SAMSTAG/SONNTAG, 14./15. AUGUST 2010 Bücher D5 VORARLBERGER NACHRICHTEN Alle 40 Jahre Schön, das zu erfahren „Die meisten Kunstbilder erzählen keine Geschichte, dieses schon“, heißt es in „Madalyn“ von Michael Köhlmeier. EINE EMPFEHLUNG In den 1970er-Jahren habe ich die 51 Bände der „Kunst der Welt“ erstmals gelesen. Jetzt lese ich sie wieder. Es ist ein „Leseprojekt“, für das ich mir sicher an die zwei Jahre Zeit lassen werde. Das ist wichtig in einer Zeit, in der durch Wikipedia und Google das scheinbare Wissen immer schneller konsumiert werden soll. Die 52 Kunstbände sind für mich da wie die Verkehrung dieser Geschwindigkeits-Gesellschaft, sie sind quasi das „Schneckentempo-Wikipedia“. Vor 40 Jahren habe ich diese Kunstgeschichte also gelesen, von Anfang bis Ende. Es beginnt mit der Kunst in Indien, China und Persien und reicht bis in die Gegenwart. Heute lese ich es in der umgekehrten Reihenfolge, beginne mit dem Jüngsten und lese mich vor zu den Anfängen der Kunst. Zehn Bände habe ich schon wieder gelesen. Derzeit ist es Marcel Auberts Band „Hochgotik“, der bei mir auf dem Nachtkästchen liegt. Ich stecke also irgendwo zwischen 1215 und 1320. Das Tolle an dieser Kunstreihe ist, dass die politischen und sozialhistorischen Hintergründe eng mit der Kunst verwoben werden. Liest man also in diesen Bänden, dann ergeben sich derart viele Querverstrebungen, dass man, ist man dann mit allen 52 Bänden durch, mindestens noch 100 andere Bücher gelesen hat. Ich zum Beispiel hab mir gerade ein Buch über den heiligen Ludwig von Frankreich gekauft. ROMAN. Es ist eine ungewöhnliche Geschichte, die er da erzählt. Eine einfache sogar. Eine, die man gar nicht für erzählenswert erachten würde. Vielleicht brauchen wir sie gerade deswegen. Sebastian Lukasser heißt jener Schriftsteller, dem der Mathematiker und Jazzfreund Carl Jakob Candoris in Köhlmeiers großem Roman „Abendland“ (2007) die eigene Lebensgeschichte anvertraut. Es ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts, wobei Candoris auch so etwas wie ein Schutzengel der Familie Lukasser wird. Sebastian, der im neuen Buch „Madalyn“ weiterhin dem Schreiben nachgeht, denkt und lenkt zwar nicht in dem Ausmaß, FOTO: VN/PAULITSCH Empfohlen von Gottfried Bechtold, Künstler, Bregenz; Gottfried Bechtold signiert heute, 11 – 12 Uhr, die KUB-VN-Kunstseite im Kunsthaus Bregenz. Schreibwerkstatt der Töne Vanessa Lessjak verfasste eine Monografie über ihren Lehrer Richard Dünser. Fleißiger Tonschöpfer Unter dem Titel seines populären frühen Klavierstückes „Erinnerung – Monument – Nachtgesang“ von 1989 ist daraus eine umfassende, wissenschaftlich fundierte, dennoch verständliche Darstellung von Leben und Werk eines Komponisten geworden, der die jüngste Jahrtausendwende mit seiner Musik spielend überbrückt, weil sie zeitlos aktuell geblieben ist: von den Kritikern bejubelt, vom Publikum respektiert, von den Interpreten geschätzt. Und die ständig mehr wird: Dünser gehört zu den fleißigsten Tonschöpfern im Land, weil auch die Aufträge sprudeln. Das ausgiebige Werkverzeichnis mit allen Details legt dafür beredtes BESTSELLERLISTE BELLETRISTIK 1. Monika Helfer BEVOR ICH SCHLAFEN KANN Zsolnay BUCH DER WOCHE LEBENSWERK. Es ist ein schönes Zeichen gegenseitiger Wertschätzung, wenn eine Studentin nach Abschluss ihrer Ausbildung dem verehrten Lehrmeister eine Art Denkmal in Form einer Monografie setzt. So geschehen zwischen der Kärntner Autorin Vanessa Lessjak und dem aus Bregenz stammenden Komponisten Richard Dünser, dem mit diesem Werk das ideale, wenn auch etwas verspätete Geschenk zu seinem ausgiebig gefeierten 50. Geburtstag im Vorjahr zuteil wurde. aber er ist da, verfügbar, ansprechbar. Ungemein wichtig sind gerade diese Eigenschaften für zwei Heranwachsende, für die 14-jährige Madalyn und den unwesentlich älteren Moritz. Dass sie in unserer Gesellschaft nicht selbstverständlich sind (vielleicht auch nie waren), trägt Michael Köhlmeier nicht wie eine Botschaft vor sich her, es erhellt sich. Offenheit Und nicht nur das. Mit Lukasser und Madalyn macht der Autor deutlich, wie ihm Figuren, deren Schöpfer er ist, begegnen, wie behutsam er mit ihnen verfährt und wie ernst er sie nimmt. Für das Leben der fiktiven Madalyn erhält dieser Aspekt Marcel Aubert: „Hochgotik“, 230 Seiten, Holle Verlag 1974; die Reihe „Kunst der Welt“ ist ebenfalls im Holle Verlag erschienen. Künstler Gottfried Bechtold. Sebastian Lukasser aus dem großen Roman „Abendland“ taucht nun in Michael Köhlmeiers neuem Werk „MadaFOTO: VN lyn“ wieder auf. Als Schriftsteller, der die erste Liebe eines jungen Mädchens miterlebt. Ein Roman, in dem sich Josi auf die Suche nach dem Glück macht. SACHBUCH 1. Barbara Pachl-Eberhart VIER MINUS DREI Ludwig Ein Buch über Trauer und den Mut zu neuem Leben. Zeugnis ab. Wer möchte, kann sich anhand interessanter Analysen auch in ausgewählten Werken vertiefen, erhält faszinierende Einblicke in Dünsers Schreibwerkstatt der Töne. Für seinen Umgang mit der Tradition findet der Komponist, der seit 1991 an der Uni Graz unterrichtet und mit seiner Familie in einer steirischen Weingegend lebt, eine naheliegende Metapher: „Natürlich müssen im Laufe des Lebens diese Dinge absinken, so wie eine klärende Schicht bei einem Wein, den man in Flaschen gefüllt hat, wo das Trübe absinkt. Von da an aber muss der Wein seine eigene Qualität und seinen eigenen Geschmack entwickeln.“ Besonders gelungen ist ihm dieses ganz Persönliche nach eigener Aussage in seiner Oper „Radek“, die 2006 mit großem Erfolg bei den Bregenzer Festspielen uraufgeVN-JU führt wurde. Vanessa Lessjak: „Richard Dünser: Erinnerung – Monument – Nachtgesang“, 156 Seiten, Böhlau Verlag 2010 Auch 20 Jahre nach dem Mauerfall, Berlin ist noch kribbelig. Auf die Frage, warum denn so viele US-Romane in New York spielen, antwortete mir der amerikanische Autor Adam Davies, „weil in New York ganz einfach alles passieren kann, deshalb ist diese Stadt eine wunderbare Projektionsfläche. Kein Leser denkt nach, ob auch noch so spekulative Handlungen wirklich möglich sind, weil eben in New York nichts unmöglich erscheint.“ Ähnliches passiert zurzeit in Berlin, die Stadt, die ja nach wie vor als größte Baustelle Europas gewertet werden hat Moritz nicht Grund zur Eifersucht? Dies zu erörtern, ist unwesentlich. Wichtig bleibt, dass nichts von dem, was diese jungen Menschen so groß berührt, verkleinert wird. Ein wunderbarer Zug, der den Lesern ein wenig von dieser Phase zurückgibt, der ein paar der vielen geschilderten Alltagseinzelheiten wohltuend verblassen lässt und von dem auch Sebastian Lukasser wiederum profitiert. Bringt ihn doch Madalyn nach 170 Seiten dazu, seine Evelyn anzurufen. Ein schönes Gefühl, das auch noch erfahren zu haben. ##Christa Dietrich-Rudas## CHRISTA DIETRICH [email protected], 05572/501-225 Michael Köhlmeier: „Madalyn“, Roman, Verlag Hanser, 2010. Erscheint am 16. August BELLETRISTIK SACHBUCH 2. Donna Leon SCHÖNER SCHEIN Diogenes 2. Georg Kessler FREIZEIT IM LÄNDLE Tyrolia 3. William P. Young DIE HÜTTE Allegria 3. Toni Innauer AM PULS DES ERFOLGS Echtzeit 4. Arno Geiger ALLES ÜBER SALLY Hanser 4. Ulrike Hagen KOCHEN AUS LEIDENSCHAFT Bucher 5. Nicholas Sparks MIT DIR AN MEINER SEITE Heyne 5. Helmut Tiefenthaler VIER-JAHRESZEITEN-WANDERBUCH Tyrolia 6. Cecelia Ahern ICH SCHREIB DIR MORGEN WIEDER Krueger 6. Mayerhofer Rudolf DIE SCHÖNSTEN BERGWANDERUNGEN Löwenzahn 7. John Irving LETZTE NACHT IN TWISTED RIVER Diogenes 7. Purviance Jamie WEBER‘ S GRILLBIBEL GU 8. Christian Mähr ALLES FLEISCH IST GRAS Zsolnay 8. Barbara Balldini BESSER SCHLAMPE ALS GAR KEIN SEX Kyrene Berlin, Berlin MARTIN G. WANKO LESBAR besondere Bedeutung. Als Nachbar, der ihr bei einem Fahrradunfall als Fünfjährige zu Hilfe eilt, wird Lukasser konkret zum Retter, als Zuhörer, der sich ihrer Jahre später in der Phase der ersten Verliebtheit annimmt, wird er zur maßgeblichen Stütze. Dem großen Gefühl, das junge Menschen mit Wucht trifft, das sie mitunter äußerst irrational agieren lässt, mit derartiger Offenheit zu begegnen, ist überraschend. Sie führt auch dazu, dass man als Leserin Einfälle akzeptiert, die nicht nur aus feministischer Sicht überkommen scheinen. Hegen Mädchen gleich Selbstmordgedanken, wenn sie für den Burschen, in den sie sich verlieben, vielleicht nicht die Einzige sind? Wieso kann, wo sich langsam aber sicher ein Wolkenkratzer an den anderen schieben wird. Etzold seine Freude haben. Neueinsteiger in der GruselZone können sich an Stephen Kings Ratschlag halten: „Klar, das alles kann nicht wirklich passieren, aber was, wenn doch?“ Spektakel, Spektakel Der Reiz, dass noch nichts fertig ist, lässt das Feld für Spekulatives offen. Veit M. Etzold hat dies erkannt, und bringt mit „Das große Tier“, einen gruseligen FinanzThriller auf den Markt. Ein bizarrer Mord an einem FinanzGenie, der Börsensturz eines Unternehmens, eine hübsche Polizistin und mysteriöse Nachrichten, die an diversen Tatorten hinterlassen werden. Als Kulisse erstrahlt das neue Berlin, das durchaus mit New York und London mithalten kann. Und der Thriller selber? Wer Grusel-Thriller mit verschiedenen Ebenen und Verschwörungstheorien mag, wird auch mit Veit M. Die Bohème und der Pfeifer Um Berlin-Mitte kümmert sich David Pfeifer in „Der Strand der Dinge“. Schon der Titel zeigt, Pfeifer ist ein lustiger Kerl. Pfeifer zeigt Berlin als Stadt, wo man nichts tun muss, aber alles tun kann. Am schönsten kommen die Stellen, wo er in Berlin-Mitte scheinbar sämtliche deutsche Freaks unter 50 ansiedelt. Die müssen nicht wahnsinnig viel auf dem Kasten haben, es reicht schon, dass sie sind. Um was geht’s eigentlich in Pfeifers Roman? Der Ich-Erzähler war mit seiner Firma Tigerblade einer der ersten Internet-Gewinner, bevor seine Firma bei der großen Krise 2001 den Bach runter- ging. Und da sitzt er nun und wartet – auf was eigentlich? Bevor man nichts tut, wird anständig auf den Putz gehaut und schon geht die Post ab! Trotzdem, immer nur Party macht auch müde und da kann man schon mal ein bisschen übertrieben über das eigene Schicksal jammern. Aber im Grunde passt’s ja: Der Autor jammert nicht, er kann etwas. Trotz aller berechtigter Kritik an der Metropole, Berlin zieht viele Autoren an, denn als Inspirationsquelle scheint die Stadt zu genügen. TIPPS Veit M. Etzold DAS GROSSE TIER Verlag Kiwi 483 Seiten David Pfeifer DER STRAND DER DINGE Verlag Dumont 286 Seiten