geschichte - Ronald D. Gerste

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GESCHICHTE
14. Juni 2012 DIE ZEIT No 25
24
Wie in einer Collage zeigt
diese naive zeitgenössische
Illustration Szenen aus
dem Krieg: Im Zentrum der
brennende Regierungssitz
Abb.: Bettmann/Corbis (o.); Corbis [M]
J
ames Madison hielt die Feder für
mächtiger als das Schwert. Einen
Bücherwurm nannten Spötter
den vierten Präsidenten der USA,
den kleinen, meist schwarz gekleideten, scheuen Mann mit der
stets leicht bekümmerten Miene.
1751 in Virginia geboren und in Princeton
zum Juristen ausgebildet, hatte er sich schon
früh einen Namen als Publizist gemacht
und gehörte zu den Hauptautoren der amerikanischen Verfassung.
Am 18. Juni 1812 aber wurde seine Feder
selbst zum Schwert. An diesem Tag nämlich
unterzeichnete er eine Kriegserklärung, die der
Kongress zuvor befürwortet hatte. Zum zweiten Mal zogen die USA in einen Krieg, und
der neue Gegner war der alte, war Großbritannien, das Mutterland, gegen das sie von 1775
bis 1783 ihre Unabhängigkeit erstritten hatten.
Die Gründe waren vielfältig. Verbindet die
beiden atlantischen Staaten heute eine besonders innige Allianz, so war England damals
noch der Erbfeind der USA. Großbritanniens
Griff, wenn nicht nach der Weltherrschaft, so
doch nach der Welthandelsherrschaft musste
immer wieder zu Konflikten mit den Amerikanern führen.
Gerade im Handel kam man sich heftig in
die Quere. Wie Napoleon von 1806 an mit
seiner Kontinentalsperre England wirtschaftlich niederzuringen hoffte, so probierte die
Regierung in London ihrerseits 1807, mit den
Orders in Council Napoleon zu treffen. Sie
untersagte allen neutralen Staaten, also auch
den USA, den Handel mit Frankreich.
Hinzu trat ein länger schon schwelender
Konflikt um die maritime Souveränität. Nicht
zuletzt für den Krieg gegen Frankreich brauchte Großbritannien Seeleute. Fast 150 000
Matrosen schufteten auf den Schiffen Seiner
Majestät, meist unter menschenunwürdigen
Bedingungen, die bei vielen Männern den
Gedanken an die Desertion stets lebendig
hielten. Ein reizvolles Ziel für jene, die der
Royal Navy den Rücken zu kehren hofften,
waren die Handelsschiffe (und die wenigen
Kriegsschiffe) der Vereinigten Staaten.
Seit 1805 nun zwang die Royal Navy die
Schiffe der Amerikaner zum Halten, und zwar
nicht nur auf hoher See, sondern oft auch in
Sichtweite der amerikanischen Küste. In einer
demütigenden Zeremonie musste dann die
Mannschaft antreten. Wer irgendwie »britisch«
aussah oder mit britischem Akzent sprach,
wurde abgeführt und zum Dienst in der königlichen Marine gepresst – sofern der Unglückliche nicht gleich identifiziert worden war und
als Deserteur an den Galgen kam. Impressment
wurde zu einem Begriff, der in den USA Wut
auslöste, eine weitgehend ohnmächtige Wut.
Am 22. Juni 1807 bereits kam es zu einem
Zwischenfall, der den Konflikt beträchtlich
verschärfte. Nur wenige Kilometer außerhalb
des Hafens von Norfolk/Virginia stoppte die
britische Fregatte Leopard die amerikanische
Fregatte Chesapeake. Das Schiff unter dem
Commodore James Barron war mit Proviant
und anderen Gütern für seine lange Reise ins
Mittelmeer voll beladen und nicht gefechtsbereit. Nachdem die Aufforderung des englischen Kapitäns zur Übergabe britischer
Seeleute abgelehnt worden war, feuerte die
Leopard auf die Chesapeake. Drei Amerikaner
starben, 17 wurden verletzt, unter ihnen der
Commodore. Barron musste seine Flagge
niederholen, ein britisches Kommando kam
an Bord und führt vier »britische« Seeleute ab.
Einen Unglücklichen, der tatsächlich Brite
war, hängte man gleich am Mast der Leopard.
Das Kapitol
in Flammen
Im Britisch-Amerikanischen Krieg, der 1812 begann, wurde
auch Washingtons Regierungsviertel zerstört VON RONALD D. GERSTE
Doch auch zu Lande gerieten England
und die USA aneinander. Vor allem Politiker
aus den neuen, den westlichen Bundesstaaten
wie etwa der Sprecher des Repräsentantenhauses, Henry Clay aus Kentucky, warfen den
Briten vor, die Indianer im amerikanischkanadischen Grenzgebiet zu Überfällen anzustacheln. Der Nachbar im Norden war
nach wie vor britische Kolonie, und schon
wurden Forderungen laut, Kanada solle den
USA beitreten.
Präsident Madison versuchte lange Zeit,
dem Konflikt auszuweichen, war mal Treibender, mal Getriebener. Und kaum war die
Kriegserklärung unterzeichnet, hatte sich die
Situation auch schon in einem entscheidenden Punkt verändert. Am 23. Juni 1812
nämlich nahm die Regierung in London die
Orders in Council zurück. Optimistisch jubilierte die Times, »dass die Feindseligkeiten mit
Amerika nun ein Ende haben müssen«.
In letzter Minute rettet die First
Lady George Washingtons Porträt
Doch es ist zu spät, die Kriegsmaschine läuft
bereits auf Hochtouren. In Großbritannien
sieht man das gelassen, zeigt sich doch der
Gegner alles andere als geeint. Im Nordosten
der USA, vor allem in den Neuenglandstaaten
und New York, ist die Opposition gegen den
Kurs der Regierung groß; gerade in dieser Region lebt man vom Handel mit Großbritannien. Und wird der Krieg später auch ganz
neutral als War of 1812 in die britisch-amerikanische Geschichtsschreibung eingehen –
für die zahlreichen Kritiker des Präsidenten
heißt er von Anfang an nur Mr. Madison’s War.
Die USA stehen nicht gerade hochgerüstet
da. Ihre Armee ist klein, umfasst rund 10 000
Mann und wird zunächst von alten Offizieren
geführt, deren Erfahrung noch aus dem Unabhängigkeitskrieg datiert. Republikanischen
Prinzipien gemäß vertraut die Regierung in
Washington auf die Bürgerwehren, die den
Bundesstaaten unterstehenden Milizen. Doch
nicht nur ist deren Kampfkraft oft sehr bescheiden, auch die erwarteten Mannschaftszahlen werden nicht erreicht. So schicken die
murrenden Neuenglandstaaten überhaupt
keine Soldaten: vielmehr schüren sie Gerüchte über eine mögliche Sezession, eine Abspaltung der Region vom Rest der Republik.
Doch es harrt noch eine größere Demütigung auf die Regierung Madison. Gleich der
erste Zug auf dem Schachbrett des Krieges
misslingt. Die Amerikaner haben sich nach
Norden gewandt: In Kanada erscheint Großbritannien verwundbar. Im Juli 1812 dringt
eine zusammengewürfelte US-Truppe von
rund 1600 Mann, drei Viertel davon kaum
trainierte Miliz aus Ohio, unter dem Kommando von General William Hull einige Kilometer nach Upper Canada, ins heutige Ontario vor. Der 59-jährige Politiker-General, der
zuletzt vor mehr als 30 Jahren Uniform getragen hat, lässt pathetische Deklamationen
verbreiten. »Ihr werdet«, so verkündet er den
Kanadiern, »von Tyrannei und Unterdrückung
erlöst und endlich freie Menschen sein.«
Doch die Kanadier erweisen sich als wenig
befreiungsbedürftig. Keine Hand rührt sich
für die Amerikaner. Hull muss sich mit seinen
Mannen nach Detroit zurückziehen. Dort
wird er von einer englisch-indianischen Armee
unter dem Kommando von General Isaac
Brook und dem legendären Shawnsee-Häuptling Tecumseh eingeschlossen, deren Stärke
Hull indes heftig überschätzt. Wie paralysiert
sitzt er in der Falle und wagt keinen Ausfall.
Welche Schande: Am 16. August 1812 muss
Detroit die weiße Fahne aufziehen! Brook
hingegen kann sein Glück kaum fassen.
»Wenn ich von diesen günstigen Geschehnissen berichte«, schreibt er dem Gouverneur
von Kanada, »werden Euer Exzellenz sehr verblüfft sein.« Hull wird wegen Feigheit zum Tod
durch Erschießen verurteilt, von Madison aber
begnadigt. Im nächsten Jahr scheitert eine
zweite Invasion Kanadas.
Hulls Neffe, Captain Isaac Hull, macht es
besser. Seine Fregatte Constitution erringt den
so lang entbehrten Erfolg. Auf dem Weg zu
den Bermudainseln stößt sie am 19. August
1812 auf die britische Fregatte Guerrière.
Zum ersten Mal sieht sich ein Kriegsschiff
Seiner Majestät einem bestens ausgestatteten
US-Schiff gegenüber. Nach nur 30 Minuten
hat die Constitution aus der Guerrière, wie es
deren Kapitän betrübt nennt, ein »totales,
nicht mehr manövrierfähiges Wrack« gemacht. Der Erfolg löst in den USA Jubel aus.
Und Dankbarkeit: Noch heute wird die Constitution, die im Hafen von Boston besichtigt
werden kann, als aktives Schiff der amerikanischen Marine geführt, als ihr ältestes.
Der Coup ist der Wendepunkt. Bald verbuchen die Amerikaner weitere Erfolge. Am
10. September 1813 siegt eine Flottille unter
dem Kommando von Commodore Oliver
Hazard Perryy auf dem Eriesee ggegen
g die Briten, was den Amerikanern die
Kontrolle
über den
See
sowie die Chance zur Rückeroberung von
Detroit gibt. Im September 1814 folgt ein
vergleichbarer Sieg auf dem Champlainsee.
Die Regierung in Washington ist nun
guten Mutes. Doch just in diesem Moment
ändert sich die weltpolitische Lage dramatisch.
In Europa geht Napoleons Herrschaft zu
Ende, im April 1814 dankt er ab und wird auf
die Mittelmeerinsel Elba verbannt. Jetzt hat
Großbritannien die Hände frei, um sich ganz
dem Krieg gegen die USA zu widmen. Und
so fährt im August 1814 eine geradezu gewaltige Flotte in die Chesapeake Bay ein. Den
Bäuchen der Schiffe entsteigen mehr als 4000
auf den europäischen Schlachtfeldern geschulte Veteranen, reguläre Truppen in scharlachroten Uniformen und Marines der Royal
Navy, denen die Amerikaner in puncto Erfahrung kaum etwas entgegenzusetzen haben.
Rasch wird klar, wohin die Armee marschieren will: nach Washington. Am Mittag
des 24. August 1814 stellt sich bei Bladensburg – einige Meilen östlich der noch im
Aufbau befindlichen Hauptstadt – eine zahlenmäßig überlegene Streitmacht der Amerikaner den Invasoren entgegen. Allerdings
verfügt sie neben der Masse der BürgerwehrMilizionäre nur über wenige gut ausgebildete Berufssoldaten. Hinter ihren Linien findet
eine wohl einmalige Kabinettssitzung statt:
Auf dem Rücken ihrer Pferde diskutieren Präsident Madison, Außenminister James Monroe, Kriegsminister John Armstrong und
Justizminister Richard Rush die Lage. Sie
ahnen nichts von der Gefahr, in der sie schweben. Denn die Linie bei Bladensburg hält
nicht lange, und um ein Haar wäre fast die
gesamte Regierung der USA in britische Gefangenschaft geraten.
Obwohl die Amerikaner weitaus mehr
Artillerie haben und einige Einheiten tapfer
Widerstand leisten, ist der Vormarsch der
professionell ausgebildeten Briten nicht aufzuhalten. Madison und sein Kabinett fliehen,
so schnell sie können; binnen Stunden verlässt auch die First Lady Dolley Madison den
Amtssitz des Präsidenten. Noch in letzter
Minute sorgt sie dafür, dass der wertvollste
Kunstgegenstand des Hauses nicht in die
Hände des Feindes fällt: Sie lässt Gilbert
Stuarts berühmtes Ölporträt von George
Washington aus dem Rahmen schneiden und
in Sicherheit bringen.
Noch am selben Tag, in den schwülen
Abendstunden des 24. August, rücken die
britischen Einheiten in die Stadt ein. Admiral
Cockburn besichtigt das verlassene und – wie
so vieles in Washington – noch unfertige Kapitol, nimmt ein Buch als Andenken mit und
lässt das zerschlagene Mobiliar, Vorhänge und
was immer sonst trocken und zundrig aussieht, in die Kammern des Parlaments schleppen. Bald darauf züngeln Flammen aus den
Fenstern, auch die erste Library of Congress
wird vom Feuer vernichtet.
In Baltimore entsteht
Amerikas Nationalhymne
Cockburn und die Seinen ziehen weiter, die
Pennsylvania Avenue hinab. Zusammen mit
General Robert Ross nimmt er im President’s
House ein Glas Madeira zu sich; Cockburn
bringt spöttisch einen Toast auf »Jemmy« aus,
den geflohenen Präsidenten. Dann wird auch
dieses Haus in Brand gesteckt, anschließend
das benachbarte Finanzministerium. Der
Flammenschein ist so hell, dass man, wie sich
ein britischer Soldat später erinnert, die Gesichter der Kameraden im nächtlichen Dunkel
gut erkennen konnte. Nur ein Gewitter verhindert die Ausbreitung der Feuersbrunst.
Vier Tage später, die Briten sind abgezogen,
kehrt Präsident Madison zurück und steht vor
den ggeschwärzten Ruinen. Allerdings
g ist es nur
eine hübsche Legende, dass er seinen Amtsitz,
zum Übertünchen der
Brandspuren, mit weißer Farbe streichen ließ
und das Palais so zu
dem
Im August 1814 wurde das noch unvollendete Kapitol zur Brandruine
berühmten Namen kam: White House. In
England aber notierte eine Zeitung sarkastisch,
Russlands Kosaken schonten Paris, »wir aber
schonten Amerikas Hauptstadt nicht«.
Währenddessen versuchen die Briten, den
Hafen von Baltimore an der Chesapeake Bay
zu nehmen, einen der wichtigsten Exporthäfen der USA. Doch das kleine, die Einfahrt
bewachende Fort McHenry weigert sich zu
kapitulieren. Die englischen Schiffe machen
ihre Kanonen gefechtsbereit. An Bord eines
der Schiffe befindet sich ein amerikanischer
Emissär, der Anwalt und Gelegenheitsdichter
Francis Scott Key. Er ist zur Verhandlung
über die Freilassung von Gefangenen gekommen. Die Briten »bitten« ihn höflich,
doch noch eine weitere Nacht Gast der Royal Navy zu sein – Key, so fürchten sie, könne
zu viel von den Angriffsvorbereitungen mitbekommen haben.
Kurz darauf beginnt ein stundenlanges
Bombardement der kleinen Festung, wobei
vor allem Raketen – in diesen Jahren eine
bevorzugte Waffe des britischen Militärs –
zum Einsatz kommen. Doch der Kommandant von Fort McHenry, Major George
Armistead, zeigt Stolz und Mut. Er hat eine
überdimensionale Flagge nähen lassen, die
er vom Mast der Festung herab den Briten
entgegenflattern lässt.
Am nächsten Morgen darf Francis Scott
Key wieder an Deck des Schiffes gehen. Die
Kanonade ist verstummt – wie sich auch die
britischen Offiziere allesamt sehr einsilbig
zeigen. Als sich der Morgennebel an diesem
14. September 1814 lichtet, entdeckt Key mit
seinem Fernglas rasch den Grund des britischen Verdrusses: Die Fahne von der Größe
eines Blockhauses weht noch immer über
dem Fort. Von seinen Gefühlen übermannt,
greift er zu einem Stück Papier und schreibt
die ersten Zeilen nieder: »Oh say how can you
see / by the dawn’s early light / what so proudly
we hailed / at the twilight’s last gleaming ...« Es
ist dieses Gedicht, das später zum Text der
amerikanischen Nationalhymne wird.
Der Friedensvertrag wird zum
Beginn einer besonderen Allianz
Während die Engländer hier kaum voran
kommen – auch ist ihr General Ross bereits
wenige Tage zuvor von einem Scharfschützen erschossen worden –, greifen sie andernorts erneut an, diesmal tief im Süden, bei
New Orleans. Es wird ein Debakel. Die gut
organisierten Abwehrreihen der Amerikaner
unter dem energischen Andrew Jackson
(dem späteren Präsidenten) fügen den Briten
am 8. Januar 1815 eine schwere Niederlage
zu. 300 Briten und 70 Amerikaner kommen
dabei um.
Ein besonders absurder Tod: Denn seit
dem Sommer 1814 bereits verhandelt man
im flandrischen Gent um den Frieden – und
just knapp drei Wochen vor der Schlacht bei
New Orleans ist man sich einig geworden.
Doch die Nachricht aus Europa trifft verspätet in den USA ein.
Der Friede kennt weder Sieger noch Besiegte. Großbritannien verzichtet auf jeden
territorialen Anspruch, und Madison lässt die
Forderung nach dem Ende des impressment
fallen; er weiß, dass Großbritannien, nach
seinem Sieg über Napoleon, nicht länger einen solch immensen Bedarf an Seeleuten
haben wird. Und so gilt weitgehend der
Grundsatz uti possidetis: Jeder behält, was er
besitzt. Mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages am Heiligabend 1814 wird der
status quo ante bellum wiederhergestellt.
Das Ende des Britisch-Amerikanischen
Krieges ist aber auch der Beginn einer neuen
Epoche in den Beziehungen der beiden großen englischsprachigen Nationen. Hier beginnt jene peculiar relationship, die zum
Bündnis in den zwei Weltkriegen, im Kalten
Krieg und darüber hinaus führt – bis zum
fatalen Irakkrieg von 2003. Die Hoffnung
des Diplomaten und späteren Präsident John
Quincy Adams jedenfalls sollte sich erfüllen,
als er in Gent zur Unterschrift ansetzte und
dabei seinen britischen Verhandlungspartner,
Lord Gambier, anblickte: »Möge dies der
letzte Friedensvertrag zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten sein!«
Der Autor ist Arzt und Historiker;
er lebt in Washington, D. C.
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