WORKING PAPERS 07 facing poverty Armutsforschung und Armutsminderung eine Bestandsaufnahme aus einem ethischen Blickwinkel Thomas Böhler, Clemens Sedmak University of Salzburg/Austria Poverty Research Group FWF (AUSTRIAN SCIENCE FUND): RESEARCH PROJECT Y 164 Februar 2004 “Facing Poverty” is the Series of Working Papers of an interdisciplinary research group. Editor: Clemens Sedmak We are focussing on (a) interdisciplinarity in poverty research and the effort to establish poverty research as a genuine discipline (b) bridging the gap between academic research and humanitarian practice, between university and NGOs. These Working Papers are intended to be points of reference for discussion: “Administrative and bureaucratic practice has disseminated the terms ‘working papers’ or, notably in American idiom, ‘position papers’. These terms could be useful in defining a certain stage and style of ni tellectual argument. A ‘working’ or a ‘position’ paper puts forward a point of view, an analysis, a proposal, in a form which may be comprehensive and assertive. It seeks to clarify the ‘state of the art’ at some crucial point of difficulty or at a juncture from which alternative directions can be mapped. But its comprehension and assertiveness are explicitly provisional. They aim at an interim status. They solicit correction, modification, and that collaborative disagreement on which the hopes of rational discourse depend. A ‘working paper’, a ‘position paper’, is one which intends to elicit from those to whom it is addressed a deepening rejoinder and continuation.” (George Steiner) In this sense, we would be grateful for any comments and feedback. Contact: Prof. Clemens Sedmak Poverty Research Group, University of Salzburg Department of Philosophy Franziskanergasse 1, A – 5020 Salzburg, Austria/Europe [email protected] Please visit our homepage: www.sbg.ac.at/phi/projects/theorien.htm Working Papers, University of Salzburg, Poverty Research Group ISSN 1727-3072 Armutsforschung und Armutsminderung – eine Bestandsaufname aus einem ethischen Blickwinkel Thomas Böhler, Clemens Sedmak I. Einleitung ............................................................................................................5 II. Armutsforschung – ein Strukturierungsversuch ................................9 1. Das Phänomen der Armut ............................................................................9 2. Multidimensionalität von Armut .............................................................. 10 a. Kategorien und Unterscheidungen ...................................................... 13 b. Dimensionen von Armut ....................................................................... 17 3. Die Definition von Armut ......................................................................... 18 4. Armutsursachen ........................................................................................... 24 III. Ethik und Armut ........................................................................................ 27 IV. Ethik in der Armutsforschung und Armutsminderung .............. 41 1. Armutsforschung .......................................................................................... 43 a. Die Perspektivität in der Armutsforschung ....................................... 43 b. Forschungsschwerpunkte ....................................................................... 45 c. Datenmaterial ............................................................................................. 47 d. Zugang zur Armut .................................................................................... 49 e. Kategorien und Unterscheidungen ...................................................... 50 f. Definition von Armut .............................................................................. 52 g. Armutsmessung ......................................................................................... 54 h. Erkenntnistheoretische Probleme ........................................................ 55 i. Fazit ............................................................................................................... 55 2. Feldforschung ................................................................................................ 56 3. Entwicklungszusammenarbeit (EZA) ..................................................... 59 a. Die Dominanz des Westens in der EZA ............................................ 59 b. Schwerpunktsetzungen ........................................................................... 62 c. Marktwirtschaft und EZA ...................................................................... 63 d. Abschlussbemerkungen .......................................................................... 66 4 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Armutsfaktoren am Beispiel von Nepal ................................ 26 Abbildung 2: „Zufallsthese“ ............................................................................... 40 Abbildung 3: Armutsforschung und Armutsminderung ............................ 42 Armutsforschung und Armutsminderung Eine Bestandsaufnahme aus einem ethischen Blickwinkel Thomas Böhler, Clemens Sedmak I. Einleitung Dieser Artikel will durch Heranziehen ethischer Maßstäbe sowohl die Disziplin der Armutsforschung als auch die praktische Armutsminderung 1 auf die Legitimität ihrer Arbeit hin untersuchen. Die Frage der Legitimität stellt sich aus zwei Gründen: 1) Der persönliche Ausgangspunkt für diese Untersuchung war die Feststellung von häufig sehr unterschiedlichen Ergebnissen in der Forschung und den damit verbundenen, unterschiedlichen Erfolgsraten in der Armutsminderung. Das facettenreiche und vielseitige Erscheinungsbild von Armut entmutigt oft; insbesondere wenn die Verschiedenheit von Forschungsresultaten keine eindeutige Handlungsanweisung verspricht bzw. die Misszustände noch vergrößern. 2) Der Bereich entwicklungspolitischer Forschung und Praxis wird seit langem – nicht zu unrecht! – kritisch betrachtet und hinterfragt: Das „verlorene“ Jahrzehnt der Entwicklungshilfe, die Dominanz marktwirtschaftlicher Gesetze in der Entwicklungszusammenarbeit heute (z.B. Public Private Partnerships) und ganz prinzipiell das demographische Argument der steigenden Bevölkerungszahlen aufgrund von Armutsminderung werden immer wieder als Argumente dafür genannt, Armutsforschung und Armutsminderung gänzlich aufzugeben. 2 1 2 Der Begriff Armutsminderung wirkt ungewohnt und klinisch. Dennoch wollen wir ihn dem Begriff Armutsbekämpfung aufgrund dessen Assoziation mit einer „Kampf gegen …“–Rhetorik vorziehen; er ist auch dem Begriff Armutsreduktion aufgrund seiner mathematisch–mechanischen Konnotation vorzuziehen, obwohl das englische Pendant poverty reduction breit akzeptiert ist. Armutsminderung wurde aus dem Englischen übernommen, und zwar von dem dort üblichen Begriff poverty alleviation. Mit Armutsminderung meinen wir sowohl sozialpolitische Aktivitäten in industrialisierten Ländern als auch die Tätigkeiten im Rahmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit in ärmeren Ländern. Letzteres Argument erscheint aufgrund ständig neuer Gefahren nicht haltbar zu sein: HIV/Aids, Kriege, Naturkatastrophen führen ohnehin zu einer natürlichen Bevölke- 6 Nichtsdestotrotz erfolgt Armutsforschung in einer Vielzahl von Disziplinen: von ökonomischer Forschung (Armutsmessung, materiale und monetäre Aspekte von Armut) über Soziologie, die dazu beiträgt, Problemfelder aus den unterschiedlichen stakeholder–Perspektiven zu sehen, bis hin zu den Geschichtswissenschaften, die helfen können, vergangene Initiativen einzuschätzen und mit den heutigen Problemfeldern in Verbindung zu bringen. Die Ergebnisse der in der Armutsforschung durchgeführten Untersuchungen schlagen sich häufig in der konkreten Armutsminderungspraxis nieder. Es ist daher einsichtig, dass die Forschung aufgrund der Konsequenzen ihrer Arbeit eine große Verantwortung zu tragen hat. Dabei geht es unter anderem um folgende Bereiche: – wissenschaftssoziologisch: Welche Forschungsschwerpunkte werden von Institutionen ausgewählt? Wo liegt das Interesse von Armutsforschern/–forscherinnen und warum (Karriereaspekte, persönliches commitment, Forschungs– vs. Umsetzungsorientierung etc.)? – wirtschaftlich: Für welche Forschung gibt es Finanzierung und welche – etwa wirtschaftlichen – Gründe liegen hinter diesen Schwerpunktsetzungen? – politisch: Mit welchen politischen Überzeugungen kommen die Akteure/Akteurinnen in die Forschung und wie wird ihre Arbeit dadurch beeinflusst? Die Förderung von grassroots–Projekten beruht auf einem anderen politischen Hintergedanken als die Förderung des wirtschaftlichen Fortschritts in einer Region. – kulturanthropologisch: Welche kulturellen Hintergründe und persönlichen Erfahrungen beeinflussen die AkteurInnen in der Armutsforschung in ihrer Arbeit? Es geht dabei sowohl um die strukturellen Fragen nach der Entscheidungs– und Lenkungsgewalt in Armutsforschung und –minderung und die dahinter liegenden Motivationen als auch um die konkrete Praxis in der Erreichung geforderter Zielvorgaben. Armutsforschung trägt also Verantwortung, da sie die Armutsminderung mitunter nachhaltig beeinflusst (man denke etwa an den Fähigkeiten–Ansatz von Amartya Sen und dessen Auswirkungen auf Bereiche wie rungsdezimierung, sodass die Armutsforschung und Armutsminderung nicht für die Übervölkerung der Welt verantwortlich gemacht werden kann. 7 ownership und andere partizipative Ansätze). Armutsminderung als die praktische Umsetzung neuer Erkenntnisse aus der Forschung trägt zudem Verantwortung aufgrund ihrer Nähe und ihres Kontakts zu den betroffenen Personen, die in den Minderungsprozess eingebunden sind. Gerade die Praxis der Armutsminderung ist wiederum eine wichtige Ressource für die Forschungsarbeit und die Theorienbildung. Die Entwicklungen in der Armutsforschung als ein attraktives Arbeitsfeld für Akademiker und als wichtiger Mediator für wirtschaftliche Interessen 3 lassen zunehmend erkennen, dass die Übernahme dieser Verantwortung durch Akteure/Akteurinnen, Organisationen und Regierungen nicht mehr eindeutig wahrgenommen wird. Dies ist einerseits durch die in der wissenschaftlichen Forschung notwendige Multidisziplinarität als auch andererseits durch die praktische Komplexität des Phänomens Armut zu erklären. Eine Spezialisierung etwa der Forschungseinrichtungen auf Schwerpunkte ist natürlich zu einem gewissen Grad notwendig,4 dies steht aber der Forderung nach ganzheitlichen Ansätzen und Problemlösungen, gerade durch die Berührung vieler Disziplinen, gegenüber. Außerdem entbindet die Zerstückelung des Phänomens Armut in wissenschaftliche Untersuchungseinheiten die Forschungsgemeinschaft noch nicht von ihrer Rolle als Verantwortungsträger. Aus diesen genannten Gründen ist eine Betrachtung der Motivationen – politisch, wirtschaftlich und human–ethisch nach einem Einteilungsvorschlag von Goulet5 – wichtig, um die Motivation der Akteure/Akteurinnen, die eigentlichen Beweggründe der Arbeit gegen Armut kennen zu lernen. Ein benchmarking mittels ethischer Maßstäbe scheint für eine derartige Untersuchung am besten geeignet zu sein, denn die Wahr nehmung der mit den Aktivitäten verbundenen Verantwortung gilt als das zentrale Interesse. * * * 3 4 5 Der Bereich der Public–Private Partnerships – häufig initiiert von Regierungen und großen Hilfswerken – ist eine wichtige Anknüpfungsstelle für multinationale Unternehmen in der technischen Zusammenarbeit. Dazu mehr unter IV.3. Auch wenn dadurch meist nur partielle Ergebnisse im Sinne einer ganzheitlichen Minderungsstrategie geliefert werden. Vgl. Chambers, R. (1997), Whose Reality Counts? Putting the First Last. London, 40: „Most analyses and prescriptions are partial, concentrating on one or a few explanations and actions and ignoring others.“ Goulet, D. (1986), Three Rationalities in Development Decisions, Institute for World Economy of the Hungarian Academy of Sciences. Budapest, 4. 8 Einleitend bleibt noch zu sagen, dass ethische Argumente – obwohl auch sie an der Wirklichkeit orientiert sind 6 – die Minderung von Armut eben gerade aufgrund der Vermischung mit wirtschaftlichen oder realpolitischen Zielsetzungen nicht allein determinieren können. In diesem Spannungsfeld helfen ethische Grundregeln aber bei der Beurteilung der Praxis und werden hier eingesetzt, um eine Bezugsnorm vorzugeben, an der sich das Handeln in der Armutsforschung und Armutsminderung orientieren soll. Nach einem Strukturierungsversuch der wichtigsten Untersuchungsgebiete in der Armutsforschung sollen ethische Grundregeln eingeführt und auf dieser Grundlage ethische Aspekte und Kritikpunkte angeführt werden. Dabei gilt es zu betonen, dass eine ethische Betrachtung die Handlungen von Individuen zum Inhalt hat und nicht die strukturellen Veränderungen durch die Summe dieser Handlungen. Die Aufgabe angewandter Ethik liegt also in der Betrachtung von Handlungen und Handlungsfolgen Einzelner und nicht etwa der Kritik an der Armutsforschungsindustrie oder Einrichtungen der Armutsminderung. 6 Goulet, D. (1986), 7: “Ethical rationality draws its inspiration from two distinct sources. The first is a meaning or belief system, some religion, philosophy, world view, symbolic code, or cultural universe of norms. The second source is the world of daily experience as lived by people lacking power, status, or special expertise.” 9 II. Armutsforschung – ein Strukturierungsversuch 1. Das Phänomen der Armut Armutsforschung befasst sich mit der Definition, Bewertung, Messung, dem Auftreten, den Arten, der Linderung und Verhinderung von Armut. Dabei sind folgende Fragen wichtig: Was versteht man unter Armut und wie ist Armut definiert? Wie definieren Arme und wie definieren Nicht– Arme Armut? Warum ist Armut so beharrlich? Wie erleben arme Menschen ihre Situation? Was sind Anzeichen für Armut auf der Mikro– und der Makroebene? Wie kann man Armut messen? Was spielen formelle und informelle Institutionen für eine Rolle im Leben armer Menschen? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Armut und politischen Systemen? Beeinflusst das Verhältnis von Mann und Frau das Erleben von Armut in einem Haushalt? Wie kann Armut nachhaltig reduziert werden? Wie kann man sich und andere vor Armut schützen? Armutsforschung als wissenschaftlicher Forschungsschwerpunkt ist aus der Notwendigkeit heraus entstanden, dass die Situation einer immer größeren Anzahl von in Armut lebenden Menschen verbessert werden soll. Darin liegt ihre Begründung. Individuelle Erfahrungen mit Armut führen aber zu einer Vielzahl an Perspektiven und Meinungen über Armut. Durch diese Vielzahl von Überzeugungen und die steigende Komplexität des Phänomens Armut nimmt die Anzahl der wissenschaftlichen Disziplinen zu, welche Armutsforschung betreiben. Dabei ist aber die Untersuchung und Erforschung des wissenschaftlichen Problems Armut genau aufgrund dieser vielschichtigen Forschungsinteressen der Grund für die Unmöglichkeit, Armutsforschung einer bestimmten wissenschaftlichen Disziplin zuzuordnen. Sie ist momentan im Begriff, sich vielmehr zu einer eigenen Disziplin zu entwickeln, welche zur Armutsminderung in einem zirkulären Verhältnis steht: Die Informationsgenerierung aus der Praxis der Armutsminderung und die Verarbeitung dieses Wissens in der eigentlichen Forschungstätigkeit führt dazu, dass die Armutsforschung für die Tätigkeiten in der Armutsminderung, ihre Planung, Strategieerstellung und Projektdurchführung als wichtiges Referenzsystem fungiert. Ein weiterer Grund für den erhöhten Informationsaustausch zwischen Armutsforschung und Armutsminderung war die Tatsache, dass der Optimismus im Bereich der Armutsminderung immer mehr verloren ge- 10 gangen ist. Man musste erkennen, dass Armut nicht einfach durch eine bestimmte Anzahl technischer Mittel oder etwa allein durch Finanzhilfen zu mindern ist, sondern ein sehr viel komplexeres Phänomen darstellt. Besonders die Vorstellung, dass wirtschaftliches Wachstum automatisch den sozial schwächer gestellten Mitgliedern einer Gesellschaft hilft (trickle down effect), stellte sich als zu einfach dar.7 Das Bewusstsein gegenüber sozialen Problemen ist so auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung angestiegen. Es wird nach Zusammenhängen gesucht, welche sowohl die Politik, die Wirtschaft, Kultur und Religion als auch gesellschaftliche oder historische Voraussetzungen betreffen. Um einen Anfangspunkt zu finden, ist es wichtig, das Phänomen der Armut in seiner Multidimensionalität zu fassen. Die vielen Dimensionen von Armut ergeben sich einerseits aus der Vielzahl der Ursachen und Auswirkungen, andererseits aus der umfangreichen Palette der Forschungsergebnisse, die zu diversen Ansätzen und Bekämpfungsstrategien führen und mitunter auch miteinander im Widerspruch stehen. Und dabei dürfen die ethischen Grundmotivationen, welche für die Disziplin der Armutsforschung begründend sind, nicht außer Acht gelassen werden. Umgekehrt müssen bereits erzielte Ergebnisse – aufgrund ihrer Folgewirkungen und der bereits angesprochenen Verantwortung der Disziplin – daraufhin überprüft werden, ob sie bestimmten ethischen Grundgedanken entsprechen. 2. Multidimensionalität von Armut Aufgrund der Vielseitigkeit des Armutsproblems kommen zwangsläufig unterschiedliche Fachrichtungen zum Einsatz. In den Sozialwissenschaften entstanden etwa Fachbereiche, welche sich mit der Bekämpfung von Armut, ihren Ursachen und Folgen beschäftigen. Auch anhand der Prioritäten der Armutsminderung lässt sich der interdisziplinäre Charakter des Phänomens schnell erkennen: Etwa die Versorgung mit Trinkwasser und Energie, die Bekämpfung von Krankheiten, der Schutz der Umwelt und der Prozess der Demokratisierung befassen auch Bereiche der Politikwissenschaft, der medizinischen, biologischen und chemischen Forschung sowie in der Umsetzung auch die Bauingenieure und andere technische Studien, Juristen, Raumplaner, Controller, Ethnologen, Soziologen usw. 7 Vgl. Douthwaite, R. (1999), The growth illusion: how economic growth has enriched the few, impoverished the many, and endangered the planet. Gabriola Island. 11 Die Theologie, die Geschichtswissenschaften, die Kultur– und Sozialanthropologie und die Soziologie helfen auf theoretischer Ebene, die Verpflichtung zur Armutsforschung zu etablieren, während die Politikwissenschaft, die Publizistik und die Informatik in der Bewusstseinsbildung des Armutsproblems maßgeblich beteiligt sein können. Multidimensionalität fordert hier also klar eine Multidisziplinarität, wenn nicht gar eine interdisziplinäre Auseinandersetzung, da sich die verschiedenen Dimensionen von Armut gegenseitig beeinflussen und nicht getrennt voneinander, wissenschaftlich „sauber“, untersucht werden können. Eine tragende Rolle in dieser komplexen Landschaft von Problemstellungen spielt die Ökonomie, welche die finanzielle Situation von Menschen, von Ländern und Regionen darstellt, um Vergleiche zu ermöglichen und Gefälle zu erkennen. Außerdem liefern ökonomische Ansätze die Grundlage für armutsmindernde Strategien. 8 Ein breites Feld der Ökonomie beschäftigt sich zunehmend mit einzelnen Aspekten von Armut (wie Hunger9, Ausbeutung 10, Entwicklung[stheorien] 11, Exklusion12, Ungleichheit und Ungerechtigkeit 13), wobei es im politischen und ideologischen Kontext immer Schwerpunktsetzungen gab und gibt. Die Globalisierungsdebatte kann heute etwa als Aufhänger dafür verwendet werden, 8 9 10 11 12 13 Auch wenn das Wachstumsargument in der Armutsforschung durchaus umstritten ist, gibt es viele Befürworter der Trickle Down–These. Vgl. Dollar, D. und A. Kraaty (2000), Growth is Good for the Poor. World Bank Working Paper, Development Research Group, Washington D. C. Vgl. Dréze, J. und A. Sen (1989), Hunger and Public Action. Oxford. Siehe dazu auch Armutsforschung im Globalisierungskontext, z.B. Fornet–Betancourt, R. (1998), Armut im Spannungsfeld zwischen Globalisierung und dem Recht auf eigene Kultur. Frankfurt a.M. Einen Überblick über Entwicklungstheorien gibt: Zapotoczky, K. und H. Berger (1997), Entwicklungstheorien im Widerspruch. Plädoyer für eine Streitkultur in der Entwicklungspolitik. Interdisziplinäres Forschungsinstitut für Entwicklungszusammenarbeit. Linz. Ein lehrreiches Beispiel zu Social Choice–Theorien, Exklusion und Fähigkeiten ist Sen, A. (1980), Equality of What?, in: S. McMurrin (Hrsg.), Tanner Lectures on Human Values, Vol. 1. Cambridge. Vgl. Friedman, S. und D. T. Lichter (1998), Spatial Inequality and Poverty Among American Children, in: Population Research and Policy Review 17: 91–109; Jasso, G. (2000), Trends in the Experience of Injustice: Justice Indexes About Earnings in Six Societies, 1991 – 1996, in: Social Justice Research 13(2): 101–121; Oddo, A. R. (2002), Bridging the Digital Devine: Financial and Ethical Challenges, in: Teaching Business Ethics 6: 15– 25; Ahluwalia, M. (1976), Inequality, Poverty, and Development, in: Journal of Development Economics 3: 307–342. 12 kulturelle Verarmung als Forschungsgebiet zu etablieren.14 Die Rohstoffknappheit der nahen Zukunft wird vielleicht als Anlass für verstärkte Armutsforschung im Bereich Gleichheit, Verteilung und Ausbeutung dienen. Es ergeben sich die Schwerpunkte – insbesondere in der ökonomischen, aber auch in anderen Bereichen der Armutsforschung – nicht rein aufgrund der Entwicklungen und der Phänomene in der sozialen Welt, sondern darüber hinaus auch aufgrund anderer Interessen. Die starke Förderung wirtschaftlichen Wachstums und die Einführung der Marktwirtschaft in Entwicklungsländern, mit dem kommunizierten Ziel, Armut weltweit zu bekämpfen, können nicht über die steigende Kluft der Entwicklung aufgrund großer Nettofinanztransfers von armen zu reichen Ländern hinwegtäuschen (Schuldenrückzahlungen, Umwegrentabilität der technischen Entwicklungszusammenarbeit). Die Entwicklung der Weltwirtschaft muss sich gerade wegen dieser wachsenden Unterschiede einer immer größeren Opposition stellen, die der passiven Ausgeliefertheit der Entwicklungsländer gegenüber den dominanten Volkswirtschaften des Nordens kritisch gegenüber steht. Die ökonomische Armutsforschung widmet sich den materiellen und monetären Aspekten von Armut. Die Ökonomisierung des Forschungsapparates allgemein und der damit verbundene Gedanke der Effizienzsteigerung im Speziellen führten in der Armutsforschung aber zu einer gewissen Schwerpunktsetzung auf wirtschaftliche Armut, die sich in den Strategien zur Minderung von Armut – zumindest bei großen Organisationen – auch niederschlägt.15 Dass eine persönliche Beziehung, Zuneigung oder einfaches Zuhören bereits einige Ausläufer von Armut (wie Scham, das Gefühl des sozialen Ausschlusses etc.) merklich reduzieren können, ist meist nur in kleinen Projekten und Netzwerken festzustellen. Die Nähe zu den von Armut betroffenen Menschen und die spontane Anpassungsfähigkeit an sich ändernde Rahmenbedingungen stellen also Kriterien dafür dar, wie ausführlich sich die Akteure/Akteurinnen mit den verschiedenen Dimensionen von Armut auseinandersetzen. Auch innerhalb der ökonomischen Forschung ist die Bezugnahme auf nicht–ökonomische Dimensi- 14 15 Vgl. Fornet–Betancourt, R. (1998). Vgl. dazu etwa den neuen Forschungsschwerpunkt Wirtschaft und Entwicklung bei der 2004 gegründeten Austrian Development Agency (ADA). 13 onen und Kategorien von Armut immer deutlicher zu merken (z.B. Lebensqualitätsforschung). 16 Armutsforschung ist deshalb nicht nur interdisziplinär, sondern auch dynamisch – dem Untersuchungsobjekt entsprechend.17 Im Zusammenhang mit der Reichweite und Relevanz von Armutsforschung und den eigentlichen Beweggründen sich in diesem Bereich zu engagieren, steht diese junge Disziplin, wie man hier schon sieht, vor einigen ethischen Schwierigkeiten. a. Kategorien und Unterscheidungen Die Diskussion von Armut als Phänomen verlangt die Suche nach den richtigen Kategorien, nach der passenden Terminologie. Die von uns verwendeten Kategorien haben einen sozialen Einfluss, und umgekehrt hat auch die soziale Wirklichkeit einen Einfluss auf die Kategorien, die wir verwenden. Die Dynamik dieser gegenseitigen Abhängigkeit kann vernichtend für Fragen der Abweichung sein: „Der Abweichende ist derjenige, auf den dieses Etikett erfolgreich angewandt wurde; abweichendes Verhalten ist Verhalten, das man als solches auszeichnet.“ 18 Aus diesem Grund ist die Frage der Kategorien besonders in der Armutsforschung unumgänglich, da man Gefahr läuft, durch die gebrauchten Kategorien zum Fortbestehen einer Bedingung beizutragen. 19 Die von uns gebrauchten Kategorien sind mit unserer Wahrnehmung der Armen verbunden. Diese Wahrnehmung verändert sich aber mit der Zeit.20 In diesem Zu16 17 18 19 20 Bei Amartya Sen wird die Wahlfreiheit unter verschiedenen Fähigkeiten betont, Joseph Stiglitz betont etwa asymmetrische Informiertheit unter den Wirtschaftssubjekten als fundamentalen Einflussfaktor mikro– und makro–ökonomischer Modelle. Vgl. Leisering, L. (1994), Dynamische Armutsforschung. Vom Wandel der Armut und des Umgangs mit ihr, in: Theorie und Praxis der sozialen Arbeit 8: 282–290. Vgl. Becker, H. (1963), Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance. New York, 9. Vgl. Sedmak, C. (2001), Sozialtheologie. Frankfurt a. M., 31ff., 164–176. Vgl. Kelso, W. (1994), Poverty and the underclass: changing perceptions of the poor in America. New York; Hagenaars, A. M. (1986), The perception of poverty. Amsterdam; Momsen, V. (1997), ‚Arm fühle ich mich eigentlich nicht’. Die Darstellung weiblicher Armut in Printmedien, in: Das Argument: Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, H. 3, Nr. 220, Jg. 39, 397–407; Ortlepp, W: (1998), Zur Wahrnehmung von Armut in einer Zeit weitreichender Veränderungen in der Gesellschaft, in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau: Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Sozialpolitik, Gesellschaftspolitik, H. 37, Jg. 21, 40–49. 14 sammenhang sei bereits auf die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der verwendeten Sprache in der Armutsforschung hingewiesen. 21 Armutsforschung entwickelt Kategorien, um das Phänomen der Armut und die Mittel der Klassifikation zu beschreiben und zu analysieren. 22 Um mit dem Phänomen der Armut systematisch umgehen zu können, hat die Armutsforschung eine Vielzahl von terminologischen Vorschlägen gemacht. Können wir etwa zwischen Armut und Elend unterscheiden? Nach Leon Bloy bedeutet Elend den Mangel am Nötigen, während Armut der Mangel an Überflüssigem ist. 23 Andere terminologische Werkzeuge der Armutsforschung sind Begriffe wie poverty line (Armutsgrenzen im Sinne einer Trennung von Gruppen), poverty limits (Armutsgrenzen im Sinne der Gefahr des Abstiegs in eine andere Gruppe), poverty spells (Armutsperioden; eine Übergangszeit, in der Menschen arm sind)24, working poor, new poverty, impoverishment und pauperization (Verarmung), poverty cycle (Teufelskreis der Armut) und empowerment (Befähigung). Es gibt unzählige weitere Kategorien, welche teilweise nur Spezialaspekte von Armut oder eben ganzheitliche Ansätze darstellen. Zu letzterer Gruppe von Kategorien gehört neben Entwicklung und Exklusion auch life quality, 25 welche etwa Amartya Sen für die grundlegende Armutsdiskussion im Zusammenhang mit Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit verwendet. Ganzheitlich ist die Kategorie deshalb, weil sie Unterkategorien wie Lebenserwartung, Gesundheitsversorgung, Qualität von und Zugang zu Bildung, Arbeitsbedingungen, politische und rechtliche Privilegien, Freiheit sozialer und persönlicher Art, Familienstrukturen und das Verhältnis zwischen Männern und Frauen sowie die Fähigkeit der Gesellschaft zur Ein21 22 23 24 25 Am Beispiel des Wortes Best Practice, welches von der Weltbank von betriebswirtschaftlichen Managementmethoden übernommen wurde, zeigt sich die Einführung eines neuen Begriffs, mit dem sich alle Akteure/Akteurinnen auseinandersetzen müssen, um den Anschluss an armutsrelevante Debatten nicht zu verlieren. Vgl. Bammer, A. und T. Böhler (2003), Best Practice – Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis. Working Paper Series: Facing Poverty No. 5. Vgl. Strang, H. (1974), Kategorien der Armut, in: Bellebaum, A. und H. Braun (Hrsg.), Reader Soziale Probleme I. Frankfurt a. M., 33–45. Zitiert nach Boff, C. (1987), Feet –to–the Ground–Theology. Maryknoll, 20. Vgl. Bane, M. J. und D. Ellwood (1986), Slipping in and out of poverty. The Dynamics of Spells, in: Journal of Human Resources 21/1, 1–23. Vgl. Sen, A. (1993), Capability and Well–Being, in: Nussbaum, M. und A. Sen. (Hrsg.), The Quality of Life. Oxford, 30–54. 15 bildungskraft, Gefühlsregung und zum kritischen Denken vereinbart. Sens Beitrag liegt in der Anpassung und Erweiterung der volkswirtschaftlichen Sprache, um gezielter auf die Situation von Menschen eingehen und ihre Lebensbedingungen erfassen zu können. 26 Dass diese Kategorien immer sehr vielschichtig sind, beweist der Begriff Entwicklung: Entwicklung bedeutet einerseits grundlegende soziale und wirtschaftliche Veränderungen, wie Kommerzialisierung, Industrialisierung, Verstädterung, Individualisierung und Globalisierung. Wichtige Fragen dazu sind etwa: Was sind die Kosten derartiger Veränderungen und wer trägt sie? Was passiert, wenn diese Kosten größer sind als die Gewinne aus diesen Veränderungen? Entwicklung steht andererseits – im Sinne von entschlossenen Handlungen und Interventionen, die diese Veränderungen fördern oder dazu beitragen – ähnlichen und anderen Fragen gegenüber: Wer hat das Recht zu intervenieren, durch welche Mittel und zu welchem Zweck? Entwicklung in einer dritten Bedeutung – nämlich als Verbesserung, wünschenswerte Veränderung, Bewegung in Richtung gutes Leben oder besseres Leben – zwingt uns zu fragen, was diese sozialen Verbesserungen oder dieses gute Leben überhaupt ausmacht, welche fundamentalen Veränderungen überhaupt wünschenswert sind, sowie worin die angemessenen Ziele und annehmbaren Mittel dafür liegen. Wie sehr unterscheiden sich derartige Fragen in verschiedenen Kulturkreisen oder zwischen unterschiedlichen Ideologien? Gibt es Themen, wo diese sich überschneiden, wo es bestehende oder erreichbare Übereinstimmungen gibt? Wie und inwieweit können derartige ethische Fragen überhaupt fruchtbar diskutiert werden? Auch im Rahmen der Definition von Armut ist die Kategorienbildung bestimmend, da schon die Bezeichnung derjenigen Menschen, die von Armut betroffen sind, bestimmte Assoziationen zulässt (und bestimmte nicht!): So sprachen die Anhänger von dualistischen Theorien in Lateinamerika oft von Marginalisierten und Ausgebeuteten, während kirchliche Gruppen auch von Ausgestoßenen sprechen. Wird ein mehr materieller Fokus auf Armut gelegt, so spricht man oft von Billiglohnkräften, Besitz– und Arbeitslosen. Im Kontext von Armut in industrialisierten Ländern steht oft das Wort Arbeitsloser oder Flüchtling und Migrant als Synonym für Armut; 26 Vgl. Gasper, D. (2000), Development as Freedom: Taking Economics Beyond Commodities – The Cautious Boldness of Amartya Sen, in: Journal of International Development. Vol. 12(7), 989–1001. 16 abwertend wird auch von Sozialfällen (also schon vollkommen entsubjektiviert) gesprochen. Je nachdem in welchem Zusammenhang natürlich – aber auch je nachdem mit welcher Absicht – man von Armut spricht, ist die Wortwahl und somit erneut die Sprache ein starkes Indiz für die dahinter stehenden Anliegen (in der Politik genauso wie in der Armutsforschung als Ort der Vorbereitung politischer Argumente). Metaphern (Beispiel: „Sozialparasiten“), die im Rahmen der Diskussion über Armut Verwendung finden, lassen tief blicken. Sie sind auch keineswegs „bloße Begriffe“, sondern bestimmen Handlungsentscheidungen und Urteilsgrundlagen. * * * Ein anderes Werkzeug zur Schaffung passender Terminologie ist die Einführung von Unterscheidungen. Armutsforschung diskutiert wichtige Unterscheidungen: Forscher unterscheiden zwischen sozialer und wirtschaftlicher Armut,27 zwischen absoluter und relativer Armut,28 exogener und endogener Armut,29 primärer und sekundärer Armut,30 Einzel– und Massenarmut, ländlicher und städtischer Armut, möglicher und tatsächlicher Armut, individueller und sozialer Armut, verursachter und nicht verursachter Armut, anhaltender und vorübergehender Armut etc. In modernen Gesellschaften wurde der Be- 27 28 29 30 Vgl. Rainwater, L. (1992), Ökonomische versus soziale Armut in den USA (1950– 1990), in: Leibfried, V. und W. Voges (Hrsg.), Armut im modernen Wohlfahrtsstaat. Opladen, 195–220. Vgl. Pichaud, D. (1992), Wie misst man Armut?, in: Leibfried, V. und W. Voges (Hrsg.), 63–87, 64: „Eine absolute Definition von Bedarfen geht davon aus, daß es einen festen Maßstab gibt, der sich nicht über die Zeit ändert. Wenn sich das Preisniveau verändert, wird sich der Betrag erhöhen, der zur Abdeckung bestimmter Bedarfe notwendig ist; allerdings bleiben bei einem absoluten Standard die Bedarfe selbst immer unverändert. Ein absoluter Standard kann besonders niedrig angesetzt werden – so etwa, wenn es nur um einen ‚Überlebensstandard’ geht –, oder er kann recht hoch ansetzen und als Bedarfe etwa ordentliche Kleidung, die Benutzung von Verkehrsmitteln und die Beteiligung am kulturellen Leben berücksichtigen. Aber es gehört zu einem absoluten Standard, daß er sich über die Zeit nicht ändert.“ Absolute Armut meint eine unzureichende Mittelausstattung zur Befriedigung der lebenswichtigen Grundbedürfnisse; relative Armut liegt dann vor, wenn Personen ein bestimmtes, an den typischen Lebensverhältnissen orientiertes, soziokulturelles Existenzminimum nicht erreichen. Für diese Unterscheidung vgl. Strang, H. (1974), Kategorien der Armut, in: Bellebaum, A. und H. Braun (Hrsg.), Reader Soziale Probleme I. Frankfurt a. M., 33–45, 35. Rowntree, B. S. (1901), Poverty: A Study of Town Life. London. 17 griff der tertiären Armut geprägt.31 Es bleibt außerdem eine erkenntnistheoretische Uneinigkeit zwischen denjenigen, die Armut als etwas Subjektives definieren („arm ist, wer sich als arm fühlt“)32 und denjenigen, die Armut als objektiv und absolut definieren.33 * * * Angesichts dieser Schwierigkeiten scheint es sinnvoll zu sein, keine exakte Definition von Armut anzustreben. Nach dem bekannten Rat des Aristoteles soll in einer Untersuchung ja auch nur jener Grad an Exaktheit angestrebt werden, der der Eigenart des Gegenstands entspricht. Im Falle der Armutsforschung scheint es sinnvoller zu sein, eine Reihe von Aspekten zu unterscheiden, als den Begriff der Armut den Tod tausender Qualifikationen sterben zu lassen. b. Dimensionen von Armut Ähnlich wie sich in der Religionswissenschaft, wo man ähnliche Probleme mit der Definition des Forschungsgegenstandes hat, die Dimensionen– 31 32 33 Bellebaum, A. und H. Braun (Hrsg.), 38, 41: „Die tertiäre Armut ... gehört zu der idealtypischen Systemkonstruktion der ‚nivellierten Mittelstandsgesellschaft’. Das jeweilige sukzessiv verwirklichte mittlere, sozio–ökonomische Anspruchsniveau und die damit zusammenhängende Reflexion der Gesellschaft über das, was unter ihren Voraussetzungen und sozial–strukturellen Bedingungen als arm oder reich zu gelten hat, bestimmen und verändern die relativ obere Grenze dessen, was tertiäre Armut ist. Sie ist abhängig vom jeweiligen gesellschaftsspezifischen ökonomischen, sozialen, kulturellen, medizinischen und ernährungswirtschaftlichen Normalzustand der Industriegesellschaft … Die tertiäre Armut bietet ein komplexes, amorphes und diffuses Bild unterschiedlicher Mangelsituationen und individueller Lebensnotstände. Die primäre Armut verlangt Abhilfe durch elementare Verbrauchsgüter, durch Sach– und Geldleistungen. Die sekundäre Armut erfährt Linderung durch den Erwerb und Konsum prestigebesetzter Gebrauchsgüter und immaterieller Statussymbole. Die tertiäre Armut umfaßt individualspezifische Mangelsituationen, die weitgehend persönliche Hilfestellung erforderlich machen. Sie ist eine Einzelfallarmut, die nicht dem sozialen Sicherungssystem angelastet werden kann“. Dieser Ansatz bietet den Vorteil, kulturelle Elemente und psychologische Dimensionen zu integrieren; dabei stellt sich jedoch das Problem, dass Menschen sich als arm bezeichnen, da sie einen Mittelklasse– und ihr Nachbar einen teureren Wagen fährt; dieser Ansatz wird von Peter Townsend vertreten. Dieser Ansatz ringt um adäquate Indikatoren, hat jedoch universelle Anliegen und eine enge Beziehung zu Strategieerfordernissen; dieser Ansatz wird unter anderem von Amartya Sen vertreten. 18 oder Aspekteforschung durchgesetzt hat, scheint es auch für die Armutsforschung sinnvoll zu sein, notwendige Aspekte (Dimensionen) von Armut zu erarbeiten. Mit dem folgenden Vorschlag von neun Dimensionen wird versucht, ein möglichst vollständiges Bild vom Phänomen Armut anzubieten: Man kann zwischen der materiellen Dimension von Armut (Mangel an materieller Ausstattung), der praktischen Dimension von Armut (Verhaltensmuster), der sozialen Dimension von Armut (Zugang zu Netzwerken, Institutionen und Infrastruktur), der politischen Dimension von Armut (Zugang zu Macht), der Umweltdimension von Armut (Zusammenhang von Armut und Umwelt), der physischen Dimension von Armut (z.B. Aspekte der Gesundheit), der kulturellen Dimension von Armut (die Frage nach Identität und Diskriminierung), der psychologischen Dimension von Armut (die Frage nach Gefühlen und Selbstbewusstsein) und der ideologischen Dimension von Armut (die ideologischen Faktoren bei der Wahrnehmung und Analyse von Armut) unterscheiden. Diese Gesichtspunkte geben mögliche Denkrichtungen für einen ganzheitlichen Armutsansatz vor. Die Definition von Armutsdimensionen hilft bei der Eingrenzung dieses komplexen Gebietes; das Phänomen selbst wird dadurch allerdings nicht vereinfacht. Durch die Trennung bestimmter Gesichtspunkte kann die Forschung aber unterteilt werden, ohne dabei den Gesamtrahmen zu verlassen. Die Definition von Dimensionen der Armut hängt auch von lokalen Aspekten ab, genauso wie das Phänomen der Armut selbst. Die Frage, die bleibt: Ist die Definition von Armut unbedingt erforderlich, um sie erfolgreich zu reduzieren? 3. Die Definition von Armut Definitionen sind mit Machtentscheidungen und –strukturen verbunden. Dies zeigt sich deutlich im Falle der Festsetzung von Armutsgrenzen und der Begriffsbestimmung von Armut. Dass sich die Forschung so ausführlich mit der Definition des Phänomens Armut beschäftigt, rührt daher, dass „Arm–Sein“ besonders im Sinne der europäischen Sozialpolitik zu staatlichen Leistungen berechtigen kann. 34 Armutsgrenzen und Dimensionen von Armut helfen abzustecken, was das Phänomen überhaupt ist, 34 Die Definition von Armut kommt demnach oft erst in zweiter Instanz den in absoluter Armut Lebenden zugute. 19 wem geholfen werden soll. Wann ist man benachteiligt, wann ist man arm? Kann man soziale Exklusion mit absoluter Armut in Entwicklungsländern (welche soziale Exklusion inkludiert) im Rahmen einer Definition gleichsetzen? Armut wird normalerweise durch den Gebrauch von Standards definiert, etwa durch die Standardausstattung mit Ressourcen, Fähigkeiten oder Vollmachten. Die meisten Definitionen gehen von einem Mindeststandard für ein annehmbares Leben und für soziale Integration aus. Armut bedeutet dann, unter diese Standards zu sinken. Man kann zwei Definitionen von Armut unterscheiden: Definitionen, welche materielle Faktoren und Mittel hervorheben (Ressourcenansatz) und andere, welche kulturelle Faktoren betonen (Lebenslagenansatz). Das Konzept von Armut hängt von kulturellen und historischen Neuauslegungen ab.35 Einige Definitionen unterstreichen etwa harte Faktoren, andere betonen weiche Faktoren von Armut. Diese Unterscheidungen weisen auch darauf hin, dass ein Verständnis von Armut kulturabhängig ist. Es ist also eine Dynamik in der Definition von Armut festzustellen. Es fehlt eine allgemeine Definition des Begriffs Armut. 36 Trotzdem gibt es Tendenzen: Theoretische und mathematische Definitionen werden durch kulturell und lokal abgestimmte Sichtweisen ergänzt. Dies sieht man etwa am Beispiel der Armutsgrenzen: Dabei kann man zwischen deskriptiven Ansätzen (welche mit Wahrscheinlichkeiten rechnen, und somit Ungenauigkeit in Betracht ziehen) und normativen Ansätzen (die interdisziplinär vorgehen, dabei aber auf subjektive Weise Spannungsfelder interpretieren müssen) unterscheiden. Normative Ansätze bringen persönliche Standards derjenigen, die sie anwenden, zum Ausdruck, etwa bei der Frage nach der Gewährung von Grundeinkommen für andere. 37 Armutsdefinition und in der Folge Armutsmessung enthalten in ihrer Theorie noch große Lücken. 35 36 37 Vgl. De Chamborant, C. G. (1984), Du pauperisme: ce qu’il était dans l’antiquité, ce qu’il est de nos jours. Genf; Fischer, W. (1982), Armut in der Geschichte. Göttingen. Zur Wissenschaftlichkeit des Begriffs Armut siehe: Jacobs, H. (1995), Armut – Zum Verhältnis der gesellschaftlichen Konstituierung und der Wissenschaftlichkeit eines Begriffs, in: Soziale Welt 4(46): 403–20. Voges, W. und Y. Kazepov (Hrsg.) (1998), Armut in Europa, Schriften der Sektion Sozialpolitik der Deutschen G esellschaft für Soziologie, Bd. 2. Wiesbaden, 29/30. 20 Bei der Definition von Armut gibt es dabei mindestens acht Problemkreise, welche einige ethische Probleme (IV.3.a.) bereits vorwegnehmen: (i) Das Dilemma zwischen Inhalt und Spielraum: Wird der Spielraum eines Konzepts erweitert, so wird eine höhere Zahl von Fällen berücksichtigt, die Bedeutung des Konzepts wird aber diffus. Andererseits ist durch die Spezifizierung des Inhalts ein eindeutiger Rückgang des Spielraums zu erwarten. Der Ansatz steht also zwischen der Scylla des zu engen Spielraums und der Charybdis des zu ungenauen Spielraums, also der Abgrenzung. Armutsdefinitionen unterliegen daher einerseits der Gefahr der Einseitigkeit und Kontextbezogenheit, andererseits der Gefahr einer leeren Generalisierung. Dieses Argument weist auf den politischen Einfluss auf Armutsdefinition, –forschung und Armutsminderung hin. Die Verringerung des Spielraums zur Vertuschung von Armut, um wieder gewählt zu werden etwa, oder die Erhöhung des Spielraums, um für mehr finanzielle Unterstützung zu werben, um damit ebenfalls persönliche Interessen zu verfolgen, sind mögliche Vorgehensweisen. (ii) Die Frage nach einem ausgeglichenen Set von Beispielen: eine Kategorie wie die andere. Die Veranschaulichung von Armut basiert auf bestimmten Beispielen. Eine einseitige Auswahl von Beispielen untergräbt die vielen Gesichter von Armut. (z.B. kann Armut nicht allein anhand von ländlicher oder allein von städtischer Armut oder anhand nur eines Landes oder Kulturkreises definiert werden). Andererseits gibt es nahezu unendlich viele Beispiele und verschiedenste Arten von Armut. Wo kann man die Grenze ziehen? Um einzelne Phänomene von Armut zu bestimmen, werden bestimmte Beispiele herausgestrichen während andere nicht einmal erwähnt werden. Wer wählt diese Beispiele aus? Und wer fördert deren Ergebnisse? (iii) Das Problem der Übersetzung und des lokalen Kontextes: Kann das Konzept von Armut ohne Sinnverluste in andere Sprachen übersetzt werden? Kann die koreanische Betrachtung von Armut einfach auf Englisch übersetzt werden?38 Kann eine lokale Definition von Armut ausreichen, um alle Gesichtspunkte der kulturspezifischen Bedeutungen und Zusammenhänge zu erkennen? Welche Abstraktions– oder Konkretisierungsebene macht eine Definition von Armut sinnvoll? 38 Vgl. UNDP (1998), Current poverty issues and counter policies in Korea. Seoul. 21 (iv) Das Dilemma zwischen „Erfahrung“ und „Reflexion“, zwischen „grundlegenden“ und „entfernteren“ Ansätzen: Wie viel Erfahrung ist nötig und wie viel ist ausreichend, um Armut passend zu reflektieren? Wie wichtig ist die Distanz zu persönlichen Armutserfahrungen, um eine Definition mit der nötigen emotionalen Distanz zu ermöglichen, gleichzeitig aber auf all die wichtigen Dimensionen des Erfahrenen Bezug zu nehmen? (v) Der Konflikt zwischen einem deskriptiven und einem präskriptiven Gebrauch von Armutskonzepten: Soll Armut durch eine Definition, welche den normalen Gebrauch des Konzepts festlegt, beschrieben, oder soll Armut normativ (so wie der Begriff verwendet werden soll) definiert werden? Umfassen präskriptive Definitionsversuche alle nötigen Konnotationen des Begriffs? Sind sie realitätsnah genug? Können deskriptive Ansätze eine allgemeingültige, gewissermaßen kontextlose und übergeordnete Definition liefern? (vi) Die Schwierigkeit der Vielfalt von Definitionen: Es gibt hunderte von Definitionen von „Armut“.39 Keine davon ist konsensfähig. Wie kann man mit dieser großen Anzahl von konzeptionellen Klärungen fertig werden? Jedes Konzept verlangt nach einer speziellen Bewertungsmethode40 und da es keine Einigkeit bezüglich des Konzeptes gibt, gibt es auch keine Einigkeit bezüglich der Methode. (vii) Das Problem von Theorie und Praxis: Soll die Definition zu einer theoretischen Ausarbeitung beitragen oder eher einer praktischen Umsetzung dienen? Soll sie in erster Linie der Armutsforschung oder der Umsetzung der Armutsminderung als Grundlage dienen? (viii) Der Kulturaspekt: Bezüglich der Definition mittels Standards bleibt zu fragen, Menschen welchen kulturellen Hintergrunds globale Standards definieren bzw. ob für lokale Definitionen dies auch Menschen des in diesem Raum gängigen Kulturkreises mit dem passenden Armutsverständnis machen. Einige Fragen über Armutsforschung sind sehr delikat. Etwa die Frage nach dem cui bono bezüglich der Armut. Was ist der Grund für Ar- 39 40 Vgl. Iben, G. (1989), Zur Definition von Armut. Blätter der Wohlfahrtspflege 11/12. Vgl. Scott, W. (1981), Concepts and measurement of poverty. Genf; Adamy, W. und J. Steffen (1998), Wie wird Armut gemessen? In: Dies. (1998), Abseits des Wohlstands. Darmstadt, 7–11; Semrau, P. und H.–J. Stubig (1999), Armut im Lichte unterschiedlicher Meßkonzepte, in: Allgemeines Statistisches Archiv 83/3, 324–337. 22 mut?41 Welche Funktionen üben Arme in einer Gesellschaft aus? Welche Interessen, die eine Konsolidierung von Armut verlangen, können identifiziert werden? So ist die Definition von Armut ein Spiegelbild dessen, für wie notwendig man das Vorhandensein von Armut in einer Gesellschaft ansieht. Offensichtlich kann man Armut vom Standpunkt der Funktionalität aus betrachten: Die Armen übernehmen Arbeiten, die niemand machen will; sie essen Nahrung, die niemand essen will; sie kaufen Dinge, die niemand sonst kaufen würde; sie geben eine raison d’être für humanitäre Einrichtungen, Spendengeber und Menschen mit guten Absichten etc. 42 Impliziert etwa die Tatsache, dass eine Mehrheit der Menschen in Armut lebt nicht auch, dass dies für den Rest der Menschen große Vorteile hatte und immer noch hat? Ist das Prinzip der Arbeitsteilung nicht vielmehr zu einem System von Abhängigkeitsverhältnissen verkommen, welches die Wirtschaft aufrechterhält und somit von den Nicht–Armen versucht wird, aufrechtzuerhalten? Dies scheint sich sowohl innerhalb einzelner Gesellschaften als auch global in der Abhängigkeit der Entwicklungsländer vom good will der Industrienationen widerzuspiegeln. Diese Fragen berühren politische Bereiche, welche für die Selbstreflexion von Armutsforschung und –minderung von Bedeutung sind („die Funktionen von Armutsforschung“). * * * Während eines Workshops im Rahmen des FWF–Projekts von Prof. Clemens Sedmak zum Begriff der Armut wurde eine Armutsdefinition geprägt, die unter Zusammenwirken von Theoretikern/Theoretikerinnen in der Armutsforschung und Praktikern/Praktikerinnen in der Armutsminderung entstanden ist. Auch diese Definition würde wohl nicht allen angesprochenen Problemkreisen standhalten, doch wollen wir sie hier einfüh- 41 42 Vgl. Wagner, W. (1982), Die nützliche Armut. Berlin; Böhler, T. et. al. (2003), Armut als Problem – Wie gehen fünf Einzelwissenschaften mit dem Phänomen der Armut um? Working Paper Series: Facing Poverty No. 1, 70f. Vgl. Sedmak, C. (2001), Sozialtheologie. Frankfurt a. M., 175f., Gans, H. J. (1992), Über die positiven Funktionen der unwürdigen Armen, in: Leibfried, St. und W. Voges (Hrsg.) (1992), Armut im modernen Wohlfahrtsstaat. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32, 48–62. 23 ren, um für die später folgenden ethischen Überlegungen zu den Armutsdefinitionen mit einem konkreten Beispiel arbeiten zu können: „Armut ist die relative strukturelle Ausgrenzung von Menschen bzw. Menschengruppen, die sich in einer ungerechten Verteilung des Zugangs zu materiellen und im materiellen Gütern manifestiert, und als solche ein Mangel an Entscheidungsfreiheit, um diejenigen Fähigkeiten auszubilden und Möglich keiten zu nutzen, die nötig sind, um für sich und die in seiner/ihrer Verantwortung stehenden Personen eine Grundsicherung zu gewährleisten, unfreiwillige strukturelle und zumindest latent leidvoll erfahrene Exklusion zu vermeiden und im Vergleich zu dem sozio–kulturellen Umfeld eine gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.“ 43 Eine zweite, sehr brauchbare – weil multidimensionale – Definition stammt von Mollat und soll ebenfalls im Hinblick auf die Diskussion ethischer Aspekte bei Armutsdefinitionen im dritten Teil angeführt werden: „Arm ist derjenige, der [und diejenige, die] sich ständig oder vorübergehend in einer Situation der Schwäche, der Abhängigkeit oder der Erniedrigung befindet, in einer nach Zeit und Gesellschaftsformen unterschiedlich geprägten Mangelsituation, einer Situation der Ohnmacht und gesellschaftlichen Verachtung: Dem Armen [und der Armen] fehlen Geld, Beziehungen, Einfluss, Macht, Wissen, technische Qualifikation, ehrenhafte Geburt, physische Kraft, intellektuelle Fähigkeit, persönliche Freiheit, ja Menschenwürde. Er [und sie] lebt von einem Tag auf den andern und hat keinerlei Chance, sich ohne die Hilfe anderer aus seiner [und ihrer] Lage zu befreien.“ 44 Diese beiden Definitionen geben zumindest Anhaltspunkte, welche Aspekte im Rahmen einer Diskussion von Armut berücksichtigt werden sollen. Es handelt sich, wie unschwer zu erkennen, um eine Fülle von Aspekten. Das bedeutet, dass der Umgang mit dem Begriff der Armut ein langsamer, behutsamer sein muss; eine Analyse von Armut kann nicht absehen von einer Analyse von anderen Schlüsselbegriffen wie Macht, Beziehungen, Wissen, sodass auch auf diese Weise deutlich wird, dass Armutsfor43 44 Böhm, R., Buggler, R. und J. Mautner (Hg.) (2003), Arbeit am Begriff der Armut, Working Paper Series: Facing Poverty No. 3, 93. Mollat, M. (1984), Die Armen im Mittelalter. München, 13, in: Kesselring, T. (2003), Ethik der Entwicklungspolitik. Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung. München, 29. 24 schung nicht im Rahmen einer einzigen Disziplin geleistet werden kann, sondern das Denken in Problemen (statt eines Denkens in Disziplinen) verlangt. Diese epistemische Pflicht zur Komplexität hat durchaus ethische Voraussetzungen und Implikationen hinsichtlich der Standards von intellektueller Redlichkeit in der Armutsforschung, im Sinne der Frage: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit fundierte Aussagen über Armut getätigt werden können? 4. Armutsursachen Neben der Definition von Armut ist auch die Ursachenforschung ein wichtiger und genauso weitläufiger Weg, Armut entgegen zu wirken. Wir haben bereits im letzten Kapitel festgestellt, dass es bei der Definition von Armut kulturabhängig verschiedene Schwerpunktsetzungen gibt. So ist auch in der Ursachenforschung immer wieder ein anderer Blickwinkel zu bemerken. Die Ursachen von Armut können in harte und weiche Faktoren unterteilt werden. Als hart gelten absolute, messbare Kriterien, die meist vererbt werden: Armut hängt in diesem Zusammenhang mit den klimatischen Bedingungen, der Gefahr von Naturkatastrophen und den damit verbundenen Problemen einer Region zusammen.45 Dazu gehören die schlechte Versorgung mit Nahrung, sauberem Wasser, Energie und Infrastruktur. Unterschiedliche politische und kulturelle Hintergründe lassen einen weiteren Kreis von Faktoren entstehen, wie etwa die Frage nach Demokratisierung, die Rolle von Männern und Frauen in der Gesellschaft, die Sicht von Armut in der Gesellschaft sowie die Menschenrechte und Grundfreiheiten, die im Kontext zur Verminderung beitragen können. Zum Beispiel hat das Kastensystem in Indien auf all diese Kategorien einen starken Einfluss. Darüber hinaus sind die weichen Faktoren zwar weniger sichtbar und messbar, können aber die grundlegenderen Ursachen für den Misserfolg bei Armutsforschung und –minderung bewirken, da sie die grundlegenderen Armutsursachen darstellen: Machtlosigkeit, Stimmlosigkeit, Abhängigkeit, Scham und Peinlichkeit führen zu einem Mangel an Selbstbewusstsein, zu einem Gefühl der Frustration, des Hasses und der Wut. Diese so45 Auf den Zusammenhang von klimatischen Bedingungen, Mangel an Ressourcen, Naturkatastrophen, Krisenherden und Kriegen sei an dieser Stelle hingewiesen. 25 ziale Seite der Marginalisierten führt zu einer Passivität der Armen: Frustration und Lethargie hindern sie daran, ihre Grundrechte einzufordern, weshalb es die Stellvertretung durch Menschen braucht, welche ihre Arbeit der Armutsminderung widmen.46 Es entstehen so – trotz der guten Absicht – Fehlinformationen, Kommunikationsprobleme und Eigennützigkeit. Außerdem kann man interne und externe Faktoren unterscheiden, welche das Phänomen der Armut näher erklären: Zu den externen Faktoren können Migration, 47 politische Strukturen, 48 Arbeitslosigkeit, Gesundheitsprobleme und Familientragödien gezählt werden. Interne Faktoren umfassen Depressionen, negative Gefühle, persönliche Schwierigkeiten. So kann eine emotional und strukturell komplexe Landschaft des „Arm–Seins“ skizziert werden. Die heutige Sichtweise von Armut ist in der Forschung vom Ausschluss der Betroffenen von Alltagsaktivitäten gegen den eigenen Willen gekennzeichnet. Amartya Sen hat häufig darauf hingewiesen, dass absolute Armut auch die nach Adam Smith benannte „Fähigkeit, mit Scham umzugehen“ 49, inkludiert. Die Aufrechterhaltung einer kulturellen Identität und von sozialen Normen der Solidarität hilft armen Menschen weiter, an ihre Menschlichkeit trotz inhumaner Bedingungen zu glauben. Diese psychologische Schwierigkeit wird durch den Mangel an Möglichkeiten erschwert; Möglichkeiten zur Aneignung von Fähigkeiten, die Veränderung erst herbeiführen können.50 46 47 48 49 50 Diese Repräsentation durch Stimmen, welche der Armut nicht direkt ausgeliefert sind, kann zu Missverständnissen führen (Aufdoktrinierung von Entwicklungshilfe und Unterschätzung der Kapazitäten armer Menschen, wodurch die oben genannten weichen Faktoren der Armut weiter gefördert werden). Ein berühmtes, österreichisches Beispiel zu diesem Thema ist Marie Jahodas sozialpsychologische, empirische Studie über Arbeitslosigkeit – eine der ersten dieser Art –, wonach Langzeitarbeitslosigkeit zu Resignation und Lethargie und nicht zur Revolution führt. Jahoda, M., Lazarsfeld, P. und H. Zeisel (1975), Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Frankfurt a. M. Vgl. de Haan, A. (1999), Livelihoods and Poverty: The Role of Migration. Journal of Development Studies 36/2, 1–47. Vgl. Devas, N. (2001), The Connections between Urban Governance and Poverty. Journal of International Development 13/7, 989–996. Vgl. Sen. A. (1981), Poverty and famines. Oxford. Amartya Sen hat den Zugang zu und die Erhaltung von Fähigkeiten als wichtigsten Faktor der Anstrengung zur Armutsmilderung erwähnt. Siehe Sen, A. (1993), Capability and Well–Being, in: Nussbaum, M. und A. Sen (Hrsg.) (1993), The Quality of Life. Oxford. 30–53. 26 Das Phänomen Armut ist nicht immer sichtbar – einerseits, weil soziale Strukturen versuchen, Armut zu verstecken und andererseits, weil es schwierig scheint, den Tatsachen der Armut überhaupt entgegenzutreten. 51 Listet man die verschiedenen Armutsfaktoren auf, so kann dies mitunter Klarheit für das weitere Vorgehen bringen. Mithilfe eines Armutsberichts über Nepal wurden in Abbildung 1 harte und weiche sowie interne und externe Faktoren getrennt.52 Abbildung 1: Armutsfaktoren am Beispiel von Nepal Hart Weich Intern Extern - Kleines und unebenes Land - „landlocked“ ohne Mehrzugang - geringe Ressourcen - Agrarstaat (85% des BIP) - Feudalistische Strukturen - Zugang zu Produktionsressourcen - Kein Zugang zu Bildung, Gesundheitspflege - Mangel an politischen Möglichkeiten und politischem Willen - Kein politisches Pflichtgefühl - Unterdrückung der Frauen und patriarchalische Familien - Sklavereiähnliche Zustände und lebenslange Verschuldung - Orthodoxe Religionsauffassung - Mangel an Beteiligung - Entmutigung durch hohe Preise etwa für Schulen und Ärzte - Hohe Kindersterblichkeit - Armutskreislauf wiederholt sich in der nächsten Generation -Verfehlte Wirtschaftspolitik - Misswirtschaft mit öffentlichen Ressourcen - Kein Zugang zu Information und Technologie - Verstädterung - Hohes Bevölkerungswachstum - Landverteilung - Abhängigkeitsverhältnisse - Analphabetismus - Hohe Arbeitslosigkeit - Schlechtes Bildungs– und Gesundheitswesen - brain drain - Handelsstreit zw ischen Westen und Indien traf Nepal - IWF–Politik 51 52 Vgl. de Castro, J. (1952), Géopolitique de la faim. Paris. Er stellte fest, dass die Welt sich vor der Betrachtung des Hungers schämt und deshalb nicht darüber spricht. Vgl. http://www.happy–children–nepal.de/nepal_land_leute/Armut.htm am 8.1.04. 27 III. Ethik und Armut Nach dieser Einführung zum Begriff Armut gilt es nun, einen Versuch zu unternehmen, die ethischen Begründungen darzustellen, welche im Zusammenhang mit Armut als Phänomen eine Rolle spielen, insbesondere in der Absicht, Armutsforschung und –minderung danach zu beurteilen. Dass es sich bei einer derartigen Untersuchung um angewandte Ethik handelt, ist klar. Angewandte Ethik ist die Anwendung ethischer Prinzipien auf einen bestimmten Bereich. Dazu sagt Annemarie Pieper: „Eine Aufgabe der ‚angewandten’ Ethik besteht darin, auf die Herausforderung der Zeit, somit auch auf die Sicherung des Existenzminimums speziell in der Dritten Welt, einzugehen. Zur Befriedigung seiner Bedürfnisse ist der Mensch als soziales Wesen auf die Hilfe und Anerkennung, kurz auf ein Zusammenleben und –handeln mit anderen Menschen angewiesen. Die zu diesem Zweck etablierten Lebensformen (Ehe, Familie, Gesellschaft, Staat usw.) bestehen auf gewissen Ordnungsprinzipien, die sich aus ethischen Grundprinzipien wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde gebildet haben. Es ergeben sich somit für den einzelnen gegenüber der Gemeinschaft, in der er lebt, Rechte und Pflichten, die Gegenstand einer Sozialethik sind. Dadurch soll ein Verhalten zustande kommen, das neben physischem Überleben auch Glück und Wohlergehen aller ermöglicht. Um die Gefährdung des Gemeinwohls durch natürliche Neigungen und Veranlagungen wie Egoismus, Neid, Machtstreben, Hass und Ähnliches so gering wie möglich zu halten, führt die Sozialethik als Gegenargumente Nächstenliebe, Mitleid, Toleranz, Rücksichtnahme und Solidarität ins Treffen.“ 53 Betrachtet man Armutsforschung aus einer ethischen Perspektive, so kann ihr Untersuchungsgegenstand auch dahingehend eingeschränkt werden, als man auf diejenigen Bereiche achtet, wo das zwischenmenschliche Zusammenleben, die oben genannten Ordnungsprinzipien und die damit verbundenen Rechte und Pflichten nicht eingehalten werden. Gerade durch die Betrachtung der Armutsursachen wird oft klar, dass Armut aufgrund struktureller oder individueller Ungerechtigkeiten entstanden ist und somit der Blick nicht von den Vorteilen aus Armut für die Nicht– 53 Pieper, A. (1985), Ethik und Moral, in: Leitgeb, N. (1987), Die ideale Entwicklungsethik – Entwicklungshilfe als Herausforderung für Politik, Wirtschaft und Religion. Wien, 52. 28 Armen abgewendet werden darf, denn darin liegt oft die Begründung für die Persistenz des Phänomens. Individuelle Handlungen – zum eigenen Vorteil oder zum Vorteil anderer – sind dabei das Untersuchungssubjekt der angewandten Ethik. Unseres Erachtens sind auch die Regeln, nach denen beurteilt werden kann, ob die Aktivitäten in der Armutsforschung ethisch oder unethisch sind, nicht weltfremd oder veraltet – selbst wenn man sich historischen Ethikern wie Aristoteles oder Thomas von Aquin annimmt. Um die Aktivitäten in der Armutsforschung und –minderung nun einschätzen zu können, bedarf es einiger Bewertungskriterien oder Regeln, anhand derer gemessen wird, ob diese Aktivitäten einen ethischen Charakter haben oder nicht. Eine Möglichkeit bietet hier die Deklaration der Zweiten Internationalen Konferenz über Ethik und Entwicklung (1989), 54 welche zusammengefasst folgende Richtlinien beschloss: Angesichts tief greifender Unzulänglichkeiten der heute vorherrschenden Entwicklungsstrategien schlägt die Konferenz vor, die Suche nach einer alternativen Form sozialer Transformation mit Rücksicht auf die folgenden ethischen Prinzipien aufzunehmen: (i) Respekt vor der Würde aller Menschen, unabhängig von Herkunft, Rasse oder Geschlecht (ii) Aufrechterhaltung friedlicher Lebensumstände, basierend auf einer Gerechtigkeitspraxis, die armen Menschen Zugang zu Gütern verschafft und die Bedingungen ihrer Notlage beseitigt (iii)Bekräftigung der Freiheit, verstanden als Selbstbestimmung, Selbstmanagement und Teilnahme an lokalen, nationalen und internationalen Entscheidungsprozessen (iv)Anerkennung eines neuen Verhältnisses der Menschen zur Natur, welches die verantwortungsbewusste Nutzung dieser fordert und ein solidarisches Verhältnis gegenüber zukünftigen Generationen herstellt (v) Entwicklung eines vernünftigen Umgangs mit ausgebeuteten Menschen und Völkern, welcher ihren kulturellen Traditionen, ihrem Denken und ihren Interessen und Bedürfnissen entspricht und der 54 Nach der sog. Mérida Declaration der Zweiten Internationalen Konferenz über Ethik und Entwicklung am 7. Juli 1989 auf der Homepage der International Development Ethics Association: http://www.carleton.ca/idea/declarations.htm am 25.7.03. 29 diese Menschen als Subjekte und nicht als Objekte der Entwicklung ansieht Dieser Vorschlag, die Werte Würde, Friede, Entscheidungsfreiheit, Verantwortung und anthropologische Sensibilität als Eckpfeiler von Entscheidungen festzulegen und diese Entscheidungen etwa mit Hilfe des Rawls’schen Überlegungsgleichgewichtes 55 zu treffen, ist der Versuch, die Notwendigkeit eines umfangreicheren und dennoch realistisch durchführbaren Kodex für Entscheidungen festzulegen. Der ideale Platz für einen derartigen Reflexionskodex wäre das Zentrum allen Entwicklungsdenkens, um mitzubegründen, welche Entwicklungsmodelle gewählt und welche Forschungsergebnisse in der Umsetzung akzeptiert werden. Diese allgemeinen Grundbedingungen für ethisches Handeln sollen auch als Leitfaden und Motivation in der Armutsforschung dienen. Der Vergleich aktueller Paradigmen in der Armutsforschung 56 mit dem früher von Arroganz und Eurozentrismus geprägten Versuch, westliche Modelle kulturunabhängig in Entwicklungsländern zu implementieren, zeigt, dass Rahmenbedingungen wie Offenheit, Realitätssinn, Dialog, Integration oder Individualität diesen Grundbedingungen immer mehr entsprechen. Einige Gedanken zu den fünf Regeln: (i) Geht man von der Würde aller Menschen aus, so ist die Umsetzung der Menschenrechte ein grundlegender Anspruch an die Armutsforschung. Dabei kommt die bloße Existenz von Armut schon einer Verletzung der Menschenrechte gleich. Die Schaffung von Lebensbedingungen, wie sie in der Universal Declaration of Human Rights gefordert werden, ist somit ein Ziel der Armutsforschung und der Armutsminderung. „Letztlich ist das Ziel eine rationale, Anteil nehmende und gerechte Gesellschaft zu formen, die jedem Menschen ein Leben in Würde ermöglicht.” 57 Aber aus einem die Würde berücksichtigenden Ergebnis eines Forschungsprojektes kann dennoch leicht die würdelose Behandlung von Personen wer55 56 57 Rawls, J. (1975), Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M., 38. Zum Begriff des Überlegungsgleichgewichts vgl. Hahn, S. (2000), Überlegungsgleichgewicht(e). Prüfung einer Rechtfertigungsmetapher. Freiburg/München. etwa der Fokus auf Participation, Governance, Community–Driven Development, Gender und Environment in den aktuellen Poverty Reduction Strategy Papers (PRSP) der Weltbank. Sanchez, O. M. (1999) New Development Ethics Needed, in: The Jakarta Post, Jakarta, 20. März 1999, 3. 30 den (dies wird gerade durch die Souveränität von Helfern/Helferinnen gegenüber armen Hilfeempfängern/Hilfeempfängerinnen impliziert). Durch die historisch schon sehr früh bedingte Verletzung dieser Rechte ist der Versuch, Armutsforschung würdevoll zu machen, von einigen Fragen gekennzeichnet: Womit verletze ich möglicherweise die Würde Betroffener? In welchem Armutsfeld soll man dabei ansetzen? Ist die Ausstattung mit Fähigkeiten 58 wichtiger als die Lösung von Umweltproblemen im Zusammenhang mit Würde? Wo wird die Grenze zwischen selbstverschuldeter Armut und schlechten Lebensbedingungen gezogen? Diese Würde soll allen Menschen gleichermaßen zugute kommen. Hier wird also von Gleichheit und Gerechtigkeit gesprochen: Dieselbe Schlussfolgerung zog John Rawls in Die Theorie der Gerechtigkeit 59, als er in einem Gedankenexperiment einen Sozialvertrag unter gewissen Unwissenheitsaspekten (veil of ignorance) aushandeln lässt: Keines der Gesellschaftsmitglieder, welches an den Verhandlungen zur Findung von gesellschaftsgestaltenden Prinzipien teilnimmt, kennt seine Rolle in der Gesellschaft, keine Person weiß, ob sie männlich oder weiblich, reich oder arm ist. Unter diesen Bedingungen, so kommt Rawls zum Schluss, sollen Grundrechte allen in gleichem Maße zugänglich sein, mit einer besonderen Begünstigung der least privileged (das Differenzprinzip). Dabei erkennt Rawls die unterschiedlichen Fähigkeiten einzelner Gesellschaftsmitglieder durchaus an; und es sind auch Unterschiede bezüglich Reichtum und Position vertretbar, solange sie Vorteile für alle bringen und mit Ämtern verbunden sind, die allen prinzipiell zugänglich sind. „Eine gerechte Gesellschaftsordnung kann es nur geben, wenn die Menschen bereit sind, sich an die Regeln der Kooperationsgemeinschaft zu halten, vorausgesetzt, die anderen tun es ebenso. Es ist diese Bereitschaft zur Gegenseitigkeit, die nach Rawls den Kern der Fairness ausmacht. Rawls betont – etwa gegen wirtschaftsliberale Auffassungen: Menschliches Zusammenleben ist auf Fairness, nicht auf die Maximierung des Eigennutzes gebaut.“ 60 Ähnlich wie bei Sens Fähigkeiten–Ansatz will Rawls durch das Argument der Gleichheit der Möglichkeiten ein Mindestmaß an Würde für alle Men58 59 60 nach Amartya Sen. Rawls, J. ( 101998), Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. Kesselring, T. (2003), Ethik der Entwicklungspolitik. Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung. München, 67. 31 schen erreichen. Er bezeichnet Gerechtigkeit dabei als wichtigste Tugend sozialer Absprachen und Institutionen. Rawls befürwortet einen Gesellschaftsvertrag mit gleichen Grundrechten und –pflichten für alle Menschen. Es wird dabei davon ausgegangen, dass soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten zum Vorteil aller genutzt werden können und diese Ungleichheiten an Ämter gebunden sind, die allen Menschen zugänglich sind. Avishai Margalits Überlegungen zur Ausrichtung einer Gesellschaftsordnung anhand der Vorstellung einer „anständigen Gesellschaft“ 61 beschreibt Momente, in denen Menschen in entwürdigende und damit demütigende Situationen geraten. Im Zusammenhang mit Armutsforschung weist er auf Situationen hin, in denen heute Hauptursachen für Armut gesehen werden: Sklaverei, Kolonialismus, Indoktrinierung mit der Kultur des Mutterlandes etc. Margalit beschreibt, dass „gerade die Tatsache, dass die ‚Herrenmenschen’ der Kolonialzeit ihre Umgebung als normal betrachteten, […] für viele Eingeborene äußerst demütigend [war]; es bedeutete nämlich, daß sich die Unterdrücker in keiner Weise bedroht fühlten, und das in einer Umgebung, die nach dem Dafürhalten der Eingeborenen voller Risiken für die Eindringlinge war.“62 (ii) Die Aufrechterhaltung und Schaffung friedlicher Lebensumstände zählen zweifelsohne zu den grundlegenden Rahmenbedingungen für die erfolgreiche Umsetzung von Armut lindernden Projekten. Die Tatsache, dass arme Menschen in Friedensfragen kaum ein Mitspracherecht haben, erlaubt die Schlussfolgerung, dass auch diese Fragen von den Nicht–Armen geklärt werden. Friede ist nur dann durchsetzbar, wenn auch Gerechtigkeit herrscht. Folgende Fragen stellen sich hier: Wie hängen Armut und Friede zusammen? Welche Gruppe Menschen ist für den Unfrieden auf der Welt verantwortlich? Wer entscheidet, welche Rahmenbedingungen für den Frieden in einer Region ausschlaggebend sind? Sind die Erfolgsfaktoren für den scheinbar globalen Begriff des Friedens kulturell abgestimmt? 61 62 Vgl. Margalit, A. (1999), Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung. Frankfurt a. M. (im Original: „The Decent Society“), 24–25: „Eine anständige Gesellschaft bekämpft Verhältnisse, durch die sich ihre Mitglieder mit Recht gedemütigt fühlen können. Eine Gesellschaft ist dann anständig, wenn ihre Institutionen den Menschen, die ihrer Autorität unterstehen, keine berechtigten Gründe liefern, sich als gedemütigt zu betrachten.“ Ebd., 128. 32 In dieser zweiten Regel zeigt sich, dass ohne eine Bevorzugung armer Menschen – und damit ist die für Nicht–Arme mit gewissen Opfern verbundene Aufgabe von Besitz, Einfluss und Macht gemeint – Friede langfristig unwahrscheinlich ist. Insbesondere wenn die Kluft zwischen Arm und Reich sich weiterhin vergrößert und diese beiden Gruppen immer noch weniger miteinander in Kontakt treten. Hier soll Armutsforschung ansetzen. Aber genau hier stehen auch die größten Schwierigkeiten, denn die meisten ArmutsforscherInnen wie auch ein Großteil der Organisationen stammen – obwohl die Anzahl etwa der Nichtregierungs–Organisationen (NGOs) in Entwicklungsländern stark steigt und diese als wichtige Akteure angesehen werden müssen – aus Industrieländern. Somit bedarf es großer commitments, starken Engagements und einer am besten freiwilligen Verpflichtung gegenüber der Sache, um diese – nicht exklusive – Bevorzugung der Armen auch wirklich umzusetzen. (iii) Amartya Sen hat mit dem Fähigkeiten–Ansatz den sozialen Ausschluss armer Menschen thematisiert und damit darauf aufmerksam gemacht, dass neben dem Fehlen von Grundversorgung auch der soziale Aspekt im Leben von Armen eine Hauptrolle spielt. Das Fehlen von Möglichkeiten, sich gewisse Fähigkeiten anzueignen, ist eines seiner Hauptargumente. Ohne die Freiheit zu haben, sich für oder gegen bestimmte Aktionen zu entscheiden, kann man persönliche Ziele erst gar nicht in Angriff nehmen. Der Entscheidungsspielraum armer Menschen ist durch den verwehrten Zugang zu Infrastruktur, Information, Wissen und Vorteilen beeinträchtigt. Die Dimension des Zugangs scheint einer der grundlegendsten Ansatzpunkte für die Verbesserung der Situation von armen Menschen zu sein. Auch hier ist wieder das Aufbrechen der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Armen und Nicht–Armen angesprochen, die mitunter für die Beharrlichkeit (Persistenz) von Armut verantwortlich zeichnen. Zu diesem Ziel der realen Freiheiten schreibt Kesselring: „Ziel der Entwicklungspolitik ist nicht primär die Förderung der Grundrechte und erst recht nicht die Erhöhung des wirtschaftlichen Nutzens oder das Wachstum der Wirtschaft – sondern Freiheit. Sen, gebürtiger Inder aus Dhaka (heute Bangladesch), bringt Entwicklung und Freiheit also in enge Verbindung zueinander. Positive Freiheit – Freiheit des Wohlergehens (‚well being freedom’) – ist das eigentliche Ziel von Entwicklung. Diesem Ziel nähert man sich durch Förderung von Fähigkeiten und Schaffung eines günstigen soziopoliti- 33 schen und wirtschaftlichen Umfeldes. Negative Freiheiten (liberties) – mit Hobbes verstanden als Spielräume, in denen wir etwas ohne Hindernis tun können – stellen lediglich Mittel dar, die uns zur Erreichung des Ziels, Entwicklung, dienen können. Das gilt sowohl für die Freiheit von fremder Einmischung, wie sie etwa die Vertreter des Wirtschaftsliberalismus fordern, als auch – in anderer Weise – für die Freiheit von Unterdrückung. Es gibt zwei große, aus dem ‚Süden’ stammende Traditionen, die Entwicklung mit Freiheit assoziieren: die lateinamerikanische Befreiungstheologie (in enger Allianz mit der Befreiungspädagogik Paulo Freires) einerseits und Amartya Sens Theorie der Humanentwicklung andererseits. Während jene Freiheit vor allem negativ, als Befreiung, definiert, bestimmt sie Sen positiv, als Ausbildung von Fähigkeiten und Gestaltung von Lebensmöglichkeiten.“ 63 (iv) Verantwortung gegenüber der Natur und zukünftigen Generationen ist eigentlich das zentrale Argument, welches die Forschung in vielen Disziplinen auf Umwelt, soziale Aspekte und damit auch Armutsaspekte gelenkt hat. Das Spannungsfeld zwischen den Disziplinen und ihrer Verantwortung für die Umwelt und die Zukunft bleiben dabei aufrecht und zentral. Eine große Herausforderung stellt etwa die Vereinbarung von Wirtschaftswachstum und sozialer Verantwortung dar. Es stellen sich folgende Fragen: Warum wird die Forschung „verantwortlicher“? Wird verantwortliche Forschung umgesetzt? 64 Wer trägt die Verantwortung, sollten unethische Entscheidungen negative Effekte bewirken? Zentral für die Zukunft der Menschheit und der Erde ist die eingangs bereits erwähnte Frage nach dem Bevölkerungswachstum und dem Einfluss von Entwicklungszusammenarbeit auf Überbevölkerung. (v) Die letzte Regel fordert gegenüber vergangenen Zeiten ein völliges Umdenken und will eine niederschwellige Auseinandersetzung zwischen den Armen und den Hilfsorganisationen bzw. den Forschern/Forscherinnen, um – wie bei jedem anderen Problemlösungsansatz auch – zunächst die Schwierigkeiten und die verschiedenen Problemkomplexe zu erkennen. Wir haben sie eine anthropologische Sensibilität genannt. Zentral ist der Umgang und Kontakt mit den in Armut Lebenden; diese Sensibilität verkörpert damit ein Zugeständnis an die eigene Mündigkeit, gibt die 63 64 Kesselring, T. (2003), 88. Hier z.B. das erwähnte Spannungsfeld zwischen Armutsforschung und Armutsminderung. 34 Chance, sich auszudrücken und – auch wenn Ressourcen immer knapp sind – Wünsche zu äußern. Diese Art des Zugangs verkörpert grundlegende ethische Anliegen, was Freiheit und Gerechtigkeit betrifft. Im nächsten Kapitel wird über den Zugang zu den Betroffenen ausführlicher diskutiert (IV.1.d.). Diese fünf Regeln sind im Bündel anzuwenden. Nur wenn die Betroffenen als Subjekte behandelt werden, kann man von einem würdevollen Umgang sprechen, und nur wenn es zu einer Bevorzugung der Armen kommt, kann deren Freiheit Wirklichkeit werden. * * * Neben diesen fünf Richtlinien sollen einige historische und wichtige zeitgenössische Überlegungen die Eigenschaften ethischen Lebens – und die im Weiteren davon abzuleitenden Handlungsanweisungen für ethische Armutsforschung und –minderung – abrunden: Armutsfragen können nicht von Gerechtigkeitsfragen abgetrennt werden. Wir schlagen nachdrücklich vor, die Frage nach der Bestimmung und Bekämpfung von Armut einzubetten in die Frage nach einer guten, gerechten und anständigen Gesellschaft. Die Frage nach Gerechtigkeit ist freilich delikat: Aristoteles hat im fünften Buch seiner Nikomachischen Ethik zwei Aspekte von Gerechtigkeit unterschieden. Zum einen den Aspekt „jedem das Seine“ (suum cuique), zum andern den Aspekt der Ordnungsgemäßheit (der Gesetzmäßigkeit). Gerechtigkeit bedeutet, jedem das Seine nach einem bestimmten Gesetz zuzuteilen. Das hat Ulpian in einer berühmten Definition von Gerechtigkeit ausgedrückt: „Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum uinicuique tribuendi“ (Gerechtigkeit ist der feste und ständige Wille, jedem sein Recht zuzuteilen). Nun haben beide Aspekte ihre je eigenen Tücken: „Jedem das Seine“ geben zu können, setzt voraus, dass über „das Wesen“ oder „die Natur“ der Person, um die es geht, Klarheit herrscht. Ich muss wissen, was jemandem aufgrund seines Wesens zusteht, um das Postulat „suum cuique“ umsetzen zu können. Der Aspekt „Zuteilung nach einem Gesetz, gemäß einer Ordnung“ drückt eine Einschränkung persönlicher Willkür des Zuteilenden zugunsten einer „objektiven“ Ordnung aus. Allerdings wird man sich hier vier Fragen stellen müssen: Ist das Gesetz, nach dem zugeteilt wird, in sich gerecht? Ist es auf eine gerechte Weise zustande gekommen? Wird es auf eine gerechte Weise ausgelegt und angewandt? Und: Was kann alles nicht durch dieses 35 Gesetz geregelt werden? Das menschliche Leben ist schließlich nicht so aufgebaut, dass jeder einzelne Schritt im Leben eines Menschen durch Regeln vorgezeichnet wäre. So ergibt sich trotz der klaren Unterscheidung zwischen zwei Kernaspekten von Gerechtigkeit ein Schwall von Schwierigkeiten, der sich auf konkrete Situationen ergießt. Davon kann auch die Armutsforschung nicht absehen. Es ist nicht zu erwarten, dass Fragen der Armutsminderung von der Komplexität der damit verbundenen ethischen Fragestellungen in eine Ansammlung von simplen Rezepten transformiert werden können, ohne dass dadurch Standards intellektueller Redlichkeit verraten werden würden. Dennoch sind philosophische Überlegungen nicht nur bremsend und hinderlich auf dem Weg zur Armutsminderung. Dies kann man etwa daran sehen, dass Amartya sich an Aristoteles anlehnt. Dies zeigt sich etwa in Sens „gut aristotelischem Zugang von unten“, in der Berücksichtigung eines realistischeren Menschenbildes (Absage an das Leitkonzept eines homo oeconomicus), eines Menschenbildes, das auch Emotionen, Affekte und moralische Überzeugungen berücksichtigt. 65 Auch Sens Utilitarismukritik kann nicht von seinem aristotelischen Hintergrund abgelöst werden. Kehren wir nochmals zu Aristoteles zurück: In der Nikomachischen Ethik geht Aristoteles ausführlich auf Gerechtigkeit ein, die – wie wir bei der obigen Deklaration bereits gesehen haben – bei ethischen Befunden oft als wichtiges Kriterium im Mittelpunkt steht. Bei der Suche nach dem höchsten Lebensziel macht Aristoteles die Individualität für eine uneinheitliche Zielausrichtung der Menschen verantwortlich. Seine Auffassung von einem guten Leben lässt sich allgemein aber mehr durch „was wir sind und tun“ als durch „was wir haben“ definieren. Seine Frage nach dem guten Leben wird einmal damit beantwortet, dass Wahlfreiheit ein grundlegendes Kriterium für ein gutes Leben ist. Diese Überlegung hat sich Amartya Sen zu Eigen gemacht: „An impoverished life is one without freedom to undertake important activities that a person has reason to choose.“66 Grundlage menschlichen 65 66 Vgl. A. Sen (1999), Rationale Trottel: Eine Kritik der behavioristischen Grundlagen der Wirtschaftstheorie, in: S. Gosepath (Hrsg.), Motive, Gründe, Zwecke. Theorien praktischer Rationalität. Frankfurt a.M., 76–102. Sen, A. (2000), Social Exclusion: Concept, Application, and Scrutiny, in: Social Development Papers No. 1, Office of Environment and Social Development, Asian Development Bank (ADB). Manila, 3–4. 36 (Über–)Lebens ist also die Fähigkeit aufgrund von Kommunikation in einer sozialen Welt zu überleben. Die aristotelische Frage danach, wie das Leben erfolgreich sein kann, ist eine Frage nach individuellem Nutzen, steht dabei aber aufgrund des sozialen Charakters menschlichen Lebens immer auch in Verbindung mit der gesamten Gesellschaft, sodass individuell–ethische Ansichten mit dem persönlichen sozialen Charakter auf eine gesellschaftliche Ebene gebracht werden können. 67 Thomas Kesselring 68 sieht Gerechtigkeit als Schlüsselkategorie in der Entwicklungspolitik, da sie (1) im Zusammenhang mit der Verteilung bestimmter materieller Güter und Ressourcen – meist als (aristotelische) Verhältnisgleichheit, (2) beim Bemühen um prozedurale Gerechtigkeit und (3) im Zusammenhang mit dem Markt als ethischer Grundbegriff immer wieder vorkommt. Eine Gesellschaftsordnung ist nach Kesselring dann ungerecht, „wenn Menschen, die auf ihre Gestaltung keinen Einfluss nehmen können, im Endeffekt unter dieser Ordnung leiden und wenn diese Ordnung nicht die einzig mögliche ist – wenn es dazu also realisierbare Alternativen gibt.“ 69 Gerade was die prozedurale Gerechtigkeit betrifft, diskutiert Kesselring verschiedene philosophische Positionen im Zusammenhang mit einer Verpflichtung zur (Entwicklungs–)Hilfe, was implizit eine Diskussion über die (Nicht–)Legitimation der Armutsforschung und –minderung, wie wir sie verstehen, nach sich zieht. So zitiert er den Utilitaristen Peter Singer,70 der für die Bekämpfung absoluter Armut „mit allen verfügbaren Mitteln“ aufgrund einer individuellen Verpflichtung zur Hilfe eintritt, insbesondere dann, wenn wir dazu befähigt sind und mit der Hilfeleistung kein Verlust anderer moralischer Werte verbunden ist. Außerdem vollzieht er als Utilitarist die ethische Bewertung bei den Resultaten von Handlungen und nicht bei den Bedingungen dafür. 67 68 69 70 Vgl. Böhler, T. (2004), Der Fähigkeiten–Ansatz von Amartya Sen und die „Bevorzugte Option für die Armen“ in der Befreiungstheologie – Zwei Ansätze auf dem Weg zur ethischen Begründung von Armutsforschung und Armutsminderung, Facing Poverty, Working Paper Series: Facing Poverty No.5, 6–7. Vgl. Kesselring, T. (2003), Ethik der Entwicklungspolitik. Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung. München. Kesselring, T. (2003), 27. Vgl. Kesselring, T. (2003), 31 37 Demgegenüber sagt Garrett Hardin: „Unter bestimmten Bedingungen stiftet die Nahrungsmittelhilfe an notleidende Gesellschaften längerfristig mehr Schaden als ihre Unterlassung, weil sie zum Wachstum der Bevölkerung beiträgt und in wenigen Generationen zu einer größeren Zahl Notleidender führt, als wir heute zählen.“ 71 Hardin vertritt damit eine „Ethik der Zurückhaltung – namentlich wenn es um die Intervention in bestehende Systeme geht“ 72. Kesselring verweist im Weiteren auf Onora O’Neills Kritik am Utilitarismus, „denn erstens steht die utilitaristische Grundidee, ‚das größte Wohl der größten Zahl’ zu realisieren, zur Gerechtigkeit in einem Spannungsverhältnis, zweitens geht der Utilitarismus von den jeweils vorliegenden Interessen des Einzelnen aus, ohne danach zu fragen, welche dieser Interessen legitim sind, drittens nimmt er auch die gegebenen sozialen Strukturen hin, als gäbe es dazu keine Alternativen. Schließlich liegt viertens ein grundsätzliches Handicap des Utilitarismus in seiner Tendenz zur moralischen Überforderung.“73 O’Neill setzt sowohl auf individueller als auch auf institutioneller Ebene eine Verpflichtung, für Bedürftige tätig zu werden, als unbestreitbar fest. Sie argumentiert dies mit Kants Kriterium der Universalisierbarkeit 74 im Zusammenhang mit der Frage, wann eine Handlung geboten ist. O’Neill spricht von zwei strikten Pflichten in Verbindung mit dem staatlichen oder institutionellen Handeln: „1. auf Menschen keinen (illegitimen) Zwang ausüben, 2. sie nicht täuschen.“ 75 Drei Tugendpflichten sieht sie als zentral: „(a) Andere Personen respektieren 71 72 73 74 75 Kesselring, T. (2003), 35f. Kesselring, T. (2003), 41. Kesselring, T. (2003), 42; Vgl. auch O’Neill, O. (1996), Faces of Hunger. An Essay on Poverty, Justice, and Development. London, 99: „Der Utilitarismus entfaltet gegenüber den etablierten Sozialstrukturen und den sie stützenden moralischen Intuitionen keine kritische Kraft“. Die Erwartungshaltung aller führt zu Handlungsgebot oder Unterlassung, wobei Kant hier Rechts– und Tugendpflichten unterscheidet. Unter letztere fällt auch die Hilfe gegenüber Notleidenden. O’Neill weicht hier bewusst von Kant ab, indem sie die Tugendpflichten dem Staatsbürger zuordnet. „Gerechtigkeit hat mit Rechten zu tun, die wir Einzelpersonen zuschreiben, auf die wir einen Anspruch haben und die wir erzwingen können (enforceable)“ (O’Neill, O. [1986], 102, zit. nach Kesselring, T. [2003], 44). O’Neill, O. (1986), 139, nach Kesselring, T. (2003), 45. Wie Kesselring erwähnt (49) wurde die erste Pflicht später (O’Neill, O. [1996], Tugend und Gerechtigkeit: Eine konstruktive Darstellung des praktischen Denkens. Berlin, Kap. VI,3) dahingehend umgewandelt, dass diejenigen Formen von Zwang zu verwerfen seien, die die Betroffenen illegitimerweise schädigen. 38 (sie nicht missachten), (b) sich nicht vor Wohltätigkeit drücken, (c) die Entwicklung von Fähigkeiten nicht vernachlässigen.“ 76 Kesselring kommentiert, dass bei O’Neill „die Herstellung gerechterer Verhältnisse … daher eine kategorische Pflicht [sei] – allerdings eine kollektive Pflicht, die sich letztlich an Institutionen“ 77 richtet. Bei der Frage nach der Verpflichtung zur Hilfe geht Kesselring nun von Grundrechten aus indem er Vertragstheoretiker mit unterschiedlichen Grundrechten zitiert. 78 (1) Robert Nozick, als „Vertreter des Wirtschaftsliberalismus [betrachtet] Wettbewerb und Tausch als Grundformen menschlichen Zusammenlebens und [erhält] entsprechend diejenigen Rechte für die wichtigsten, die wir beanspruchen müssen, um im Konkurrenzkampf der Wirtschaft erfolgreich zu bestehen. 79 […] Ein geläufiger Einwand gegen diese Position lautet: Menschen müssen zunächst einmal eine gesicherte Existenz haben und vor Aggressionen geschützt sein.“ 80 (2) Henry Shue vertritt die Auffassung, dass „der Mensch primär Subsistenz– und Sicherheitsrechte“ 81 braucht. (3) John Rawls Idee ist vor allem „diejenigen Grundrechte schützen, über die eine Person verfügen muss, um in der Lage zu sein, mit ihresgleichen friedlich zu kooperieren“ 82. Rawls unterstellt, „dass alle Menschen über zwei ‚Vermögen’ verfügen, die sie zu fairer Kooperation befähigen, nämlich einen ‚Sinn für Recht und Gerechtigkeit’ und die ‚Befähigung zu einer Konzeption des Guten’, das heißt die Fähigkeit zu einer eigenen Lebensgestaltung.“ 83 „Die Menschen haben diese Vermögen nicht nur, sie betrachten einander auch als Personen, welche diese Vermögen im erforderlichen Umfang ausgebildet haben.“ 84 76 77 78 79 80 81 82 83 84 O’Neill, O. (1986), 141 in: Kesselring, T. (2003), 45–6. Kesselring, T. (2003), 47. Kesselring, T. (2003), 51. Bei Nozick stehen die Fragen nach der Aneignung und Übertragung von Eigentum im Mittelpunkt. Kesselring, T. (2003), 51. Ebd. Ebd. Rawls, J. (1983), Der Vorrang der Grundfreiheiten. In: Ders., Die Idee des politischen Liberalismus (1992), 172, nach Kesselring, T. (2003), 63. Rawls, J. (1983), 173, zit. nach Kesselring, T. (2003), 63. 39 Zu den unterschiedlichen Ansätzen dieser drei Vertragstheoretiker sagt Kesselring: „Je nachdem also, welche Grundrechte man für die wichtigsten hält, sieht auch der Gerechtigkeitsmaßstab unterschiedlich aus.“ 85 * * * Betrachtet man die unterschiedlichen Ausgangspositionen der Menschen bezüglich ihrer (finanziellen, kreativen, geistigen etc.) Ausstattung, ihres Zugangs zu Informationen86 und ihren damit verbundenen Möglichkeiten, so kann man auch die Perspektive einnehmen, dass diese Verteilung auf dem Zufall beruht, in welche Familie, welche Gesellschaftsschicht und welches Land man geboren wird. Das Bewusstsein über diesen Zufall soll dazu führen, (1) dass man in seinen Handlungen Bescheidenheit an den Tag legt, da man zum Erreichen der eigenen Ausgangsposition nichts beigetragen hat und dankbar für einen „guten Start ins Leben“ ist; (2) dass man offen für die Probleme schlechter ausgestatteter Menschen und Gesellschaften ist und durch Selbstlosigkeit das Leid anderer erkennt; (3) dass man die Notwendigkeit des sozialen Charakters menschlichen Lebens dahingehend nutzt, sich mit den Lebensgeschichten anderer Menschen vertraut zu machen und bei gegebener Notwendigkeit eine im Bereich des Möglichen liegende Hilfestellung anbietet. Aus dieser Motivation heraus (vgl. Abbildung 2) gäbe es also eine klare Verpflichtung des Menschen zur Hilfe, die zwar nicht einklagbar ist, aber eine wichtige Grundvoraussetzung für ein friedliches Zusammenleben und somit die einzig langfristig anzustrebende Win–Win–Situation darstellt. 87 85 86 87 Kesselring, T. (2003), 64. Vgl. Stiglitz’ Theorie asymmetrischer Informationsverteilung bei Investoren und Unternehmen. Rawls Theorie der Gerechtigkeit ähnelt diesem Argument insofern als durch den Schleier des Nichtwissens die zufällige, persönliche Lebenssituation noch nicht bekannt ist und sich dadurch Selbstlosigkeit und Solidarität besser argumentieren lassen. Beginnt die Argumentation bei der „Zufallsthese“, so kann auch bei Kenntnis der eigenen Lebenslage eine Verpflichtung zur Nächstenhilfe eingefordert werden. 40 Abbildung 2: „Zufallsthese“ Bescheidenheit: - Abstraktion von der eigenen Position - Erkennen von Problemen und Gruppenprozessen Offenheit: - Betrachtung anderer Lebenspläne - commitment und Hilfsbereitschaft Solidarität: - Rücksicht durch persönliche Situation - kein Ausnützen persönlicher (Macht-)Vorteile ZUFALLS THESE Gleichheit: - Begründung dieser Positionen qua Menschsein und dem Gebot gleicher Würde Die „Zufallsthese“ geht also von einer schicksalhaften, vorbestimmten Startposition im Leben des einzelnen Menschen aus und ist einer der wenigen Bereiche menschlichen Lebens, der nicht interessensgeleitet oder selbstbestimmt sein kann. Folgt man der „Zufallsthese“, so kann einerseits auf theologische Gerechtigkeitsargumente, 88 andererseits aber auch auf ethische Überlegungen zu Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit (siehe oben) verwiesen werden. Mit diesem Argument wäre die Verantwortung der Bevorzugten und besser Gestellten (und damit auch der meisten in der Armutsforschung und Armutsminderung tätigen Menschen) nicht von der Hand zu weisen. * * * All diese theoretischen Auseinandersetzungen mit ethischen Aspekten – hauptsächlich Komponenten eines Gerechtigkeitsverständnisses in der heutigen Weltgesellschaft – geben partiale Antworten auf die Frage nach 88 Vgl. Böhler, T. (2004), Der Fähigkeiten–Ansatz von Amartya Sen und die „Bevorzugte Option für die Armen“ in der Befreiungstheologie – Zwei Ansätze auf dem Weg zur ethischen Begründung von Armutsforschung und Armutsminderung, Working Paper Series: Facing Poverty No. 5, 54–8. 41 der gerechten Gesellschaft. Die in diesem Zusammenhang anstehenden möglichen ethischen Konsequenzen für die Armutsforschung sollen im nächsten Teil angedacht werden. IV. Ethik in der Armutsforschung und Armutsminderung Vor der Auseinandersetzung mit ethischen Argumenten im Zusammenhang mit Armut soll versucht werden, Armutsforschung und Armutsminderung – aufgrund der unterschiedlichen ethischen Anknüpfungspunkte – zu unterscheiden: Wie Abbildung 3 zeigt, scheint eine Trennung der beiden Gebiete aufgrund ihrer Wechselbeziehungen nur schwer möglich. Was die Untersuchung der beiden Bereiche angeht, so wird es in der Armutsforschung mehr um Prozesse in Forschungsgemeinschaften gehen, während in der Armutsminderung viel über den Kontakt mit den Betroffenen gesagt werden muss. Feldforschung entspricht dabei einer praktischen Forschung und Strategieentwicklung einer auf die Theorieebene reflektierten Praxis. Während die Strategieentwicklung im Rahmen von IV.1. Armutsforschung Erwähnung findet, soll Feldforschung unter IV.2. eigens besprochen werden, bevor unter IV.3. die praktische Arbeit in der Entwicklungszusammenarbeit auf ihre Legitimation hin betrachtet wird. Sowohl die/der vor Ort tätige PraktikerIn als auch die/der ForscherIn tragen also wie eingangs bereits erwähnt Verantwortung, wobei sie bei der Verrichtung ihrer Arbeit auf individueller Ebene immer genug Spielraum haben sollten, ihre Arbeit nach Rawls’ Sinn für Recht und Gerechtigkeit und der Befähigung zu einer Konzeption des Guten auszurichten. Um dieser Verpflichtung nachzukommen, ist der Arbeitsprozess – von der Definition der Forschungsfrage über eventuelle Feldforschung bis hin zu den möglichen Folgen des Projekts – kontinuierlich von einem Reflexionsprozess zu begleiten. Der Großteil ethischer Kritikpunkte liegt u.E. in der fehlenden Abwägung von allen Ursachen und Konsequenzen eines Forschungsprojekts. Auch in der konkreten Arbeit zur Minderung von Armut müssen – gerade aufgrund der meist großen kulturellen und sozialen Distanz – Reflexionsblöcke eingeschoben werden, um das eigene Handeln genauso zu beurteilen wie die Reaktionen der Menschen, mit denen man arbeitet. Diese Verpflichtung auf Metareflexion lässt Armutsforschung zu einem integrierten Teil von Armutsminderung werden. 42 Abbildung 3: Armutsforschung und Armutsminderung Armut als Phänomen Armutsforschung Theoriearbeit Feldforschung Armutsminderung Strategieentwicklung Entwicklungszusammenarbeit Die Dichotomie zwischen Rahmenbedingungen und Durchführung entspringt der beschriebenen Trennung von Armutsforschung und Armutsminderung (und damit auch den beiden in Abbildung 3 angedeuteten Einflusssphären Ideologie und Wirtschaftsordnung). Da die Entstehung eines bestimmten Forschungsprojekts meist mit einer Vorstellung über ihr Ergebnis, oder zumindest mit dem Willen, auf bestimmte Aspekte aufmerksam zu machen, verbunden ist, sollte eine ethische Reflexion bereits bei der Motivation für die Tätigkeit ansetzen. Armutsforschung kann somit unterteilt werden in die Definition des Forschungsprojekts, die Vorstellung des Forschungsvorhabens, die Finanzierung des Projekts, die Durchführung und die anschließende Evaluation. Innerhalb dieses Tätigkeitsbereiches ist die Armutsminderung teilweise einzuordnen, da die Ausführung der Forschung bereits die Armut lindernde Folgen haben kann. Der Großteil der Armutsminderung ist aber der Forschung nachgelagert, da im Normalfall 43 erst die Umsetzung der Ergebnisse die armutslindernden Effekte nach sich zieht. Die Konsequenzen eines Projektes liegen neben ihrer theoretischen Relevanz eben auch in einer möglichen Umsetzung in Armut reduzierenden Handlungen: Ein Projekt kann für Betroffene die gesamte soziale, kulturelle und wirtschaftliche Situation verändern. Dabei ist nicht gesagt, ob diese Veränderungen immer als positiv angesehen werden. Auch wenn das Ergebnis der Arbeit von Auftraggebern oder der Wissenschaft nicht akzeptiert werden sollte, so können Erwartungen enttäuscht werden. Der/die Forschende kann eine Verpflichtung gegenüber den betroffenen Armen wahrnehmen. Armutsforschung passiert nicht im Hintergrund, sondern wird durch soziale Kontakte mit den Betroffenen, qualitative Interviews und einer genauen Auseinandersetzung mit deren Umwelt oft erst möglich. 1. Armutsforschung a. Die Perspektivität in der Armutsforschung Seit Mitte des letzten Jahrhunderts ist die Entwicklung der Länder des „Südens“ ein erklärtes Ziel; von poverty reduction oder dem Kampf gegen Armut war damals noch nicht die Rede; und schon gar nicht von der systematischen Erforschung von Armut und ihren Ursachen oder von Strategien zur Verringerung und Vermeidung von Armut. Wirtschaftliche Interessen, die angesichts eines starken Bevölkerungswachstums nicht nur ein exponentiales Wachstum humanitärer, sozialer und ökologischer Probleme,89 sondern auch neue Absatz– und Marktchancen für die entwickelten Länder boten, standen nachweislich im Vordergrund. Deutlich wird diese Dominanz des „Westens“ (in der Zeit des Kalten Kriegs) oder des „Nordens“ (im Sinne des heutigen Nord–Süd–Gefälles) verstärkt durch die Betrachtung der Forschungs– und Förderschwerpunkte. Es kann durchaus davon gesprochen werden, dass durch die Er89 In Indien etwa führte das rasante Bevölkerungswachstum zu einem Familienplanungsprogramm (1952). Dieses verkam jedoch zu einem „bürokratischen Verteilungsprogramm von Verhütungsmitteln. Der ausbleibende Erfolg führte zu dessen Einstellung und bewog die Regierung Indira Gandhi, Mitte der 1970er–Jahre mit groß angelegten Zwangssterilisierungen das Bevölkerungswachstum zu bremsen.“ In: Böhler, T. (2003), Schulbildung als Einflussfaktor für die Bevölkerungsentwicklung in Indien. Berlin, 81. 44 arbeitung von Strategien der Armutsminderung in „westlich“ besetzten Forschungseinrichtungen ein wichtiger Machtfaktor in den Industrieländern erhalten bleibt, auch wenn „dezentrale“ (also „lokale“) Forschungsinitiativen zunehmend an Bedeutung gewinnen. Armutsforschung hört nicht bei der Forschung auf. Offensichtlich handelt es sich dabei um eine Art von Forschung, welche ein Wissen erzeugt, das bestimmte Handlungen nach sich ziehen kann. Armutsforschung ist auf Veränderung ausgerichtet. Dies ist ein weiteres typisches Problem der Armutsforschung – der Schritt hin zur Verwirklichung und zur Veränderung.90 Armutsforschung muss sich der von Alicia Frohmann gestellten Frage stellen: para qué estudiar la pobreza? 91 Die theoretische Untermauerung von Aktivitäten kann die Praktiken in der Armutsminderung also beeinflussen und die vorhandenen Strukturen somit stärken oder abändern. Ethische Kritik lässt sich somit nicht nur an der Umsetzung, sondern auch bereits an der Planung und Ursachenforschung festmachen. Das Dilemma, in dem sich viele ArmutsforscherInnen befinden, liegt nahe: Der inzwischen starke Wettbewerb zwischen EZA–Organisationen um Aufträge und die Verteilung öffentlicher Entwicklungsgelder an private Unternehmen zur Auftragsdurchführung steht der eigentlichen Aufgabe gegenüber, einen gerechten Weg zu finden, mit den Betroffenen über notwendige Maßnahmen zu beraten, gemeinsam Ziele zu vereinbaren und die Umsetzung zu besprechen. Die damit angesprochene Verantwortung ist etwas langfristiges, besonders da sie sich von Armutsforschern/Armutsforscherinnen bis hin zu politischen Entscheidungsträgern/Entscheidungsträgerinnen und Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen einer Organisation vor Ort ausdehnen kann. Die Kooperation dieser stakeholder mit verschiedenen Erfahrungshorizonten ist daher ein großes Ziel der Armutsforschung, das auch zur Annäherung an eine ethisch richtige Gangart beiträgt (Multiperspektivität). Es liegt nahe, dass die ethischen Grundmuster bereits in der Forschung verankert sein müssen, um deren Umsetzung auch zu gewährleisten. In der zirkulären Abfolge von Armutsforschung, Minderungspraxis und erneuter Theorienbildung anhand von Feldforschung bedarf es der Freiheit der 90 91 Vgl. McGee, R. und K. Brock (2001), From poverty assessment to policy change: processes, actors, and data. IDS Working Paper 133. Sussex. Vgl. A. Frohmann, (1991), Para qué estudiar la pobreza? Objetivos y apropriación instrumental de la investigación social sobre pobreza. Santiago. 45 ForscherInnen, dem Informationsmaterial unvoreingenommen und unparteiisch gegenüber aufzutreten. b. Forschungsschwerpunkte Prinzipiell stellt sich die Frage nach der Auswahl der Forschungsbereiche. Damit implizit verbunden ist die Rolle der Betroffenen und die der ForscherInnen; es geht um die Möglichkeiten, Themen auszuwählen. Das ist eigentlich die Basis dafür, ob Armutsforschung überhaupt Sinn macht oder nicht. Die Entstehung von neuen Theorieansätzen ist oft damit verbunden, dass Forschern/Forscherinnen interessante Ansätze von anderen ForscherInnen übernehmen und in anderen Kontexten weiter hinterfragen. Die Entstehung von Schwerpunkten passiert oft zufällig und willkürlich. Es kommt darauf an, in welchen Journals Forschungsergebnisse publiziert und wie bekannt neue Überlegungen überhaupt werden können. Somit muss die Forschung mit der Vernetzung mit anderen Einrichtungen einhergehen; Sympathie wird zu einem wesentlichen Faktor. Die Realität der in Armut lebenden Menschen und die in der Wissenschaft schwerpunktmäßig geförderten Forschungsbereiche müssen inhaltlich nicht immer übereinstimmen: Paradigmen wie ownership und empowerment sind wichtig; ihre tatsächliche Umsetzung scheint dennoch für eine Bevölkerungsmehrheit nach wie vor zu weit gegriffen, da ihnen die Grundausstattung zum Überleben fehlt. 92 Bei der Reflexion der Rahmenbedingungen sollten die Auftraggeber des Projekts im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, welche die unterschiedlichsten Motivationen haben können: Es dominieren Regierungen im Norden (Verpflichtung gegenüber dem Süden), Privatunternehmen, oft multinationale Unternehmen (MNCs), Regierungen im Süden (je nach politischem Willen mitunter die besten Ansprechpartner), nichtstaatliche Organisationen (ziehen die Umsetzung der Forschung vor), Forschungsinstitutionen (mit einem den NGOs gegenüber stehenden theoretischen Schwerpunkt) und natürlich internationale Organisationen (deren Hauptziel es sein soll, Verpflichtungen von allen Ländern für die Umsetzung 92 Auch wenn argumentiert wird, dass durch ownership und empowerment eine langfristige Existenzsicherung geschaffen werden kann, so ist die Verfolgung dieser Ansätze in Regionen extremer absoluter Armut schwer durchzusetzen. 46 von Entwicklungszielen zu erhalten). Die unterschiedlichen Auftraggeber haben dabei diverse Auffassungen von den best practices einer Armut erforschenden Tätigkeit, 93 welche die Realität der in Armut lebenden Menschen oft zu wenig berücksichtigt. In diesen unterschiedlichen Bestrebungen könnte auch der Grund für schlechte Erfolge und unbefriedigende Resultate so vieler Forschungsprojekte in diesem Bereich liegen. Die Kenntnis der verschiedenen Rollen der Akteure/Akteurinnen in der Armutsforschung scheint in jedem Fall hilfreich bei der Abschätzung von Handlungsabsichten und Handlungszielen zu sein. Durch die Vielzahl der Akteure/Akteurinnen kommt es auch vermehrt zum Wettbewerb zwischen den einzelnen Gruppen, was eine Umorientierung in den Schwerpunkten der Arbeit und der ideologischen Ausrichtung der Einrichtungen zur Folge haben kann, denn gerade in diesem Forschungsbereich ist der Kampf um Finanzierung ein alltäglicher. Es hat sozusagen der Einzug der Wirtschaft in das Feld der Armutsforschung dafür gesorgt, dass man sich nicht nur der Hilfe für die Armen, sondern auch der Befriedigung der Auftrag– und Geldgeber verpflichten muss bzw. sich auf Nischenmärkte zu beschränken hat. Ob nun diese Auftraggeber die Förderung von Forschungsvorhaben nach ethischen Grundsätzen ausgewählt haben, kann dabei entscheidend für den Erfolg der Projekte sein. Die Definition der Armutsursachen und die Problemidentifizierung in den verschiedenen lokalen Umwelten erfolgt mitunter also oft von außen. Freiring betont etwa die fehlende Selbstbestimmung indigener Gruppen in Lateinamerika und die daraus resultierenden Spannungsfelder: „[…] in most cases there is no disaggregated data to provide an exact description of indigenous peoples’ poverty [as] indigenous peoples generally reject external attempts at defining them. [Often] systematic marginalization of indigenous peoples in both colonial and republican history [was the case] […]. Identity is a highly politicized issue. For some indigenous peoples, institutionalized racism has resulted in low self–esteem and a rejection of indigenous identity, language and names. Some states are reluctant to acknowledge the existence of indigenous peoples, as this has implications for the allocation of collective rights […]”94 93 94 Vgl. Bammer, A. und T. Böhler (2004). Freiring, B. (2003), Indigenous Peoples and Poverty: The Cases of Bolivia, Guatemala, Honduras and Nicaragua, http://www.minorityrights.org am 12.12.03, 2–3. 47 Im Versuch, Schwerpunkte nach den tatsächlichen Bedürfnissen der betroffenen Menschen auszurichten, spielen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) eine große Rolle, um die Dominanz von Regierungseinrichtungen und politisch einflussreichen Gruppen (und dazu zählen arme Menschen selten!) auszugleichen. Gerade auch der Wissenschaft als „dritte Kraft“ (neben Staat und Wirtschaft) kommt hier eine besondere Verantwortung zu. c. Datenmaterial Entscheidend für die empirische Armutsforschung ist allemal die Qualität des Datenmaterials. Es ist dabei wichtig, die Wirklichkeit, die Erfahrungen und Wahrnehmungen der armen Menschen, und auch die relevanten strukturellen Faktoren und die Interaktionen von Armen mit formellen und informellen Institutionen der Gesellschaft zu verstehen. Es ist wichtig, nicht nur kalte Daten (von Fakten, Abbildungen und Statistiken), sondern auch – im Sinne eines Überlegungsgleichgewichts – die warmen Informationen persönlicher Begegnungen in Betracht zu ziehen. Armutsforschung soll einen Ausgleich zwischen Wissen durch Beschreibung und Wissen durch Begegnungen, zwischen Analyse und Phänomenologie, zwischen Armutsmodellen und der Erfahrung über die Realität armer Menschen schaffen. In diesem Zusammenhang entspricht Feldforschung – obwohl auch dieser Spezialbereich mit einigen ethischen Schwierigkeiten verbunden ist 95 – dem Versuch, sich dem Untersuchungsfeld zu nähern und die Probleme der Menschen vor Ort kennen zu lernen. Gerade was persönliche Begegnungen betrifft, so bedarf es einigen Abstraktionsvermögens der ForscherInnen, um einerseits von subjektiven und emotionalen Impressionen zu abstrahieren und um andererseits zu erkennen, dass die eigene Rolle als BeobachterIn und ForscherIn die Umwelt der Betroffenen für die Zeit der eigenen Anwesenheit mitunter nachhaltig verändert. Das Datenmaterial selbst unterliegt einer Vielzahl subjektiver Auswertungen, die – bis sie in eine wissenschaftliche Debatte einfließen – einer Vielzahl von Veränderungen – bewusst oder unbewusst – unterzogen werden. Dazu zählen schon die Art der Fragestellung bei Interviews, die Art der Aufzeichnung und die Betrachtung verschiedener Aspekte bei 95 Dazu mehr unter Pkt. IV.2. 48 teilnehmender Beobachtung. Das Untersuchungsinteresse wird dabei immer von persönlichen, aber auch organisationellen Interessen96 geleitet. Auch die Art der Verschriftlichung von Ergebnissen, die Wortwahl, die Schwerpunktsetzung und die Vernachlässigung einzelner Erkenntnisse, die etwa nicht zum erwarteten Resultat passen oder zu komplex zu fassen sind, spielen eine große Rolle. Erfahrung ist in der Armutsforschung – etwa im Lesen von Forschungsberichten – deswegen so wichtig, weil bekannte und wichtige, aber manchmal nicht angesprochene Konfliktlinien, eine Lenkung der Argumentation in eine bestimmte Richtung bedeuten können. Ausgewogene Standpunkte und multiperspektivische Betrachtungen wären für eine ausgewogene Darstellung von Armutsschwerpunkten eine Grundlage. Ein wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit der Sammlung von Datenmaterial ist damit auch die (Un)Sichtbarkeit von Armut bzw. die versteckte Armut: Amartya Sen hat davon gesprochen, dass arme Menschen sich ihrer Situation schämen, nicht gesehen werden wollen. Oft werden die Ärmsten auch aus Angst oder aufgrund bestimmter Strukturen versteckt. Beim Besuch von ländlichen Gebieten werden die ärmsten (also die unterernährtesten, kränksten, behinderten, leisesten und ungebildetsten Menschen) nicht gesehen; das ganze Ausmaß der Armut – und damit auch die Lebenssituation der beobachteten Menschengruppe – sind also nie ganz sichtbar. Manchmal befassen wir uns mit Menschen, die frei über ihr Leben und die Wurzeln ihrer Armut reden wollen oder können. Diese Aussagen sind selektiv und für die Erarbeitung von Strategien deswegen nicht empfehlenswert, da sie nur einen kleinen Teil der Armen repräsentieren. Auch das sind Eigenheiten der Armutsforschung. Ist der Untersuchungsrahmen ein Dorf oder eine Nachbarschaft, so kann es insofern zu Schwierigkeiten kommen als die Ärmsten oft von der Gemeinschaft ausgeschlossen sind, weshalb sie auch nicht in der öffentlichen Diskussion vertreten sind.97 96 97 In diesem Zusammenhang ist der Begriff des (organisational) commitment wichtig: In der Armutsforschung sind viele ForscherInnen aufgrund persönlicher Überzeugungen und eines speziellen Engagements tätig, welches aber mit der Zeit oft von den Zielen der Organisation, für die sie arbeiten – wenn diese nicht ihren persönlichen entsprechen –, beeinflusst wird. Vgl. Gujit, I. und M. Shah (1998), The myth of community: gender issues in participatory development. London. 49 d. Zugang zur Armut Wir müssen das Problem von innen sehen. Es ist etwas ganz anderes, Armut von außen oder von innen zu betrachten. 98 Pierre Bourdieu und sein Forschungsteam haben in einer berühmt gewordenen Studie versucht, diese Kluft zu durchbrechen, indem sie eine große Anzahl von Aussagen armer Menschen gesammelt haben. Was sind die großen Probleme in ihrem Leben? Wie erleben sie ihr eigenes Leben? Wie sehen sie die Strukturen der Gesellschaft?99 Wichtig in der Armutsforschung ist auch der Unterschied zwischen einem Ansatz des Erfordernisses und einem Ansatz des Wünschens, zwischen dem, was ForscherInnen denken, dass arme Menschen benötigen und dem, was sie wirklich wollen. Aus diesem Grund muss man die Stimmen der Armen inkludieren. Die Weltbank hat mit Voices of the Poor einen ersten großen Beitrag in diese Richtung geliefert. 100 Der englische Historiker und Politikwissenschafter Robert Chambers hat in Rural Development 101 die Distanz zwischen von Armut betroffenen Menschen und Armutsforschern/Armutsforscherinnen ausführlich thematisiert: Unter dem Outsider versteht Chambers die ArmutsforscherInnen, die zur Feldforschung in Entwicklungsländer fahren und zumeist urbane Intellektuelle mit hoher Lebenserwartung und Bildung sind. Chambers betont, dass nur ein sehr kleiner Teil dieser, unserer Klasse, den Weg gewählt hat, Handlungen zu setzen, welche ihre eigenen Privilegien zurücksetzen und den Armen konkret helfen. Nach Chambers haben dies viele nicht getan, weil es zwischen den Insiders und Outsiders eine große Distanz gibt. Die Outsider haben zudem die freie Wahl, Dinge zu tun oder Diese grundlegende erkenntnistheoretische Herausforderung wurde von Thomas Nagel bereits angesprochen: Nagel stellte die Frage, wie es denn wäre, eine Fledermaus zu sein. Wir können uns, zum einen, vorstellen, wie es sich für uns anfühlen würde, mit Sensoren ausgestattet herumzufliegen, aber wir können nicht und werden uns nie vorstellen können, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein, in: Philosophical Review 83 (1974) 435–450; T. Nagel (1986), The View from Nowhere. New York. Für den Bereich der Armutsforschung bedeutet dies, dass man zwischen einer Innen– und einer Außensicht von Armut unterschieden muss. Aus diesem Grund tut sich die Disziplin auch so schwer, die Ansichten und Stimmen armer Menschen in ihre Arbeit einzubauen; vgl. dazu die Weltbank–Studien “Can Anyone Hear us” und “From many Countries”. 99 Vgl. Bourdieu, P. (1993), La misère du monde. Paris. 100 Vgl. http://www.worldbank.org/poverty/voices/index.htm am 15.1.04. 101 Chambers, R. (1987), Rural Development. Putting the Last First. New York. Kapitel 1. 98 50 nicht zu tun, begleitet von entsprechenden Einstellungen und Überzeugungssystemen. Für diesen Kontakt muss man die Kern–Peripherie–Unterschiede betrachten; es ist eine große Ignoranz gegenüber erforschbaren physikalischen und sozialen Aspekten ländlichen Lebens festzustellen. Eine Ursache für die derzeitige Verteilung ist unter anderem die professionelle Konditionierung, welche Vorurteile gegenüber der Wahrnehmung von ländlicher Entwicklung ausgelöst hat und die Kern–Themen immer noch weiter bevorzugen wird (beginnt bei Schulbüchern, Journals, Medien). Chambers hat darüber hinaus Vorurteile identifiziert, welche die städtischen Intellektuellen von den schlecht ausgebildeten Menschen am Land trennen:102 Das Straßenvorurteil (der Experte kann nur das sehen, was über Strassen zugänglich ist), das Jahreszeitenvorurteil (der Experte hat oft nur in der Trockenzeit Zugang zu entlegenen Gebieten), das Projektvorurteil (er nimmt vieles selektiv bezogen auf das aktuelle Projekt wahr), das Berichtvorurteil (er sieht Dinge aus der Perspektive desjenigen, der Berichte schreibt) und das Stadtvorurteil (der Experte ist aufgrund seiner städtischen Herkunft von den Betroffenen getrennt) sowie das Bildungsvorurteil (er ist durch seine Ausbildung von ihnen getrennt). Diese Vorurteile spielen eine wichtige Rolle in der Armutsforschung aufgrund der Kluft zwischen den (wohl gestellten) Forschern und den armen Menschen, die allzu oft zu Untersuchungsobjekten gemacht werden. e. Kategorien und Unterscheidungen Bei der Erarbeitung von Kategorien und Unterscheidungen spielt die Frage, wer (der Outsider?) fähig (und befähigt!) ist, verschiedene Klassifizierungen zu entwickeln, eine große Rolle. Die verschiedenen Kategorien und die terminologischen Eigenheiten haben sich historisch durch unterschiedliche Debatten in der Armutsforschung herausgebildet. So gibt es etwa einen legalistischen Diskurs, der Armut danach unterscheidet, ob die Betroffenen ihre Ansprüche geltend machen können (bekämpfte vs. versteckte Armut).103 Im ökonomischen Diskurs werden hauptsächlich die Be102 103 Chambers, R. (1987), Kapitel 3. Vgl. Hauser, R. und U. Neumann (1992), Armut in der Bundesrepublik Deutschland. Die sozialwissenschaftliche Thematisierung nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Leibfried, S. und W. Voges (Hrsg.), 237–71. Auch die folgenden Diskurse werden bei Leibfried/ Voges erwähnt. 51 rechnung von Grenznutzen und der Antrieb zur Maximierung persönlichen Einkommens in den Mittelpunkt gestellt. Armut wird als Scheitern von einkommensbezogenen Arbeitsanreizen und als Unvollkommenheiten des Marktes wie der Mangel an Information und Mobilität diskutiert. Werte, Gefühle und Macht sind dabei schwer zu quantifizieren, weshalb sie ignoriert werden. Ein skandinavischer Beitrag ist der Diskurs „eines egalitären Durchschnitts“, welcher auf das Konzept der Gleichheit eingeht und sich auf den direkten Lebensstandard des Durchschnittsbürgers bezieht. 104 Es wird die Existenz von Armut bestritten, der Begriff Armut nicht verwendet. Beim behaviouristischen Armutsdiskurs, wo Einkommensniveaus ausgeblendet werden, gehen Lösungsansätze in Richtung Verhaltensanpassung 105 und bei der – hauptsächlich in der EU – verbreiteten Diskussion von “sozialer Exklusion“,106 wo (passiv) ausgeschlossene Menschen untersucht (und teilweise verharmlost) werden, sind diejenigen, die den Ausschluss (aktiv) in Gang setzen, nicht berücksichtigt. Dass in jeder dieser Debatten mit ganz anderen Kategorien und Unterscheidungen gearbeitet wird, ist also durchaus mit einer politischen Absicht der einzelnen ForscherInnengruppen zu verbinden. Die jeweilige Motivation ist also in der Analyse oder gar in der Weiterführung dieser Debatten unbedingt mitzudenken. Es sind aber nicht nur politische Verpflichtungen, sondern auch persönliche Vorlieben, individuelle Urteile und Schwerpunkte, die hier einfließen. Mit dem Gebrauch einer bestimmten Sprache (inklusive spezifischer Kategorien) wird ein subjektives Bild von Armut gezeichnet, das nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen muss. Ethisch betrachtet ist die objektive Wahrheit von gerade gängigen Kategorien und Unterscheidungen, deren sich die Forschergemeinde bedient, Z.B. Ringen, S. (1988), Direct and Indirect Measures of Poverty, in: Journal of Social Policy, 17/3, 351–365. 105 Vgl. Himmelfarb, G. (1984), The Idea of Poverty. London. 106 Vgl. Paugam, S. (1993), Société Française et Ses Pauvres: l’expérience du revenu minimum d’insertion. Paris; Ray, J.–C. (1993), An Introductory Note on Measuring the Adequacy of Social Security. in: Berghman, J. and B. Cantillon (Hrsg.): The European Face of Social Security, Avebury, 94–108; Byrne, D. (1999), Social Exclusion, Philadelphia, 10: „Arguing that post–industrial capitalism and its related social politics is converging around a norm of structural social exclusion and labour market flexibility, [Byrne] argues that this is driven by ideology and the subordination of social policies to an anticipation of business interests, as if such interests were simply separate from the process of social reproduction.” 104 52 mitunter durch ihre Subjektivität zu bezweifeln. Die Umkehr des Lernprozesses im Rahmen einer Forschungsarbeit in Richtung „Lernen von den Armen“ und die Überlegung, das Leben der Betroffenen in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen, 107 ist ein neues Paradigma, das – auch wenn es selbst ideologisch und politisch ist – zum Ausgleich der früher oft einseitigen Positionen in der Armutsforschung beitragen kann. Das ethische Dilemma bestand also lange darin, dass der Ausgangspunkt der Kategorien nicht bei den Betroffenen, sondern häufig bereits bei der Interpretation von Erlebtem oder Gesehenem durch die Forschergemeinschaft lag. Dazu kommt heute, dass die Multidimensionalität und somit auch die Interdisziplinarität der Armutsforschung ein so weitläufiges Spektrum an Kategorien und Unterscheidungen produzieren, dass der Weg hin zu einer Definition bzw. zumindest zur näheren Bestimmung des Themenbereichs Armutsforschung und der damit verbundenen Definitionsprobleme immer verzweigter wird. f. Definition von Armut Die große Fülle an Forschungsergebnissen wird von einem weiteren Aspekt begleitet, der Definitionsversuche verkompliziert: Politische Standards, Expertenstandards, ethische Standards (religiöse und sozialphilosophische Expertenstandards) und wissenschaftliche Standards legen fest, wer für die Definition von Mindesteinkommen etwa auf nationaler Ebene verantwortlich ist.108 Man kann sagen, dass diese Entscheidungspositionen nach vorausgehender Erfahrung verlangen. Ob diese allerdings im Bereich der Armutsforschung oder eher im politischen Wettbewerb für einflussreiche Positionen liegen, ist nicht immer klar. Als EntscheidungsträgerIn ist die Wahrscheinlichkeit, mit armen Menschen in ständigem Kontakt zu stehen und deren wichtige Anliegen und konkrete Probleme im Alltag zu kennen, gering. Deshalb sind Mindeststandards oft durch die unterschiedlichsten Konzepte, Definitionen und Messungen 109 bestimmt, was die Vielzahl der Ansätze erklärt, und deren Anwendung oft als zufällig erChambers, R.(1987), 207f. Hauser, R. (2001), Armutsberichterstattung, Vortrag beim ZUMA–Workshop über Armuts– und Reichtumsberichterstattung, Mannheim, 8.–9. 11. 2001. Berlin, 8. 109 Veit–Wilson, J. (1998), Existentielle Mindestsicherung, in: Voges, W. und Y. Kazepov (Hrsg.), 38. 107 108 53 scheinen lässt. Die Auswahl eines Ansatzes scheint von gewissen Grundannahmen abzuhängen, welche selbst selten hinterfragt werden (siehe dazu auch die angesprochenen ethischen Dilemmata in II.3): 110 (i) Die jeweils verwendete Definition steht im Spannungsfeld zwischen Realitätsnähe und subjektiver Konstruktion; (ii) Armutsdefinitionen scheinen von Trends abhängig zu sein, die einem Paradigma folgen, um populär zu werden; (iii) Machtstrukturen in der Armutsforschung lassen nur bestimmte Armutsdefinitionen bekannt werden; (iv) Die Multidimensionalität des Begriffs macht eine prägnante Definition schwierig; wichtige Aspekte werden ausgeklammert. Die Nichterwähnung impliziert dabei die vermeintliche Unwichtigkeit. Wie kann die Definition dem Vollständigkeitsprinzip genügen, (v) noch dazu, wenn durch die Vielschichtigkeit die gegenseitige Inkompatibilität entsteht? Auch wenn eine einheitliche Definition problematisch ist, scheint nur ein interdisziplinärer, multiperspektivischer und vor allem die Aussagen Betroffener integrierender Ansatz Zukunft zu haben. Die in II.3 dargestellten Definitionen von Armut sind ein Versuch, Armut zu fassen. Sie wird sie als „strukturelle Ausgrenzung“ durch „ungerechte Verteilung“ sehr allgemein aus einer Sicht von oben betrachtet. Als „Situation der Schwäche, Abhängigkeit oder der Erniedrigung“ wird das Leidensmoment betont; eine individuelle Ansicht wird angenommen. Beide Definitionen scheinen sinnvoll, täuschen aber mitunter darüber hinweg, dass die Wortwahl in diesen Definitionen subjektiv ist, der Definitionssatz von Outsiders erstellt wurde und ohne konkrete Beispiele warme Informationen (siehe IV.1.c. Datenmaterial) vorne weg lässt. Bei Berücksichtigung dieser Aspekte und bei der Betrachtung der Definitionsversuche als Schritte in Richtung einer universalen Armutsdefinition, die aufgrund der steigenden Komplexität des Phänomens vielleicht gar nie erreicht wird, kann diese Unternehmung jedoch mehr Gutes als Schaden anrichten und sollte daher unter diesen Rücksichten weiterverfolgt werden. 110 Der Beitrag von Andreß und Lipsmeier bestreitet sogar die Möglichkeit eines wissenschaftlichen Zugangs zu Armut. Vgl. Andreß, H.–J. und G. Lipsmeier (1995), Was gehört zum notwendigen Lebensstandard und wer kann ihn sich leisten? in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Das Parlament, Beilage B31–32/1995, 35–49. 54 g. Armutsmessung Eine große Herausforderung in der Armutsforschung ist die Bewertung von Armut. Wie kann man Armut bewerten und beurteilen, ohne dabei die Armen zu instrumentalisieren? 111 Wie kann Armut bewertet werden, ohne dabei die Komplexität des Phänomens außer Acht zu lassen? Wiederum gibt es hier harte und weiche Faktoren. Wir können die subjektive Dimension von Armut nicht „messen“. Andererseits können wir Veränderungen ohne gründliche Daten herbeiführen. Armutsforschung muss daher auch die Grenzen quantitativer Ansätze erkennen. Wenn man die Tyrannei der Quantifizierung in Schach hält, so hat man mehr Zeit, um Verhältnisse und Prozesse zu verstehen. 112 Daten können zudem auch verdunkelnd wirken, etwa bei den unbezahlten wirtschaftlichen Beiträgen von Frauen zum Familieneinkommen,113 beim Einfluss wirtschaftlicher Umstrukturierung auf die Verteilung und Intensität von Frauenarbeit 114 und bei den verschiedenen Arten wie Männer und Frauen unterschiedlich auf soziale Sicherungssysteme reagieren. 115 Es ist also ein Gleichgewicht zwischen harten und weichen Faktoren wichtig; eine der großen Schwierigkeiten in der Armutsforschung. Obwohl die Methodik der Armutsmessung der Ökonomie entspringt und somit die Festlegung etwa von Armutsgrenzen wissenschaftlich gesichert ist, darf dies nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass deren Umsetzung (also in der Praxis der Armutsminderung) – konkret etwa wo die Armutsgrenzen in der EU liegen – politisch impliziert ist.116 Vgl. Weltbank Poverty Group (1999), Consultations with the Poor: Methodology Guide for the 20 country study for the World Development Report 2000/01. Washington D. C. 112 Vgl. Chambers, R. (1987), 200. 113 Vgl. Tripp, A. M. (1992), The Impact of Crisis and Economic Reform on Women in Urban Tanzania, in: Beneria, L. und S. Feldman (Hrsg.), Unequal Burden: Economic Crises, Persistent Poverty, and Women’s Work. Boulder. 114 Vgl. Floro, M. S. (1995), Economic Restructuring, Gender and the Allocation of Time. World Development Vol. 23, 1931–39. 115 Vgl. Jackson, C. (1996), Rescuing Gender from the Poverty Trap, in: World Development Vol. 23, 489–504. 116 Vgl. Atkinson, A. B. (1998), Poverty in Europe. London, 112f. 111 55 h. Erkenntnistheoretische Probleme Armutsforschung steht auch großen erkenntnistheoretischen Überlegungen gegenüber: (i) Zunächst gibt es das Problem der fragmentierten Eigenschaften des Untersuchungsmaterials: „Armut als solche“ kann nicht beobachtet werden, wir sehen nur ihre Auswirkungen, (ii) das Problem der Vielfalt des Materials und der Quellen: alle Ebenen menschlichen Lebens können für Armutsforschung relevant sein, denn nicht nur infrastrukturelle und wirtschaftliche, sondern auch psychologische und soziale Faktoren können Ansatzpunkte liefern; (iii) das Problem der Perspektive: die „soziale Welt“ kann weder distanziert noch objektiv untersucht werden. Der Forscher/die Forscherin ist Teil der Wirklichkeit, die er oder sie untersucht. Dieses Problem kann auch das „Problem erkenntnistheoretischer Neutralität“ genannt werden: Wie kann die/der ForscherIn neutral sein? Ist es möglich bei Armut unparteiisch zu bleiben? Darüber hinaus übernimmt die/der ForscherIn mit Betreten des Feldes eine bestimmte Rolle. Er oder sie steigt in ein Netzwerk von Verbindungen, spielt Rollen, weckt Erwartungen und verändert die soziale Struktur des Feldes. Der Ethnograph/die Ethnographin arbeitet als „dritte Person“ im Feld.117 In diesen Problemen findet man auch eine ethische Dimension. i. Fazit Die Schwierigkeiten in der Armutsforschung entsprechen oft einem dafür charakteristischen Dilemma:118 Es gibt das Dilemma zwischen Forschung und Umsetzung, zwischen der Insidersicht und der Outsidersicht, zwischen qualitativer und quantitativer Forschung, zwischen gründlicher Forschung und schnellen Ergebnissen zwischen unterschiedlichen Sichtweisen und klaren Urteilen. Diese Spannbreite ist durch politische und wirtschaftliche Einflüsse entstanden; in dieser Landschaft muss sich jede/r ForscherIn einen Standpunkt suchen, von wo aus sie/er Armutsforschung mit gutem Gewissen betreiben kann. Zu dieser Standortbestimmung sollen die hier angesprochenen ethischen Anliegen, welche mit Armutsforschung verbunden sind, 117 118 Vgl. Hastrup, K. (1995), A Passage to Anthropology. London, 51. Vgl. Abbot, D. (1998), Dilemmas of researching poverty, in: Thomas, A., Chataway, J. und M. Wuyts (Hrsg.), Finding out fast: investigative skills for policy and development. London. 56 dienen. Kritische Armutsforschung hat – insbesondere in Zusammenarbeit mit Kulturanthropologie und Philosophie – noch viel Arbeit vor sich, auf dem Weg zu einer Disziplin, die das Prinzip der „Einbeziehung von Betroffenen“ mit ihrem lokalen Wissen ernst nimmt. 2. Feldforschung Armutsforschung wird traditionell als eine Forschungsart verstanden, die nicht alleine durch akademische Neugier forciert bzw. durch intellektuelle Interessen vorangetrieben wird. Armutsforschung wird mitunter auch von den betroffenen Armen als ein Versuch zur Veränderung der momentanen Bedingungen angesehen; insbesondere wenn ForscherInnen lokal versuchen – durch teilnehmende Beobachtung, Interviews etc. – Informationen zu den Armutsursachen oder bestimmten Zusammenhängen zu finden. Führen ForscherInnen empirische Studien durch, so sind oft mehrere Aspekte für die Wahl des Untersuchungsraumes verantwortlich: persönliche Interessen, der erwartete Erfolg der Feldstudie, Ängste und Zweifel über die Durchführbarkeit der Studie, Bedenken bezüglich der Akzeptanz der Ergebnisse in der scientific community etc. Während des gesamten Forschungsablaufs wirken diese Sorgen beeinflussend auf die Arbeit, etwa was die Wahl der Methode betrifft. Speziell für die Armutsforschung argumentiert Neubert, dass es wichtig ist a) eine Vielzahl von Realitäten als Basis der Ergebnisse zu akzeptieren, b) die Subjektivität der Studie, ihre geringe Validität und damit den Bedarf nach gründlicher Legitimierung der Arbeit zu bedenken, c) den geringen Grad an Generalisierbarkeit anzuerkennen und d) die Gefahr des going native (Identifikation der Forscherin/des Forschers mit der betroffenen Gruppe) zu beachten. 119 Die geringe wissenschaftliche Bedeutung einer einzelnen empirischen Feldstudie kann nur durch die Wiederholung der gleichen Untersuchung in verschiedenen Kontexten, zu verschiedenen Zeiträumen etc. gesteigert werden. Somit ist der Bedarf nach Feldforschung an sich sehr hoch; die damit verbundenen Schwierigkeiten sind jedoch vielseitig: Man kann zum Bei119 Neubert, S. (2001), Methodische Orientierung für kurze und praxisnahe Forschungsprojekte in Entwicklungsländern. Ein Leitfaden für Länderarbeitsgruppen und Gutachter, in: DIE (Deutsches Institut für Entwicklungspolitik), 14. 57 spiel nicht in ein Dorf gehen, eine teilnehmende, ländliche Bewertung durchführen und das Gebiet mit leeren Versprechen oder ohne jegliche Zugeständnisse wieder verlassen. Teilnehmende Forschung unterstellt, dass der Forschungsprozess die TeilnehmerInnen stärkt und zu weiteren Handlungen führt. Daher müssen ArmutsforscherInnen, welche teilnehmende Methoden verwenden, bestimmte ethische Regeln beachten. In der Feldforschung können mindestens sechs ethisch relevante Aspekte angeführt werden: (i) ForscherInnen, InterviewerInnen und StatistikerInnen können soziale Verbindungen (welche arme Menschen arm bleiben ließen) aufrecht erhalten, indem sie sie nicht als sozial gleichwertig behandeln, sich nicht für die örtlichen Verhältnisse und ihre lokale Kultur, sondern nur für „Ergebnisse auf dem Papier“ interessieren. Diese Ignoranz ist verbunden mit der Sicherung von Vorteilen für die Eliten, inklusive der ArmutsforscherInnen; (ii) Forschung kann aufdringlich sein und manchmal Konflikte innerhalb von Familien oder auf größerer Ebene auslösen. Die Durchführung von Interviews und das Beobachtet–Werden kann zur Thematisierung von Problemfeldern und damit zum Ausbruch von Konflikten in sozialen Gruppen führen; (iii) (Teilnehmende) Forschung benötigt die Zeit der armen Menschen – was eine sehr mangelnde Ressource in „Spitzenzeiten”, wie etwa während der Ernte oder der Markt– und Handelstage, oder für mehrfach belastete Frauen ist; (iv) das Ziel der Forschung ist es, Umsetzungsvorschläge zu liefern – ein öffentliches Gut für alle armen Menschen. Aber der Aufwand dafür entspricht privater Zeit, der vergütet werden muss. Somit entsteht eine Dilemmasituation, die Kompromisse zwischen den Betroffenen und den Akteuren/Akteurinnen in der Forschung bedarf; (v) Die/der ForscherIn wird mit ziemlicher Sicherheit durch ihre oder seine eigenen Forschungsaktivitäten belohnt (mittels Geld, Status oder Bildung). Aber was haben die Männer und Frauen in Armut von deren Fragen? Eine Reflexion über Armutsforschung ist mit derartigen ethischen Fragen konfrontiert. Im Idealfall wären ernst gemeinte, langfristige Verpflichtungen gegenüber denjenigen Menschen, welche ihre Zeit und 58 Information den Forschern/Forscherinnen widmen,120 mit jeder Art von Feldforschung verknüpft; (vi) Zusätzlich darf man einen ideologischen Betrachtungspunkt nicht außer Acht lassen: Neil Gilbert nennt den Advocacy Research einen Grund für die Entstehung von Ideologien: 121 Allgemein gesprochen ist die Entstehung von Ideologien in der Feldforschung festzustellen; häufig sind Forschungsberichte bereits politisch gefärbt und von einer bestimmten Denkweise in Richtung Armutsminderungsansatz vorbestimmt. Dabei kann die Feldforschung am besten das Weltbild der politisch vorherrschenden Klasse in einem Land übernehmen und die Strategieentwicklung nach deren Kernkriterien ausrichten, weshalb man in manchen Fällen sogar von einer „strukturellen Ideologie“ sprechen könnte. In einem Bericht über die Sichtweise indigener Völker in vier lateinamerikanischen Ländern durch Hilfseinrichtungen und den daraus abgeleiteten Strategien lässt sich ein Ideologieverdacht oft schon in der Formulierung von Forschungsfragen feststellen: 122 Feiring stellt etwa fest, dass indigene Gruppen von der politischen Elite – genauso wie später in den Forschungsberichten – als Minderheit bezeichnet werden, obwohl sie in den meisten dieser vier Länder die Bevölkerungsmehrheit stellen. Zudem würden falsche Armutsindikatoren für Verteilungsberechnungen herangezogen, welche nicht an die Kultur und Lebensform der betroffenen Menschen angepasst sind.123 Außerdem werden Regierungs–, Justiz– und Demokratiemodelle, welche von den indigenen Gruppen traditionell favorisiert werden, als unfortschrittlich abgetan. Die fehlende Teilnahme der indigenen Völker bei der Strategieerarbeitung ist von Rassismus, fehlender Vgl. Narayan, D. (1999), Can Anyone Hear Us? World Bank: Poverty Group, PREM, 23–25. 121 Vgl. Jamrozik, A. und L. Nocella (1998), The Sociology of Social Problems. Cambridge, 68. 122 Vgl. Feiring, B. (2003), Indigenous Peoples and Poverty: The Cases of Bolivia, Guatemala, Honduras and Nicaragua. London. 123 „The Poverty Map operates with two categories, rural and urban, and concludes that of the approximately 8.2 million Bolivians, 62.4 per cent are ‘urban’ and 37.6 per cent are ‘rural’. The concept of indigenous peoples is not included in the census, therefore there is no way of directly correlating poverty and indigenous peoples, but there is an implicit understanding that ‘rural’ is generally synonymous with ‘indigenous’. This categorization ignores migration patterns – many indigenous peoples work in the city but maintain relationships with their community and the cultivated land of their family. Further, it builds on the discriminatory concept of a static indigenous identity.” (Feiring, B. [2003],7). 120 59 Kultursensibilität und mangelhaftem Interesse geprägt, was dazu führt, dass die eigentlichen Experten im Prozess der Ursachenforschung und Minderungsmustererstellung langfristig ausgeklammert bleiben. Schließlich bleibt festzuhalten, dass „westliche“ Armutsforschung unethische – weil Abhängigkeit schaffende – Praktiken in der Feldforschung zu wenig aufdeckt. Unter dem Deckmantel der Armutsbekämpfung werden Langzeitfolgen (etwa bei der Einführung von genmanipuliertem Saatgut) oder scheinbare Nebeneffekte (Bildungs– und Gesundheitsabbau durch Strukturanpassung in vielen Entwicklungsländern) zu wenig betont und untersucht. 3. Entwicklungszusammenarbeit (EZA) a. Die Dominanz des Westens in der EZA „In der Frühphase der Entwicklungshilfe bestand die Hoffnung, die ehemaligen Kolonialgebiete auf einen Produktivitäts– und Lebensstandard bringen zu können, der sich demjenigen der Industrieländer annähern sollte. Dieses Ziel verband sich mit der Erwartung, Entwicklungshilfe ermögliche (ähnlich wie der Marshallplan zum Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg) die Bildung neuer Märkte und führe damit zu Wirtschaftswachstum und zu einem höheren Lebensstandard für alle, auch die Gebenden.“124 Der mit der Entkolonialisierung verbundene Einflussverlust der Industrieländer in den heutigen Entwicklungsländern steht also möglicherweise mit der Art der heutigen Entwicklungszusammenarbeit in einer Beziehung. Gerade in der Entstehungszeit der Nord–Süd–Hilfe weist die Dominanz des Nordens im System internationaler Organisationen auf dessen großes Interesse, Einfluss auf Entwicklungsländer auszuüben, hin. Zwar wurde 1964 auf Initiative der Entwicklungsländer (Gruppe 77) die United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) als Spätgeburt der 1947 gescheiterten International Trade Organisation (ITO) gegründet: „Beobachter sahen in der UNCTAD Ende der 70er–Jahre das ‚wichtigste Forum des Kampfes der Entwicklungsländer um eine ‚neue Weltwirtschaftsordnung’, deren Ziel eine partnerschaftliche Beziehung zwischen den Län124 Kesselring, T. (2003), 204f. 60 dern des Südens und des Nordens war.’“125 Aber durch die Gründung der WTO 1995 und die Publikation des kritischen Least Developed Countries Reports (insbesondere der von 1999, welcher unfaire Handelsbedingungen dafür verantwortlich macht, dass Entwicklungsländer täglich Exporterlöse in der Höhe von 1,9 Mrd. US–$ verlieren), 126 stößt UNCTAD zusehends auf Kritik (insbesondere der USA), was die Zukunft der Organisation zu gefährden scheint. In vielen anderen internationalen Organisationen ist das Mitspracherecht und die Stimmverteilung noch stärker zum Nachteil der Entwicklungsländer ausgerichtet, sodass die internationale Politik kein Erfolg versprechendes Podium für gleichberechtigte Verhandlungen darzustellen scheint. Beispiele, wie internationale Organisationen die Abhängigkeit von Entwicklungsländern ausgenutzt haben, gibt es genug.127 Dass die öffentliche Entwicklungshilfe (ODA, Official Development Assitance) anteilsmäßig ständig sinkt und nur in wenigen Fällen die angepeilten 0,7% des BIP erreicht, spricht auch nicht dafür. Neben dieser öffentlichen Entwicklungshilfe gibt es zahlreiche Akteure/Akteurinnen im Bereich der privaten EZA (kirchliche Einrichtungen, private Gruppen, Nichtregierungs–Organisationen [NGOs]), welche versuchen diesem Trend des Vergessens entgegenzuwirken. Aber nicht alle Gruppen, die eine private EZA aufbauen, arbeiten unbedingt selbstlos und zum Zweck der Armutsminderung. Kesselring weist auf einige Gruppen von Akteuren/Akteurinnen hin, die man nicht in erster Linie mit „Entwicklungshilfe“ assoziiert: „(1) Islamische Länder (Saudiarabien, Iran, Pakistan und die Türkei) beteiligen sich seit dem Zusammenbruch der siebzigjährigen Sowjetherrschaft aktiv an der Wiederbelebung des Islam in Zentralasien, wirken bei Instandsetzung und Wiederaufbau von Moscheen Felber, C. (2003), Die Nebenrolle der UNCTAD, in: ATTAC (Hrsg.), Die geheimen Spielregeln des Welthandels. Wien, 19. 126 Vgl. Felber, C. (2003), 20. 127 Vgl. Joseph Stiglitz’ Kritik am Internationalen Währungsfond (IMF) im Zusammenhang mit falschen policy–Empfehlungen, die nachweislich in anderen Ländern ebenfalls nicht funktioniert haben (http://www.nobel.se/economics/laureates /2001/stiglitz–autobio.html am 7.1.04; Zwangsforderung der Weltbank nach Poverty Reduction Strategy Papers (PRSPs) von Entwicklungsländern, die an der HIPC–Initiative teilnehmen, um so einen Teil ihrer Verschuldung getilgt zu bekommen; Doppelmoral bei der Anwendung von Handelsbeschränkungen und Zöllen, Zwangsausübung zur Marktöffnung durch die WTO etc. 125 61 und bei der Verbreitung des Koran mit.128 (2) Einige Spitzenunternehmer wie Bill Gates (Microsoft) oder Ted Turner (CNN) haben eigene Netze von Hilfswerken aufgebaut. George Soros, … [bekannter] Spekulant der letzten Jahrzehnte, fördert die kulturelle und geistige Entwicklung verschiedener osteuropäischer Länder mit Milliardenbeträgen. (3) Drogenkartelle unterhalten große Teile der sozialen Infrastruktur von Ländern, in denen sie operieren (insbesondere Kolumbien). Bevor ein anderweitig funktionierendes Unterstützungsdispositiv aufgebaut ist, käme ihre Zerschlagung einer sozialen Katastrophe gleich.“ 129 Entwicklungshilfe war und ist somit von verschiedenen Akteuren/Akteurinnen besetzt und zu einer großen Industrie geworden. „Die Geschichte der Entwicklungshilfe ist keine gradlinige Erfolgsstory, sondern ein komplizierter Prozeß auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Richtungen. Unzählige erfahrene und ahnungslose Köche rühren seit Jahrzehnten und nach vielen verschiedenen Rezepten in einem Brei, motiviert von Idealismus und Eigennutz, gutem Willen und Machtpolitik, wirtschaftlichem Kalkül und Humanität. Sie investieren Geld und Know–How. Doch was im Einzelnen dabei herausgekommen ist, stimmt oft nachdenklich. Im nachhinein lassen sich die Gründe für Mißerfolge oft und relativ leicht erkennen. Man reibt sich allerdings die Augen, wenn man trotzdem auf Wiederholungstäter stößt, die aus Fehlern keine Lehren ziehen. Doch bei genauem Hinsehen entdeckt man: die Täter haben Gründe. Und die liegen oftmals nicht bei den Partnern ni der Dritten Welt, sondern in einem ganz handfesten Motiv für die geleistete (Eigen)Hilfe.“ 130 Entwicklungshilfe ist nicht von isolierten, punktuellen Aktionen gekennzeichnet, sondern entspricht vielmehr meist langfristigen Prozessen mit Auswirkungen auf die Bedürfnisse, Einstellungen und Mentalitäten der betroffenen Bevölkerung. Akteure/Akteurinnen aus dem „Norden“ sind seit jeher im Blickpunkt lokaler Gesellschaften und – egal ob sie gute oder schlechte Arbeit leisten – diese ihre Arbeit beeinflusst die Menschen auf die eine oder andere Weise. Auch diese Tatsache muss man – im BeBozdag, A. (1993), Das Erbe der UdSSR: Islam und Politik in Zentralasien, in: JDW 1993, 176–190, in: Kesselring, T. (2003), 207. 129 Kesselring, T. (2003), 207. 130 Schilling, D. (1996), Wer brennt, kann entzünden. Neue Wege zum Engagement mit dem Süden. Wuppertal, 25. 128 62 sonderen im Hinblick auf die nach wie vor steigende Anzahl von Personaleinsätzen aus Industrie– in Entwicklungsländer – beim Engagement in der Armutsminderung vor Ort berücksichtigen. b. Schwerpunktsetzungen Weltweit setzen öffentliche Einrichtungen der EZA ihre Schwerpunkte sehr unterschiedlich, dennoch gibt es einige Gemeinsamkeiten: sowohl technische als auch finanzielle Zusammenarbeit kommt häufig Ländern zu, die historisch (z.B. ehemalige Kolonialgebiete), politisch (insbesondere seit dem Kalten Krieg, wobei anfangs häufig „technische“ Militärunterstützung geboten wurde), kulturell (Länder in näherer Umgebung, vgl. Ostzusammenarbeit in Österreich) und religiös (Europäische EZA–Gelder gehen kaum an muslimische Länder etc.) dem Geberland nahe stehen. Allein diese Schwerpunktsetzung zeigt, dass EZA inhaltlich von politischen Absichten nicht zu trennen ist. Die Ablösung des Gießkannenprinzips (alle Länder bekommen ein bisschen) von Schwerpunkt– oder Partnerländern hat zweifelsohne große Vorteile. Damit verbunden ist aber die Tatsache, dass es Entwicklungsländer gibt, die in kein Interessensgebiet eines Industrielandes fallen. Man kann sagen, dass es hier auch Ausnahmen gibt, doch diese dürften oft mit anderen Hintergedanken verbunden sein: Haben Entwicklungsländer Rohstoffe, welche für die Industrieländer von Relevanz sind, kann es zur Investition in die Wirtschaft – und aus Imagegründen und zwecks einer höheren Glaubwürdigkeit auch in andere Bereiche – kommen (Bsp. USA – Irak). Politisch ähnlich gesinnte Länder tendieren ebenfalls dazu, sich gegenseitig zu unterstützen. Dies trifft auf Süd–Süd–Beziehungen zu (Bsp. Öl für Ärzte zwischen Venezuela und Kuba, Unterstützung der Landreform in Südafrika durch Brasilien etc.), macht aber insbesondere vor der Einflussnahme von Industrieländern in der zu entwickelnden Welt nicht halt, gerade um eine politische Gleichschaltung durch finanzielle und technische Unterstützung zu erreichen. Diese ist neben dem Rohstoff–Argument hauptsächlich deswegen gefragt, da die Lohn– und Produktionskosten in diesen Ländern billiger sind und eine Auslagerung als wirtschaftlich sehr rentabel gilt. Schließlich gilt dieser Tatbestand als ein 63 Hauptmotor für die Globalisierung und das schnelle Wachstum von multinationalen Konzernen (Multinational Cooperations, MNCs131). c. Marktwirtschaft und EZA Sowohl die EZA als auch die MNCs haben sich auf internationaler Ebene einer Zusammenarbeit verschrieben, die helfen sollte, den wirtschaftlichen Aufbau in Entwicklungsländern voranzutreiben. Das Wirtschaftswachstum führte dabei oft nicht zu einer Verteilungsgerechtigkeit, sondern zu verbesserten makroökonomischen Durchschnittsdaten (etwa BIP/Kopf). Die weltweite Dominanz von MNCs erzeugte besonders in der Zivilgesellschaft ein Unbehagen, dem mehrfach begegnet wurde: Bezüglich der Ausbeutung von Produktionsfaktoren in den Entwicklungsländern und den Vorwürfen bezüglich Umwelt– und Sozialstandards in Industrieländern wurde mit der so genannten Corporate Social Responsibility (CSR, Die Übernahme von Verantwortung durch das Unternehmen) entgegen getreten; was den Umgang mit Entwicklungsländern betrifft, entstand nun eine neue Initiative, die so genannten Public–Private Partnerships (PPP, Partnerschaften zwischen öffentlichen und privaten Interessensvertretungen). PPPs sind gleichzeitig eine große Chance und eine Gefahr, wie dies auch bei den Effekten der Globalisierung zu bemerken ist, denn die Bedeutung der Privatwirtschaft für die EZA kann große Vor– und Nachteile haben: Einerseits können MNCs in Entwicklungsländern zu einem Transfer von Know –How und Technologie beitragen sowie Arbeitsplätze und neue Lebensgrundlagen schaffen; andererseits jedoch kann die Übermacht dieser monopolähnlichen Arbeitgeber ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis ganzer Gesellschaften schaffen, die unter Zwang immer neue Zu131 „Als multinationales Unternehmen gilt jedes Unternehmen mit mindestens einem Tochterunternehmen im Ausland, an dem es eine Kapitalbeteiligung von mindestens 10 Prozent besitzt. 2001 gab es weltweit rund 65.000 multinationale Firmen mit 850.000 Auslandstöchtern und insgesamt 54 Millionen Beschäftigten. Der interne Umsatz dieser Auslandstöchter belief sich auf das Doppelte des Weltexportvolumens. Mit anderen Worten: Der internationale Handel ist heute von erheblich geringerer Bedeutung als der interne Umsatz von Gütern und Dienstleistungen, den die multinationalen Unternehmen erzielen. Sie dominieren auch den internationalen Handel: Nach Schätzungen entfällt rund ein Drittel des Weltexports auf den Handel innerhalb der multinationalen Konzerne, ein weiteres Drittel auf deren Exporte an andere Unternehmen.“ Le Monde Diplomatique (Hrsg.) (2003), Atlas der Globalisierung. Berlin, 30. 64 geständnisse macht, um nicht in Missgunst und damit in die Abgeschiedenheit zu gelangen. Die EZA hat dabei durchaus einige negative Folgen gehabt: 1) Entschuldung der HIPC 132–Länder: Der Schuldenerlass ist bei allen Ländern an makroökonomische und Strukturanpassungsprogramme gebunden, die etwa im Fall von Bolivien u.a. das Steuer–, das Finanz–, das Zollsystem sowie die Sozialfürsorge, das Bildungs– und das Gesundheitssystem grundlegenden Reformen aussetzen. Diese Vorgaben (conditionalities) bedeuten einen umfangreichen Eingriff in die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Strukturen der jeweiligen Länder. Zwar ist diese Initiative an die so genannten PRSPs133 gebunden, doch der geforderte partizipative Charakter – also die Beteiligung der Zivilbevölkerung an den Diskussionsprozessen – ist aus dem Vergleich von Ergebnissen lokaler Treffen mit den endgültigen Strategien nicht mehr ersichtlich. 134 Indigene Bevölkerung wird verobjektiviert; die einzig ersichtliche Motivation aus dem Papier ist die Steigerung der Produktivität armer Bevölkerungsgruppen.135 Mit dem Papier sind enorme Investitionen von Industrieländern bzw. MNCs verbunden;136 Armut wird rein materiell und finanziell definiert, andere Bereiche menschlichen Lebens werden nicht berücksichtigt. 137 HIPC bedeutet „Heavily Indepted Poor Countries“. Die 1996 von Weltbank, IMF und Regierungen beschlossene Initiative soll es den schwerstverschuldeten Ländern ermöglichen, unter bestimmten Bedingungen gewisse Schuldenerlässe zu bewirken. 133 Das sind Poverty Reduction Strategy Papers und die damit verbundenen Programme, welche Ergebnisse über dezentral diskutierte (also die Zivilbevölkerung einschließende) Debatten und Zielvorgaben liefern und für die Regierung des Landes verpflichtend an den Schuldenerlass gebunden werden. 134 Weltbank (2001), Poverty Reduction Strategy Paper, La Paz, in: http://poverty. worldbank.org/files/bolivaprsp.pdf am 7.10.04. 135 Ebd., 17.: „Building the productive capabilities of the poor.“ 136 In der ersten BPRS (Bolivian Poverty Reduction Strategy) [siehe: http://www.worldbank.org/hipc/ am 23. 6. 03] war von 1,6 Mrd. $ die Rede. Implizit sollen MNCs die Zusammenarbeit mit der öffentlichen Hand ausnützen, um im Rahmen der für den Schuldenerlass notwendigen Strukturanpassungsprogramme große Investitionen tätigen zu können. Gerade für Bolivien gibt es hier einige Beispiele, wie etwa die Privatisierung des Trinkwassers an die MNC Bechtel, den damit angestiegenen Wasserpreis und die in Folge auftretenden Unruhen („Wasserkrieg“) oder der „Erdölkrieg“, welcher im Herbst 2003 geführt wurde, um den Ausverkauf dieses Rohstoffs an MNCs zu unterbinden. 137 Ebd., 35. 132 65 2) Privatisierungsdruck: Durch den zunehmenden Effizienzgedanken, auch in der EZA, setzt sich der Ansatz durch, dass private Anbieter öffentliche Güter inzwischen besser (hauptsächlich billiger?) bereitstellen können, als dies die öffentliche Hand allein vermochte. Öffentliche Güter werden zu Handelswaren. Dies geschieht sowohl in Entwicklungsländern (z.B. Gesundheitswesen, Sozialwesen) als auch in Industrieländern (z.B. Flüchtlingsbetreuung) und führt mitunter zu Preiserhöhungen, einer schlechteren Versorgung ärmerer Bevölkerungsschichten und Entlassungen. 3) Fokus auf Großbetriebe: Die bislang parallel zu PPPs geführte Förderung von Klein– und Mittelbetrieben (Small and Medium Enterprises, SMEs) gerät zusehends in Vergessenheit, obwohl diese Unternehmensform für Entwicklungsländer weitaus typischer ist als die MNCs. 4) Förderung der Privatwirtschaft: Durch die Betonung, dass es privater Ressourcen bedürfe, um nötige Infrastrukturprojekte zur Armutsminderung durchzuführen, übernimmt der private Sektor oft die Finanzierung. Dessen Direktinvestitionen (Foreign Direct Investment, FDI) konzentrieren sich in Entwicklungsländer allerdings meist nur auf die größten Schwellenländer und lassen die ärmsten Länder unberücksichtigt.138 5) Rückgang der öffentlichen Entwicklungshilfe: Laut den überholten Statistiken der OECD/DAC gingen die Ausgaben der OECD–Länder für finanzielle Zusammenarbeit (bilaterale Ausgaben und Beiträge zu multilateralen Institutionen) von 1991–92 bis 2002 von 0,33% auf 0,23% des BIP zurück. 139 Wie bereits angesprochen, gibt es nur sehr wenige Industrieländer, welche das Ziel, 0,7% des BIP für Entwicklungszusammenarbeit bereitzustellen, erfüllt haben. Möglicherweise hat dieser Rückgang damit zu tun, dass sich potentielle Geberparteien darauf verlassen, dass Auslandsdirektinvestitionen den Entwicklungsländern zugute kämen. Dazu bleibt zu sagen: „Im letzten Jahrzehnt sind laut Weltbank rund 550 Milliarden Dollar FDI in den Infrastrukturbereich geflossen. In die „Der Teil der globalen Direktinvestitionen, der in die Entwicklungsländer fließt, konzentriert sich auf bestimmte Regionen: 6 Prozent der Weltanteile gehen nach China, 7,5 Prozent an Südostasien, 10 Prozent an Lateinamerika und in die Karibik. Zentralasien und Afrika spielen praktisch keine Rolle.“ In: Le Monde Diplomatique (2003), 27. 139 Development Assistance Committee (2004), DCR Statistical Annex: Tables 1 to 14, auf: http://www.oecd.org/dac am 15.1.04. DAC = Netzwerk bilateraler Geber in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. 138 66 Telekommunikationsbranche flossen davon 245 Milliarden, in den Energiebereich 180 Milliarden, in den Transportbereich 100 Milliarden und in den Wasserbereich nur 25 Milliarden Dollar. An öffentlichen Mitteln flossen wiederum gemäß Weltbank im gleichen Zeitraum bloß 150 Milliarden in den Infrastrukturbereich. Doch flossen diese viel ausgeprägter als die privaten Flüsse in jene Bereiche, die für die Armutsbekämpfung entscheidend sind.“140 d. Abschlussbemerkungen Diese kritische Betrachtung der EZA soll nicht die Notwendigkeit von Kooperationen in Frage stellen. Viele Initiativen der EZA funktionieren gut, auch wenn diese oft nur im kleinen Rahmen angegangen werden. 141 Damit ist insbesondere die Arbeit vieler Nichtregierungs–Organisationen im Süden wie im Norden gemeint. Zurückkommend auf die Frage, ob Armutsforschung und Armutsminderung legitimiert sind, muss eindeutig mit „Ja“ geantwortet werden, auch wenn diese nicht immer aus rein ethischen Motiven handeln. Auf die Frage, was ihr Ziel ist, ist zu sagen, dass der Wunsch nach Gerechtigkeit der armen Menschen unfairen Bedingungen und einer sich zuspitzenden sozialen Anspannung gegenüberstehen, und letztere im Interesse aller entspannt werden müssen. Gleichzeitig muss ein Weg geschaffen werden, die Umwelt– und Sozialsünder – die zum Großteil in Industrieländern und der Bourgeoisie der Entwicklungsländer sitzen – dazu zu bringen, die von ihnen verursachten tatsächlichen Kosten in diesen Bereichen auch zu tragen. Im Hinblick auf die Überlegung zur Zukunft der Menschheit – und den damit heute verbundenen Debatten über menschliche und nachhaltige Entwicklung – muss die Entwicklungsidee an sich überdacht werden; dass ein neuer Optimismus nicht ohne Abstriche in den Industrienationen entstehen kann, wird klar; dass diese reiche Minderheit auch dazu bereit ist, Gurtner, B. et al. (2004), Public Private Partnerships in der Entwicklungszusammenarbeit, in: dokument 3, Januar 2004, Bern, 5. 141 So wurde mir bei einem Interview in Bolivien erzählt, dass dieses Land mit seinen nur 8 Millionen Einwohnern/Einwohnerinnen in den 1990er–Jahren noch eines der „Lieblingsländer“ der EZA war, da Reformen hier – etwa im Verhältnis zum großen Nachbarn Brasilien sehr viel einfacher umzusetzen waren. 140 67 zeigen zivilgesellschaftliche Bewegungen 142 weit mehr als internationale Politik. Zudem gilt es zu bedenken, dass das Subjekt ethischer Überlegungen primär das Individuum ist, da es Ethik vor allem mit Handlungen zu tun hat, und Individuen als primäre Handlungsträger anzusehen sind. Das bedeutet, dass auch eine „Ethisierung“ der Armutsforschung nicht ohne ethische Metareflexion derjenigen, die in der Armutsforschung tätig sind, erfolgen kann. Wie die feine Linie zwischen der Formulierung berechtigter ethischer Anliegen und einer moralisierenden Besserwisserei gezogen werden kann, ist eine offene Frage und eine bleibende Herausforderung. 142 wie etwa das World Social Forum; zu dem sich dieser Tage zum vierten Mal über 100.000 Menschen treffen und ihre diversen Schwerpunktaktivitäten vernetzen.