Politik - Recht - Ethik

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Ein wesentliches Charakteristikum des Rechtsstaats besteht darin, dass staatliches Handeln in den unterschiedlichen Bereichen und mittels der unterschiedlichsten Akteure nicht der Logik von Gruppeninteressen oder dem persönlichen
Gutdünken Einzelner folgen soll, sondern den Regeln des Rechts.
Das Recht befindet sich dabei nicht in einem „wertfreien Raum“, sondern
hängt seinerseits auf vielfältige Weise mit der Moral zusammen. Das zeigt sich
besonders deutlich, wenn die normativen Grundlagen des Rechtssystems wie
soziale Gerechtigkeit, Solidarität, Nachhaltigkeit u. a. m. in den Blick kommen,
und ebenso, wenn die Regelungsnotwendigkeit und die konkreten Rahmenbedingungen für die Realisierung neuer, bisher nicht da gewesener Möglichkeiten
zur Debatte stehen, wie es etwa bei diversen biomedizinischen Entdeckungen
oder bei der Informationsverarbeitung im Internet der Fall (gewesen) ist.
Moralische Orientierungen und vorgeschlagene Rechtsnormen beziehen sich
beide auf menschliche Handlungsmöglichkeiten und wollen diese nach verallgemeinerbaren Normen ordnen. Aber nicht alle Normen sind gleich: Das Recht
zielt auf das äußere Verhalten, während die Moral auch die innere Überzeugung
in Anspruch nimmt.
Rechtsnormen werden durch Beschluss der Gesetzgebungsorgane in einem
spezifischen Verfahren in Kraft gesetzt und können – von wenigen Ausnahmen
abgesehen – auch wieder aufgehoben werden. Moralische Normen sind gelebte
Normen und können zwar durch ethische Reflexion in ihrer begrifflichen Schärfe zugespitzt und in ihrer argumentativen Konsistenz geklärt werden, aber nicht
beschlossen bzw. aufgehoben werden.
Zentrale Rechtsnormen können häufig mit Strafandrohung durchgesetzt
werden. Dies ist aber nur zulässig, wenn der Gesetzgeber die Strafwürdigkeit
eines Verhaltens festgelegt hat. Das Verfassungsgebot des „nullum crimen, nulla poena sine lege“ erfordert, dass der Gesetzgeber die Strafwürdigkeit eines
Verhaltens vor der Tat festgeschrieben hat. Mit diesem Gebot soll einerseits
gesichert werden, dass der Einzelne abschätzen kann, ob sein Verhalten kriminell ist oder nicht. Andererseits soll garantiert werden, dass der Gesetzgeber die Wertentscheidung trifft, welches Verhalten strafwürdig ist und welches
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nicht. Die Durchsetzung moralischer Normen bleibt auf Argumente, Lob und
Tadel und „weiche“ Sanktionsweisen angewiesen. Dies liegt auch daran, dass
die Adressaten, auf die sich die Moral bezieht, Subjekte sind, die Absichten
verfolgen und motivational beeinflussbar sind, während das Recht die Akteure
stets mit der auf Kohärenz achten müssenden Instanz des Gesetzgebers und den
für die Ausübung des Rechts zuständigen Institutionen in Verbindung bringt.
Bei Moralnormen lassen sich zwei Typen unterscheiden. Einmal existiert
Moral als gesellschaftliche Moral. Gesellschaftliche Moral sind die in einer
Gesellschaft verbreiteten Auffassungen über richtiges und falsches Verhalten.
Zentral für diesen Moralbegriff ist, dass die Normen dieses Regelungssystems
in einer Gesellschaft fest verankert sind. Ob eine Norm zu diesem Regelungssystem gehört, lässt sich dadurch feststellen, dass bei einer Verletzung Gefühle
wie Empörung oder Scham auftreten. Nur wenn derartige Reaktionen festgestellt werden können, ist von einer existenten gesellschaftlichen Moralnorm
auszugehen.
Häufig wird „Moral“ auch im Sinne autonomer Moral verstanden. Von autonomer Moral wird gesprochen, wenn sich die Auffassung durchsetzt, dass
über richtiges oder falsches Handeln nicht eine andere Instanz und auch nicht
die Gesellschaft entscheidet. Vielmehr entscheidet über richtiges und falsches
Verhalten die kritische Vernunft des Einzelnen. Kritische Vernunft zeichnet sich
dadurch aus, dass Vernunft weder von Tabus noch von Denkverboten geprägt
ist. Der Einzelne selbst wird nach der Idee autonomer Moral für zuständig und
fähig gehalten, darüber zu entscheiden, ob eine Norm der heteronomen Moral
richtig oder falsch ist. Autonome Moral setzt sich mit gesellschaftlicher Moral
kritisch auseinander.
Recht ermöglicht autonome Moral, indem es dem Einzelnen Freiheitsrechte
gewährt. Das Recht fordert den einzelnen Menschen auf, sich seiner eigenen
Vernunft zu bedienen und gerade dadurch Instanz in moralischen Angelegenheiten zu werden.
Die Rechtsordnung sichert die Freiheit durch die Absicherung von Freiheitsräumen. Der Staat gewährt dabei allgemeine und spezielle Freiheitsrechte. Diese Rechte werden dem Individuum zugeordnet. Soweit diese Freiheitsrechte
eingeschränkt werden sollen, trägt der Staat die Argumentationslast.
Die Grenzziehung bei den Freiheitsräumen geschieht nicht durch eine heteronome Moral. Sie ergibt sich vielmehr aus dem Prinzip der gleichen Freiheit
für alle Bürger. Dies ist es, was Kant meint, wenn er das Recht definiert als den
„Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des Einen mit der Willkür
des Andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen … kann“
(Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre AB 33, Edition Weischedel Bd. 4, S.
337).
Autonome Moral hat immer die Aufgabe, sich mit Regeln der gesellschaftlichen Moral nicht nur auseinander zu setzen, sondern sie auch auf ihre Vernünf-
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tigkeit zu prüfen. Überlieferte gesellschaftliche Moralnormen werden zunächst
als Normen mit Vernünftigkeitsgehalt angesehen, sie werden aber, falls sie sich
nicht mehr als sinnvoll rechtfertigen lassen, verworfen. Wie sehr sich gesellschaftliche Moralnormen durch kritische Prüfung ändern können, sieht man an
der Einstellung der Gesellschaft zur Homosexualität. Während in den 50er Jahren homosexuelles Verhalten noch strafbar war, hat inzwischen die Gesellschaft
die entsprechende Strafrechtsnorm abgeschafft. Darüber hinaus akzeptiert die
Gesellschaft rechtlich homosexuelle Gemeinschaften und garantiert sie in der
Form der Lebenspartnerschaft.
In einer freien Gesellschaft gibt es aber neben den Individuen auch noch viele
andere Akteure, die sich zur Richtigkeit bzw. Falschheit von Verhalten normativ
äußern, insbesondere die Kirchen, aber auch andere zivilgesellschaftliche Überzeugungsgruppen. Ihre Existenz und ihr moralisches Engagement ist Ausdruck
der Religions- bzw. der Gewissensfreiheit. Sie sind funktional unentbehrlich sowohl für den Staat, der nach der berühmten Formulierung von Ernst-Wolfgang
Böckenförde von sittlichen „Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann“ (Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a. M. 1991, S. 112),
wie auch für den Einzelnen, der seine moralischen Standpunkte und Wertstellungnahmen in der sozialen Interaktion gewinnen und sie in der Spannung zu
anderen Positionen behaupten können muss. In der Art, wie der moralische Anspruch von den verschiedenen Überzeugungsgruppen institutionell gehandhabt
wird, zeigen sich je nachdem, ob stärker auf das Modell hierarchisch geordneter
Lehre oder auf das der Einsicht durch Gründe gesetzt wird, die beschriebenen
zwei Typen von Moralnormen bzw. ein nach Zeit, gesellschaftlichen Kontext
und konfessionellen Profilen spannungsvolles Nebeneinander beider.
Christoph Menke hat das Verhältnis und die gemeinsame Klammer von
Recht und Moral präzise formuliert: „Modernes Recht und moderne Moral
beginnen mit einer je anderen Ausgangsfrage: Das Recht mit der Frage nach
den Gesetzen, denen alle unterworfen sind; die Moral mit der Frage nach den
Pflichten, die jeder jedem gegenüber hat. Das Recht verkörpert eine vertikale
Perspektive – die Perspektive von oben auf alle –, die Moral eine horizontale
Perspektive – die Perspektive von einem unter allen. Zugleich aber bringen modernes Recht und moderne Moral auf unterschiedliche Weise dieselbe ‚starke‘
Idee der Gleichheit zur Geltung. Zu Recht wird als gemeinsame Klammer von
Recht und Moral der Gleichheitsgrundsatz angesehen“ (Menke, Spiegelungen
der Gleichheit, 2000, S. 24).
Recht und Moral sind voneinander abhängig, sie ergänzen sich, können aber
auch in Konflikt miteinander geraten. Gerade autonome Moral kann auch bewirken, dass geltendes Recht in Frage gestellt wird.
In dem vorliegenden Band werden verschiedene Felder staatlichen Handelns
behandelt, für die das Spannungsverhältnis von Recht und Moral wichtig und
typisch ist. Das geschieht in einem gemeinsamen Projekt des Münchner Kom-
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petenzzentrum Ethik (MKE), in dem Vertreter ganz unterschiedlicher Fachwissenschaften (Juristen, Wirtschaftswissenschaftler, Sozialwissenschaftler
und theologische Ethiker) aus ihren je eigenen disziplinären Perspektiven ausgewählte Themen beleuchten: soziale Marktwirtschaft, Integration, Umweltschutz, Menschenwürde, Sicherheitspolitik u.a.m.
Der gemeinsame Fokus aller Beiträge ist die Bundesrepublik Deutschland.
Grundstein und auslösende Idee für das so zugeschnittene Projekt war eine Vortragsreihe „60 Jahre Bundesrepublik“, die das Ethikzentrum im Sommersemester 2009 veranstaltete. Ihr lag die Absicht zugrunde, den 60. Geburtstag des
Staates zum Anlass zu nehmen, sich zu vergewissern, was aus den Visionen
des Anfangs geworden ist, was erreicht werden konnte und schließlich wo Versprechungen noch offen sind. Die politischen, wirtschaftlichen, weltpolitischen
und technischen Bedingungen haben sich in diesen Jahrzehnten sehr verändert.
Dennoch gibt es auch Stabilitäten und Kontinuitäten, die ein Zeichen dafür sein
können, dass diejenigen, die die Anfänge gesetzt haben, Weitblick hatten, und
dass das, was sie zustande gebracht haben, insbesondere das Grundgesetz, so
elastisch war, dass es als Rahmen zur Ordnung der weiteren Entwicklung geeignet war.
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Konrad Hilpert
Ulrich Schroth
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München, im Januar 2011
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