Rezitativ ital. recitativo; franz. récit, récitative; engl. recitative. Das ital. Wort recitativo ist ein Bezeichnungsfragment von stile recitativo. Aus dem Adj. recitativo wurde durch häufigen Gebrauch ein Subst. Andere frühere Termini, die in Verbindung mit dem in Frage stehenden Stil gebraucht werden, sind stile rappresentativo, rappresentare cantando, cantar parlando, cantar recitativo, recitar cantando, cantar recitando und parlar cantando. Spätere Bezeichnungen sind recitativo arioso, recitativo obbligato, récit, récitatif mésuré, récitatif accompagné, accompagnement, recitativo semplice, recitativo strumentato oder stromentato, parlando. Das ital. Adj. recitativo leitet sich her von dem Verb recitare, ‚ein Gedicht vortragen‘, ‚in einem Bühnenstück agieren‘. Das Verb recitare wiederum geht zurück auf lat. recitare, ein Fachwort für das ‚Verlesen‘ oder ‚laute Vortragen‘ etwa eines Dokuments, einer Erklärung oder eines Berichts bei öffentlichen Handlungen, das dann verallgemeinernd auf jegliche Lesung oder jegliches auswendige Rezitieren in der Öffentlichkeit und speziell auf den Vortrag von Partien aus Komödien angewendet wurde. Recitare ist zu unterscheiden von declamare, ‚rhetorisch sprechen‘, ‚rhetorisch vortragen‘, und orare, ‚in einer Rechtssache plädieren‘ oder ‚argumentieren‘. I. Das ital. Verb RECITARE wird im mus. Sinne bereits vor dem Aufkommen der eigentlichen monodisch rezitativischen Musik gebraucht, z. B. von Castiglione (1508) in der Wendung „cantare alla viola per recitare“, von Zaralino (1558), der den Griechen die Praxis des mus. Rezitierens von Versen zuschreibt, und von V. Galilei (1582), der sowohl von auswendiger wie auch von improvisierter mus. Rezitation spricht. II. (1) Mit Cavalieris Rappresentatione de anima et di corpo (1600) und den damit veröff. Ausführungsanweisungen kommt eine aus der neuen monodischen Vortragsweise, dem RECITAR CANTANDO und CANTAR RECITANDO, erwachsende Terminologie auf. Diese Ausdrücke nehmen deutlich Bezug auf die Bühnenmusik der alten Griechen und Römer. Rinuccini, Peri und Caccini benutzen ähnliche Begriffe in ihren Widmungen und Vorw. von 1600 und 1601 zum Libretto und zur gedruckten Partitur der Euridice. Die erhellendste, wenngleich in ihrer Terminologie keineswegs neue Beschreibung findet sich im Vorw. von Peri, der sowohl die Herkunft als auch das Wesen der neuen „maniera di canto“ darlegt. Die Bezeichnung recitativo für diesen Schritt findet sich jedoch erst später. (2) Der Begriff STILE RECITATIVO oder vergleichbare Formulierungen wie „stile da cantar recitativo“ oder „stile di Firenze ò recitativo“ tauchen in den beiden ersten Jahrzehnten des 17. Jh. sowohl in Abh. über die mus. Praxis wie auch bei Klassifikationen von Stücken in Sammeldrucken auf. G. B. Doni erachtet 1624 den Begriff als allgemein gebräuchlich. (3) Doni gelangt 1640 zu einer Klassifikation der Arten der Monodie, die damals als rezitativisch verstanden werden: der „spezielle rezitativische Stil“ – STILE SPECIALE RECITATIVO – , der STILE NARRATIVO und der STILE ESPRESSIVO. (4) RECITATIVO als Subst. erscheint wohl erstmals in der Partitur der 1626 in Rom aufgeführten Catena d’Adone von D. Mazzocchi; etwa zur gleichen Zeit wird in einer Reihe von Quellen aus dem Umkreis des Hauses Barberini der betreffende Stil als langweilig abgelehnt. Einen bemerkenswerten Beitrag leistet Scacchi (1649) mit der Erkenntnis, daß sich der in der Kirche praktizierte rezitativische Stil wesentlich von dem des Theaters unterscheide. III. Praxis und Terminologie des Rezitativs finden eine SCHNELLERE VERBREITUNG IN DEUTSCHLAND UND ENGLAND als in anderen Ländern. (1) Schütz nimmt für sich in Anspruch, den „STYLUS RECITATIVUS“ 1619 in seinen Psalmen Davids in Deutschland eingeführt zu haben. (2) In England enthält eine im Jahr 1617 aufgeführte „Masque“ von Ben Jonson bereits den „Stylo recitativo“; 1645 gebraucht J. Evelyn den Ausdruck „RECITATIVE MUSIC“ und 1656 wird The Siege of Rhodes angekündigt als gesungen in „Recitative Musick“. Addison, ein bekannter Gegner der ital. Oper, befürwortet das Rezitativ unter der Voraussetzung, daß es der natürlichen Betonung der Sprache folge. (3) Bis es zu Camberts und Lullys ersten Versuchen in den Récits des Ballet de cour ist der rezitativische Stil in der franz. Musik unbekannt. Der Begriff RÉCIT wird anfangs einfach für eine solistische Vokal- oder Instrumentaldarbietung benutzt, später auch für ein Orgelregister. Das Wort RÉCITATIF fand über die Vokalsoli des Balletts endgültig Eingang in die franz. Musikterminologie. (4) Das von Lully und seinen Nachfolgern praktizierte Rezitativ wird erst in der Mitte des 18. Jh. begrifflich geklärt. Estève (1753) unterscheidet das RÉCITATIF SIMPLE vom RÉCITATIF MESURÉ. Rousseau (1768) prägt zur Kennzeichnung der Stilarten des ital. Rezitativs die Begriffe RÉCITATIF ACCOMPAGNÉ für die mit ausgehaltener Streicherbegleitung versehene Art und RÉCITATIF OBLIGÉ für jene andere Art, bei der das Orchester den Vortragenden unterbricht. IV. J. G. Walthers Defintition des RECITATIVO (Mus. Lexicon, 1732) unterscheidet nicht zwischen dem ital. und dem franz. Rezitativ und beschreibt lediglich das Rezitativ mit Generalbaßbegleitung als eine die Affekte ausdrückende Zwischenform von Deklamation und Gesang. Mattheson (1739) kennt das Recitativo OHNE UND MIT INSTRUMENTALEM ACCOMPAGNEMENT. Während er es besonders unter dem Gesichtspunkt der Dichtung mit dem Madrigal in Verbindung bringt, betrachtet es Scheibe (1745) als nach-madrigalisch. Bei der begleiteten Form des Rezitativs unterscheidet Scheibe zwei Arten: 1. die eine, bei der die Instrumente leise begleiten und 2. die andere, bei der die Instrumente emphatisch in die Pausen der Singstimme einfallen; einzig die letztere Art bezeichnet er als ACCOMPAGNEMENT. Marpurg (1762) klassifiziert die Arten des Rezitativs mittels dreier Gegensatzpaare: er unterschiedet das „neuere“ vom „älteren“, das „simple“ vom „accompagnirten“ und das „geistliche“ vom „weltlichen“ Rezitativ. Das „neuere“ Rezitativ ist mit dem ital., das „ältere“ mit dem franz. gleichzusetzen, wobei letzteres das „abgemessene Recitativ“ und das „simple Recitativ“ und „Accompagnement“ einbegreift. Unter dem „geistlichen“ Rezitativ führt er den Begriff „mehrstimmiges Recitativ“ ein, das er von der Sache her für einen Irrweg hält. Die umfassendste Behandlung der Gattung findet sich in Sulzers Allgemeiner Theorie (1774). V. (1) In Italien, dem Ursprungsland des Rezitativs, erscheinen vergleichbare Untersuchungen erst ziemlich spät. Tosi (1723), der sich mehr mit der Gesangspraxis als mit der Komp. befaßt, beschreibt die Erfordernisse des Vortrags für die drei Anwendungsbereiche Kirche, Theater und Kammer und prägt hierbei die Ausdrücke RECITATIVO ECCLESIASTICO, TEATRALE und DA CAMERA. Mancini, der gleichfalls Gesangslehrer war (1774), unterscheidet die vertrauten Kategorien des RECITATIVO SEMPLICE und INSTROMENTATO. Trotz dieser Nachweise scheinen RECITATIVO SEMPLICE und OBBLIGATO die gebräuchlicheren Termini gewesen zu sein, was Planelli (1772) und Arteaga (1785) belegen. Die letztgenannten Begriffe werden auch von ital. Wb. des frühen 19. Jh. bevorzugt, wenngleich auch die Bezeichnung accompagnato begegnet (Vissian 1846). (2) Die zunehmende Geringschätzung des einfachen Rezitativs mag zum Aufkommen des abschätzigen Begriffs RECITATIVO SECCO geführt haben, der freilich zunächst nur von Dilettanten nachweislich gebraucht wurde. G. Weber in seiner Allgemeinen Musiklehre (1831) ist wohl der erste, der SECCO als Synonym für SEMPLICE einführt. ACCOMPAGNATO und STROMENTATO werden mit OBLIGATO gleichgesetzt. Weber beschreibt auch einen neuen Typ des sehr schnellen, plappernden Sprechens, das PARLANTE, das er vom RECITATIVO PARLANTE, einer übertriebenen sprachähnlichen Spielart des „recitativo semplice“ unterscheidet. Mit diesen letzten Definitionen sind wir bei der Terminologie angelangt, die noch bis ins 20. Jh. gebräuchlich ist. VI. Seit der ersten Hälfte des 17. Jh. wird das Rezitativ auch in der Instrumentalmusik adaptiert. Doch wird es erst seit dem 18. Jh. ausdrücklich von Komponisten in der Partitur „Rezitativ“ bezeichnet und erst seit dem 19. Jh. im Musikschrifttum als INSTRUMENTALES REZITATIV. Der vorliegende Artikel geht nicht auf die Bezeichnungen Sprechgesang und Sprechstimme ein, da sie begrifflich nicht in der Tradition des Wortes Rezitativ stehen. Es sollte auch zur Kenntnis genommen werden, daß die Monographie sich als terminologische Studie des Begriffs Rezitativ und seines Wortfeldes versteht. Sie nimmt nicht für sich in Anspruch, eine Geschichte des Rezitativs oder der Ästhetik des Deklamierens in Oper und Musikdrama zu sein oder den Gegenstand der Rezitativtheorie erschöpfend zu behandeln. Claude V. Palisca, New Haven, Conn. HmT – 11. Auslieferung, Winter 1983/84 1983