Ethik und Philosophie Der Existenzialismus Sendemanuskript Zitator Niemals waren wir freier als unter der deutschen Besatzung. Wir hatten all unsere Rechte verloren, und in erster Linie das Recht zu sprechen; jeden Tag warf man uns Schmähungen ins Gesicht und wir mussten schweigen. Auf Grund all dessen waren wir frei. Da das Nazigift bis in unser Denken eindrang, war jeder richtige Gedanke eine Eroberung, da wir verfolgt wurden, hatte jede unserer Gesten das Gewicht eines Engagements. Erzähler Jean-Paul Sartre, französischer Philosoph und Schriftsteller. Einer der Mitbegründer des Existenzialismus. Zitatorin Ein jeder hängt von den anderen ab, und was mir durch die anderen zustößt, erhält erst durch mich seinen Sinn, hängt also von mir ab. Erzähler Simone de Beauvoir, existenzialistische Philosophin und Schriftstellerin. Zitator Diese Befreiung des Daseins im Menschen heißt nicht, ihn in eine Willkür stellen, sondern dem Menschen das Dasein als seine eigenste Bürde aufladen. Nur wer sich wahrhaft eine Bürde geben kann, ist frei. Erzähler Martin Heidegger, deutscher Philosoph. Erzählerin Wir sind „riders on the storm“, Reiter auf dem Sturm des Lebens. In diese Welt geworfen wie ein Hund ohne Knochen oder wie ein Schauspieler ohne Bühne. Niemand hat uns vorher gefragt, ob wir auf diese Welt wollten. Und trotzdem sind wir da. Wir leben. Aber existieren wir auch? Füllen wir unser Leben mit eigenem Sinn oder machen wir nur das nach, was die Mehrheit für richtig hält? Zitator Existenz. Entstanden aus lateinisch ex-sistere, heraus-, hervortreten, zum Vorschein kommen. Als neulateinische Bildungen erscheinen im 20. Jahrhundert Existenzialismus, Existenzphilosophie, Existenzialist, letzteres oft auch abfällig gebraucht zur Bezeichnung der Anhänger einer extravaganten Lebensführung. Erzählerin Der Existenzialismus – wie kaum eine philosophische Richtung bestimmte er Lebensstil und Daseinsauffassung der Generation junger Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Selten ist es jemals einem Denksystem mit solcher Wucht gelungen, bis in die alltäglichsten Bereiche vorzudringen, die Beziehungen der Geschlechter untereinander zu beeinflussen, Filmkunst und populäre Musik nachhaltig zu prägen. Jean-Luc Godards „Außer Atem“, die Kriminalfilme der schwarzen Serie, die Musik Edith Piafs, Juliette Grecos und Gilbert Becauds. Oder eine Mode hervorzubringen, deren wichtigstes Utensil der schwarze Rollkragenpullover war, und der seine Träger sofort als Anhänger einer bestimmten philosophischen Richtung kenntlich machen sollte. Existenzialistisch – bis heute eine Etikettierung, die die Ablehnung von Normen und Fremdbestimmung beinhaltet. Die Kunst, das Leben so zu führen, als könnte es jeden Moment vorbei sein und als sei nichts in ihm jemals zu bereuen. Der Existenzialismus wird vorwiegend mit französischen Denkern in Verbindung gebracht – Albert Camus, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir oder Maurice Merleau-Ponty. Und bis auf den letztgenannten waren alle gleichzeitig auch Schriftsteller, die ihr Denken in literarischen Konstruktionen zusätzlich erläuterten. Doch die Wurzeln dieser angeblich rein französischen Angelegenheit reichen weiter zurück. Auffällig ist die Nähe zur deutschen Existenzphilosophie, im ersten Drittel des 20. Jahrhundert begründet von Karl Jaspers und vor allem Martin Heidegger, der namentlich Jean-Paul Sartre sehr stark beeinflusste. Erzähler: Aber die ideengeschichtliche Spur führt zunächst nach Kopenhagen, zu Sören Kierkegaard. Dieser 1855 verstorbene dänische Theologe und Philosoph scherte sich nämlich reichlich wenig um kirchliche Dogmen und interpretierte eine Reihe von biblischen Geschichten neu. So auch die vom Sündenfall: Den ersten Menschen ist es verboten, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Bei der Frage nach dem Warum machte Kierkegaard eine Entdeckung, die den Existenzialismus ein knappes Jahrhundert später wesentlich prägen sollte. O-Ton 1 Schulz Kierkegaard ist der Auffassung, was dort angedeutet wird in diesem Verbot ist die Selbsterkenntnis des Menschen als eines freien Wesens. Als eines Wesens, das die Möglichkeit hat zu können. Erzähler Der Essener Theologe Heiko Schulz. O-Ton 2 Schulz Und das Medium, in dem man seiner selbst als eines freien Wesen zum ersten Mal ansichtig wird, das ist die Angst. Es ist nicht so, dass wir sagen, du bist frei und stehen dieser Möglichkeit neutral gegenüber, wie wir anderen Möglichkeiten gegenüberstehen, du kannst wählen zwischen einem Bienenstich und einem Blumenkohl, sondern wir stehen dem bewegt gegenüber, und zwar beunruhigt. Die Tatsache, frei sein zu können, uns entscheiden zu können, beunruhigt uns. Und eben das Medium, in dem wir dessen zum ersten Mal ansichtig werden, das ist die Angst. Die hat gewissermaßen gar kein Objekt das Objekt der Angst bin ich eigentlich selber, meine eigene Freiheit. Zitator Die Freiheit ist keine Eigenschaft, die unter anderem zum Wesen des menschlichen Seins gehörte. Die menschliche Freiheit geht dem Wesen des Menschen voraus. Was wir Freiheit nennen, ist also unmöglich vom Sein der menschlichen Realität zu unterscheiden. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Sein des Menschen und seinem Frei-Sein. Zitatorin Jean-Paul Sartre in seinem Buch „Das Sein und das Nichts“, erschienen 1943. Erzählerin Freiheit und die Angst vor ihr, so Sören Kierkegaard und später die Existenzialisten, stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang. Denn der Mensch ist das einzige Lebewesen, das wählen kann. In der Angst, alleine vor dieser freien Wahl seiner Möglichkeiten zu stehen und für eine einmal getroffene Wahl verantwortlich zu sein, stößt er gleichzeitig an die Grenzen seiner Freiheit. Sören Kierkegaard entdeckte als erster diesen paradoxen Zusammenhang, der in der modernen Psychologie als Lustangst beschrieben wird: sie hält uns davon ab, endlich das zu tun, was wir uns unser ganzes Leben lang schon wünschen – und damit sind nicht ein neues Auto oder ein anderer Lebenspartner gemeint. Sondern das, was zu unserem eigentlichen Wesen gehört. Der Frankfurter Philosoph Thomas Seibert: O-Ton 3 Seibert Man muss nicht selbst in diese Angst geraten sein der Gehalt aber ist derjenige eines völligen Verlusts jeder Gewissheit und das ist der Vollzug einer Erfahrung, die extrem doppelsinnig ist, weil sie erschütternd ist, bis ins Letzte. Man verliert jegliche Gewissheit, die zum anderen aber auch tatsächlich euphorisierend sein kann, weil man in diesem Verlust jeder Gewissheit natürlich gleichzeitig eine enorme Freiheit gewinnt. Erzählerin Während die Furcht ein Objekt hat – zum Beispiel einen Hund – ist Angst ein tiefes existenzielles Gefühl, das uns plötzlich anfällt – zumeist bei Gelegenheiten, die auf den ersten Blick nichts mit Angst zu tun haben. Das Bestechende an fast allen existenzphilosophischen und existenzialistischen Denkern ist die Analyse von Alltagssituationen, in denen wir mit der Angst und damit mit unserer Freiheit konfrontiert werden. So schrieb Jean-Paul Sartre einen ganzen Roman über die Empfindung des Ekels, Simone de Beauvoir analysierte, was Aggression und Sex miteinander zu tun haben. Und eine der besten Analysen einer alltäglichen Erfahrung bildet Martin Heideggers Passage über die Langeweile in seiner Vorlesung „Grundbegriffe der Metaphysik“, gehalten im Wintersemester 1929. O-Ton 4 Seibert Es ist immer dieselbe Situation eines Rausgeworfenseins aus jeder Selbstverständlichkeit, einer augenblicklichen Lähmung, die das natürlich bedeutet. Und im Grunde was dann passiert, wenn man diese Lähmung wendet. Meistens passiert dann – auch das beschreibt Heidegger zum Beispiel sehr gut – gar nichts. Nämlich es taucht die Frage auf, was war das denn jetzt eben, was ich da erlebt hab – ach es war nichts, und man macht weiter mit den geregelten Dingen des Alltags. Es kann aber sein, dass das zu einem Ereignis wird oder zu einer Erfahrung wird, die einen ganzen Lebensweg umwirft. Das sind alles Erfahrungen, von denen man glaub ich leichthin sagen kann, die stehen jedem offen. Erzählerin Die ernüchternde Bilanz des Existenzialismus ist es, dass diese Offenheit den Menschen auffordert, die Begründung seines Daseins aus sich selbst zu entwickeln. Insofern ist der Existenzialismus gleichzeitig ein radikaler Atheismus. Denn der Mensch der Moderne befindet sich in einem fatalen Zustand: Es gibt nichts mehr, woran er sich halten kann. In der Maschinenwelt der Technik wird er selbst zur Massenware, die sich aus dem Blick verliert, Ideen, Religionen und Ideologien verwirren ihn eher als das sie ihm einen Halt bieten könnten. O-Ton 5 Seibert Das ist diese Krise mit der Geschichte bürgerlicher Gesellschaft, die im Grunde von Anfang an angelegt ist. In dem Augenblick, wo diese Gesellschaft sich in einem relativ breiten Selbstverständnis von jeder kosmologischen oder theologischen Garantie losgesagt hat von dem Augenblick an ist diese Krise da. Aber natürlich ist sie für lange Zeit in der Latenz und der Bruch aus der Latenz in das Offenbare ist mit Sicherheit der Erste Weltkrieg. Das kann man ganz deutlich sagen und der Existenzialismus, wenn man eine allgemeinste Definition haben wollte, ist der Versuch, das philosophisch auf den Punkt zu bringen, und nicht nur auf den Punkt zu bringen, sondern dies zu bejahen: dass kein Grund vorgegeben ist, dass kein Ziel vorgegeben ist. Erzählerin Der breite Erfolg der existenzialistischen Philosophie hängt unter anderem damit zusammen, dass sie nicht nur eine rein intellektuelle Konstruktion darstellt. Vielmehr scheint es so zu sein, dass Heidegger, Sartre und andere den Nerv ihrer Zeit trafen, Seismografen eines europäischen Bebens waren, das sich vor allem in Kunst und Literatur langsam artikulierte. Zitator “Weißt du, was dir fehlt? Du bist ein Heimatloser. Eine der schlimmsten Typen. Hast du das noch nicht gehört? Niemand, der sein Heimatland verlassen hat, hat je etwas Vernünftiges geschrieben. Nicht mal druckenswert für die Zeitungen. Du hast den Kontakt mit der Erde verloren. Du posierst, trügerische europäische Normen haben dich ruiniert. Du trinkst dich zu Tode. Du bist vom Sex besessen. Du redest die ganze Zeit, statt zu arbeiten. Du bist ein Heimatloser, siehst du es ein? Du bummelst in Cafés herum.“ „Es klingt eigentlich ganz verlockend“, sagte ich. “Und wann arbeite ich?“ Erzähler Ernest Hemingway in seinem Roman „Fiesta“, erschienen 1926. O-Ton 6 Seibert Prinzipiell würde ich sagen in der Philosophie bereitet sich der Existenzialismus vor aus der europäischen Tradition und es gibt diese Parallelgeschichte, dass diese Philosophie tatsächlich eine wirkliche gesellschaftliche Situation und eine gesellschaftliche Subjektivität trifft und deswegen von vorneherein eine Tendenz hat, zu etwas zu werden, was sich in einer Lebenskunst artikuliert, sich in der Kunst artikuliert, sich in einer besonderen sozialen Figur artikuliert – der Figur des Intellektuellen. Das insgesamt ist die Konstellation, in der ist die Philosophie eine Linie. Zitatorin Eine solche Haltung bedeutet zunächst einmal, dass der eigentliche Mensch es ablehnt, ein fremdes Absolutes anzuerkennen. Wenn er nicht mehr außerhalb seiner selbst die Garantie seines Daseins sucht, dann weigert er sich auch, an absolute Werte zu glauben, die sich als Sachen vor seiner Freiheit erheben würden. Nur das Subjekt kann sein Dasein rechtfertigen, kein fremdes Subjekt, kein Objekt kann ihm von außen her Rettung bringen. Erzählerin Simone de Beauvoir in ihrer Schrift „Soll man de Sade verbrennen?“ Erzähler Die beiden Weltkriege hatten gezeigt, zu was es führen kann, wenn man absolute Werte wie Volk, Nation oder Vaterland über den eigenen Lebensentwurf stellt und blindlings in eine Katastrophe läuft. Das Vertrauen in die traditionellen europäischen Prinzipien war zusammengebrochen. Der Mensch konnte sich nicht mehr darauf verlassen, dass allgemeine und höher stehende Grundsätze sein Dasein bestimmten und lenkten. Er sah sich gezwungen, selbst seinen Anfang legen zu müssen, sich zu entwerfen. Oder, in den Worten Jean-Paul Sartres: Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt. Zitator Wenn der Mensch, so wie ihn der Existenzialist begreift, nicht definierbar ist, so darum, weil er anfangs überhaupt nichts ist. Er wird erst in der weiteren Folge sein, und er wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird. Also gibt es keine menschliche Natur, der Mensch ist nichts anderes als wozu er sich macht. Zitatorin Jean-Paul Sartre in seiner programmatischen Schrift „Ist der Existenzialismus ein Humanismus?“ O-Ton 7 Seibert Ich kann gar nicht darüber befinden, ob ich entwerfen will oder nicht, sondern ich finde mich, und das ist der interne Verweis auf die Geworfenheit, ich finde mich immer schon in der Situation vor, entwerfen zu müssen. Selbst wenn ich nicht entwerfe, ist der Verzicht darauf schon wieder mein Entwurf. Dieses wiederum hab ich nicht selbst geschaffen, sondern darin finde ich mich vor, es ist immer deswegen auch der Rückgang auf solche Erfahrungen wie die Angst oder die Langeweile oder den Ekel. Weil es ein schon sich vorfinden immer in dieser Situation gibt Deswegen ist man verurteilt zur Freiheit, oder verdammt zur Freiheit, weil man sich in dieser Situation je schon vorfindet und weil man auch dann frei ist, wenn man in gewisser Weise auf diese Freiheit verzichtet. Auch das ist letztlich eine Entscheidung vor die man aber immer schon gestellt ist, wann immer man sich findet, findet man sich als gestellt vor die Entscheidung im Grunde ist das auch die Beschreibung, die existenzialistische Beschreibung des Begriffs des Subjekts. Sich gestellt finden in die Notwendigkeit, entscheiden zu müssen. Erzählerin Ob diese Entscheidung richtig oder falsch ist, spielt vom existenzialistischen Standpunkt her keine Rolle. Wichtig ist, dass sie getroffen wird. Das gilt selbst dann, wenn der Mensch durch Gewalt zu einer Wahl gezwungen wird. Jean-Paul Sartre thematisiert dies in seiner Novelle „Die Mauer“, die auf eine mörderische Praxis während des spanischen Bürgerkrieges zurückgeht. Der Held dieser Erzählung wird gefangen genommen und kann der Erschießung durch die Faschisten nur dadurch entgehen, dass er das Versteck eines Freundes verrät. Er nennt seinen Peinigern einen frei erfundenen Unterschlupf, doch zu seinem Entsetzen findet man seinen Freund an genau diesem Ort. Gegen seinen Willen zum Verräter geworden, stößt der Held durch diese Wahl an die Grenzen seiner Existenz. Zitator Mein Leben lag vor mir, Schluss, zugebunden wie ein Sack, und dabei war alles, was drin war, noch unbeendet. Einen Augenblick versuchte ich zu einem Urteil darüber zu kommen. Ich hätte mir gern gesagt, es war ein schönes Leben. Aber man konnte es nicht beurteilen, es war nichts als ein Entwurf; ich hatte meine Zeit damit verbracht, Wechsel auf die Ewigkeit zu ziehen, ich hatte nichts begriffen. Erzählerin Trotz dieses radikalen Bezugs auf den Einzelnen sind weder Existenzphilosophie noch Existenzialismus als Denkstile des Egoismus zu verstehen. Denn wir sind niemals alleine auf der Welt. Und wir können auch ohne den anderen nicht existieren – ob wir wollen oder nicht. Der Mensch bildet sich seine Welt durch Mitmenschen. Diese Tatsache ist dem Existenzialismus von Anfang an bewusst. In einer Fülle von Erzählungen, Romanen und theoretischen Abhandlungen erläutern seine Theoretiker, dass der Mensch in seiner Selbstbegründung alleine steht. Doch gleichzeitig betonen sie, dass Existenz im philosophischen Sinne immer auch das Existieren aller Menschen miteinbezieht. Zitator Denn Da-sein heißt: Mitsein mit Anderen, Mitexistieren. Die Frage: Können wir Menschen uns in einen anderen versetzen, ist deshalb fraglos, weil sie keine mögliche Frage ist. Sie ist sinnlos, ja sinnwidrig, weil sie grundsätzlich überflüssig ist. Das Mitsein mit... gehört zu Wesen der Existenz des Menschen. Zitatorin Martin Heidegger. Zitator Indem wir die Freiheit wollen, entdecken wir, dass sie ganz und gar von der Freiheit der anderen abhängt, und das die Freiheit der anderen von der unseren abhängt. Gewiss hängt die Freiheit als Definition des Menschen nicht vom anderen ab, aber sobald ein sich binden vorhanden ist, bin ich verpflichtet, gleichzeitig mit meiner Freiheit die der anderen zu wollen. Erzähler: Jean-Paul Sartre. .Vor allem für die französischen Existenzialisten spielt in diesem Zusammenhang das politische Engagement eine große Rolle. Während des Zweiten Weltkriegs waren Jean-Paul Sartre und Albert Camus aktive Mitglieder des Widerstands gegen die deutsche Besatzung. Nach dem Krieg engagierten sie sich aus unterschiedlichen Positionen heraus, was zu einem Zerwürfnis der beiden führte, da Sartre zumindest zeitweise mit dem Sowjetkommunismus liebäugelte. Während des Algerienkrieges in den fünfziger und sechziger Jahren standen JeanPaul Sartre und Simone de Beauvoir auf Seiten der algerischen Unabhängigkeitsbewegung. Die OAS, eine aus kolonialistischen französischen Offizieren gebildete Terrororganisation, sprengte daraufhin Jean-Paul Sartres Wohnung in Luft, er selbst blieb unverletzt. Während Albert Camus den Nobelpreis für Literatur 1957 annahm, lehnte ihn Sartre 1964 kategorisch ab, mit der Begründung, dieser Preis sei Ausdruck bürgerlicher Konventionen. Für die Existenzialisten ergab sich ein politisches Engagement geradezu zwingend aus ihrer philosophischen Grundhaltung. Denn der existenzialistische Freiheitsbegriff beinhaltet ja, dass andere Menschen auch über die Erfahrung der Freiheit verfügen. Wenn also alle vor dieser Möglichkeit stehen, dann taucht die Frage auf, wie diese Erfahrung unter denen, die sie machen, ausgetauscht werden kann. Vor allem aber: was ist mit Zeitgenossen, denen dies verwehrt wird – beispielsweise in einer Diktatur. Der existenzialistische Freiheitsbegriff wäre unglaubwürdig, wenn er an dieser Stelle nicht das politische Feld betreten würde. Er käme in den Verdacht, einen Nullpunkt der Gleichgültigkeit zu propagieren, an dem sich jeder nur noch um sich selbst kümmert, sich seiner Freiheit freut oder in seiner Angst vor der ihr stecken bleibt. O-Ton 9 Seibert Dieser Nullpunkt ist prinzipiell eine Passage, das ist kein Zustand, in dem man sich auf Dauer einrichten kann. Wenn man das tut, dann ist das die Katatonie, also eine schwere existenzielle Schädigung. Das gibt es als Lösung, das Versinken im absoluten Schweigen und in der absoluten Bewegungslosigkeit. In dem Augenblick, wo ich aber tatsächlich diese Erfahrung als Passage erlebe und mir diese Erfahrung nicht verdecke, das heißt in irgendeine meiner Bindungen zurückkehre, bin ich gezwungen, mich selbst zu binden. Die Rückkehr zur Handlung ist immer ein sich binden an, und insofern ist das Engagement die allgemeine Antwort, die der Existenzialismus auf die Frage gibt, was nach der Angst kommt. Danach wird man sich an irgendetwas binden müssen, und s'engager heißt ja, sich binden an. Erzählerin Als akademische philosophische Richtung war der Existenzialismus nie von großer Bedeutung. Was seine Attraktivität bis heute ausmacht, war und ist eher die Verankerung in der konkreten Lebenspraxis von Menschen, die nach eigenen Normen ihr Dasein gestalten wollen ohne dabei anderen zu schädigen. Für uns heute Selbstverständliches geht zu einem nicht unerheblichen Teil auf existenzialistisches Denken zurück: Zusammenleben ohne Trauschein, PatchworkFamilien, Sabbat-Jahr oder Selbstfindungsprozesse in entscheidenden Lebensphasen. Verblüffend bleibt es dennoch, dass eine Theorie aus Büchern heraustritt und zur Praxis wird. Ist der Existenzialismus einer der seltenen Fälle in der Ideengeschichte, die eine sowieso schon bestehende Strömung, einen philosophischen Zeitgeist, lediglich artikulieren? Und, wenn ja, was brachte diese fruchtbare Rückkopplung zwischen Theorie und Praxis zustande? O-Ton 10 Seibert Ich würde da diesen Geworfenheitsbegriff ins Spiel bringen das hat sich niemand ausgedacht, sondern der Existenzialismus hat diese Rolle spielen können und spielt sie auch heute immer noch, obwohl er zum Beispiel als philosophische Bewegung eigentlich längst beendet ist. Weil er ein ganz wesentliches Erfahrungsmoment der Moderne trifft und damit auch eine offene Problemstellung trifft nach wie vor. Deswegen findet man immer noch und immer wieder und ich bin mir sicher, dass man das noch eine ganze Weile so finden wird, Motive, wo man sagen würde, das ist doch typisch existenzialistisch.