Tagesschulen – ein aktuelles politisches Thema Tagesschulen sind in der Schweiz seit einem Vierteljahrhundert ein Thema. Wirklich im Gespräch sind sie aber erst seit vergangenem Jahr. Schulen mit Tagesstrukturen sollen zur Norm werden, so die Forderung breiter Kreise. An einem Round Table−Gespräch trafen und fanden sich VertreterInnen verschiedenster Parteien und Verbände, und im Nationalrat wurden fünf parlamentarische Initiativen eingereicht. Ein Überblick über die politischen Bestrebungen der letzten Zeit. Von Ursula Haller Seit 25 Jahren fordern ganz verschiedene Seiten die Einrichtung von Tagesschulen: Primär waren es "linke" Frauen und Parteien, aber auch diverse Verbände und Institutionen machten sich dafür stark. So wurden denn auch bereits in den 1980er Jahren in den grossen Städten Zürich, Bern und Basel die ersten öffentlichen Tagesschulen eröffnet. Mit der konkreten Umsetzung der Vorschläge ging es während dieser Zeit sonst aber kaum vorwärts. Ein Blick in die Parteiprogramme zeigt denn auch deutlich, dass das Bedürfnis nach solchen Einrichtungen von den meisten bereits früh erkannt wurde, jedoch die Lösungsansätze – respektive der Wille hier aktiv zu werden – wenn überhaupt, recht unterschiedlich ausfallen. Das Gleiche lässt sich von den meisten Arbeitgeber− und Arbeitnehmerorganisationen sagen. Grosses Treffen am Runden Tisch Auch der Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) hatte das Thema bereits 2001 mit einer ersten Resolution zur ausserfamiliären und ausserschulischen Betreuung von Jugendlichen thematisiert. Jedoch erst an der Delegiertenversammlung 2005, als der LCH beauftragt und von verschiedenen Seiten auch aufgefordert wurde, das Thema national zu lancieren bzw. alle interessierten Kreise an einen Tisch zu bringen, kam richtig Schwung in die Angelegenheit. Dies führte zu einem auch von den Medien stark beachteten "Runden Tisch−Gespräch" vom 31. August 2005, an welchem sich alle wichtigen Partner, Arbeitgeber− und Arbeitnehmerverbände, Institutionen und Behördenvertreter beteiligten. Erfreut durfte als Ergebnis der Tagung ein durchwegs positives Echo aller Beteiligten zum Grundanliegen "Tagesschulangebote" festgestellt werden. Auch wurde der Vorschlag, mit einer Parlamentarischen Initiative (Ziel: Verankerung des Anliegens in der Bundesverfassung durch Ergänzung von Artikel 62) das Thema auf nationaler Ebene nun definitiv zu lancieren, von allen Seiten unterstützt. Folgende Haltungen wurden vertreten (Auszug aus dem Sitzungsprotokoll vom 31. August 2005): CVP: Die Einführung von Tagesstrukturen an der obligatorischen Schule ist sowohl aus familienpolitischen wie aber auch aus bildungspolitischen Gründen sinnvoll. Die CVP steht der Offensive des LCH positiv gegenüber. Die Partei macht sich Gedanken über das weitere Vorgehen bezüglich der Integration von Bildung in Art. 62 Abs. 3 BV. Sie hofft auf genügend Kräfte, möchte aber auch nicht verheimlichen, dass in konservativen Kantonen wie auch bei den Männern immer noch Probleme bei der Akzeptanz des Anliegens bestehen. 1 FDP: Die FDP hat sich immer für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eingesetzt. Auch die demografische Entwicklung der Schweiz zwingt zu diesem Schritt. In den nächsten 15 bis 20 Jahren werden jährlich rund 20'000 Arbeitskräfte weniger zur Verfü¬gung stehen. Die FDP hat Vorbehalte gegenüber einer Bundesbeteiligung an den Kosten von „Mittagstischen“. Die Fraktionsspitze hat sich mit diesem Vorschlag auseinandergesetzt, hat aber Vorbehalte gegenüber dem letzten Satz des neuen Abs. 3 "Der Bund kann sie (die Kantone) bei dieser Aufgabe unterstützen". Hier wird es allenfalls noch Modifikationen geben. SP: Die SP stützt sich auf zwei Schlüsselbegriffe: Die Gleichstellung und die Chancengleichheit. War dies zu Beginn ein Frauenanliegen, so ist es dann auch zu einem Anliegen der Wirtschaft geworden und heute auch zu einem Anliegen der Bildungspolitik. Die Finanzierung einer familien− und schulergänzenden Betreuung für Kinder und Jugendliche wird aus Sicht der SP nicht einfach sein, ist aber unumgänglich. Die Finanzierung sollte kostendec kend sein, das heisst innert 5 Jahren soll das investierte Geld wieder zurückfliessen. Die Art der Finanzierung ist ein wichtiger Punkt, um eine Bildungsdiskussion zu führen. GP: Die Grüne Partei setzt sich für die Einführung von familien− und schulergänzender Kinderbetreuung ein. Das Anliegen gehört zu den grundlegenden Postulaten grüner Politik und ist eine unerlässliche Voraussetzung für die Gleichstellung der Geschlechter. Die GP erwartet seitens des LCH Lobbying für dieses Anliegen und eine Sensibilisierungsarbeit, die ganz klar in der Männerdomäne geschehen muss. SVP Die politische Offensive des LCH wird nur von vereinzelnten Exponenten und Exponentinnen der SVP unterstützt. Eine Mehrheit in der SVP ist der Meinung, dass nach wie vor die Familie für die Erziehung und die Betreuung der Kinder zuständig ist, dass Eigeninitiative und Selbstverantwortung an Stelle von staatlicher Intervention und Unterstützung gefragt sind. Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK: Die EDK unterstützt den eingeschlagenen Weg, wie der LCH und die 5 Parteiexponentinnen mittels der Parl. Initiativen das Thema angehen. Sie sieht als mögliche alternative Plattform für die Verankerung des Anliegens die EDK−Vorlage HarmoS. Ein Schritt in diese Richtung ist mit der vorgesehenen Einführung von Blockzeiten an den Volksschulen im neuen Konkordat vorgesehen. Schule &Elternhaus S/>Für eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf müssen bessere Modelle gefunden werden. Die Umsetzung soll niederschwellig mit konkreter Hilfe und pragmatisch vonstatten gehen, deshalb wird die politische Offensive unterstützt. Das Wort "Tagesschule" ist eher verwirrend. Trotz gesetzlichen Vorgaben muss aber die Wahlfreiheit für die Eltern bzw. Familien in der Umsetzung möglich sein. Schweizerischer Verband alleinerziehender Mütter und Väter SVAMV: Der Verband unterstützt die Initiative des LCH und die Verankerung des Abs. 3 im Art. 62 BV. Der Verfassungsartikel muss sich auch mit dem Vorschulbereich befassen. Einelternfamilien sind besonders darauf angewiesen, dass der Alltag organisatorisch zuverlässig abläuft. Der SVAMV unterstützt daher jede Verbesserung der heutigen, für viele alleinerziehende Mütter und Väter völlig unbefriedigende Betreuungssituation. 2 AvenirSocial: Der neue Verband unterstützt die Initiative. Eine tatsächliche Chancengleichheit im Bildungswesen hat in Wirklichkeit bis heute gar nicht existiert, da die Betreuungssituation für viele Kinder und Jugendli¬che schlecht oder gar nicht gelöst ist. Pro Juventute: Das Bildungsverhältnis von pro Juventute umfasst neben der Schule auch Orte wie Familie, Spielplätze, Jugendgruppen und schliesst familien− und schulergänzende Betreuungsstrukturen als wichtige Bildungsräume für Kinder und Jugendliche mit ein. Pro Juventute ist für eine Verankerung im Bildungsrahmenartikel der BV. Schweizerischer Krippenverband SKV: Der SKV findet es sinnvoll, dass die verfassungsrechtlichen Bestimmungen nun auch in Richtung Betreuung gehen sollen. Die Finanzierung von Tagesschulen ist im Sinne eines Dreigenerationenvertrages zu sehen, d.h. die getätigten Investitionen werden sich in den nächsten drei Generationen auszahlen. Avenir Suisse: Tagesschulen sind in erster Linie eine Gemeindeangelegenheit. Mit der Publikation "Das Einmaleins der Tagesschule" (kostenlos erhältlich bei assistent@avenir−suisse.ch) werden Wege zur erfolgreichen Einführung aufgezeigt. Für ein Land, das seinen Wohlstand nicht zuletzt der gut ausgebildeten Bevölkerung verdankt, sollten Tagesschulen kein Luxus sein, sondern eine notwendige Bedingung und Chance für den zukünftigen Erfolg in einer internationalisierten, vom Wettbewerb bestimmten Welt. Schweizerischer Arbeitgeberverband: Der Verband steht hinter den Forderungen nach schulergänzender Betreuung und ist überzeugt, dass der Fokus in Zukunft bei diesem Betreuungsangebot sein sollte und nicht primär bei Kinderkrippen und Horten. Der Verband möchte keine Luxuslösung, sondern eine vernünftige, pragmatische Lösung, die die Chancengleichheit unterstützt. Arbeitnehmerverbände/Ebenrain−Konferenz: Die Allianz der Arbeitnehmenden (Ebenrain−Konferenz), die zwölf Berufsverbände und die beiden grossen Gewerkschaftsdachverbände (Schweiz. Gewerkschaftsbund und TravailSuisse) umfasst, unterstützt das Anliegen einstimmig. Fünf parlamentarische Initiativen Die erwähnten, positiven Stellungnahmen führte im Nationalrat zur erfreulichen Tatsache, dass sich innerhalb kurzer Zeit bereits zum zweiten Mal Politikerinnen aller grossen Parteien verbündeten, um gemeinsam ein gestecktes Ziel zu erreichen. Vor zwei Jahren galt der gemeinsame Einsatz dem bezahlten Mutterschaftsurlaub – erfolgreich, wie wir wissen – , dieses Mal galt er der Forderung nach familien− und schulergänzenden Betreuungsangeboten. Die Nationalrätinnen Christine Egerszegi (FDP), Jacqueline Fehr (SP), Kathy Riklin (CVP), Ruth Genner (GP) und ich selber haben ich in der vergangenen Herbstsession fünf gleichlautende, sich in der Begründung gegenseitig ergänzende Parlamentarische Initiativen mit folgendem Wortlaut eingereicht: Artikel 62 der Bundesverfassung ist durch folgenden Absatz 3 zu ergänzen: "Die Kantone sorgen dafür, dass die Gemeinden in Zusammenarbeit mit Privaten ein bedarfsgerechtes Angebot an familien− und schulergänzender Betreuung für Kinder bis zum Ende 3 der obligatorischen Schulzeit bereit stellen. Der Bund kann sie bei dieser Aufgabe unterstützen." Das weitere Vorgehen Die Beratung und Behandlung der Vorstösse soll diesen Februar in der zuständigen Kommission Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) erfolgen. Bis es so weit ist, dass die Bundesverfassung mit dieser Forderung ergänzt wird, wird allerdings noch viel Wasser in die Aare, respektive in den Rhein fliessen. Denn es müssen noch intensive politische Auseinandersetzungen ausgetragen und partei− und ge sellschaftspolitische Hindernisse überwunden werden. So wurden bereits verschiedene Fragen gestellt, unter anderem folgende: • ob das gewählte Vorgehen (Verfassungsartikel) sinnvoll sei und dieses nicht der föderalistischen Tradition im Bil¬dungswesen und der Organisation des Schulsystems widerspreche (Kantone und Gemeinden sind für die Volksschule zuständig), • ob der vorgesehene Weg von oben nach unten, also vom Bund über die Kantone bis in die Gemeinden richtig sei, • ob es sinnvoll sei, dass sich die Angebote nur auf die ausserschulische Betreuung konzentrieren, ob nicht auch die Tagesbetreuung im Vorschulalter miteinbezogen und ihr gleichgestellt werden müsse. Aber auch der letzte Satz der vorgesehenen Ergänzung im Verfassungsartikel: "Der Bund kann sie bei dieser Aufgabe unterstützen" wird bestimmt noch viel zu reden geben! Ich bin jedoch zuversichtlich, dass die Zeit nun reif ist und die fünf eingereichten Parlamentarische Initiativen eine grosse Chance haben, von der Mehrheit akzeptiert zu werden. In welcher Form (zum Beispiel Kommissionsinitiative) sie schlussendlich dem Parlament zur Beratung unterbreitet werden, ist aus meiner Sicht sekundär. Damit würde ein An liegen, welches vor einem Vierteljahrhundert lanciert wurde, endlich in die Tat umgesetzt und der Volksmund hätte einmal mehr Recht: "Was lange währt, wird endlich gut...!" Die Tagesschule Thun Gute Ideen zu realisieren, braucht oft einen langen Atem. Das zeigt sich auch am Beispiel der Entstehungsgeschichte der ersten Thuner Tagesschule. Bereits vor 15 Jahren (!) wurde mit einem Beschluss des Thuner Stadtrates (Parlament) eine erste Hürde auf dem Weg zu einer Thuner Tagesschule genommen. Mit 26 zu 5 Stimmen war damals folgendes Postulat erheblich erklärt worden: "Der Gemeinderat wird ersucht zu prüfen, ob die Einführung einer Tagesschule in absehbarer Zeit möglich ist." Es wurde jedoch im Jahre 1997 "aus finanziellen Gründen als nicht erfüllbar" abgeschrieben. Dank einem weiteren parlamentarischen Vorstoss im Jahr 2000 ging das Geschäft dann dennoch weiter vorwärts. Die Einsetzung einer zehnköpfigen fachlich und politisch breit abgestützten "Spezialkommission Tagesschule" erarbeitete in der Rekordzeit von lediglich sieben Sitzungen ein detailliertes Tageschulkonzept inklusive Finanzierungsvorschlägen. 4 Am 21. April 2005 wurde mit Gemeinderatsbeschluss Nr. 251 das Anliegen politisch erfolgreich umgesetzt. "Tagesschulen sind freiwillige, in die Volksschule integrierte, pädagogische Einrichtungen zum Betreuen schulpflichtiger Kinder ausserhalb der Unterrichszeiten. Die Stadt führt ab Beginn des Schuljahres 2005/06 eine erste freiwillige Tagesschule für Kinder des 1. bis 6. Schuljahres." Am 15. August 2005 eröffnete die erste Tagesschule in Thun ihre Tore. Zur Autorin: Ursula Haller, Nationalrätin/Gemeinderätin SVP, ist Vorsteherin der Direktion Bildung und Entwicklung in der Stadt Thun. Sie engagiert sich auf Bundes− und Kommunalebene für die Einführung von Tagesschulen. www.avenirsocial.ch 5