaft in Entwicklungsländern, mit dem kommunizierten Ziel, Armut weltweit zu bekämpfen, können nicht über die steigende
Kluft der Entwicklung aufgrund großer Nettofinanztransfers von armen
zu reichen Ländern hinwegtäuschen (Schuldenrückzahlungen, Umwegrentabilität der technischen Entwicklungszusammenarbeit). Die Entwicklung der Weltwirtschaft muss sich gerade wegen dieser wachsenden Unterschiede einer immer größeren Opposition stellen, die der passiven Ausgeliefertheit der Entwicklungsländer gegenüber den dominanten Volkswirtschaften des Nordens kritisch gegenüber steht.
Die ökonomische Armutsforschung widmet sich den materiellen und
monetären Aspekten von Armut. Die Ökonomisierung des Forschungsapparates allgemein und der damit verbundene Gedanke der Effizienzsteigerung im Speziellen führten in der Armutsforschung aber zu einer gewissen Schwerpunktsetzung auf wirtschaftliche Armut, die sich in den Strategien zur Minderung von Armut – zumindest bei großen Organisationen –
auch niederschlägt.15 Dass eine persönliche Beziehung, Zuneigung oder einfaches Zuhören bereits einige Ausläufer von Armut (wie Scham, das
Gefühl des sozialen Ausschlusses etc.) merklich reduzieren können, ist
meist nur in kleinen Projekten und Netzwerken festzustellen. Die Nähe zu
den von Armut betroffenen Menschen und die spontane Anpassungsfähigkeit an sich ändernde Rahmenbedingungen stellen also Kriterien dafür
dar, wie ausführlich sich die Akteure/Akteurinnen mit den verschiedenen
Dimensionen von Armut auseinandersetzen. Auch innerhalb der ökonomischen Forschung ist die Bezugnahme auf nicht–ökonomische Dimensi-
14
15
Vgl. Fornet–Betancourt, R. (1998).
Vgl. dazu etwa den neuen Forschungsschwerpunkt Wirtschaft und Entwicklung bei der
2004 gegründeten Austrian Development Agency (ADA).
13
onen und Kategorien von Armut immer deutlicher zu merken (z.B. Lebensqualitätsforschung). 16
Armutsforschung ist deshalb nicht nur interdisziplinär, sondern auch
dynamisch – dem Untersuchungsobjekt entsprechend.17 Im Zusammenhang mit der Reichweite und Relevanz von Armutsforschung und den eigentlichen Beweggründen sich in diesem Bereich zu engagieren, steht
diese junge Disziplin, wie man hier schon sieht, vor einigen ethischen
Schwierigkeiten.
a. Kategorien und Unterscheidungen
Die Diskussion von Armut als Phänomen verlangt die Suche nach den
richtigen Kategorien, nach der passenden Terminologie. Die von uns verwendeten Kategorien haben einen sozialen Einfluss, und umgekehrt hat
auch die soziale Wirklichkeit einen Einfluss auf die Kategorien, die wir
verwenden. Die Dynamik dieser gegenseitigen Abhängigkeit kann vernichtend für Fragen der Abweichung sein: „Der Abweichende ist derjenige, auf den dieses Etikett erfolgreich angewandt wurde; abweichendes
Verhalten ist Verhalten, das man als solches auszeichnet.“ 18 Aus diesem
Grund ist die Frage der Kategorien besonders in der Armutsforschung
unumgänglich, da man Gefahr läuft, durch die gebrauchten Kategorien
zum Fortbestehen einer Bedingung beizutragen. 19 Die von uns gebrauchten Kategorien sind mit unserer Wahrnehmung der Armen verbunden.
Diese Wahrnehmung verändert sich aber mit der Zeit.20 In diesem Zu16
17
18
19
20
Bei Amartya Sen wird die Wahlfreiheit unter verschiedenen Fähigkeiten betont, Joseph
Stiglitz betont etwa asymmetrische Informiertheit unter den Wirtschaftssubjekten als
fundamentalen Einflussfaktor mikro– und makro–ökonomischer Modelle.
Vgl. Leisering, L. (1994), Dynamische Armutsforschung. Vom Wandel der Armut und
des Umgangs mit ihr, in: Theorie und Praxis der sozialen Arbeit 8: 282–290.
Vgl. Becker, H. (1963), Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance. New York, 9.
Vgl. Sedmak, C. (2001), Sozialtheologie. Frankfurt a. M., 31ff., 164–176.
Vgl. Kelso, W. (1994), Poverty and the underclass: changing perceptions of the poor in
America. New York; Hagenaars, A. M. (1986), The perception of poverty. Amsterdam;
Momsen, V. (1997), ‚Arm fühle ich mich eigentlich nicht’. Die Darstellung weiblicher
Armut in Printmedien, in: Das Argument: Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, H. 3, Nr. 220, Jg. 39, 397–407; Ortlepp, W: (1998), Zur Wahrnehmung von
Armut in einer Zeit weitreichender Veränderungen in der Gesellschaft, in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau: Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Sozialpolitik, Gesellschaftspolitik, H. 37, Jg. 21, 40–49.
14
sammenhang sei bereits auf die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit
der verwendeten Sprache in der Armutsforschung hingewiesen. 21
Armutsforschung entwickelt Kategorien, um das Phänomen der Armut und die Mittel der Klassifikation zu beschreiben und zu analysieren. 22
Um mit dem Phänomen der Armut systematisch umgehen zu können, hat
die Armutsforschung eine Vielzahl von terminologischen Vorschlägen
gemacht.
Können wir etwa zwischen Armut und Elend unterscheiden? Nach
Leon Bloy bedeutet Elend den Mangel am Nötigen, während Armut der
Mangel an Überflüssigem ist. 23 Andere terminologische Werkzeuge der
Armutsforschung sind Begriffe wie poverty line (Armutsgrenzen im Sinne
einer Trennung von Gruppen), poverty limits (Armutsgrenzen im Sinne der
Gefahr des Abstiegs in eine andere Gruppe), poverty spells (Armutsperioden; eine Übergangszeit, in der Menschen arm sind)24, working poor, new poverty, impoverishment und pauperization (Verarmung), poverty cycle (Teufelskreis
der Armut) und empowerment (Befähigung).
Es gibt unzählige weitere Kategorien, welche teilweise nur Spezialaspekte von Armut oder eben ganzheitliche Ansätze darstellen. Zu letzterer
Gruppe von Kategorien gehört neben Entwicklung und Exklusion auch life
quality, 25 welche etwa Amartya Sen für die grundlegende Armutsdiskussion
im Zusammenhang mit Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit verwendet.
Ganzheitlich ist die Kategorie deshalb, weil sie Unterkategorien wie Lebenserwartung, Gesundheitsversorgung, Qualität von und Zugang zu Bildung, Arbeitsbedingungen, politische und rechtliche Privilegien, Freiheit
sozialer und persönlicher Art, Familienstrukturen und das Verhältnis zwischen Männern und Frauen sowie die Fähigkeit der Gesellschaft zur Ein21
22
23
24
25
Am Beispiel des Wortes Best Practice, welches von der Weltbank von
betriebswirtschaftlichen Managementmethoden übernommen wurde, zeigt sich die Einführung eines neuen Begriffs, mit dem sich alle Akteure/Akteurinnen auseinandersetzen müssen, um den Anschluss an armutsrelevante Debatten nicht zu verlieren. Vgl.
Bammer, A. und T. Böhler (2003), Best Practice – Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis. Working Paper Series: Facing Poverty No. 5.
Vgl. Strang, H. (1974), Kategorien der Armut, in: Bellebaum, A. und H. Braun (Hrsg.),
Reader Soziale Probleme I. Frankfurt a. M., 33–45.
Zitiert nach Boff, C. (1987), Feet –to–the Ground–Theology. Maryknoll, 20.
Vgl. Bane, M. J. und D. Ellwood (1986), Slipping in and out of poverty. The Dynamics
of Spells, in: Journal of Human Resources 21/1, 1–23.
Vgl. Sen, A. (1993), Capability and Well–Being, in: Nussbaum, M. und A. Sen. (Hrsg.),
The Quality of Life. Oxford, 30–54.
15
bildungskraft, Gefühlsregung und zum kritischen Denken vereinbart. Sens
Beitrag liegt in der Anpassung und Erweiterung der volkswirtschaftlichen
Sprache, um gezielter auf die Situation von Menschen eingehen und ihre
Lebensbedingungen erfassen zu können. 26
Dass diese Kategorien immer sehr vielschichtig sind, beweist der Begriff Entwicklung: Entwicklung bedeutet einerseits grundlegende soziale
und wirtschaftliche Veränderungen, wie Kommerzialisierung, Industrialisierung, Verstädterung, Individualisierung und Globalisierung. Wichtige
Fragen dazu sind etwa: Was sind die Kosten derartiger Veränderungen
und wer trägt sie? Was passiert, wenn diese Kosten größer sind als die
Gewinne aus diesen Veränderungen?
Entwicklung steht andererseits – im Sinne von entschlossenen
Handlungen und Interventionen, die diese Veränderungen fördern oder
dazu beitragen – ähnlichen und anderen Fragen gegenüber: Wer hat das
Recht zu intervenieren, durch welche Mittel und zu welchem Zweck?
Entwicklung in einer dritten Bedeutung – nämlich als Verbesserung,
wünschenswerte Veränderung, Bewegung in Richtung gutes Leben oder besseres Leben – zwingt uns zu fragen, was diese sozialen Verbesserungen oder
dieses gute Leben überhaupt ausmacht, welche fundamentalen Veränderungen überhaupt wünschenswert sind, sowie worin die angemessenen Ziele
und annehmbaren Mittel dafür liegen. Wie sehr unterscheiden sich derartige Fragen in verschiedenen Kulturkreisen oder zwischen unterschiedlichen Ideologien? Gibt es Themen, wo diese sich überschneiden, wo es bestehende oder erreichbare Übereinstimmungen gibt? Wie und inwieweit
können derartige ethische Fragen überhaupt fruchtbar diskutiert werden?
Auch im Rahmen der Definition von Armut ist die Kategorienbildung
bestimmend, da schon die Bezeichnung derjenigen Menschen, die von
Armut betroffen sind, bestimmte Assoziationen zulässt (und bestimmte
nicht!): So sprachen die Anhänger von dualistischen Theorien in Lateinamerika oft von Marginalisierten und Ausgebeuteten, während kirchliche
Gruppen auch von Ausgestoßenen sprechen. Wird ein mehr materieller Fokus auf Armut gelegt, so spricht man oft von Billiglohnkräften, Besitz– und
Arbeitslosen. Im Kontext von Armut in industrialisierten Ländern steht oft
das Wort Arbeitsloser oder Flüchtling und Migrant als Synonym für Armut;
26
Vgl. Gasper, D. (2000), Development as Freedom: Taking Economics Beyond
Commodities – The Cautious Boldness of Amartya Sen, in: Journal of International Development. Vol. 12(7), 989–1001.
16
abwertend wird auch von Sozialfällen (also schon vollkommen entsubjektiviert) gesprochen. Je nachdem in welchem Zusammenhang natürlich –
aber auch je nachdem mit welcher Absicht – man von Armut spricht, ist
die Wortwahl und somit erneut die Sprache ein starkes Indiz für die dahinter stehenden Anliegen (in der Politik genauso wie in der Armutsforschung als Ort der Vorbereitung politischer Argumente). Metaphern (Beispiel: „Sozialparasiten“), die im Rahmen der Diskussion über Armut Verwendung finden, lassen tief blicken. Sie sind auch keineswegs „bloße Begriffe“, sondern bestimmen Handlungsentscheidungen und Urteilsgrundlagen.
* * *
Ein anderes Werkzeug zur Schaffung passender Terminologie ist die Einführung von Unterscheidungen. Armutsforschung diskutiert wichtige Unterscheidungen: Forscher unterscheiden zwischen sozialer und wirtschaftlicher Armut,27 zwischen absoluter und relativer Armut,28 exogener und endogener
Armut,29 primärer und sekundärer Armut,30 Einzel– und Massenarmut, ländlicher und städtischer Armut, möglicher und tatsächlicher Armut, individueller und sozialer Armut, verursachter und nicht verursachter Armut, anhaltender
und vorübergehender Armut etc. In modernen Gesellschaften wurde der Be-
27
28
29
30
Vgl. Rainwater, L. (1992), Ökonomische versus soziale Armut in den USA (1950–
1990), in: Leibfried, V. und W. Voges (Hrsg.), Armut im modernen Wohlfahrtsstaat.
Opladen, 195–220.
Vgl. Pichaud, D. (1992), Wie misst man Armut?, in: Leibfried, V. und W. Voges (Hrsg.),
63–87, 64: „Eine absolute Definition von Bedarfen geht davon aus, daß es einen festen
Maßstab gibt, der sich nicht über die Zeit ändert. Wenn sich das Preisniveau verändert,
wird sich der Betrag erhöhen, der zur Abdeckung bestimmter Bedarfe notwendig ist;
allerdings bleiben bei einem absoluten Standard die Bedarfe selbst immer unverändert.
Ein absoluter Standard kann besonders niedrig angesetzt werden – so etwa, wenn es
nur um einen ‚Überlebensstandard’ geht –, oder er kann recht hoch ansetzen und als
Bedarfe etwa ordentliche Kleidung, die Benutzung von Verkehrsmitteln und die Beteiligung am kulturellen Leben berücksichtigen. Aber es gehört zu einem absoluten Standard, daß er sich über die Zeit nicht ändert.“ Absolute Armut meint eine unzureichende
Mittelausstattung zur Befriedigung der lebenswichtigen Grundbedürfnisse; relative Armut liegt dann vor, wenn Personen ein bestimmtes, an den typischen Lebensverhältnissen orientiertes, soziokulturelles Existenzminimum nicht erreichen.
Für diese Unterscheidung vgl. Strang, H. (1974), Kategorien der Armut, in: Bellebaum,
A. und H. Braun (Hrsg.), Reader Soziale Probleme I. Frankfurt a. M., 33–45, 35.
Rowntree, B. S. (1901), Poverty: A Study of Town Life. London.
17
griff der tertiären Armut geprägt.31 Es bleibt außerdem eine erkenntnistheoretische Uneinigkeit zwischen denjenigen, die Armut als etwas Subjektives
definieren („arm ist, wer sich als arm fühlt“)32 und denjenigen, die Armut
als objektiv und absolut definieren.33
* * *
Angesichts dieser Schwierigkeiten scheint es sinnvoll zu sein, keine exakte
Definition von Armut anzustreben. Nach dem bekannten Rat des Aristoteles soll in einer Untersuchung ja auch nur jener Grad an Exaktheit angestrebt werden, der der Eigenart des Gegenstands entspricht. Im Falle der
Armutsforschung scheint es sinnvoller zu sein, eine Reihe von Aspekten
zu unterscheiden, als den Begriff der Armut den Tod tausender Qualifikationen sterben zu lassen.
b. Dimensionen von Armut
Ähnlich wie sich in der Religionswissenschaft, wo man ähnliche Probleme
mit der Definition des Forschungsgegenstandes hat, die Dimensionen–
31
32
33
Bellebaum, A. und H. Braun (Hrsg.), 38, 41: „Die tertiäre Armut ... gehört zu der idealtypischen Systemkonstruktion der ‚nivellierten Mittelstandsgesellschaft’. Das jeweilige
sukzessiv verwirklichte mittlere, sozio–ökonomische Anspruchsniveau und die damit
zusammenhängende Reflexion der Gesellschaft über das, was unter ihren Voraussetzungen und sozial–strukturellen Bedingungen als arm oder reich zu gelten hat, bestimmen und verändern die relativ obere Grenze dessen, was tertiäre Armut ist. Sie ist abhängig vom jeweiligen gesellschaftsspezifischen ökonomischen, sozialen, kulturellen,
medizinischen und ernährungswirtschaftlichen Normalzustand der Industriegesellschaft … Die tertiäre Armut bietet ein komplexes, amorphes und diffuses Bild unterschiedlicher Mangelsituationen und individueller Lebensnotstände. Die primäre Armut
verlangt Abhilfe durch elementare Verbrauchsgüter, durch Sach– und Geldleistungen.
Die sekundäre Armut erfährt Linderung durch den Erwerb und Konsum prestigebesetzter Gebrauchsgüter und immaterieller Statussymbole. Die tertiäre Armut umfaßt
individualspezifische Mangelsituationen, die weitgehend persönliche Hilfestellung erforderlich machen. Sie ist eine Einzelfallarmut, die nicht dem sozialen Sicherungssystem
angelastet werden kann“.
Dieser Ansatz bietet den Vorteil, kulturelle Elemente und psychologische Dimensionen
zu integrieren; dabei stellt sich jedoch das Problem, dass Menschen sich als arm bezeichnen, da sie einen Mittelklasse– und ihr Nachbar einen teureren Wagen fährt; dieser
Ansatz wird von Peter Townsend vertreten.
Dieser Ansatz ringt um adäquate Indikatoren, hat jedoch universelle Anliegen und eine
enge Beziehung zu Strategieerfordernissen; dieser Ansatz wird unter anderem von
Amartya Sen vertreten.
18
oder Aspekteforschung durchgesetzt hat, scheint es auch für die Armutsforschung sinnvoll zu sein, notwendige Aspekte (Dimensionen) von Armut zu erarbeiten. Mit dem folgenden Vorschlag von neun Dimensionen
wird versucht, ein möglichst vollständiges Bild vom Phänomen Armut anzubieten:
Man kann zwischen der materiellen Dimension von Armut (Mangel an
materieller Ausstattung), der praktischen Dimension von Armut (Verhaltensmuster), der sozialen Dimension von Armut (Zugang zu Netzwerken,
Institutionen und Infrastruktur), der politischen Dimension von Armut
(Zugang zu Macht), der Umweltdimension von Armut (Zusammenhang
von Armut und Umwelt), der physischen Dimension von Armut (z.B. Aspekte der Gesundheit), der kulturellen Dimension von Armut (die Frage
nach Identität und Diskriminierung), der psychologischen Dimension von
Armut (die Frage nach Gefühlen und Selbstbewusstsein) und der ideologischen Dimension von Armut (die ideologischen Faktoren bei der Wahrnehmung und Analyse von Armut) unterscheiden. Diese Gesichtspunkte geben mögliche Denkrichtungen für einen ganzheitlichen Armutsansatz vor.
Die Definition von Armutsdimensionen hilft bei der Eingrenzung
dieses komplexen Gebietes; das Phänomen selbst wird dadurch allerdings
nicht vereinfacht. Durch die Trennung bestimmter Gesichtspunkte kann
die Forschung aber unterteilt werden, ohne dabei den Gesamtrahmen zu
verlassen. Die Definition von Dimensionen der Armut hängt auch von lokalen Aspekten ab, genauso wie das Phänomen der Armut selbst. Die
Frage, die bleibt: Ist die Definition von Armut unbedingt erforderlich, um
sie erfolgreich zu reduzieren?
3. Die Definition von Armut
Definitionen sind mit Machtentscheidungen und –strukturen verbunden.
Dies zeigt sich deutlich im Falle der Festsetzung von Armutsgrenzen und
der Begriffsbestimmung von Armut. Dass sich die Forschung so ausführlich mit der Definition des Phänomens Armut beschäftigt, rührt daher,
dass „Arm–Sein“ besonders im Sinne der europäischen Sozialpolitik zu
staatlichen Leistungen berechtigen kann. 34 Armutsgrenzen und Dimensionen von Armut helfen abzustecken, was das Phänomen überhaupt ist,
34
Die Definition von Armut kommt demnach oft erst in zweiter Instanz den in absoluter
Armut Lebenden zugute.
19
wem geholfen werden soll. Wann ist man benachteiligt, wann ist man
arm? Kann man soziale Exklusion mit absoluter Armut in Entwicklungsländern (welche soziale Exklusion inkludiert) im Rahmen einer Definition
gleichsetzen?
Armut wird normalerweise durch den Gebrauch von Standards definiert, etwa durch die Standardausstattung mit Ressourcen, Fähigkeiten
oder Vollmachten. Die meisten Definitionen gehen von einem Mindeststandard für ein annehmbares Leben und für soziale Integration aus. Armut bedeutet dann, unter diese Standards zu sinken. Man kann zwei Definitionen von Armut unterscheiden: Definitionen, welche materielle Faktoren und Mittel hervorheben (Ressourcenansatz) und andere, welche kulturelle Faktoren betonen (Lebenslagenansatz). Das Konzept von Armut
hängt von kulturellen und historischen Neuauslegungen ab.35 Einige Definitionen unterstreichen etwa harte Faktoren, andere betonen weiche Faktoren von Armut. Diese Unterscheidungen weisen auch darauf hin, dass ein
Verständnis von Armut kulturabhängig ist. Es ist also eine Dynamik in der
Definition von Armut festzustellen.
Es fehlt eine allgemeine Definition des Begriffs Armut. 36 Trotzdem
gibt es Tendenzen: Theoretische und mathematische Definitionen werden
durch kulturell und lokal abgestimmte Sichtweisen ergänzt. Dies sieht man
etwa am Beispiel der Armutsgrenzen: Dabei kann man zwischen deskriptiven Ansätzen (welche mit Wahrscheinlichkeiten rechnen, und somit Ungenauigkeit in Betracht ziehen) und normativen Ansätzen (die interdisziplinär vorgehen, dabei aber auf subjektive Weise Spannungsfelder interpretieren müssen) unterscheiden. Normative Ansätze bringen persönliche
Standards derjenigen, die sie anwenden, zum Ausdruck, etwa bei der Frage
nach der Gewährung von Grundeinkommen für andere. 37 Armutsdefinition und in der Folge Armutsmessung enthalten in ihrer Theorie noch
große Lücken.
35
36
37
Vgl. De Chamborant, C. G. (1984), Du pauperisme: ce qu’il était dans l’antiquité, ce
qu’il est de nos jours. Genf; Fischer, W. (1982), Armut in der Geschichte. Göttingen.
Zur Wissenschaftlichkeit des Begriffs Armut siehe: Jacobs, H. (1995), Armut – Zum
Verhältnis der gesellschaftlichen Konstituierung und der Wissenschaftlichkeit eines
Begriffs, in: Soziale Welt 4(46): 403–20.
Voges, W. und Y. Kazepov (Hrsg.) (1998), Armut in Europa, Schriften der Sektion
Sozialpolitik der Deutschen G esellschaft für Soziologie, Bd. 2. Wiesbaden, 29/30.
20
Bei der Definition von Armut gibt es dabei mindestens acht Problemkreise, welche einige ethische Probleme (IV.3.a.) bereits vorwegnehmen:
(i) Das Dilemma zwischen Inhalt und Spielraum: Wird der Spielraum eines
Konzepts erweitert, so wird eine höhere Zahl von Fällen berücksichtigt,
die Bedeutung des Konzepts wird aber diffus. Andererseits ist durch die
Spezifizierung des Inhalts ein eindeutiger Rückgang des Spielraums zu erwarten. Der Ansatz steht also zwischen der Scylla des zu engen Spielraums
und der Charybdis des zu ungenauen Spielraums, also der Abgrenzung. Armutsdefinitionen unterliegen daher einerseits der Gefahr der Einseitigkeit
und Kontextbezogenheit, andererseits der Gefahr einer leeren Generalisierung. Dieses Argument weist auf den politischen Einfluss auf Armutsdefinition, –forschung und Armutsminderung hin. Die Verringerung des
Spielraums zur Vertuschung von Armut, um wieder gewählt zu werden
etwa, oder die Erhöhung des Spielraums, um für mehr finanzielle Unterstützung zu werben, um damit ebenfalls persönliche Interessen zu verfolgen, sind mögliche Vorgehensweisen.
(ii) Die Frage nach einem ausgeglichenen Set von Beispielen: eine Kategorie
wie die andere. Die Veranschaulichung von Armut basiert auf bestimmten
Beispielen. Eine einseitige Auswahl von Beispielen untergräbt die vielen
Gesichter von Armut. (z.B. kann Armut nicht allein anhand von ländlicher
oder allein von städtischer Armut oder anhand nur eines Landes oder
Kulturkreises definiert werden). Andererseits gibt es nahezu unendlich
viele Beispiele und verschiedenste Arten von Armut. Wo kann man die
Grenze ziehen? Um einzelne Phänomene von Armut zu bestimmen, werden bestimmte Beispiele herausgestrichen während andere nicht einmal
erwähnt werden. Wer wählt diese Beispiele aus? Und wer fördert deren
Ergebnisse?
(iii) Das Problem der Übersetzung und des lokalen Kontextes: Kann das Konzept von Armut ohne Sinnverluste in andere Sprachen übersetzt werden?
Kann die koreanische Betrachtung von Armut einfach auf Englisch übersetzt werden?38 Kann eine lokale Definition von Armut ausreichen, um
alle Gesichtspunkte der kulturspezifischen Bedeutungen und Zusammenhänge zu erkennen? Welche Abstraktions– oder Konkretisierungsebene
macht eine Definition von Armut sinnvoll?
38
Vgl. UNDP (1998), Current poverty issues and counter policies in Korea. Seoul.
21
(iv) Das Dilemma zwischen „Erfahrung“ und „Reflexion“, zwischen „grundlegenden“ und „entfernteren“ Ansätzen: Wie viel Erfahrung ist nötig und wie viel
ist ausreichend, um Armut passend zu reflektieren? Wie wichtig ist die
Distanz zu persönlichen Armutserfahrungen, um eine Definition mit der
nötigen emotionalen Distanz zu ermöglichen, gleichzeitig aber auf all die
wichtigen Dimensionen des Erfahrenen Bezug zu nehmen?
(v) Der Konflikt zwischen einem deskriptiven und einem präskriptiven Gebrauch
von Armutskonzepten: Soll Armut durch eine Definition, welche den normalen Gebrauch des Konzepts festlegt, beschrieben, oder soll Armut normativ (so wie der Begriff verwendet werden soll) definiert werden? Umfassen präskriptive Definitionsversuche alle nötigen Konnotationen des
Begriffs? Sind sie realitätsnah genug? Können deskriptive Ansätze eine allgemeingültige, gewissermaßen kontextlose und übergeordnete Definition
liefern?
(vi) Die Schwierigkeit der Vielfalt von Definitionen: Es gibt hunderte von
Definitionen von „Armut“.39 Keine davon ist konsensfähig. Wie kann
man mit dieser großen Anzahl von konzeptionellen Klärungen fertig werden? Jedes Konzept verlangt nach einer speziellen Bewertungsmethode40
und da es keine Einigkeit bezüglich des Konzeptes gibt, gibt es auch keine
Einigkeit bezüglich der Methode.
(vii) Das Problem von Theorie und Praxis: Soll die Definition zu einer theoretischen Ausarbeitung beitragen oder eher einer praktischen Umsetzung
dienen? Soll sie in erster Linie der Armutsforschung oder der Umsetzung
der Armutsminderung als Grundlage dienen?
(viii) Der Kulturaspekt: Bezüglich der Definition mittels Standards
bleibt zu fragen, Menschen welchen kulturellen Hintergrunds globale
Standards definieren bzw. ob für lokale Definitionen dies auch Menschen
des in diesem Raum gängigen Kulturkreises mit dem passenden Armutsverständnis machen.
Einige Fragen über Armutsforschung sind sehr delikat. Etwa die
Frage nach dem cui bono bezüglich der Armut. Was ist der Grund für Ar-
39
40
Vgl. Iben, G. (1989), Zur Definition von Armut. Blätter der Wohlfahrtspflege 11/12.
Vgl. Scott, W. (1981), Concepts and measurement of poverty. Genf; Adamy, W. und J.
Steffen (1998), Wie wird Armut gemessen? In: Dies. (1998), Abseits des Wohlstands.
Darmstadt, 7–11; Semrau, P. und H.–J. Stubig (1999), Armut im Lichte unterschiedlicher Meßkonzepte, in: Allgemeines Statistisches Archiv 83/3, 324–337.
22
mut?41 Welche Funktionen üben Arme in einer Gesellschaft aus? Welche
Interessen, die eine Konsolidierung von Armut verlangen, können identifiziert werden?
So ist die Definition von Armut ein Spiegelbild dessen, für wie
notwendig man das Vorhandensein von Armut in einer Gesellschaft ansieht. Offensichtlich kann man Armut vom Standpunkt der Funktionalität
aus betrachten: Die Armen übernehmen Arbeiten, die niemand machen
will; sie essen Nahrung, die niemand essen will; sie kaufen Dinge, die niemand sonst kaufen würde; sie geben eine raison d’être für humanitäre Einrichtungen, Spendengeber und Menschen mit guten Absichten etc. 42
Impliziert etwa die Tatsache, dass eine Mehrheit der Menschen in Armut
lebt nicht auch, dass dies für den Rest der Menschen große Vorteile hatte
und immer noch hat? Ist das Prinzip der Arbeitsteilung nicht vielmehr zu
einem System von Abhängigkeitsverhältnissen verkommen, welches die
Wirtschaft aufrechterhält und somit von den Nicht–Armen versucht wird,
aufrechtzuerhalten? Dies scheint sich sowohl innerhalb einzelner Gesellschaften als auch global in der Abhängigkeit der Entwicklungsländer vom
good will der Industrienationen widerzuspiegeln. Diese Fragen berühren
politische Bereiche, welche für die Selbstreflexion von Armutsforschung
und –minderung von Bedeutung sind („die Funktionen von Armutsforschung“).
* * *
Während eines Workshops im Rahmen des FWF–Projekts von Prof. Clemens Sedmak zum Begriff der Armut wurde eine Armutsdefinition geprägt, die unter Zusammenwirken von Theoretikern/Theoretikerinnen in
der Armutsforschung und Praktikern/Praktikerinnen in der Armutsminderung entstanden ist. Auch diese Definition würde wohl nicht allen angesprochenen Problemkreisen standhalten, doch wollen wir sie hier einfüh-
41
42
Vgl. Wagner, W. (1982), Die nützliche Armut. Berlin; Böhler, T. et. al. (2003), Armut
als Problem – Wie gehen fünf Einzelwissenschaften mit dem Phänomen der Armut
um? Working Paper Series: Facing Poverty No. 1, 70f.
Vgl. Sedmak, C. (2001), Sozialtheologie. Frankfurt a. M., 175f., Gans, H. J. (1992), Über
die positiven Funktionen der unwürdigen Armen, in: Leibfried, St. und W. Voges
(Hrsg.) (1992), Armut im modernen Wohlfahrtsstaat. Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie 32, 48–62.
23
ren, um für die später folgenden ethischen Überlegungen zu den Armutsdefinitionen mit einem konkreten Beispiel arbeiten zu können:
„Armut ist die relative strukturelle Ausgrenzung von Menschen
bzw. Menschengruppen, die sich in einer ungerechten Verteilung
des Zugangs zu materiellen und im materiellen Gütern manifestiert,
und als solche ein Mangel an Entscheidungsfreiheit, um diejenigen
Fähigkeiten auszubilden und Möglich keiten zu nutzen, die nötig
sind, um für sich und die in seiner/ihrer Verantwortung stehenden
Personen eine Grundsicherung zu gewährleisten, unfreiwillige
strukturelle und zumindest latent leidvoll erfahrene Exklusion zu
vermeiden und im Vergleich zu dem sozio–kulturellen Umfeld eine
gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.“ 43
Eine zweite, sehr brauchbare – weil multidimensionale – Definition
stammt von Mollat und soll ebenfalls im Hinblick auf die Diskussion ethischer Aspekte bei Armutsdefinitionen im dritten Teil angeführt werden:
„Arm ist derjenige, der [und diejenige, die] sich ständig oder vorübergehend in einer Situation der Schwäche, der Abhängigkeit oder
der Erniedrigung befindet, in einer nach Zeit und Gesellschaftsformen unterschiedlich geprägten Mangelsituation, einer Situation
der Ohnmacht und gesellschaftlichen Verachtung: Dem Armen
[und der Armen] fehlen Geld, Beziehungen, Einfluss, Macht, Wissen, technische Qualifikation, ehrenhafte Geburt, physische Kraft,
intellektuelle Fähigkeit, persönliche Freiheit, ja Menschenwürde. Er
[und sie] lebt von einem Tag auf den andern und hat keinerlei
Chance, sich ohne die Hilfe anderer aus seiner [und ihrer] Lage zu
befreien.“ 44
Diese beiden Definitionen geben zumindest Anhaltspunkte, welche Aspekte im Rahmen einer Diskussion von Armut berücksichtigt werden sollen. Es handelt sich, wie unschwer zu erkennen, um eine Fülle von Aspekten. Das bedeutet, dass der Umgang mit dem Begriff der Armut ein
langsamer, behutsamer sein muss; eine Analyse von Armut kann nicht absehen von einer Analyse von anderen Schlüsselbegriffen wie Macht, Beziehungen, Wissen, sodass auch auf diese Weise deutlich wird, dass Armutsfor43
44
Böhm, R., Buggler, R. und J. Mautner (Hg.) (2003), Arbeit am Begriff der Armut, Working Paper Series: Facing Poverty No. 3, 93.
Mollat, M. (1984), Die Armen im Mittelalter. München, 13, in: Kesselring, T. (2003),
Ethik der Entwicklungspolitik. Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung. München,
29.
24
schung nicht im Rahmen einer einzigen Disziplin geleistet werden kann,
sondern das Denken in Problemen (statt eines Denkens in Disziplinen) verlangt. Diese epistemische Pflicht zur Komplexität hat durchaus ethische Voraussetzungen und Implikationen hinsichtlich der Standards von intellektueller
Redlichkeit in der Armutsforschung, im Sinne der Frage: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit fundierte Aussagen über Armut getätigt
werden können?
4. Armutsursachen
Neben der Definition von Armut ist auch die Ursachenforschung ein
wichtiger und genauso weitläufiger Weg, Armut entgegen zu wirken. Wir
haben bereits im letzten Kapitel festgestellt, dass es bei der Definition von
Armut kulturabhängig verschiedene Schwerpunktsetzungen gibt. So ist
auch in der Ursachenforschung immer wieder ein anderer Blickwinkel zu
bemerken.
Die Ursachen von Armut können in harte und weiche Faktoren unterteilt
werden. Als hart gelten absolute, messbare Kriterien, die meist vererbt
werden: Armut hängt in diesem Zusammenhang mit den klimatischen Bedingungen, der Gefahr von Naturkatastrophen und den damit verbundenen Problemen einer Region zusammen.45 Dazu gehören die schlechte
Versorgung mit Nahrung, sauberem Wasser, Energie und Infrastruktur.
Unterschiedliche politische und kulturelle Hintergründe lassen einen weiteren Kreis von Faktoren entstehen, wie etwa die Frage nach Demokratisierung, die Rolle von Männern und Frauen in der Gesellschaft, die Sicht
von Armut in der Gesellschaft sowie die Menschenrechte und Grundfreiheiten, die im Kontext zur Verminderung beitragen können. Zum Beispiel
hat das Kastensystem in Indien auf all diese Kategorien einen starken Einfluss.
Darüber hinaus sind die weichen Faktoren zwar weniger sichtbar und
messbar, können aber die grundlegenderen Ursachen für den Misserfolg
bei Armutsforschung und –minderung bewirken, da sie die grundlegenderen Armutsursachen darstellen: Machtlosigkeit, Stimmlosigkeit, Abhängigkeit, Scham und Peinlichkeit führen zu einem Mangel an Selbstbewusstsein, zu einem Gefühl der Frustration, des Hasses und der Wut. Diese so45
Auf den Zusammenhang von klimatischen Bedingungen, Mangel an Ressourcen, Naturkatastrophen, Krisenherden und Kriegen sei an dieser Stelle hingewiesen.
25
ziale Seite der Marginalisierten führt zu einer Passivität der Armen: Frustration und Lethargie hindern sie daran, ihre Grundrechte einzufordern,
weshalb es die Stellvertretung durch Menschen braucht, welche ihre Arbeit der Armutsminderung widmen.46 Es entstehen so – trotz der guten
Absicht – Fehlinformationen, Kommunikationsprobleme und Eigennützigkeit.
Außerdem kann man interne und externe Faktoren unterscheiden, welche
das Phänomen der Armut näher erklären: Zu den externen Faktoren können Migration, 47 politische Strukturen, 48 Arbeitslosigkeit, Gesundheitsprobleme und Familientragödien gezählt werden. Interne Faktoren umfassen
Depressionen, negative Gefühle, persönliche Schwierigkeiten. So kann
eine emotional und strukturell komplexe Landschaft des „Arm–Seins“
skizziert werden. Die heutige Sichtweise von Armut ist in der Forschung
vom Ausschluss der Betroffenen von Alltagsaktivitäten gegen den eigenen
Willen gekennzeichnet. Amartya Sen hat häufig darauf hingewiesen, dass
absolute Armut auch die nach Adam Smith benannte „Fähigkeit, mit
Scham umzugehen“ 49, inkludiert. Die Aufrechterhaltung einer kulturellen
Identität und von sozialen Normen der Solidarität hilft armen Menschen
weiter, an ihre Menschlichkeit trotz inhumaner Bedingungen zu glauben.
Diese psychologische Schwierigkeit wird durch den Mangel an
Möglichkeiten erschwert; Möglichkeiten zur Aneignung von Fähigkeiten,
die Veränderung erst herbeiführen können.50
46
47
48
49
50
Diese Repräsentation durch Stimmen, welche der Armut nicht direkt ausgeliefert sind,
kann zu Missverständnissen führen (Aufdoktrinierung von Entwicklungshilfe und Unterschätzung der Kapazitäten armer Menschen, wodurch die oben genannten weichen
Faktoren der Armut weiter gefördert werden). Ein berühmtes, österreichisches Beispiel
zu diesem Thema ist Marie Jahodas sozialpsychologische, empirische Studie über Arbeitslosigkeit – eine der ersten dieser Art –, wonach Langzeitarbeitslosigkeit zu Resignation und Lethargie und nicht zur Revolution führt. Jahoda, M., Lazarsfeld, P. und H.
Zeisel (1975), Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die
Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Frankfurt a. M.
Vgl. de Haan, A. (1999), Livelihoods and Poverty: The Role of Migration. Journal of Development Studies 36/2, 1–47.
Vgl. Devas, N. (2001), The Connections between Urban Governance and Poverty. Journal of International Development 13/7, 989–996.
Vgl. Sen. A. (1981), Poverty and famines. Oxford.
Amartya Sen hat den Zugang zu und die Erhaltung von Fähigkeiten als wichtigsten
Faktor der Anstrengung zur Armutsmilderung erwähnt. Siehe Sen, A. (1993), Capability
and Well–Being, in: Nussbaum, M. und A. Sen (Hrsg.) (1993), The Quality of Life. Oxford. 30–53.
26
Das Phänomen Armut ist nicht immer sichtbar – einerseits, weil soziale Strukturen versuchen, Armut zu verstecken und andererseits, weil es
schwierig scheint, den Tatsachen der Armut überhaupt entgegenzutreten. 51 Listet man die verschiedenen Armutsfaktoren auf, so kann dies mitunter Klarheit für das weitere Vorgehen bringen. Mithilfe eines Armutsberichts über Nepal wurden in Abbildung 1 harte und weiche sowie interne
und externe Faktoren getrennt.52
Abbildung 1: Armutsfaktoren am Beispiel von Nepal
Hart
Weich
Intern
Extern
- Kleines und unebenes Land
- „landlocked“ ohne
Mehrzugang
- geringe Ressourcen
- Agrarstaat (85%
des BIP)
- Feudalistische
Strukturen
- Zugang zu Produktionsressourcen
- Kein Zugang zu
Bildung, Gesundheitspflege
- Mangel an politischen Möglichkeiten und politischem Willen
- Kein politisches
Pflichtgefühl
- Unterdrückung
der Frauen und
patriarchalische
Familien
- Sklavereiähnliche
Zustände und lebenslange Verschuldung
- Orthodoxe Religionsauffassung
- Mangel an Beteiligung
- Entmutigung
durch hohe Preise
etwa für Schulen
und Ärzte
- Hohe Kindersterblichkeit
- Armutskreislauf
wiederholt sich in
der nächsten Generation
-Verfehlte Wirtschaftspolitik
- Misswirtschaft mit
öffentlichen Ressourcen
- Kein Zugang zu
Information und
Technologie
- Verstädterung
- Hohes Bevölkerungswachstum
- Landverteilung
- Abhängigkeitsverhältnisse
- Analphabetismus
- Hohe Arbeitslosigkeit
- Schlechtes Bildungs– und Gesundheitswesen
- brain drain
- Handelsstreit zw ischen Westen und
Indien traf Nepal
- IWF–Politik
51
52
Vgl. de Castro, J. (1952), Géopolitique de la faim. Paris. Er stellte fest, dass die Welt
sich vor der Betrachtung des Hungers schämt und deshalb nicht darüber spricht.
Vgl. http://www.happy–children–nepal.de/nepal_land_leute/Armut.htm am 8.1.04.
27
III. Ethik und Armut
Nach dieser Einführung zum Begriff Armut gilt es nun, einen Versuch zu
unternehmen, die ethischen Begründungen darzustellen, welche im Zusammenhang mit Armut als Phänomen eine Rolle spielen, insbesondere in
der Absicht, Armutsforschung und –minderung danach zu beurteilen.
Dass es sich bei einer derartigen Untersuchung um angewandte Ethik
handelt, ist klar. Angewandte Ethik ist die Anwendung ethischer Prinzipien auf einen bestimmten Bereich. Dazu sagt Annemarie Pieper: „Eine
Aufgabe der ‚angewandten’ Ethik besteht darin, auf die Herausforderung
der Zeit, somit auch auf die Sicherung des Existenzminimums speziell in
der Dritten Welt, einzugehen. Zur Befriedigung seiner Bedürfnisse ist der
Mensch als soziales Wesen auf die Hilfe und Anerkennung, kurz auf ein
Zusammenleben und –handeln mit anderen Menschen angewiesen. Die zu
diesem Zweck etablierten Lebensformen (Ehe, Familie, Gesellschaft, Staat
usw.) bestehen auf gewissen Ordnungsprinzipien, die sich aus ethischen
Grundprinzipien wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde gebildet haben. Es ergeben sich somit für den einzelnen gegenüber
der Gemeinschaft, in der er lebt, Rechte und Pflichten, die Gegenstand
einer Sozialethik sind. Dadurch soll ein Verhalten zustande kommen, das
neben physischem Überleben auch Glück und Wohlergehen aller ermöglicht. Um die Gefährdung des Gemeinwohls durch natürliche Neigungen
und Veranlagungen wie Egoismus, Neid, Machtstreben, Hass und Ähnliches so gering wie möglich zu halten, führt die Sozialethik als Gegenargumente Nächstenliebe, Mitleid, Toleranz, Rücksichtnahme und Solidarität ins Treffen.“ 53
Betrachtet man Armutsforschung aus einer ethischen Perspektive, so
kann ihr Untersuchungsgegenstand auch dahingehend eingeschränkt werden, als man auf diejenigen Bereiche achtet, wo das zwischenmenschliche
Zusammenleben, die oben genannten Ordnungsprinzipien und die damit
verbundenen Rechte und Pflichten nicht eingehalten werden. Gerade
durch die Betrachtung der Armutsursachen wird oft klar, dass Armut aufgrund struktureller oder individueller Ungerechtigkeiten entstanden ist
und somit der Blick nicht von den Vorteilen aus Armut für die Nicht–
53
Pieper, A. (1985), Ethik und Moral, in: Leitgeb, N. (1987), Die ideale Entwicklungsethik
– Entwicklungshilfe als Herausforderung für Politik, Wirtschaft und Religion. Wien, 52.
28
Armen abgewendet werden darf, denn darin liegt oft die Begründung für
die Persistenz des Phänomens. Individuelle Handlungen – zum eigenen
Vorteil oder zum Vorteil anderer – sind dabei das Untersuchungssubjekt
der angewandten Ethik.
Unseres Erachtens sind auch die Regeln, nach denen beurteilt werden
kann, ob die Aktivitäten in der Armutsforschung ethisch oder unethisch
sind, nicht weltfremd oder veraltet – selbst wenn man sich historischen
Ethikern wie Aristoteles oder Thomas von Aquin annimmt.
Um die Aktivitäten in der Armutsforschung und –minderung nun einschätzen zu können, bedarf es einiger Bewertungskriterien oder Regeln,
anhand derer gemessen wird, ob diese Aktivitäten einen ethischen Charakter haben oder nicht. Eine Möglichkeit bietet hier die Deklaration der
Zweiten Internationalen Konferenz über Ethik und Entwicklung (1989), 54
welche zusammengefasst folgende Richtlinien beschloss:
Angesichts tief greifender Unzulänglichkeiten der heute vorherrschenden Entwicklungsstrategien schlägt die Konferenz vor, die Suche nach einer alternativen Form sozialer Transformation mit Rücksicht auf die folgenden ethischen Prinzipien aufzunehmen:
(i) Respekt vor der Würde aller Menschen, unabhängig von Herkunft,
Rasse oder Geschlecht
(ii) Aufrechterhaltung friedlicher Lebensumstände, basierend auf einer
Gerechtigkeitspraxis, die armen Menschen Zugang zu Gütern verschafft und die Bedingungen ihrer Notlage beseitigt
(iii)Bekräftigung der Freiheit, verstanden als Selbstbestimmung, Selbstmanagement und Teilnahme an lokalen, nationalen und internationalen Entscheidungsprozessen
(iv)Anerkennung eines neuen Verhältnisses der Menschen zur Natur,
welches die verantwortungsbewusste Nutzung dieser fordert und
ein solidarisches Verhältnis gegenüber zukünftigen Generationen
herstellt
(v) Entwicklung eines vernünftigen Umgangs mit ausgebeuteten Menschen und Völkern, welcher ihren kulturellen Traditionen, ihrem
Denken und ihren Interessen und Bedürfnissen entspricht und der
54
Nach der sog. Mérida Declaration der Zweiten Internationalen Konferenz über Ethik und
Entwicklung am 7. Juli 1989 auf der Homepage der International Development Ethics
Association: http://www.carleton.ca/idea/declarations.htm am 25.7.03.
29
diese Menschen als Subjekte und nicht als Objekte der Entwicklung ansieht
Dieser Vorschlag, die Werte Würde, Friede, Entscheidungsfreiheit, Verantwortung und anthropologische Sensibilität als Eckpfeiler von Entscheidungen festzulegen und diese Entscheidungen etwa mit Hilfe des Rawls’schen Überlegungsgleichgewichtes 55 zu treffen, ist der Versuch, die Notwendigkeit eines umfangreicheren und dennoch realistisch durchführbaren Kodex für
Entscheidungen festzulegen. Der ideale Platz für einen derartigen Reflexionskodex wäre das Zentrum allen Entwicklungsdenkens, um mitzubegründen, welche Entwicklungsmodelle gewählt und welche Forschungsergebnisse in der Umsetzung akzeptiert werden.
Diese allgemeinen Grundbedingungen für ethisches Handeln sollen
auch als Leitfaden und Motivation in der Armutsforschung dienen. Der
Vergleich aktueller Paradigmen in der Armutsforschung 56 mit dem früher
von Arroganz und Eurozentrismus geprägten Versuch, westliche Modelle
kulturunabhängig in Entwicklungsländern zu implementieren, zeigt, dass
Rahmenbedingungen wie Offenheit, Realitätssinn, Dialog, Integration
oder Individualität diesen Grundbedingungen immer mehr entsprechen.
Einige Gedanken zu den fünf Regeln:
(i) Geht man von der Würde aller Menschen aus, so ist die Umsetzung der Menschenrechte ein grundlegender Anspruch an die Armutsforschung. Dabei kommt die bloße Existenz von Armut schon einer Verletzung der Menschenrechte gleich. Die Schaffung von Lebensbedingungen,
wie sie in der Universal Declaration of Human Rights gefordert werden, ist
somit ein Ziel der Armutsforschung und der Armutsminderung. „Letztlich ist das Ziel eine rationale, Anteil nehmende und gerechte Gesellschaft
zu formen, die jedem Menschen ein Leben in Würde ermöglicht.” 57 Aber
aus einem die Würde berücksichtigenden Ergebnis eines Forschungsprojektes kann dennoch leicht die würdelose Behandlung von Personen wer55
56
57
Rawls, J. (1975), Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M., 38. Zum Begriff des
Überlegungsgleichgewichts vgl. Hahn, S. (2000), Überlegungsgleichgewicht(e). Prüfung
einer Rechtfertigungsmetapher. Freiburg/München.
etwa der Fokus auf Participation, Governance, Community–Driven Development, Gender und
Environment in den aktuellen Poverty Reduction Strategy Papers (PRSP) der Weltbank.
Sanchez, O. M. (1999) New Development Ethics Needed, in: The Jakarta Post, Jakarta,
20. März 1999, 3.
30
den (dies wird gerade durch die Souveränität von Helfern/Helferinnen gegenüber armen Hilfeempfängern/Hilfeempfängerinnen impliziert). Durch
die historisch schon sehr früh bedingte Verletzung dieser Rechte ist der
Versuch, Armutsforschung würdevoll zu machen, von einigen Fragen gekennzeichnet: Womit verletze ich möglicherweise die Würde Betroffener?
In welchem Armutsfeld soll man dabei ansetzen? Ist die Ausstattung mit
Fähigkeiten 58 wichtiger als die Lösung von Umweltproblemen im Zusammenhang mit Würde? Wo wird die Grenze zwischen selbstverschuldeter
Armut und schlechten Lebensbedingungen gezogen?
Diese Würde soll allen Menschen gleichermaßen zugute kommen.
Hier wird also von Gleichheit und Gerechtigkeit gesprochen: Dieselbe
Schlussfolgerung zog John Rawls in Die Theorie der Gerechtigkeit 59, als er in
einem Gedankenexperiment einen Sozialvertrag unter gewissen Unwissenheitsaspekten (veil of ignorance) aushandeln lässt: Keines der Gesellschaftsmitglieder, welches an den Verhandlungen zur Findung von gesellschaftsgestaltenden Prinzipien teilnimmt, kennt seine Rolle in der Gesellschaft,
keine Person weiß, ob sie männlich oder weiblich, reich oder arm ist.
Unter diesen Bedingungen, so kommt Rawls zum Schluss, sollen Grundrechte allen in gleichem Maße zugänglich sein, mit einer besonderen Begünstigung der least privileged (das Differenzprinzip). Dabei erkennt Rawls
die unterschiedlichen Fähigkeiten einzelner Gesellschaftsmitglieder durchaus an; und es sind auch Unterschiede bezüglich Reichtum und Position
vertretbar, solange sie Vorteile für alle bringen und mit Ämtern verbunden
sind, die allen prinzipiell zugänglich sind.
„Eine gerechte Gesellschaftsordnung kann es nur geben, wenn die
Menschen bereit sind, sich an die Regeln der Kooperationsgemeinschaft zu halten, vorausgesetzt, die anderen tun es ebenso. Es ist
diese Bereitschaft zur Gegenseitigkeit, die nach Rawls den Kern
der Fairness ausmacht. Rawls betont – etwa gegen wirtschaftsliberale Auffassungen: Menschliches Zusammenleben ist auf Fairness,
nicht auf die Maximierung des Eigennutzes gebaut.“ 60
Ähnlich wie bei Sens Fähigkeiten–Ansatz will Rawls durch das Argument
der Gleichheit der Möglichkeiten ein Mindestmaß an Würde für alle Men58
59
60
nach Amartya Sen.
Rawls, J. ( 101998), Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
Kesselring, T. (2003), Ethik der Entwicklungspolitik. Gerechtigkeit im Zeitalter der
Globalisierung. München, 67.
31
schen erreichen. Er bezeichnet Gerechtigkeit dabei als wichtigste Tugend
sozialer Absprachen und Institutionen. Rawls befürwortet einen Gesellschaftsvertrag mit gleichen Grundrechten und –pflichten für alle Menschen. Es wird dabei davon ausgegangen, dass soziale und wirtschaftliche
Ungleichheiten zum Vorteil aller genutzt werden können und diese Ungleichheiten an Ämter gebunden sind, die allen Menschen zugänglich sind.
Avishai Margalits Überlegungen zur Ausrichtung einer Gesellschaftsordnung anhand der Vorstellung einer „anständigen Gesellschaft“ 61 beschreibt Momente, in denen Menschen in entwürdigende und damit demütigende Situationen geraten. Im Zusammenhang mit Armutsforschung
weist er auf Situationen hin, in denen heute Hauptursachen für Armut gesehen werden: Sklaverei, Kolonialismus, Indoktrinierung mit der Kultur
des Mutterlandes etc. Margalit beschreibt, dass „gerade die Tatsache, dass
die ‚Herrenmenschen’ der Kolonialzeit ihre Umgebung als normal betrachteten, […] für viele Eingeborene äußerst demütigend [war]; es bedeutete nämlich, daß sich die Unterdrücker in keiner Weise bedroht fühlten, und das in einer Umgebung, die nach dem Dafürhalten der Eingeborenen voller Risiken für die Eindringlinge war.“62
(ii) Die Aufrechterhaltung und Schaffung friedlicher Lebensumstände
zählen zweifelsohne zu den grundlegenden Rahmenbedingungen für die
erfolgreiche Umsetzung von Armut lindernden Projekten. Die Tatsache,
dass arme Menschen in Friedensfragen kaum ein Mitspracherecht haben,
erlaubt die Schlussfolgerung, dass auch diese Fragen von den Nicht–Armen geklärt werden. Friede ist nur dann durchsetzbar, wenn auch Gerechtigkeit herrscht. Folgende Fragen stellen sich hier: Wie hängen Armut und
Friede zusammen? Welche Gruppe Menschen ist für den Unfrieden auf
der Welt verantwortlich? Wer entscheidet, welche Rahmenbedingungen
für den Frieden in einer Region ausschlaggebend sind? Sind die Erfolgsfaktoren für den scheinbar globalen Begriff des Friedens kulturell abgestimmt?
61
62
Vgl. Margalit, A. (1999), Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung. Frankfurt
a. M. (im Original: „The Decent Society“), 24–25: „Eine anständige Gesellschaft bekämpft Verhältnisse, durch die sich ihre Mitglieder mit Recht gedemütigt fühlen können. Eine Gesellschaft ist dann anständig, wenn ihre Institutionen den Menschen, die
ihrer Autorität unterstehen, keine berechtigten Gründe liefern, sich als gedemütigt zu
betrachten.“
Ebd., 128.
32
In dieser zweiten Regel zeigt sich, dass ohne eine Bevorzugung armer
Menschen – und damit ist die für Nicht–Arme mit gewissen Opfern verbundene Aufgabe von Besitz, Einfluss und Macht gemeint – Friede langfristig unwahrscheinlich ist. Insbesondere wenn die Kluft zwischen Arm
und Reich sich weiterhin vergrößert und diese beiden Gruppen immer
noch weniger miteinander in Kontakt treten.
Hier soll Armutsforschung ansetzen. Aber genau hier stehen auch die
größten Schwierigkeiten, denn die meisten ArmutsforscherInnen wie auch
ein Großteil der Organisationen stammen – obwohl die Anzahl etwa der
Nichtregierungs–Organisationen (NGOs) in Entwicklungsländern stark
steigt und diese als wichtige Akteure angesehen werden müssen – aus Industrieländern. Somit bedarf es großer commitments, starken Engagements
und einer am besten freiwilligen Verpflichtung gegenüber der Sache, um
diese – nicht exklusive – Bevorzugung der Armen auch wirklich umzusetzen.
(iii) Amartya Sen hat mit dem Fähigkeiten–Ansatz den sozialen Ausschluss armer Menschen thematisiert und damit darauf aufmerksam gemacht, dass neben dem Fehlen von Grundversorgung auch der soziale
Aspekt im Leben von Armen eine Hauptrolle spielt. Das Fehlen von
Möglichkeiten, sich gewisse Fähigkeiten anzueignen, ist eines seiner
Hauptargumente. Ohne die Freiheit zu haben, sich für oder gegen bestimmte Aktionen zu entscheiden, kann man persönliche Ziele erst gar
nicht in Angriff nehmen. Der Entscheidungsspielraum armer Menschen
ist durch den verwehrten Zugang zu Infrastruktur, Information, Wissen
und Vorteilen beeinträchtigt. Die Dimension des Zugangs scheint einer
der grundlegendsten Ansatzpunkte für die Verbesserung der Situation von
armen Menschen zu sein.
Auch hier ist wieder das Aufbrechen der Abhängigkeitsverhältnisse
zwischen Armen und Nicht–Armen angesprochen, die mitunter für die
Beharrlichkeit (Persistenz) von Armut verantwortlich zeichnen. Zu diesem
Ziel der realen Freiheiten schreibt Kesselring: „Ziel der Entwicklungspolitik ist nicht primär die Förderung der Grundrechte und erst recht nicht
die Erhöhung des wirtschaftlichen Nutzens oder das Wachstum der Wirtschaft – sondern Freiheit. Sen, gebürtiger Inder aus Dhaka (heute Bangladesch), bringt Entwicklung und Freiheit also in enge Verbindung zueinander. Positive Freiheit – Freiheit des Wohlergehens (‚well being freedom’) – ist
das eigentliche Ziel von Entwicklung. Diesem Ziel nähert man sich durch
Förderung von Fähigkeiten und Schaffung eines günstigen soziopoliti-
33
schen und wirtschaftlichen Umfeldes. Negative Freiheiten (liberties) – mit
Hobbes verstanden als Spielräume, in denen wir etwas ohne Hindernis tun
können – stellen lediglich Mittel dar, die uns zur Erreichung des Ziels,
Entwicklung, dienen können. Das gilt sowohl für die Freiheit von fremder
Einmischung, wie sie etwa die Vertreter des Wirtschaftsliberalismus fordern, als auch – in anderer Weise – für die Freiheit von Unterdrückung.
Es gibt zwei große, aus dem ‚Süden’ stammende Traditionen, die Entwicklung mit Freiheit assoziieren: die lateinamerikanische Befreiungstheologie (in enger Allianz mit der Befreiungspädagogik Paulo Freires) einerseits und Amartya Sens Theorie der Humanentwicklung andererseits.
Während jene Freiheit vor allem negativ, als Befreiung, definiert, bestimmt
sie Sen positiv, als Ausbildung von Fähigkeiten und Gestaltung von Lebensmöglichkeiten.“ 63
(iv) Verantwortung gegenüber der Natur und zukünftigen Generationen ist eigentlich das zentrale Argument, welches die Forschung in vielen
Disziplinen auf Umwelt, soziale Aspekte und damit auch Armutsaspekte
gelenkt hat. Das Spannungsfeld zwischen den Disziplinen und ihrer Verantwortung für die Umwelt und die Zukunft bleiben dabei aufrecht und
zentral. Eine große Herausforderung stellt etwa die Vereinbarung von
Wirtschaftswachstum und sozialer Verantwortung dar. Es stellen sich folgende Fragen: Warum wird die Forschung „verantwortlicher“? Wird verantwortliche Forschung umgesetzt? 64 Wer trägt die Verantwortung, sollten
unethische Entscheidungen negative Effekte bewirken?
Zentral für die Zukunft der Menschheit und der Erde ist die eingangs
bereits erwähnte Frage nach dem Bevölkerungswachstum und dem Einfluss von Entwicklungszusammenarbeit auf Überbevölkerung.
(v) Die letzte Regel fordert gegenüber vergangenen Zeiten ein völliges
Umdenken und will eine niederschwellige Auseinandersetzung zwischen
den Armen und den Hilfsorganisationen bzw. den Forschern/Forscherinnen, um – wie bei jedem anderen Problemlösungsansatz auch – zunächst
die Schwierigkeiten und die verschiedenen Problemkomplexe zu erkennen. Wir haben sie eine anthropologische Sensibilität genannt. Zentral ist der
Umgang und Kontakt mit den in Armut Lebenden; diese Sensibilität
verkörpert damit ein Zugeständnis an die eigene Mündigkeit, gibt die
63
64
Kesselring, T. (2003), 88.
Hier z.B. das erwähnte Spannungsfeld zwischen Armutsforschung und Armutsminderung.
34
Chance, sich auszudrücken und – auch wenn Ressourcen immer knapp
sind – Wünsche zu äußern. Diese Art des Zugangs verkörpert grundlegende ethische Anliegen, was Freiheit und Gerechtigkeit betrifft. Im nächsten
Kapitel wird über den Zugang zu den Betroffenen ausführlicher diskutiert
(IV.1.d.).
Diese fünf Regeln sind im Bündel anzuwenden. Nur wenn die Betroffenen als Subjekte behandelt werden, kann man von einem würdevollen
Umgang sprechen, und nur wenn es zu einer Bevorzugung der Armen
kommt, kann deren Freiheit Wirklichkeit werden.
* * *
Neben diesen fünf Richtlinien sollen einige historische und wichtige zeitgenössische Überlegungen die Eigenschaften ethischen Lebens – und die
im Weiteren davon abzuleitenden Handlungsanweisungen für ethische Armutsforschung und –minderung – abrunden:
Armutsfragen können nicht von Gerechtigkeitsfragen abgetrennt werden. Wir schlagen nachdrücklich vor, die Frage nach der Bestimmung und
Bekämpfung von Armut einzubetten in die Frage nach einer guten, gerechten und anständigen Gesellschaft. Die Frage nach Gerechtigkeit ist
freilich delikat: Aristoteles hat im fünften Buch seiner Nikomachischen Ethik
zwei Aspekte von Gerechtigkeit unterschieden. Zum einen den Aspekt
„jedem das Seine“ (suum cuique), zum andern den Aspekt der Ordnungsgemäßheit (der Gesetzmäßigkeit). Gerechtigkeit bedeutet, jedem das Seine
nach einem bestimmten Gesetz zuzuteilen. Das hat Ulpian in einer berühmten Definition von Gerechtigkeit ausgedrückt: „Iustitia est constans
et perpetua voluntas ius suum uinicuique tribuendi“ (Gerechtigkeit ist der
feste und ständige Wille, jedem sein Recht zuzuteilen). Nun haben beide
Aspekte ihre je eigenen Tücken: „Jedem das Seine“ geben zu können,
setzt voraus, dass über „das Wesen“ oder „die Natur“ der Person, um die
es geht, Klarheit herrscht. Ich muss wissen, was jemandem aufgrund seines Wesens zusteht, um das Postulat „suum cuique“ umsetzen zu können.
Der Aspekt „Zuteilung nach einem Gesetz, gemäß einer Ordnung“ drückt
eine Einschränkung persönlicher Willkür des Zuteilenden zugunsten einer
„objektiven“ Ordnung aus. Allerdings wird man sich hier vier Fragen stellen müssen: Ist das Gesetz, nach dem zugeteilt wird, in sich gerecht? Ist es
auf eine gerechte Weise zustande gekommen? Wird es auf eine gerechte
Weise ausgelegt und angewandt? Und: Was kann alles nicht durch dieses
35
Gesetz geregelt werden? Das menschliche Leben ist schließlich nicht so
aufgebaut, dass jeder einzelne Schritt im Leben eines Menschen durch
Regeln vorgezeichnet wäre. So ergibt sich trotz der klaren Unterscheidung
zwischen zwei Kernaspekten von Gerechtigkeit ein Schwall von Schwierigkeiten, der sich auf konkrete Situationen ergießt. Davon kann auch die
Armutsforschung nicht absehen. Es ist nicht zu erwarten, dass Fragen der
Armutsminderung von der Komplexität der damit verbundenen ethischen
Fragestellungen in eine Ansammlung von simplen Rezepten transformiert
werden können, ohne dass dadurch Standards intellektueller Redlichkeit
verraten werden würden.
Dennoch sind philosophische Überlegungen nicht nur bremsend und
hinderlich auf dem Weg zur Armutsminderung. Dies kann man etwa
daran sehen, dass Amartya sich an Aristoteles anlehnt. Dies zeigt sich etwa
in Sens „gut aristotelischem Zugang von unten“, in der Berücksichtigung
eines realistischeren Menschenbildes (Absage an das Leitkonzept eines
homo oeconomicus), eines Menschenbildes, das auch Emotionen, Affekte und
moralische Überzeugungen berücksichtigt. 65 Auch Sens Utilitarismukritik
kann nicht von seinem aristotelischen Hintergrund abgelöst werden. Kehren wir nochmals zu Aristoteles zurück: In der Nikomachischen Ethik geht
Aristoteles ausführlich auf Gerechtigkeit ein, die – wie wir bei der obigen
Deklaration bereits gesehen haben – bei ethischen Befunden oft als wichtiges Kriterium im Mittelpunkt steht. Bei der Suche nach dem höchsten
Lebensziel macht Aristoteles die Individualität für eine uneinheitliche
Zielausrichtung der Menschen verantwortlich. Seine Auffassung von einem guten Leben lässt sich allgemein aber mehr durch „was wir sind und
tun“ als durch „was wir haben“ definieren. Seine Frage nach dem guten
Leben wird einmal damit beantwortet, dass Wahlfreiheit ein grundlegendes Kriterium für ein gutes Leben ist. Diese Überlegung hat sich Amartya
Sen zu Eigen gemacht: „An impoverished life is one without freedom to undertake
important activities that a person has reason to choose.“66 Grundlage menschlichen
65
66
Vgl. A. Sen (1999), Rationale Trottel: Eine Kritik der behavioristischen Grundlagen der
Wirtschaftstheorie, in: S. Gosepath (Hrsg.), Motive, Gründe, Zwecke. Theorien praktischer Rationalität. Frankfurt a.M., 76–102.
Sen, A. (2000), Social Exclusion: Concept, Application, and Scrutiny, in: Social Development Papers No. 1, Office of Environment and Social Development, Asian Development Bank (ADB). Manila, 3–4.
36
(Über–)Lebens ist also die Fähigkeit aufgrund von Kommunikation in einer sozialen Welt zu überleben.
Die aristotelische Frage danach, wie das Leben erfolgreich sein kann,
ist eine Frage nach individuellem Nutzen, steht dabei aber aufgrund des
sozialen Charakters menschlichen Lebens immer auch in Verbindung mit
der gesamten Gesellschaft, sodass individuell–ethische Ansichten mit dem
persönlichen sozialen Charakter auf eine gesellschaftliche Ebene gebracht
werden können. 67
Thomas Kesselring 68 sieht Gerechtigkeit als Schlüsselkategorie in der
Entwicklungspolitik, da sie (1) im Zusammenhang mit der Verteilung bestimmter materieller Güter und Ressourcen – meist als (aristotelische)
Verhältnisgleichheit, (2) beim Bemühen um prozedurale Gerechtigkeit
und (3) im Zusammenhang mit dem Markt als ethischer Grundbegriff
immer wieder vorkommt. Eine Gesellschaftsordnung ist nach Kesselring
dann ungerecht, „wenn Menschen, die auf ihre Gestaltung keinen Einfluss
nehmen können, im Endeffekt unter dieser Ordnung leiden und wenn
diese Ordnung nicht die einzig mögliche ist – wenn es dazu also realisierbare Alternativen gibt.“ 69
Gerade was die prozedurale Gerechtigkeit betrifft, diskutiert Kesselring verschiedene philosophische Positionen im Zusammenhang mit einer
Verpflichtung zur (Entwicklungs–)Hilfe, was implizit eine Diskussion
über die (Nicht–)Legitimation der Armutsforschung und –minderung, wie
wir sie verstehen, nach sich zieht. So zitiert er den Utilitaristen Peter Singer,70 der für die Bekämpfung absoluter Armut „mit allen verfügbaren
Mitteln“ aufgrund einer individuellen Verpflichtung zur Hilfe eintritt, insbesondere dann, wenn wir dazu befähigt sind und mit der Hilfeleistung
kein Verlust anderer moralischer Werte verbunden ist. Außerdem vollzieht er als Utilitarist die ethische Bewertung bei den Resultaten von
Handlungen und nicht bei den Bedingungen dafür.
67
68
69
70
Vgl. Böhler, T. (2004), Der Fähigkeiten–Ansatz von Amartya Sen und die „Bevorzugte
Option für die Armen“ in der Befreiungstheologie – Zwei Ansätze auf dem Weg zur
ethischen Begründung von Armutsforschung und Armutsminderung, Facing Poverty,
Working Paper Series: Facing Poverty No.5, 6–7.
Vgl. Kesselring, T. (2003), Ethik der Entwicklungspolitik. Gerechtigkeit im Zeitalter der
Globalisierung. München.
Kesselring, T. (2003), 27.
Vgl. Kesselring, T. (2003), 31
37
Demgegenüber sagt Garrett Hardin: „Unter bestimmten Bedingungen
stiftet die Nahrungsmittelhilfe an notleidende Gesellschaften längerfristig
mehr Schaden als ihre Unterlassung, weil sie zum Wachstum der Bevölkerung beiträgt und in wenigen Generationen zu einer größeren Zahl Notleidender führt, als wir heute zählen.“ 71 Hardin vertritt damit eine „Ethik
der Zurückhaltung – namentlich wenn es um die Intervention in bestehende Systeme geht“ 72.
Kesselring verweist im Weiteren auf Onora O’Neills Kritik am Utilitarismus, „denn erstens steht die utilitaristische Grundidee, ‚das größte
Wohl der größten Zahl’ zu realisieren, zur Gerechtigkeit in einem Spannungsverhältnis, zweitens geht der Utilitarismus von den jeweils vorliegenden Interessen des Einzelnen aus, ohne danach zu fragen, welche dieser Interessen legitim sind, drittens nimmt er auch die gegebenen sozialen
Strukturen hin, als gäbe es dazu keine Alternativen. Schließlich liegt viertens ein grundsätzliches Handicap des Utilitarismus in seiner Tendenz zur
moralischen Überforderung.“73 O’Neill setzt sowohl auf individueller als
auch auf institutioneller Ebene eine Verpflichtung, für Bedürftige tätig zu
werden, als unbestreitbar fest. Sie argumentiert dies mit Kants Kriterium
der Universalisierbarkeit 74 im Zusammenhang mit der Frage, wann eine
Handlung geboten ist. O’Neill spricht von zwei strikten Pflichten in Verbindung mit dem staatlichen oder institutionellen Handeln: „1. auf Menschen keinen (illegitimen) Zwang ausüben, 2. sie nicht täuschen.“ 75 Drei
Tugendpflichten sieht sie als zentral: „(a) Andere Personen respektieren
71
72
73
74
75
Kesselring, T. (2003), 35f.
Kesselring, T. (2003), 41.
Kesselring, T. (2003), 42; Vgl. auch O’Neill, O. (1996), Faces of Hunger. An Essay on
Poverty, Justice, and Development. London, 99: „Der Utilitarismus entfaltet gegenüber
den etablierten Sozialstrukturen und den sie stützenden moralischen Intuitionen keine
kritische Kraft“.
Die Erwartungshaltung aller führt zu Handlungsgebot oder Unterlassung, wobei Kant
hier Rechts– und Tugendpflichten unterscheidet. Unter letztere fällt auch die Hilfe gegenüber Notleidenden. O’Neill weicht hier bewusst von Kant ab, indem sie die Tugendpflichten dem Staatsbürger zuordnet. „Gerechtigkeit hat mit Rechten zu tun, die
wir Einzelpersonen zuschreiben, auf die wir einen Anspruch haben und die wir erzwingen können (enforceable)“ (O’Neill, O. [1986], 102, zit. nach Kesselring, T. [2003], 44).
O’Neill, O. (1986), 139, nach Kesselring, T. (2003), 45. Wie Kesselring erwähnt (49)
wurde die erste Pflicht später (O’Neill, O. [1996], Tugend und Gerechtigkeit: Eine konstruktive Darstellung des praktischen Denkens. Berlin, Kap. VI,3) dahingehend umgewandelt, dass diejenigen Formen von Zwang zu verwerfen seien, die die Betroffenen
illegitimerweise schädigen.
38
(sie nicht missachten), (b) sich nicht vor Wohltätigkeit drücken, (c) die
Entwicklung von Fähigkeiten nicht vernachlässigen.“ 76 Kesselring kommentiert, dass bei O’Neill „die Herstellung gerechterer Verhältnisse …
daher eine kategorische Pflicht [sei] – allerdings eine kollektive Pflicht, die
sich letztlich an Institutionen“ 77 richtet.
Bei der Frage nach der Verpflichtung zur Hilfe geht Kesselring nun
von Grundrechten aus indem er Vertragstheoretiker mit unterschiedlichen
Grundrechten zitiert. 78 (1) Robert Nozick, als „Vertreter des Wirtschaftsliberalismus [betrachtet] Wettbewerb und Tausch als Grundformen
menschlichen Zusammenlebens und [erhält] entsprechend diejenigen
Rechte für die wichtigsten, die wir beanspruchen müssen, um im Konkurrenzkampf der Wirtschaft erfolgreich zu bestehen. 79 […] Ein geläufiger
Einwand gegen diese Position lautet: Menschen müssen zunächst einmal
eine gesicherte Existenz haben und vor Aggressionen geschützt sein.“ 80
(2) Henry Shue vertritt die Auffassung, dass „der Mensch primär Subsistenz– und Sicherheitsrechte“ 81 braucht. (3) John Rawls Idee ist vor allem
„diejenigen Grundrechte schützen, über die eine Person verfügen muss,
um in der Lage zu sein, mit ihresgleichen friedlich zu kooperieren“ 82.
Rawls unterstellt, „dass alle Menschen über zwei ‚Vermögen’ verfügen, die
sie zu fairer Kooperation befähigen, nämlich einen ‚Sinn für Recht und
Gerechtigkeit’ und die ‚Befähigung zu einer Konzeption des Guten’, das
heißt die Fähigkeit zu einer eigenen Lebensgestaltung.“ 83 „Die Menschen
haben diese Vermögen nicht nur, sie betrachten einander auch als Personen, welche diese Vermögen im erforderlichen Umfang ausgebildet
haben.“ 84
76
77
78
79
80
81
82
83
84
O’Neill, O. (1986), 141 in: Kesselring, T. (2003), 45–6.
Kesselring, T. (2003), 47.
Kesselring, T. (2003), 51.
Bei Nozick stehen die Fragen nach der Aneignung und Übertragung von Eigentum im
Mittelpunkt.
Kesselring, T. (2003), 51.
Ebd.
Ebd.
Rawls, J. (1983), Der Vorrang der Grundfreiheiten. In: Ders., Die Idee des politischen
Liberalismus (1992), 172, nach Kesselring, T. (2003), 63.
Rawls, J. (1983), 173, zit. nach Kesselring, T. (2003), 63.
39
Zu den unterschiedlichen Ansätzen dieser drei Vertragstheoretiker
sagt Kesselring: „Je nachdem also, welche Grundrechte man für die wichtigsten hält, sieht auch der Gerechtigkeitsmaßstab unterschiedlich aus.“ 85
* * *
Betrachtet man die unterschiedlichen Ausgangspositionen der Menschen
bezüglich ihrer (finanziellen, kreativen, geistigen etc.) Ausstattung, ihres
Zugangs zu Informationen86 und ihren damit verbundenen Möglichkeiten,
so kann man auch die Perspektive einnehmen, dass diese Verteilung auf
dem Zufall beruht, in welche Familie, welche Gesellschaftsschicht und
welches Land man geboren wird. Das Bewusstsein über diesen Zufall soll
dazu führen,
(1) dass man in seinen Handlungen Bescheidenheit an den Tag legt, da
man zum Erreichen der eigenen Ausgangsposition nichts beigetragen
hat und dankbar für einen „guten Start ins Leben“ ist;
(2) dass man offen für die Probleme schlechter ausgestatteter Menschen
und Gesellschaften ist und durch Selbstlosigkeit das Leid anderer erkennt;
(3) dass man die Notwendigkeit des sozialen Charakters menschlichen
Lebens dahingehend nutzt, sich mit den Lebensgeschichten anderer
Menschen vertraut zu machen und bei gegebener Notwendigkeit eine
im Bereich des Möglichen liegende Hilfestellung anbietet.
Aus dieser Motivation heraus (vgl. Abbildung 2) gäbe es also eine klare
Verpflichtung des Menschen zur Hilfe, die zwar nicht einklagbar ist, aber
eine wichtige Grundvoraussetzung für ein friedliches Zusammenleben
und somit die einzig langfristig anzustrebende Win–Win–Situation darstellt. 87
85
86
87
Kesselring, T. (2003), 64.
Vgl. Stiglitz’ Theorie asymmetrischer Informationsverteilung bei Investoren und Unternehmen.
Rawls Theorie der Gerechtigkeit ähnelt diesem Argument insofern als durch den
Schleier des Nichtwissens die zufällige, persönliche Lebenssituation noch nicht bekannt
ist und sich dadurch Selbstlosigkeit und Solidarität besser argumentieren lassen. Beginnt
die Argumentation bei der „Zufallsthese“, so kann auch bei Kenntnis der eigenen Lebenslage eine Verpflichtung zur Nächstenhilfe eingefordert werden.
40
Abbildung 2: „Zufallsthese“
Bescheidenheit:
- Abstraktion von
der eigenen
Position
- Erkennen von
Problemen und
Gruppenprozessen
Offenheit:
- Betrachtung
anderer
Lebenspläne
- commitment und
Hilfsbereitschaft
Solidarität:
- Rücksicht durch
persönliche
Situation
- kein Ausnützen
persönlicher
(Macht-)Vorteile
ZUFALLS
THESE
Gleichheit:
- Begründung dieser
Positionen qua
Menschsein und
dem Gebot gleicher
Würde
Die „Zufallsthese“ geht also von einer schicksalhaften, vorbestimmten
Startposition im Leben des einzelnen Menschen aus und ist einer der wenigen Bereiche menschlichen Lebens, der nicht interessensgeleitet oder
selbstbestimmt sein kann.
Folgt man der „Zufallsthese“, so kann einerseits auf theologische Gerechtigkeitsargumente, 88 andererseits aber auch auf ethische Überlegungen
zu Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit (siehe oben) verwiesen werden.
Mit diesem Argument wäre die Verantwortung der Bevorzugten und besser Gestellten (und damit auch der meisten in der Armutsforschung und
Armutsminderung tätigen Menschen) nicht von der Hand zu weisen.
* * *
All diese theoretischen Auseinandersetzungen mit ethischen Aspekten –
hauptsächlich Komponenten eines Gerechtigkeitsverständnisses in der
heutigen Weltgesellschaft – geben partiale Antworten auf die Frage nach
88
Vgl. Böhler, T. (2004), Der Fähigkeiten–Ansatz von Amartya Sen und die „Bevorzugte
Option für die Armen“ in der Befreiungstheologie – Zwei Ansätze auf dem Weg zur
ethischen Begründung von Armutsforschung und Armutsminderung, Working Paper
Series: Facing Poverty No. 5, 54–8.
41
der gerechten Gesellschaft. Die in diesem Zusammenhang anstehenden
möglichen ethischen Konsequenzen für die Armutsforschung sollen im
nächsten Teil angedacht werden.
IV. Ethik in der Armutsforschung und Armutsminderung
Vor der Auseinandersetzung mit ethischen Argumenten im Zusammenhang mit Armut soll versucht werden, Armutsforschung und Armutsminderung – aufgrund der unterschiedlichen ethischen Anknüpfungspunkte –
zu unterscheiden: Wie Abbildung 3 zeigt, scheint eine Trennung der beiden Gebiete aufgrund ihrer Wechselbeziehungen nur schwer möglich.
Was die Untersuchung der beiden Bereiche angeht, so wird es in der Armutsforschung mehr um Prozesse in Forschungsgemeinschaften gehen,
während in der Armutsminderung viel über den Kontakt mit den Betroffenen gesagt werden muss. Feldforschung entspricht dabei einer praktischen
Forschung und Strategieentwicklung einer auf die Theorieebene reflektierten
Praxis. Während die Strategieentwicklung im Rahmen von IV.1. Armutsforschung Erwähnung findet, soll Feldforschung unter IV.2. eigens besprochen werden, bevor unter IV.3. die praktische Arbeit in der Entwicklungszusammenarbeit auf ihre Legitimation hin betrachtet wird.
Sowohl die/der vor Ort tätige PraktikerIn als auch die/der ForscherIn tragen also wie eingangs bereits erwähnt Verantwortung, wobei sie bei
der Verrichtung ihrer Arbeit auf individueller Ebene immer genug Spielraum haben sollten, ihre Arbeit nach Rawls’ Sinn für Recht und Gerechtigkeit
und der Befähigung zu einer Konzeption des Guten auszurichten. Um dieser
Verpflichtung nachzukommen, ist der Arbeitsprozess – von der Definition der Forschungsfrage über eventuelle Feldforschung bis hin zu den
möglichen Folgen des Projekts – kontinuierlich von einem Reflexionsprozess zu begleiten. Der Großteil ethischer Kritikpunkte liegt u.E. in der
fehlenden Abwägung von allen Ursachen und Konsequenzen eines Forschungsprojekts. Auch in der konkreten Arbeit zur Minderung von Armut
müssen – gerade aufgrund der meist großen kulturellen und sozialen Distanz – Reflexionsblöcke eingeschoben werden, um das eigene Handeln
genauso zu beurteilen wie die Reaktionen der Menschen, mit denen man
arbeitet. Diese Verpflichtung auf Metareflexion lässt Armutsforschung zu einem integrierten Teil von Armutsminderung werden.
42
Abbildung 3: Armutsforschung und Armutsminderung
Armut als Phänomen
Armutsforschung
Theoriearbeit
Feldforschung
Armutsminderung
Strategieentwicklung
Entwicklungszusammenarbeit
Die Dichotomie zwischen Rahmenbedingungen und Durchführung entspringt der beschriebenen Trennung von Armutsforschung und Armutsminderung (und damit auch den beiden in Abbildung 3 angedeuteten Einflusssphären Ideologie und Wirtschaftsordnung). Da die Entstehung eines bestimmten Forschungsprojekts meist mit einer Vorstellung über ihr Ergebnis, oder zumindest mit dem Willen, auf bestimmte Aspekte aufmerksam
zu machen, verbunden ist, sollte eine ethische Reflexion bereits bei der
Motivation für die Tätigkeit ansetzen. Armutsforschung kann somit unterteilt werden in die Definition des Forschungsprojekts, die Vorstellung des
Forschungsvorhabens, die Finanzierung des Projekts, die Durchführung
und die anschließende Evaluation. Innerhalb dieses Tätigkeitsbereiches ist
die Armutsminderung teilweise einzuordnen, da die Ausführung der Forschung bereits die Armut lindernde Folgen haben kann. Der Großteil der
Armutsminderung ist aber der Forschung nachgelagert, da im Normalfall
43
erst die Umsetzung der Ergebnisse die armutslindernden Effekte nach
sich zieht.
Die Konsequenzen eines Projektes liegen neben ihrer theoretischen
Relevanz eben auch in einer möglichen Umsetzung in Armut reduzierenden Handlungen: Ein Projekt kann für Betroffene die gesamte soziale,
kulturelle und wirtschaftliche Situation verändern. Dabei ist nicht gesagt,
ob diese Veränderungen immer als positiv angesehen werden. Auch wenn
das Ergebnis der Arbeit von Auftraggebern oder der Wissenschaft nicht
akzeptiert werden sollte, so können Erwartungen enttäuscht werden.
Der/die Forschende kann eine Verpflichtung gegenüber den betroffenen
Armen wahrnehmen. Armutsforschung passiert nicht im Hintergrund,
sondern wird durch soziale Kontakte mit den Betroffenen, qualitative Interviews und einer genauen Auseinandersetzung mit deren Umwelt oft
erst möglich.
1. Armutsforschung
a. Die Perspektivität in der Armutsforschung
Seit Mitte des letzten Jahrhunderts ist die Entwicklung der Länder des
„Südens“ ein erklärtes Ziel; von poverty reduction oder dem Kampf gegen
Armut war damals noch nicht die Rede; und schon gar nicht von der systematischen Erforschung von Armut und ihren Ursachen oder von Strategien zur Verringerung und Vermeidung von Armut. Wirtschaftliche Interessen, die angesichts eines starken Bevölkerungswachstums nicht nur
ein exponentiales Wachstum humanitärer, sozialer und ökologischer
Probleme,89 sondern auch neue Absatz– und Marktchancen für die entwickelten Länder boten, standen nachweislich im Vordergrund.
Deutlich wird diese Dominanz des „Westens“ (in der Zeit des Kalten
Kriegs) oder des „Nordens“ (im Sinne des heutigen Nord–Süd–Gefälles)
verstärkt durch die Betrachtung der Forschungs– und Förderschwerpunkte. Es kann durchaus davon gesprochen werden, dass durch die Er89
In Indien etwa führte das rasante Bevölkerungswachstum zu einem Familienplanungsprogramm (1952). Dieses verkam jedoch zu einem „bürokratischen Verteilungsprogramm von Verhütungsmitteln. Der ausbleibende Erfolg führte zu dessen Einstellung
und bewog die Regierung Indira Gandhi, Mitte der 1970er–Jahre mit groß angelegten
Zwangssterilisierungen das Bevölkerungswachstum zu bremsen.“ In: Böhler, T. (2003),
Schulbildung als Einflussfaktor für die Bevölkerungsentwicklung in Indien. Berlin, 81.
44
arbeitung von Strategien der Armutsminderung in „westlich“ besetzten
Forschungseinrichtungen ein wichtiger Machtfaktor in den Industrieländern erhalten bleibt, auch wenn „dezentrale“ (also „lokale“) Forschungsinitiativen zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Armutsforschung hört nicht bei der Forschung auf. Offensichtlich
handelt es sich dabei um eine Art von Forschung, welche ein Wissen erzeugt, das bestimmte Handlungen nach sich ziehen kann. Armutsforschung ist auf Veränderung ausgerichtet. Dies ist ein weiteres typisches
Problem der Armutsforschung – der Schritt hin zur Verwirklichung und
zur Veränderung.90 Armutsforschung muss sich der von Alicia Frohmann
gestellten Frage stellen: para qué estudiar la pobreza? 91
Die theoretische Untermauerung von Aktivitäten kann die Praktiken
in der Armutsminderung also beeinflussen und die vorhandenen Strukturen somit stärken oder abändern. Ethische Kritik lässt sich somit nicht nur
an der Umsetzung, sondern auch bereits an der Planung und Ursachenforschung festmachen. Das Dilemma, in dem sich viele ArmutsforscherInnen befinden, liegt nahe: Der inzwischen starke Wettbewerb zwischen
EZA–Organisationen um Aufträge und die Verteilung öffentlicher Entwicklungsgelder an private Unternehmen zur Auftragsdurchführung steht
der eigentlichen Aufgabe gegenüber, einen gerechten Weg zu finden, mit
den Betroffenen über notwendige Maßnahmen zu beraten, gemeinsam
Ziele zu vereinbaren und die Umsetzung zu besprechen.
Die damit angesprochene Verantwortung ist etwas langfristiges,
besonders da sie sich von Armutsforschern/Armutsforscherinnen bis hin
zu politischen Entscheidungsträgern/Entscheidungsträgerinnen und Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen einer Organisation vor Ort ausdehnen kann.
Die Kooperation dieser stakeholder mit verschiedenen Erfahrungshorizonten ist daher ein großes Ziel der Armutsforschung, das auch zur Annäherung an eine ethisch richtige Gangart beiträgt (Multiperspektivität). Es
liegt nahe, dass die ethischen Grundmuster bereits in der Forschung verankert sein müssen, um deren Umsetzung auch zu gewährleisten. In der
zirkulären Abfolge von Armutsforschung, Minderungspraxis und erneuter
Theorienbildung anhand von Feldforschung bedarf es der Freiheit der
90
91
Vgl. McGee, R. und K. Brock (2001), From poverty assessment to policy change: processes, actors, and data. IDS Working Paper 133. Sussex.
Vgl. A. Frohmann, (1991), Para qué estudiar la pobreza? Objetivos y apropriación instrumental de la investigación social sobre pobreza. Santiago.
45
ForscherInnen, dem Informationsmaterial unvoreingenommen und unparteiisch gegenüber aufzutreten.
b. Forschungsschwerpunkte
Prinzipiell stellt sich die Frage nach der Auswahl der Forschungsbereiche.
Damit implizit verbunden ist die Rolle der Betroffenen und die der ForscherInnen; es geht um die Möglichkeiten, Themen auszuwählen. Das ist
eigentlich die Basis dafür, ob Armutsforschung überhaupt Sinn macht
oder nicht.
Die Entstehung von neuen Theorieansätzen ist oft damit verbunden,
dass Forschern/Forscherinnen interessante Ansätze von anderen ForscherInnen übernehmen und in anderen Kontexten weiter hinterfragen.
Die Entstehung von Schwerpunkten passiert oft zufällig und willkürlich.
Es kommt darauf an, in welchen Journals Forschungsergebnisse publiziert
und wie bekannt neue Überlegungen überhaupt werden können. Somit
muss die Forschung mit der Vernetzung mit anderen Einrichtungen einhergehen; Sympathie wird zu einem wesentlichen Faktor.
Die Realität der in Armut lebenden Menschen und die in der Wissenschaft schwerpunktmäßig geförderten Forschungsbereiche müssen inhaltlich nicht immer übereinstimmen: Paradigmen wie ownership und empowerment sind wichtig; ihre tatsächliche Umsetzung scheint dennoch für eine
Bevölkerungsmehrheit nach wie vor zu weit gegriffen, da ihnen die
Grundausstattung zum Überleben fehlt. 92
Bei der Reflexion der Rahmenbedingungen sollten die Auftraggeber
des Projekts im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, welche die unterschiedlichsten Motivationen haben können: Es dominieren Regierungen
im Norden (Verpflichtung gegenüber dem Süden), Privatunternehmen, oft
multinationale Unternehmen (MNCs), Regierungen im Süden (je nach politischem Willen mitunter die besten Ansprechpartner), nichtstaatliche Organisationen (ziehen die Umsetzung der Forschung vor), Forschungsinstitutionen (mit einem den NGOs gegenüber stehenden theoretischen
Schwerpunkt) und natürlich internationale Organisationen (deren Hauptziel es sein soll, Verpflichtungen von allen Ländern für die Umsetzung
92
Auch wenn argumentiert wird, dass durch ownership und empowerment eine langfristige Existenzsicherung geschaffen werden kann, so ist die Verfolgung dieser Ansätze in
Regionen extremer absoluter Armut schwer durchzusetzen.
46
von Entwicklungszielen zu erhalten). Die unterschiedlichen Auftraggeber
haben dabei diverse Auffassungen von den best practices einer Armut erforschenden Tätigkeit, 93 welche die Realität der in Armut lebenden Menschen
oft zu wenig berücksichtigt. In diesen unterschiedlichen Bestrebungen
könnte auch der Grund für schlechte Erfolge und unbefriedigende Resultate so vieler Forschungsprojekte in diesem Bereich liegen. Die Kenntnis
der verschiedenen Rollen der Akteure/Akteurinnen in der Armutsforschung scheint in jedem Fall hilfreich bei der Abschätzung von Handlungsabsichten und Handlungszielen zu sein.
Durch die Vielzahl der Akteure/Akteurinnen kommt es auch vermehrt zum Wettbewerb zwischen den einzelnen Gruppen, was eine Umorientierung in den Schwerpunkten der Arbeit und der ideologischen Ausrichtung der Einrichtungen zur Folge haben kann, denn gerade in diesem
Forschungsbereich ist der Kampf um Finanzierung ein alltäglicher. Es hat
sozusagen der Einzug der Wirtschaft in das Feld der Armutsforschung dafür gesorgt, dass man sich nicht nur der Hilfe für die Armen, sondern
auch der Befriedigung der Auftrag– und Geldgeber verpflichten muss
bzw. sich auf Nischenmärkte zu beschränken hat. Ob nun diese Auftraggeber die Förderung von Forschungsvorhaben nach ethischen Grundsätzen ausgewählt haben, kann dabei entscheidend für den Erfolg der Projekte sein.
Die Definition der Armutsursachen und die Problemidentifizierung in
den verschiedenen lokalen Umwelten erfolgt mitunter also oft von außen.
Freiring betont etwa die fehlende Selbstbestimmung indigener Gruppen in
Lateinamerika und die daraus resultierenden Spannungsfelder:
„[…] in most cases there is no disaggregated data to provide an exact description of indigenous peoples’ poverty [as] indigenous peoples generally reject external attempts at defining them. [Often] systematic marginalization of indigenous
peoples in both colonial and republican history [was the case] […]. Identity is
a highly politicized issue. For some indigenous peoples, institutionalized racism
has resulted in low self–esteem and a rejection of indigenous identity, language
and names. Some states are reluctant to acknowledge the existence of indigenous
peoples, as this has implications for the allocation of collective rights […]”94
93
94
Vgl. Bammer, A. und T. Böhler (2004).
Freiring, B. (2003), Indigenous Peoples and Poverty: The Cases of Bolivia, Guatemala,
Honduras and Nicaragua, http://www.minorityrights.org am 12.12.03, 2–3.
47
Im Versuch, Schwerpunkte nach den tatsächlichen Bedürfnissen der betroffenen Menschen auszurichten, spielen Nichtregierungsorganisationen
(NGOs) eine große Rolle, um die Dominanz von Regierungseinrichtungen und politisch einflussreichen Gruppen (und dazu zählen arme Menschen selten!) auszugleichen. Gerade auch der Wissenschaft als „dritte
Kraft“ (neben Staat und Wirtschaft) kommt hier eine besondere Verantwortung zu.
c. Datenmaterial
Entscheidend für die empirische Armutsforschung ist allemal die Qualität
des Datenmaterials. Es ist dabei wichtig, die Wirklichkeit, die Erfahrungen
und Wahrnehmungen der armen Menschen, und auch die relevanten
strukturellen Faktoren und die Interaktionen von Armen mit formellen
und informellen Institutionen der Gesellschaft zu verstehen. Es ist wichtig, nicht nur kalte Daten (von Fakten, Abbildungen und Statistiken), sondern auch – im Sinne eines Überlegungsgleichgewichts – die warmen Informationen persönlicher Begegnungen in Betracht zu ziehen. Armutsforschung soll einen Ausgleich zwischen Wissen durch Beschreibung und Wissen
durch Begegnungen, zwischen Analyse und Phänomenologie, zwischen Armutsmodellen und der Erfahrung über die Realität armer Menschen schaffen. In diesem
Zusammenhang entspricht Feldforschung – obwohl auch dieser Spezialbereich mit einigen ethischen Schwierigkeiten verbunden ist 95 – dem Versuch, sich dem Untersuchungsfeld zu nähern und die Probleme der Menschen vor Ort kennen zu lernen. Gerade was persönliche Begegnungen
betrifft, so bedarf es einigen Abstraktionsvermögens der ForscherInnen,
um einerseits von subjektiven und emotionalen Impressionen zu abstrahieren und um andererseits zu erkennen, dass die eigene Rolle als BeobachterIn und ForscherIn die Umwelt der Betroffenen für die Zeit der eigenen Anwesenheit mitunter nachhaltig verändert.
Das Datenmaterial selbst unterliegt einer Vielzahl subjektiver Auswertungen, die – bis sie in eine wissenschaftliche Debatte einfließen – einer
Vielzahl von Veränderungen – bewusst oder unbewusst – unterzogen
werden. Dazu zählen schon die Art der Fragestellung bei Interviews, die
Art der Aufzeichnung und die Betrachtung verschiedener Aspekte bei
95
Dazu mehr unter Pkt. IV.2.
48
teilnehmender Beobachtung. Das Untersuchungsinteresse wird dabei immer von persönlichen, aber auch organisationellen Interessen96 geleitet.
Auch die Art der Verschriftlichung von Ergebnissen, die Wortwahl, die
Schwerpunktsetzung und die Vernachlässigung einzelner Erkenntnisse,
die etwa nicht zum erwarteten Resultat passen oder zu komplex zu fassen
sind, spielen eine große Rolle. Erfahrung ist in der Armutsforschung –
etwa im Lesen von Forschungsberichten – deswegen so wichtig, weil bekannte und wichtige, aber manchmal nicht angesprochene Konfliktlinien,
eine Lenkung der Argumentation in eine bestimmte Richtung bedeuten
können. Ausgewogene Standpunkte und multiperspektivische Betrachtungen wären für eine ausgewogene Darstellung von Armutsschwerpunkten
eine Grundlage.
Ein wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit der Sammlung von Datenmaterial ist damit auch die (Un)Sichtbarkeit von Armut bzw. die versteckte Armut: Amartya Sen hat davon gesprochen, dass arme Menschen
sich ihrer Situation schämen, nicht gesehen werden wollen. Oft werden
die Ärmsten auch aus Angst oder aufgrund bestimmter Strukturen versteckt. Beim Besuch von ländlichen Gebieten werden die ärmsten (also die
unterernährtesten, kränksten, behinderten, leisesten und ungebildetsten
Menschen) nicht gesehen; das ganze Ausmaß der Armut – und damit auch
die Lebenssituation der beobachteten Menschengruppe – sind also nie
ganz sichtbar. Manchmal befassen wir uns mit Menschen, die frei über ihr
Leben und die Wurzeln ihrer Armut reden wollen oder können. Diese
Aussagen sind selektiv und für die Erarbeitung von Strategien deswegen
nicht empfehlenswert, da sie nur einen kleinen Teil der Armen repräsentieren. Auch das sind Eigenheiten der Armutsforschung. Ist der Untersuchungsrahmen ein Dorf oder eine Nachbarschaft, so kann es insofern zu
Schwierigkeiten kommen als die Ärmsten oft von der Gemeinschaft ausgeschlossen sind, weshalb sie auch nicht in der öffentlichen Diskussion vertreten sind.97
96
97
In diesem Zusammenhang ist der Begriff des (organisational) commitment wichtig: In der
Armutsforschung sind viele ForscherInnen aufgrund persönlicher Überzeugungen und
eines speziellen Engagements tätig, welches aber mit der Zeit oft von den Zielen der
Organisation, für die sie arbeiten – wenn diese nicht ihren persönlichen entsprechen –,
beeinflusst wird.
Vgl. Gujit, I. und M. Shah (1998), The myth of community: gender issues in participatory development. London.
49
d. Zugang zur Armut
Wir müssen das Problem von innen sehen. Es ist etwas ganz anderes, Armut von außen oder von innen zu betrachten. 98 Pierre Bourdieu und sein
Forschungsteam haben in einer berühmt gewordenen Studie versucht,
diese Kluft zu durchbrechen, indem sie eine große Anzahl von Aussagen
armer Menschen gesammelt haben. Was sind die großen Probleme in ihrem Leben? Wie erleben sie ihr eigenes Leben? Wie sehen sie die Strukturen der Gesellschaft?99 Wichtig in der Armutsforschung ist auch der
Unterschied zwischen einem Ansatz des Erfordernisses und einem Ansatz
des Wünschens, zwischen dem, was ForscherInnen denken, dass arme Menschen benötigen und dem, was sie wirklich wollen. Aus diesem Grund
muss man die Stimmen der Armen inkludieren. Die Weltbank hat mit Voices of the Poor einen ersten großen Beitrag in diese Richtung geliefert. 100
Der englische Historiker und Politikwissenschafter Robert Chambers
hat in Rural Development 101 die Distanz zwischen von Armut betroffenen
Menschen und Armutsforschern/Armutsforscherinnen ausführlich thematisiert: Unter dem Outsider versteht Chambers die ArmutsforscherInnen, die zur Feldforschung in Entwicklungsländer fahren und zumeist urbane Intellektuelle mit hoher Lebenserwartung und Bildung sind. Chambers betont, dass nur ein sehr kleiner Teil dieser, unserer Klasse, den Weg
gewählt hat, Handlungen zu setzen, welche ihre eigenen Privilegien zurücksetzen und den Armen konkret helfen. Nach Chambers haben dies
viele nicht getan, weil es zwischen den Insiders und Outsiders eine große
Distanz gibt. Die Outsider haben zudem die freie Wahl, Dinge zu tun oder
Diese grundlegende erkenntnistheoretische Herausforderung wurde von Thomas Nagel
bereits angesprochen: Nagel stellte die Frage, wie es denn wäre, eine Fledermaus zu
sein. Wir können uns, zum einen, vorstellen, wie es sich für uns anfühlen würde, mit
Sensoren ausgestattet herumzufliegen, aber wir können nicht und werden uns nie vorstellen können, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein, in: Philosophical
Review 83 (1974) 435–450; T. Nagel (1986), The View from Nowhere. New York. Für
den Bereich der Armutsforschung bedeutet dies, dass man zwischen einer Innen– und
einer Außensicht von Armut unterschieden muss. Aus diesem Grund tut sich die Disziplin auch so schwer, die Ansichten und Stimmen armer Menschen in ihre Arbeit einzubauen; vgl. dazu die Weltbank–Studien “Can Anyone Hear us” und “From many
Countries”.
99 Vgl. Bourdieu, P. (1993), La misère du monde. Paris.
100 Vgl. http://www.worldbank.org/poverty/voices/index.htm am 15.1.04.
101 Chambers, R. (1987), Rural Development. Putting the Last First. New York. Kapitel 1.
98
50
nicht zu tun, begleitet von entsprechenden Einstellungen und Überzeugungssystemen. Für diesen Kontakt muss man die Kern–Peripherie–Unterschiede betrachten; es ist eine große Ignoranz gegenüber erforschbaren
physikalischen und sozialen Aspekten ländlichen Lebens festzustellen. Eine
Ursache für die derzeitige Verteilung ist unter anderem die professionelle
Konditionierung, welche Vorurteile gegenüber der Wahrnehmung von
ländlicher Entwicklung ausgelöst hat und die Kern–Themen immer noch
weiter bevorzugen wird (beginnt bei Schulbüchern, Journals, Medien).
Chambers hat darüber hinaus Vorurteile identifiziert, welche die
städtischen Intellektuellen von den schlecht ausgebildeten Menschen am
Land trennen:102 Das Straßenvorurteil (der Experte kann nur das sehen, was
über Strassen zugänglich ist), das Jahreszeitenvorurteil (der Experte hat oft
nur in der Trockenzeit Zugang zu entlegenen Gebieten), das Projektvorurteil
(er nimmt vieles selektiv bezogen auf das aktuelle Projekt wahr), das Berichtvorurteil (er sieht Dinge aus der Perspektive desjenigen, der Berichte
schreibt) und das Stadtvorurteil (der Experte ist aufgrund seiner städtischen
Herkunft von den Betroffenen getrennt) sowie das Bildungsvorurteil (er ist
durch seine Ausbildung von ihnen getrennt). Diese Vorurteile spielen eine
wichtige Rolle in der Armutsforschung aufgrund der Kluft zwischen den
(wohl gestellten) Forschern und den armen Menschen, die allzu oft zu Untersuchungsobjekten gemacht werden.
e. Kategorien und Unterscheidungen
Bei der Erarbeitung von Kategorien und Unterscheidungen spielt die
Frage, wer (der Outsider?) fähig (und befähigt!) ist, verschiedene Klassifizierungen zu entwickeln, eine große Rolle. Die verschiedenen Kategorien
und die terminologischen Eigenheiten haben sich historisch durch unterschiedliche Debatten in der Armutsforschung herausgebildet. So gibt es
etwa einen legalistischen Diskurs, der Armut danach unterscheidet, ob die
Betroffenen ihre Ansprüche geltend machen können (bekämpfte vs. versteckte Armut).103 Im ökonomischen Diskurs werden hauptsächlich die Be102
103
Chambers, R. (1987), Kapitel 3.
Vgl. Hauser, R. und U. Neumann (1992), Armut in der Bundesrepublik Deutschland.
Die sozialwissenschaftliche Thematisierung nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Leibfried,
S. und W. Voges (Hrsg.), 237–71. Auch die folgenden Diskurse werden bei Leibfried/
Voges erwähnt.
51
rechnung von Grenznutzen und der Antrieb zur Maximierung persönlichen Einkommens in den Mittelpunkt gestellt. Armut wird als Scheitern
von einkommensbezogenen Arbeitsanreizen und als Unvollkommenheiten des Marktes wie der Mangel an Information und Mobilität diskutiert.
Werte, Gefühle und Macht sind dabei schwer zu quantifizieren, weshalb
sie ignoriert werden. Ein skandinavischer Beitrag ist der Diskurs „eines
egalitären Durchschnitts“, welcher auf das Konzept der Gleichheit eingeht
und sich auf den direkten Lebensstandard des Durchschnittsbürgers bezieht. 104 Es wird die Existenz von Armut bestritten, der Begriff Armut
nicht verwendet. Beim behaviouristischen Armutsdiskurs, wo Einkommensniveaus ausgeblendet werden, gehen Lösungsansätze in Richtung
Verhaltensanpassung 105 und bei der – hauptsächlich in der EU – verbreiteten Diskussion von “sozialer Exklusion“,106 wo (passiv) ausgeschlossene
Menschen untersucht (und teilweise verharmlost) werden, sind diejenigen,
die den Ausschluss (aktiv) in Gang setzen, nicht berücksichtigt.
Dass in jeder dieser Debatten mit ganz anderen Kategorien und Unterscheidungen gearbeitet wird, ist also durchaus mit einer politischen Absicht der einzelnen ForscherInnengruppen zu verbinden. Die jeweilige
Motivation ist also in der Analyse oder gar in der Weiterführung dieser
Debatten unbedingt mitzudenken.
Es sind aber nicht nur politische Verpflichtungen, sondern auch persönliche Vorlieben, individuelle Urteile und Schwerpunkte, die hier einfließen. Mit dem Gebrauch einer bestimmten Sprache (inklusive spezifischer Kategorien) wird ein subjektives Bild von Armut gezeichnet, das
nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen muss.
Ethisch betrachtet ist die objektive Wahrheit von gerade gängigen Kategorien und Unterscheidungen, deren sich die Forschergemeinde bedient,
Z.B. Ringen, S. (1988), Direct and Indirect Measures of Poverty, in: Journal of Social Policy, 17/3, 351–365.
105 Vgl. Himmelfarb, G. (1984), The Idea of Poverty. London.
106 Vgl. Paugam, S. (1993), Société Française et Ses Pauvres: l’expérience du revenu
minimum d’insertion. Paris; Ray, J.–C. (1993), An Introductory Note on Measuring the
Adequacy of Social Security. in: Berghman, J. and B. Cantillon (Hrsg.): The European
Face of Social Security, Avebury, 94–108; Byrne, D. (1999), Social Exclusion, Philadelphia, 10: „Arguing that post–industrial capitalism and its related social politics is converging around
a norm of structural social exclusion and labour market flexibility, [Byrne] argues that this is driven
by ideology and the subordination of social policies to an anticipation of business interests, as if such interests were simply separate from the process of social reproduction.”
104
52
mitunter durch ihre Subjektivität zu bezweifeln. Die Umkehr des Lernprozesses im Rahmen einer Forschungsarbeit in Richtung „Lernen von
den Armen“ und die Überlegung, das Leben der Betroffenen in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen, 107 ist ein neues Paradigma, das – auch
wenn es selbst ideologisch und politisch ist – zum Ausgleich der früher oft
einseitigen Positionen in der Armutsforschung beitragen kann.
Das ethische Dilemma bestand also lange darin, dass der Ausgangspunkt der Kategorien nicht bei den Betroffenen, sondern häufig bereits
bei der Interpretation von Erlebtem oder Gesehenem durch die Forschergemeinschaft lag. Dazu kommt heute, dass die Multidimensionalität und
somit auch die Interdisziplinarität der Armutsforschung ein so weitläufiges
Spektrum an Kategorien und Unterscheidungen produzieren, dass der
Weg hin zu einer Definition bzw. zumindest zur näheren Bestimmung des
Themenbereichs Armutsforschung und der damit verbundenen Definitionsprobleme immer verzweigter wird.
f. Definition von Armut
Die große Fülle an Forschungsergebnissen wird von einem weiteren Aspekt begleitet, der Definitionsversuche verkompliziert: Politische Standards, Expertenstandards, ethische Standards (religiöse und sozialphilosophische Expertenstandards) und wissenschaftliche Standards legen fest,
wer für die Definition von Mindesteinkommen etwa auf nationaler Ebene
verantwortlich ist.108 Man kann sagen, dass diese Entscheidungspositionen
nach vorausgehender Erfahrung verlangen. Ob diese allerdings im Bereich
der Armutsforschung oder eher im politischen Wettbewerb für einflussreiche Positionen liegen, ist nicht immer klar. Als EntscheidungsträgerIn
ist die Wahrscheinlichkeit, mit armen Menschen in ständigem Kontakt zu
stehen und deren wichtige Anliegen und konkrete Probleme im Alltag zu
kennen, gering. Deshalb sind Mindeststandards oft durch die unterschiedlichsten Konzepte, Definitionen und Messungen 109 bestimmt, was die
Vielzahl der Ansätze erklärt, und deren Anwendung oft als zufällig erChambers, R.(1987), 207f.
Hauser, R. (2001), Armutsberichterstattung, Vortrag beim ZUMA–Workshop über Armuts– und Reichtumsberichterstattung, Mannheim, 8.–9. 11. 2001. Berlin, 8.
109 Veit–Wilson, J. (1998), Existentielle Mindestsicherung, in: Voges, W. und Y. Kazepov
(Hrsg.), 38.
107
108
53
scheinen lässt. Die Auswahl eines Ansatzes scheint von gewissen Grundannahmen abzuhängen, welche selbst selten hinterfragt werden (siehe
dazu auch die angesprochenen ethischen Dilemmata in II.3): 110
(i) Die jeweils verwendete Definition steht im Spannungsfeld zwischen
Realitätsnähe und subjektiver Konstruktion;
(ii) Armutsdefinitionen scheinen von Trends abhängig zu sein, die einem
Paradigma folgen, um populär zu werden;
(iii) Machtstrukturen in der Armutsforschung lassen nur bestimmte
Armutsdefinitionen bekannt werden;
(iv) Die Multidimensionalität des Begriffs macht eine prägnante Definition schwierig; wichtige Aspekte werden ausgeklammert. Die Nichterwähnung impliziert dabei die vermeintliche Unwichtigkeit. Wie kann
die Definition dem Vollständigkeitsprinzip genügen,
(v) noch dazu, wenn durch die Vielschichtigkeit die gegenseitige
Inkompatibilität entsteht? Auch wenn eine einheitliche Definition
problematisch ist, scheint nur ein interdisziplinärer, multiperspektivischer und vor allem die Aussagen Betroffener integrierender Ansatz
Zukunft zu haben.
Die in II.3 dargestellten Definitionen von Armut sind ein Versuch, Armut
zu fassen. Sie wird sie als „strukturelle Ausgrenzung“ durch „ungerechte
Verteilung“ sehr allgemein aus einer Sicht von oben betrachtet. Als „Situation der Schwäche, Abhängigkeit oder der Erniedrigung“ wird das Leidensmoment betont; eine individuelle Ansicht wird angenommen. Beide
Definitionen scheinen sinnvoll, täuschen aber mitunter darüber hinweg,
dass die Wortwahl in diesen Definitionen subjektiv ist, der Definitionssatz
von Outsiders erstellt wurde und ohne konkrete Beispiele warme Informationen (siehe IV.1.c. Datenmaterial) vorne weg lässt. Bei Berücksichtigung
dieser Aspekte und bei der Betrachtung der Definitionsversuche als Schritte
in Richtung einer universalen Armutsdefinition, die aufgrund der steigenden
Komplexität des Phänomens vielleicht gar nie erreicht wird, kann diese
Unternehmung jedoch mehr Gutes als Schaden anrichten und sollte daher
unter diesen Rücksichten weiterverfolgt werden.
110
Der Beitrag von Andreß und Lipsmeier bestreitet sogar die Möglichkeit eines wissenschaftlichen Zugangs zu Armut. Vgl. Andreß, H.–J. und G. Lipsmeier (1995), Was
gehört zum notwendigen Lebensstandard und wer kann ihn sich leisten? in: Aus Politik
und Zeitgeschichte. Das Parlament, Beilage B31–32/1995, 35–49.
54
g. Armutsmessung
Eine große Herausforderung in der Armutsforschung ist die Bewertung
von Armut. Wie kann man Armut bewerten und beurteilen, ohne dabei
die Armen zu instrumentalisieren? 111 Wie kann Armut bewertet werden,
ohne dabei die Komplexität des Phänomens außer Acht zu lassen? Wiederum gibt es hier harte und weiche Faktoren. Wir können die subjektive
Dimension von Armut nicht „messen“. Andererseits können wir Veränderungen ohne gründliche Daten herbeiführen. Armutsforschung muss
daher auch die Grenzen quantitativer Ansätze erkennen. Wenn man die
Tyrannei der Quantifizierung in Schach hält, so hat man mehr Zeit, um
Verhältnisse und Prozesse zu verstehen. 112 Daten können zudem auch
verdunkelnd wirken, etwa bei den unbezahlten wirtschaftlichen Beiträgen
von Frauen zum Familieneinkommen,113 beim Einfluss wirtschaftlicher
Umstrukturierung auf die Verteilung und Intensität von Frauenarbeit 114
und bei den verschiedenen Arten wie Männer und Frauen unterschiedlich
auf soziale Sicherungssysteme reagieren. 115 Es ist also ein Gleichgewicht
zwischen harten und weichen Faktoren wichtig; eine der großen Schwierigkeiten in der Armutsforschung.
Obwohl die Methodik der Armutsmessung der Ökonomie entspringt
und somit die Festlegung etwa von Armutsgrenzen wissenschaftlich gesichert ist, darf dies nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass deren
Umsetzung (also in der Praxis der Armutsminderung) – konkret etwa wo
die Armutsgrenzen in der EU liegen – politisch impliziert ist.116
Vgl. Weltbank Poverty Group (1999), Consultations with the Poor: Methodology
Guide for the 20 country study for the World Development Report 2000/01. Washington D. C.
112 Vgl. Chambers, R. (1987), 200.
113 Vgl. Tripp, A. M. (1992), The Impact of Crisis and Economic Reform on Women in
Urban Tanzania, in: Beneria, L. und S. Feldman (Hrsg.), Unequal Burden: Economic
Crises, Persistent Poverty, and Women’s Work. Boulder.
114 Vgl. Floro, M. S. (1995), Economic Restructuring, Gender and the Allocation of Time.
World Development Vol. 23, 1931–39.
115 Vgl. Jackson, C. (1996), Rescuing Gender from the Poverty Trap, in: World Development
Vol. 23, 489–504.
116 Vgl. Atkinson, A. B. (1998), Poverty in Europe. London, 112f.
111
55
h. Erkenntnistheoretische Probleme
Armutsforschung steht auch großen erkenntnistheoretischen Überlegungen gegenüber: (i) Zunächst gibt es das Problem der fragmentierten Eigenschaften des Untersuchungsmaterials: „Armut als solche“ kann nicht
beobachtet werden, wir sehen nur ihre Auswirkungen, (ii) das Problem der
Vielfalt des Materials und der Quellen: alle Ebenen menschlichen Lebens
können für Armutsforschung relevant sein, denn nicht nur infrastrukturelle und wirtschaftliche, sondern auch psychologische und soziale Faktoren können Ansatzpunkte liefern; (iii) das Problem der Perspektive: die
„soziale Welt“ kann weder distanziert noch objektiv untersucht werden.
Der Forscher/die Forscherin ist Teil der Wirklichkeit, die er oder sie untersucht. Dieses Problem kann auch das „Problem erkenntnistheoretischer
Neutralität“ genannt werden: Wie kann die/der ForscherIn neutral sein?
Ist es möglich bei Armut unparteiisch zu bleiben? Darüber hinaus übernimmt die/der ForscherIn mit Betreten des Feldes eine bestimmte Rolle.
Er oder sie steigt in ein Netzwerk von Verbindungen, spielt Rollen, weckt
Erwartungen und verändert die soziale Struktur des Feldes. Der Ethnograph/die Ethnographin arbeitet als „dritte Person“ im Feld.117 In diesen
Problemen findet man auch eine ethische Dimension.
i. Fazit
Die Schwierigkeiten in der Armutsforschung entsprechen oft einem dafür
charakteristischen Dilemma:118 Es gibt das Dilemma zwischen Forschung
und Umsetzung, zwischen der Insidersicht und der Outsidersicht, zwischen qualitativer und quantitativer Forschung, zwischen gründlicher Forschung und
schnellen Ergebnissen zwischen unterschiedlichen Sichtweisen und klaren Urteilen.
Diese Spannbreite ist durch politische und wirtschaftliche Einflüsse entstanden; in dieser Landschaft muss sich jede/r ForscherIn einen Standpunkt suchen, von wo aus sie/er Armutsforschung mit gutem Gewissen
betreiben kann. Zu dieser Standortbestimmung sollen die hier angesprochenen ethischen Anliegen, welche mit Armutsforschung verbunden sind,
117
118
Vgl. Hastrup, K. (1995), A Passage to Anthropology. London, 51.
Vgl. Abbot, D. (1998), Dilemmas of researching poverty, in: Thomas, A., Chataway, J.
und M. Wuyts (Hrsg.), Finding out fast: investigative skills for policy and development.
London.
56
dienen. Kritische Armutsforschung hat – insbesondere in Zusammenarbeit mit Kulturanthropologie und Philosophie – noch viel Arbeit vor sich,
auf dem Weg zu einer Disziplin, die das Prinzip der „Einbeziehung von
Betroffenen“ mit ihrem lokalen Wissen ernst nimmt.
2. Feldforschung
Armutsforschung wird traditionell als eine Forschungsart verstanden, die
nicht alleine durch akademische Neugier forciert bzw. durch intellektuelle
Interessen vorangetrieben wird. Armutsforschung wird mitunter auch von
den betroffenen Armen als ein Versuch zur Veränderung der momentanen Bedingungen angesehen; insbesondere wenn ForscherInnen lokal versuchen – durch teilnehmende Beobachtung, Interviews etc. – Informationen zu den Armutsursachen oder bestimmten Zusammenhängen zu finden.
Führen ForscherInnen empirische Studien durch, so sind oft mehrere
Aspekte für die Wahl des Untersuchungsraumes verantwortlich: persönliche Interessen, der erwartete Erfolg der Feldstudie, Ängste und Zweifel
über die Durchführbarkeit der Studie, Bedenken bezüglich der Akzeptanz
der Ergebnisse in der scientific community etc. Während des gesamten Forschungsablaufs wirken diese Sorgen beeinflussend auf die Arbeit, etwa
was die Wahl der Methode betrifft.
Speziell für die Armutsforschung argumentiert Neubert, dass es wichtig ist a) eine Vielzahl von Realitäten als Basis der Ergebnisse zu akzeptieren, b) die Subjektivität der Studie, ihre geringe Validität und damit den
Bedarf nach gründlicher Legitimierung der Arbeit zu bedenken, c) den geringen Grad an Generalisierbarkeit anzuerkennen und d) die Gefahr des
going native (Identifikation der Forscherin/des Forschers mit der betroffenen Gruppe) zu beachten. 119
Die geringe wissenschaftliche Bedeutung einer einzelnen empirischen
Feldstudie kann nur durch die Wiederholung der gleichen Untersuchung
in verschiedenen Kontexten, zu verschiedenen Zeiträumen etc. gesteigert
werden.
Somit ist der Bedarf nach Feldforschung an sich sehr hoch; die damit
verbundenen Schwierigkeiten sind jedoch vielseitig: Man kann zum Bei119
Neubert, S. (2001), Methodische Orientierung für kurze und praxisnahe Forschungsprojekte in Entwicklungsländern. Ein Leitfaden für Länderarbeitsgruppen und Gutachter, in: DIE (Deutsches Institut für Entwicklungspolitik), 14.
57
spiel nicht in ein Dorf gehen, eine teilnehmende, ländliche Bewertung
durchführen und das Gebiet mit leeren Versprechen oder ohne jegliche
Zugeständnisse wieder verlassen. Teilnehmende Forschung unterstellt,
dass der Forschungsprozess die TeilnehmerInnen stärkt und zu weiteren
Handlungen führt. Daher müssen ArmutsforscherInnen, welche teilnehmende Methoden verwenden, bestimmte ethische Regeln beachten.
In der Feldforschung können mindestens sechs ethisch relevante Aspekte angeführt werden:
(i) ForscherInnen, InterviewerInnen und StatistikerInnen können
soziale Verbindungen (welche arme Menschen arm bleiben ließen) aufrecht erhalten, indem sie sie nicht als sozial gleichwertig behandeln, sich
nicht für die örtlichen Verhältnisse und ihre lokale Kultur, sondern nur für
„Ergebnisse auf dem Papier“ interessieren. Diese Ignoranz ist verbunden
mit der Sicherung von Vorteilen für die Eliten, inklusive der ArmutsforscherInnen;
(ii) Forschung kann aufdringlich sein und manchmal Konflikte innerhalb von Familien oder auf größerer Ebene auslösen. Die Durchführung
von Interviews und das Beobachtet–Werden kann zur Thematisierung
von Problemfeldern und damit zum Ausbruch von Konflikten in sozialen
Gruppen führen;
(iii) (Teilnehmende) Forschung benötigt die Zeit der armen Menschen
– was eine sehr mangelnde Ressource in „Spitzenzeiten”, wie etwa während der Ernte oder der Markt– und Handelstage, oder für mehrfach belastete Frauen ist;
(iv) das Ziel der Forschung ist es, Umsetzungsvorschläge zu liefern –
ein öffentliches Gut für alle armen Menschen. Aber der Aufwand dafür
entspricht privater Zeit, der vergütet werden muss. Somit entsteht eine
Dilemmasituation, die Kompromisse zwischen den Betroffenen und den
Akteuren/Akteurinnen in der Forschung bedarf;
(v) Die/der ForscherIn wird mit ziemlicher Sicherheit durch ihre
oder seine eigenen Forschungsaktivitäten belohnt (mittels Geld, Status
oder Bildung). Aber was haben die Männer und Frauen in Armut von deren Fragen? Eine Reflexion über Armutsforschung ist mit derartigen ethischen Fragen konfrontiert. Im Idealfall wären ernst gemeinte, langfristige
Verpflichtungen gegenüber denjenigen Menschen, welche ihre Zeit und
58
Information den Forschern/Forscherinnen widmen,120 mit jeder Art von
Feldforschung verknüpft;
(vi) Zusätzlich darf man einen ideologischen Betrachtungspunkt nicht
außer Acht lassen: Neil Gilbert nennt den Advocacy Research einen Grund
für die Entstehung von Ideologien: 121 Allgemein gesprochen ist die Entstehung von Ideologien in der Feldforschung festzustellen; häufig sind
Forschungsberichte bereits politisch gefärbt und von einer bestimmten
Denkweise in Richtung Armutsminderungsansatz vorbestimmt. Dabei
kann die Feldforschung am besten das Weltbild der politisch vorherrschenden Klasse in einem Land übernehmen und die Strategieentwicklung
nach deren Kernkriterien ausrichten, weshalb man in manchen Fällen sogar von einer „strukturellen Ideologie“ sprechen könnte.
In einem Bericht über die Sichtweise indigener Völker in vier
lateinamerikanischen Ländern durch Hilfseinrichtungen und den daraus
abgeleiteten Strategien lässt sich ein Ideologieverdacht oft schon in der
Formulierung von Forschungsfragen feststellen: 122 Feiring stellt etwa fest,
dass indigene Gruppen von der politischen Elite – genauso wie später in
den Forschungsberichten – als Minderheit bezeichnet werden, obwohl sie
in den meisten dieser vier Länder die Bevölkerungsmehrheit stellen. Zudem würden falsche Armutsindikatoren für Verteilungsberechnungen herangezogen, welche nicht an die Kultur und Lebensform der betroffenen
Menschen angepasst sind.123 Außerdem werden Regierungs–, Justiz– und
Demokratiemodelle, welche von den indigenen Gruppen traditionell favorisiert werden, als unfortschrittlich abgetan. Die fehlende Teilnahme der
indigenen Völker bei der Strategieerarbeitung ist von Rassismus, fehlender
Vgl. Narayan, D. (1999), Can Anyone Hear Us? World Bank: Poverty Group, PREM,
23–25.
121 Vgl. Jamrozik, A. und L. Nocella (1998), The Sociology of Social Problems. Cambridge, 68.
122 Vgl. Feiring, B. (2003), Indigenous Peoples and Poverty: The Cases of Bolivia, Guatemala, Honduras and Nicaragua. London.
123 „The Poverty Map operates with two categories, rural and urban, and concludes that of
the approximately 8.2 million Bolivians, 62.4 per cent are ‘urban’ and 37.6 per cent are
‘rural’. The concept of indigenous peoples is not included in the census, therefore there
is no way of directly correlating poverty and indigenous peoples, but there is an implicit
understanding that ‘rural’ is generally synonymous with ‘indigenous’. This
categorization ignores migration patterns – many indigenous peoples work in the city
but maintain relationships with their community and the cultivated land of their family.
Further, it builds on the discriminatory concept of a static indigenous identity.”
(Feiring, B. [2003],7).
120
59
Kultursensibilität und mangelhaftem Interesse geprägt, was dazu führt,
dass die eigentlichen Experten im Prozess der Ursachenforschung und
Minderungsmustererstellung langfristig ausgeklammert bleiben.
Schließlich bleibt festzuhalten, dass „westliche“ Armutsforschung unethische – weil Abhängigkeit schaffende – Praktiken in der Feldforschung
zu wenig aufdeckt. Unter dem Deckmantel der Armutsbekämpfung werden
Langzeitfolgen (etwa bei der Einführung von genmanipuliertem Saatgut)
oder scheinbare Nebeneffekte (Bildungs– und Gesundheitsabbau durch
Strukturanpassung in vielen Entwicklungsländern) zu wenig betont und untersucht.
3. Entwicklungszusammenarbeit (EZA)
a. Die Dominanz des Westens in der EZA
„In der Frühphase der Entwicklungshilfe bestand die Hoffnung, die ehemaligen Kolonialgebiete auf einen Produktivitäts– und Lebensstandard
bringen zu können, der sich demjenigen der Industrieländer annähern
sollte. Dieses Ziel verband sich mit der Erwartung, Entwicklungshilfe ermögliche (ähnlich wie der Marshallplan zum Wiederaufbau Europas nach
dem Zweiten Weltkrieg) die Bildung neuer Märkte und führe damit zu
Wirtschaftswachstum und zu einem höheren Lebensstandard für alle,
auch die Gebenden.“124
Der mit der Entkolonialisierung verbundene Einflussverlust der Industrieländer in den heutigen Entwicklungsländern steht also möglicherweise mit der Art der heutigen Entwicklungszusammenarbeit in einer Beziehung.
Gerade in der Entstehungszeit der Nord–Süd–Hilfe weist die Dominanz des Nordens im System internationaler Organisationen auf dessen
großes Interesse, Einfluss auf Entwicklungsländer auszuüben, hin. Zwar
wurde 1964 auf Initiative der Entwicklungsländer (Gruppe 77) die United
Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) als Spätgeburt der
1947 gescheiterten International Trade Organisation (ITO) gegründet: „Beobachter sahen in der UNCTAD Ende der 70er–Jahre das ‚wichtigste Forum
des Kampfes der Entwicklungsländer um eine ‚neue Weltwirtschaftsordnung’, deren Ziel eine partnerschaftliche Beziehung zwischen den Län124
Kesselring, T. (2003), 204f.
60
dern des Südens und des Nordens war.’“125 Aber durch die Gründung der
WTO 1995 und die Publikation des kritischen Least Developed Countries Reports (insbesondere der von 1999, welcher unfaire Handelsbedingungen
dafür verantwortlich macht, dass Entwicklungsländer täglich Exporterlöse
in der Höhe von 1,9 Mrd. US–$ verlieren), 126 stößt UNCTAD zusehends
auf Kritik (insbesondere der USA), was die Zukunft der Organisation zu
gefährden scheint.
In vielen anderen internationalen Organisationen ist das Mitspracherecht und die Stimmverteilung noch stärker zum Nachteil der Entwicklungsländer ausgerichtet, sodass die internationale Politik kein Erfolg versprechendes Podium für gleichberechtigte Verhandlungen darzustellen
scheint. Beispiele, wie internationale Organisationen die Abhängigkeit von
Entwicklungsländern ausgenutzt haben, gibt es genug.127 Dass die öffentliche Entwicklungshilfe (ODA, Official Development Assitance) anteilsmäßig
ständig sinkt und nur in wenigen Fällen die angepeilten 0,7% des BIP erreicht, spricht auch nicht dafür.
Neben dieser öffentlichen Entwicklungshilfe gibt es zahlreiche Akteure/Akteurinnen im Bereich der privaten EZA (kirchliche Einrichtungen, private Gruppen, Nichtregierungs–Organisationen [NGOs]), welche
versuchen diesem Trend des Vergessens entgegenzuwirken. Aber nicht
alle Gruppen, die eine private EZA aufbauen, arbeiten unbedingt selbstlos
und zum Zweck der Armutsminderung. Kesselring weist auf einige Gruppen von Akteuren/Akteurinnen hin, die man nicht in erster Linie mit
„Entwicklungshilfe“ assoziiert: „(1) Islamische Länder (Saudiarabien, Iran,
Pakistan und die Türkei) beteiligen sich seit dem Zusammenbruch der
siebzigjährigen Sowjetherrschaft aktiv an der Wiederbelebung des Islam in
Zentralasien, wirken bei Instandsetzung und Wiederaufbau von Moscheen
Felber, C. (2003), Die Nebenrolle der UNCTAD, in: ATTAC (Hrsg.), Die geheimen
Spielregeln des Welthandels. Wien, 19.
126 Vgl. Felber, C. (2003), 20.
127 Vgl. Joseph Stiglitz’ Kritik am Internationalen Währungsfond (IMF) im Zusammenhang
mit falschen policy–Empfehlungen, die nachweislich in anderen Ländern ebenfalls nicht
funktioniert haben (http://www.nobel.se/economics/laureates /2001/stiglitz–autobio.html
am 7.1.04; Zwangsforderung der Weltbank nach Poverty Reduction Strategy Papers
(PRSPs) von Entwicklungsländern, die an der HIPC–Initiative teilnehmen, um so einen
Teil ihrer Verschuldung getilgt zu bekommen; Doppelmoral bei der Anwendung von
Handelsbeschränkungen und Zöllen, Zwangsausübung zur Marktöffnung durch die
WTO etc.
125
61
und bei der Verbreitung des Koran mit.128 (2) Einige Spitzenunternehmer
wie Bill Gates (Microsoft) oder Ted Turner (CNN) haben eigene Netze
von Hilfswerken aufgebaut. George Soros, … [bekannter] Spekulant der
letzten Jahrzehnte, fördert die kulturelle und geistige Entwicklung verschiedener osteuropäischer Länder mit Milliardenbeträgen. (3) Drogenkartelle unterhalten große Teile der sozialen Infrastruktur von Ländern, in
denen sie operieren (insbesondere Kolumbien). Bevor ein anderweitig
funktionierendes Unterstützungsdispositiv aufgebaut ist, käme ihre Zerschlagung einer sozialen Katastrophe gleich.“ 129
Entwicklungshilfe war und ist somit von verschiedenen Akteuren/Akteurinnen besetzt und zu einer großen Industrie geworden. „Die
Geschichte der Entwicklungshilfe ist keine gradlinige Erfolgsstory, sondern ein komplizierter Prozeß auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Richtungen. Unzählige erfahrene und ahnungslose Köche
rühren seit Jahrzehnten und nach vielen verschiedenen Rezepten in einem
Brei, motiviert von Idealismus und Eigennutz, gutem Willen und Machtpolitik, wirtschaftlichem Kalkül und Humanität. Sie investieren Geld und
Know–How. Doch was im Einzelnen dabei herausgekommen ist, stimmt
oft nachdenklich. Im nachhinein lassen sich die Gründe für Mißerfolge oft
und relativ leicht erkennen. Man reibt sich allerdings die Augen, wenn
man trotzdem auf Wiederholungstäter stößt, die aus Fehlern keine Lehren
ziehen. Doch bei genauem Hinsehen entdeckt man: die Täter haben
Gründe. Und die liegen oftmals nicht bei den Partnern ni der Dritten
Welt, sondern in einem ganz handfesten Motiv für die geleistete (Eigen)Hilfe.“ 130
Entwicklungshilfe ist nicht von isolierten, punktuellen Aktionen gekennzeichnet, sondern entspricht vielmehr meist langfristigen Prozessen
mit Auswirkungen auf die Bedürfnisse, Einstellungen und Mentalitäten
der betroffenen Bevölkerung. Akteure/Akteurinnen aus dem „Norden“
sind seit jeher im Blickpunkt lokaler Gesellschaften und – egal ob sie gute
oder schlechte Arbeit leisten – diese ihre Arbeit beeinflusst die Menschen
auf die eine oder andere Weise. Auch diese Tatsache muss man – im BeBozdag, A. (1993), Das Erbe der UdSSR: Islam und Politik in Zentralasien, in: JDW
1993, 176–190, in: Kesselring, T. (2003), 207.
129 Kesselring, T. (2003), 207.
130 Schilling, D. (1996), Wer brennt, kann entzünden. Neue Wege zum Engagement mit
dem Süden. Wuppertal, 25.
128
62
sonderen im Hinblick auf die nach wie vor steigende Anzahl von Personaleinsätzen aus Industrie– in Entwicklungsländer – beim Engagement in
der Armutsminderung vor Ort berücksichtigen.
b. Schwerpunktsetzungen
Weltweit setzen öffentliche Einrichtungen der EZA ihre Schwerpunkte
sehr unterschiedlich, dennoch gibt es einige Gemeinsamkeiten: sowohl
technische als auch finanzielle Zusammenarbeit kommt häufig Ländern
zu, die historisch (z.B. ehemalige Kolonialgebiete), politisch (insbesondere
seit dem Kalten Krieg, wobei anfangs häufig „technische“ Militärunterstützung geboten wurde), kulturell (Länder in näherer Umgebung, vgl. Ostzusammenarbeit in Österreich) und religiös (Europäische EZA–Gelder
gehen kaum an muslimische Länder etc.) dem Geberland nahe stehen.
Allein diese Schwerpunktsetzung zeigt, dass EZA inhaltlich von politischen Absichten nicht zu trennen ist. Die Ablösung des Gießkannenprinzips (alle Länder bekommen ein bisschen) von Schwerpunkt– oder Partnerländern hat zweifelsohne große Vorteile. Damit verbunden ist aber die
Tatsache, dass es Entwicklungsländer gibt, die in kein Interessensgebiet
eines Industrielandes fallen.
Man kann sagen, dass es hier auch Ausnahmen gibt, doch diese dürften oft mit anderen Hintergedanken verbunden sein: Haben Entwicklungsländer Rohstoffe, welche für die Industrieländer von Relevanz sind,
kann es zur Investition in die Wirtschaft – und aus Imagegründen und
zwecks einer höheren Glaubwürdigkeit auch in andere Bereiche – kommen (Bsp. USA – Irak). Politisch ähnlich gesinnte Länder tendieren ebenfalls
dazu, sich gegenseitig zu unterstützen. Dies trifft auf Süd–Süd–Beziehungen zu (Bsp. Öl für Ärzte zwischen Venezuela und Kuba, Unterstützung
der Landreform in Südafrika durch Brasilien etc.), macht aber insbesondere vor der Einflussnahme von Industrieländern in der zu entwickelnden
Welt nicht halt, gerade um eine politische Gleichschaltung durch finanzielle und technische Unterstützung zu erreichen. Diese ist neben dem Rohstoff–Argument hauptsächlich deswegen gefragt, da die Lohn– und Produktionskosten in diesen Ländern billiger sind und eine Auslagerung als
wirtschaftlich sehr rentabel gilt. Schließlich gilt dieser Tatbestand als ein
63
Hauptmotor für die Globalisierung und das schnelle Wachstum von
multinationalen Konzernen (Multinational Cooperations, MNCs131).
c. Marktwirtschaft und EZA
Sowohl die EZA als auch die MNCs haben sich auf internationaler Ebene
einer Zusammenarbeit verschrieben, die helfen sollte, den wirtschaftlichen
Aufbau in Entwicklungsländern voranzutreiben. Das Wirtschaftswachstum führte dabei oft nicht zu einer Verteilungsgerechtigkeit, sondern zu
verbesserten makroökonomischen Durchschnittsdaten (etwa BIP/Kopf).
Die weltweite Dominanz von MNCs erzeugte besonders in der Zivilgesellschaft ein Unbehagen, dem mehrfach begegnet wurde: Bezüglich der
Ausbeutung von Produktionsfaktoren in den Entwicklungsländern und
den Vorwürfen bezüglich Umwelt– und Sozialstandards in Industrieländern wurde mit der so genannten Corporate Social Responsibility (CSR, Die
Übernahme von Verantwortung durch das Unternehmen) entgegen getreten; was den Umgang mit Entwicklungsländern betrifft, entstand nun
eine neue Initiative, die so genannten Public–Private Partnerships (PPP, Partnerschaften zwischen öffentlichen und privaten Interessensvertretungen).
PPPs sind gleichzeitig eine große Chance und eine Gefahr, wie dies
auch bei den Effekten der Globalisierung zu bemerken ist, denn die Bedeutung der Privatwirtschaft für die EZA kann große Vor– und Nachteile
haben: Einerseits können MNCs in Entwicklungsländern zu einem Transfer von Know –How und Technologie beitragen sowie Arbeitsplätze und
neue Lebensgrundlagen schaffen; andererseits jedoch kann die Übermacht
dieser monopolähnlichen Arbeitgeber ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis ganzer Gesellschaften schaffen, die unter Zwang immer neue Zu131
„Als multinationales Unternehmen gilt jedes Unternehmen mit mindestens einem
Tochterunternehmen im Ausland, an dem es eine Kapitalbeteiligung von mindestens
10 Prozent besitzt. 2001 gab es weltweit rund 65.000 multinationale Firmen mit
850.000 Auslandstöchtern und insgesamt 54 Millionen Beschäftigten. Der interne Umsatz dieser Auslandstöchter belief sich auf das Doppelte des Weltexportvolumens. Mit
anderen Worten: Der internationale Handel ist heute von erheblich geringerer Bedeutung als der interne Umsatz von Gütern und Dienstleistungen, den die multinationalen
Unternehmen erzielen. Sie dominieren auch den internationalen Handel: Nach Schätzungen entfällt rund ein Drittel des Weltexports auf den Handel innerhalb der multinationalen Konzerne, ein weiteres Drittel auf deren Exporte an andere Unternehmen.“ Le
Monde Diplomatique (Hrsg.) (2003), Atlas der Globalisierung. Berlin, 30.
64
geständnisse macht, um nicht in Missgunst und damit in die Abgeschiedenheit zu gelangen.
Die EZA hat dabei durchaus einige negative Folgen gehabt:
1) Entschuldung der HIPC 132–Länder: Der Schuldenerlass ist bei allen
Ländern an makroökonomische und Strukturanpassungsprogramme gebunden, die etwa im Fall von Bolivien u.a. das Steuer–, das Finanz–, das
Zollsystem sowie die Sozialfürsorge, das Bildungs– und das Gesundheitssystem grundlegenden Reformen aussetzen. Diese Vorgaben (conditionalities) bedeuten einen umfangreichen Eingriff in die sozialen, kulturellen
und wirtschaftlichen Strukturen der jeweiligen Länder.
Zwar ist diese Initiative an die so genannten PRSPs133 gebunden, doch
der geforderte partizipative Charakter – also die Beteiligung der Zivilbevölkerung an den Diskussionsprozessen – ist aus dem Vergleich von Ergebnissen lokaler Treffen mit den endgültigen Strategien nicht mehr ersichtlich. 134 Indigene Bevölkerung wird verobjektiviert; die einzig ersichtliche Motivation aus dem Papier ist die Steigerung der Produktivität armer
Bevölkerungsgruppen.135 Mit dem Papier sind enorme Investitionen von
Industrieländern bzw. MNCs verbunden;136 Armut wird rein materiell und
finanziell definiert, andere Bereiche menschlichen Lebens werden nicht
berücksichtigt. 137
HIPC bedeutet „Heavily Indepted Poor Countries“. Die 1996 von Weltbank, IMF und
Regierungen beschlossene Initiative soll es den schwerstverschuldeten Ländern ermöglichen, unter bestimmten Bedingungen gewisse Schuldenerlässe zu bewirken.
133 Das sind Poverty Reduction Strategy Papers und die damit verbundenen Programme, welche
Ergebnisse über dezentral diskutierte (also die Zivilbevölkerung einschließende) Debatten und Zielvorgaben liefern und für die Regierung des Landes verpflichtend an den
Schuldenerlass gebunden werden.
134 Weltbank (2001), Poverty Reduction Strategy Paper, La Paz, in:
http://poverty. worldbank.org/files/bolivaprsp.pdf am 7.10.04.
135 Ebd., 17.: „Building the productive capabilities of the poor.“
136 In
der ersten BPRS (Bolivian Poverty Reduction Strategy) [siehe:
http://www.worldbank.org/hipc/ am 23. 6. 03] war von 1,6 Mrd. $ die Rede. Implizit
sollen MNCs die Zusammenarbeit mit der öffentlichen Hand ausnützen, um im Rahmen der für den Schuldenerlass notwendigen Strukturanpassungsprogramme große Investitionen tätigen zu können. Gerade für Bolivien gibt es hier einige Beispiele, wie
etwa die Privatisierung des Trinkwassers an die MNC Bechtel, den damit angestiegenen
Wasserpreis und die in Folge auftretenden Unruhen („Wasserkrieg“) oder der „Erdölkrieg“, welcher im Herbst 2003 geführt wurde, um den Ausverkauf dieses Rohstoffs an
MNCs zu unterbinden.
137 Ebd., 35.
132
65
2) Privatisierungsdruck: Durch den zunehmenden Effizienzgedanken, auch in der EZA, setzt sich der Ansatz durch, dass private Anbieter
öffentliche Güter inzwischen besser (hauptsächlich billiger?) bereitstellen
können, als dies die öffentliche Hand allein vermochte. Öffentliche Güter
werden zu Handelswaren. Dies geschieht sowohl in Entwicklungsländern
(z.B. Gesundheitswesen, Sozialwesen) als auch in Industrieländern (z.B.
Flüchtlingsbetreuung) und führt mitunter zu Preiserhöhungen, einer
schlechteren Versorgung ärmerer Bevölkerungsschichten und Entlassungen.
3) Fokus auf Großbetriebe: Die bislang parallel zu PPPs geführte
Förderung von Klein– und Mittelbetrieben (Small and Medium Enterprises,
SMEs) gerät zusehends in Vergessenheit, obwohl diese Unternehmensform für Entwicklungsländer weitaus typischer ist als die MNCs.
4) Förderung der Privatwirtschaft: Durch die Betonung, dass es privater Ressourcen bedürfe, um nötige Infrastrukturprojekte zur Armutsminderung durchzuführen, übernimmt der private Sektor oft die Finanzierung. Dessen Direktinvestitionen (Foreign Direct Investment, FDI) konzentrieren sich in Entwicklungsländer allerdings meist nur auf die größten
Schwellenländer und lassen die ärmsten Länder unberücksichtigt.138
5) Rückgang der öffentlichen Entwicklungshilfe: Laut den überholten Statistiken der OECD/DAC gingen die Ausgaben der OECD–Länder
für finanzielle Zusammenarbeit (bilaterale Ausgaben und Beiträge zu multilateralen Institutionen) von 1991–92 bis 2002 von 0,33% auf 0,23% des
BIP zurück. 139 Wie bereits angesprochen, gibt es nur sehr wenige Industrieländer, welche das Ziel, 0,7% des BIP für Entwicklungszusammenarbeit bereitzustellen, erfüllt haben. Möglicherweise hat dieser Rückgang damit zu tun, dass sich potentielle Geberparteien darauf verlassen,
dass Auslandsdirektinvestitionen den Entwicklungsländern zugute kämen.
Dazu bleibt zu sagen: „Im letzten Jahrzehnt sind laut Weltbank rund
550 Milliarden Dollar FDI in den Infrastrukturbereich geflossen. In die
„Der Teil der globalen Direktinvestitionen, der in die Entwicklungsländer fließt, konzentriert sich auf bestimmte Regionen: 6 Prozent der Weltanteile gehen nach China,
7,5 Prozent an Südostasien, 10 Prozent an Lateinamerika und in die Karibik. Zentralasien und Afrika spielen praktisch keine Rolle.“ In: Le Monde Diplomatique (2003), 27.
139 Development Assistance Committee (2004), DCR Statistical Annex: Tables 1 to 14, auf:
http://www.oecd.org/dac am 15.1.04. DAC = Netzwerk bilateraler Geber in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
138
66
Telekommunikationsbranche flossen davon 245 Milliarden, in den Energiebereich 180 Milliarden, in den Transportbereich 100 Milliarden und in
den Wasserbereich nur 25 Milliarden Dollar. An öffentlichen Mitteln flossen wiederum gemäß Weltbank im gleichen Zeitraum bloß 150 Milliarden
in den Infrastrukturbereich. Doch flossen diese viel ausgeprägter als die
privaten Flüsse in jene Bereiche, die für die Armutsbekämpfung entscheidend sind.“140
d. Abschlussbemerkungen
Diese kritische Betrachtung der EZA soll nicht die Notwendigkeit von
Kooperationen in Frage stellen. Viele Initiativen der EZA funktionieren
gut, auch wenn diese oft nur im kleinen Rahmen angegangen werden. 141
Damit ist insbesondere die Arbeit vieler Nichtregierungs–Organisationen
im Süden wie im Norden gemeint.
Zurückkommend auf die Frage, ob Armutsforschung und Armutsminderung legitimiert sind, muss eindeutig mit „Ja“ geantwortet werden,
auch wenn diese nicht immer aus rein ethischen Motiven handeln. Auf die
Frage, was ihr Ziel ist, ist zu sagen, dass der Wunsch nach Gerechtigkeit
der armen Menschen unfairen Bedingungen und einer sich zuspitzenden
sozialen Anspannung gegenüberstehen, und letztere im Interesse aller
entspannt werden müssen. Gleichzeitig muss ein Weg geschaffen werden,
die Umwelt– und Sozialsünder – die zum Großteil in Industrieländern
und der Bourgeoisie der Entwicklungsländer sitzen – dazu zu bringen, die
von ihnen verursachten tatsächlichen Kosten in diesen Bereichen auch zu
tragen.
Im Hinblick auf die Überlegung zur Zukunft der Menschheit – und
den damit heute verbundenen Debatten über menschliche und nachhaltige
Entwicklung – muss die Entwicklungsidee an sich überdacht werden; dass
ein neuer Optimismus nicht ohne Abstriche in den Industrienationen entstehen kann, wird klar; dass diese reiche Minderheit auch dazu bereit ist,
Gurtner, B. et al. (2004), Public Private Partnerships in der Entwicklungszusammenarbeit, in: dokument 3, Januar 2004, Bern, 5.
141 So wurde mir bei einem Interview in Bolivien erzählt, dass dieses Land mit seinen nur
8 Millionen Einwohnern/Einwohnerinnen in den 1990er–Jahren noch eines der „Lieblingsländer“ der EZA war, da Reformen hier – etwa im Verhältnis zum großen Nachbarn Brasilien sehr viel einfacher umzusetzen waren.
140
67
zeigen zivilgesellschaftliche Bewegungen 142 weit mehr als internationale
Politik. Zudem gilt es zu bedenken, dass das Subjekt ethischer Überlegungen primär das Individuum ist, da es Ethik vor allem mit Handlungen zu
tun hat, und Individuen als primäre Handlungsträger anzusehen sind. Das
bedeutet, dass auch eine „Ethisierung“ der Armutsforschung nicht ohne
ethische Metareflexion derjenigen, die in der Armutsforschung tätig sind,
erfolgen kann. Wie die feine Linie zwischen der Formulierung berechtigter
ethischer Anliegen und einer moralisierenden Besserwisserei gezogen
werden kann, ist eine offene Frage und eine bleibende Herausforderung.
142
wie etwa das World Social Forum; zu dem sich dieser Tage zum vierten Mal über
100.000 Menschen treffen und ihre diversen Schwerpunktaktivitäten vernetzen.
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