Ethik im Schulunterricht – Erfahrungen und Ideen

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zeit.schrift 11|2004
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fokus
Ethik im Schulunterricht –
Erfahrungen und Ideen
Angesichts des schwindenden Konsens, was in unserer Gesellschaft gut und
schlecht ist, erlaubt oder verboten werden soll, droht dem modernen Menschen
eine zunehmende moralische Orientierungslosigkeit. Umso wichtiger wird Ethik
im Unterricht mit Jugendlichen – durchaus mit Erfolg, wenn man sich an die
Grundfragen des Lebens heranwagt.
Ethik, griechisch «Sittenlehre», ist die Lehre vom
guten oder gelingenden Leben und die Reflexion
über das richtige und gerechte Handeln. Ethik
setzt voraus, dass Menschen, Institutionen oder
Unternehmen Handlungsspielräume (Freiheit)
haben (nach Huppenbauer und Hess, 2002). Die
Sekundarstufe II ist damit ein idealer Ort,
ethisches Denken einzuüben und anzuwenden.
Einerseits nehmen eigene Freiräume (Stichwort
Mündigkeit) und selbstverantwortete Entscheidungen immer mehr zu, anderseits wird die gesellschaftliche Wirklichkeit derart pluralistisch
und widersprüchlich erfahren, dass ethische
Fragen bewusst oder unbewusst immer wieder
ins Zentrum rücken. Und wer mit Schülerinnen
und Schülern schon den Grundfragen des Lebens
nachgegangen ist, weiss, wie gross deren Interesse und wie erfüllend solche Momente sind.
Ethik in den Lehrplänen
Bezeichnenderweise taucht Ethik in allen institutionellen Vorgaben des Sek-II-Unterrichts auf. Im
Rahmenlehrplan (RLP) für den Allgemeinbildenden Unterricht (1996) ist Ethik einer von neun
grundlegenden Unterrichtsaspekten, und er wird
es auch in der sich zurzeit in Revision befindenden Fassung bleiben. Als Lernziel steht hier beispielsweise «Fragen und Probleme aus der eigenen Erfahrungswelt beurteilen und dabei
ethisch-moralische Überlegungen berücksichtigen». An den Mittelschulen gibt es die «PPP-Fächer» (Pädagogik, Psychologie, Philosophie), die
breiten Raum für ethische Fragestellungen bieten. Und in allen Richtungen der Berufsmaturitätsschulen wird in den RLPs unter dem Begriff
«Haltungen» auf verschiedene Arbeitstugenden
und ethisches Verhalten hingewiesen.
Lehrpläne und Unterricht
Die Frage stellt sich allerdings, wie all die schönen Formulierungen der Lehrpläne in der Praxis
umgesetzt werden. Thomas Büchi, Leiter der PLAU
(Projekt Lehrplan Allgemeinbildender Unterricht)
beim Zürcher Mittelschul- und Berufsbildungsamt, meint dazu: «In den Schullehrplänen wurde
bei den meisten Schulen darauf geachtet, alle
neun Aspekte zum Zuge kommen zu lassen.
Allerdings dürfte die Behandlungstiefe unterschiedlich sein, was auch mit der Prüfbarkeit des
Stoffes zu tun hat. In den Schulzimmern dürften
die Aspekte ‹Politik, Wirtschaft und Recht› obenaus schwingen.» Erfahrungsgemäss scheinen die
Lehrpersonen ethische Fragen wie Suizid(gefährdung), Fremdenhass oder Umgang am Arbeitsplatz anhand Ethik nahe stehenden Themen zu
behandeln. In den meisten Fällen handelt es sich
nach Thomas Büchi um angewandte Ethik.
Walter Mahler, Weiterbildungsbeauftragter der
WBZ und Bereichsleiter Berufsmaturität am SIBP,
gewann im Verlauf der Jahre den Eindruck, dass
Ethik im Unterricht immer noch ein Schattendasein fristet. Als Hauptgrund sieht er das Problem,
dass «Lehrpersonen sich eine Behandlung ethischer Fragestellungen nicht zutrauen, weil sie
ethische Kompetenz mit akademischem Wissen
über Ethik gleichsetzen». Stattdessen bezeichnet
Walter Mahler als grundlegende ethische Kompetenz die selbstverständliche Einsicht des Menschen, dass wir Lebewesen und keine Gegenstände sind, und das Wissen, dass Leben immer
ein Zusammenleben ist. «Im Stützen und Wachhalten dieser persönlichen ethischen Instanz, des
natürlichen Gewissens» sieht er denn auch die
pädagogische Herausforderung für die Lehrpersonen.
knüpfen. Dies geschieht am besten in Arbeitsund Projektwochen, bei Team- und Gruppenarbeiten.» Er plädiert dafür, dass Schulen auch körperlich anspruchsvollere Lager mit Aktivitäten
wie Bergsteigen, Skitouren und Segeln anbieten.
«Dies ergibt Möglichkeiten von ‹applied ethics›
vom Feinsten.»
Methodische Umsetzungsmittel
Als Mittel, ethische Lernziele zu erreichen, sieht
Walter Mahler verschiedene Wege: «Diskussion
mit den Lernenden über absolute und relative
Werte, vergleichende Auseinandersetzung mit
weltanschaulichen Auffassungen oder ergründendes Suchen nach Stellungnahmen zu existenziellen Lebensfragen.» Wichtig seien ferner eine
auf Dialog mit den Jugendlichen eingestellte
Unterrichtsgestaltung, transparente Machtstrukturen in der Schule und eine Vorbildfunktion seitens der Lehrperson. Thomas Büchi geht noch
weiter und versucht, «ethische Fragen je länger,
desto mehr mit Handlungskompetenz zu ver-
Martin Better
Interessierte Lernende
Natürlich können auch wichtige Zeitfragen aus
ethischer Perspektive behandelt werden. Klonen,
Suizid oder Organtransplantation sind drei solcher Fragen, zu welchen im Verlauf des nächsten
halben Jahres drei Impulstagungen durchgeführt
werden (siehe nebenstehende Seite). Das parallel
dazu erschienene Lehrmittel im Sauerländer Verlag wurde in verschiedenen Klassen getestet.
Dass die Lernenden interessiert sind, zeigt am
besten folgendes Beispiel: Vor und nach dem
Dossier Organtransplantation wurde den Lernenden die Frage gestellt: «Wie wichtig finden Sie es,
dass sich junge Menschen mit diesem Thema
auseinander setzen?» (1 = völlig unwichtig, 10 =
total wichtig) Vor der Unterrichtssequenz lag der
Durchschnittswert bei überraschend hohen 7.3,
nachher stieg er auf 8.0. Das bedeutet, dass nicht
nur das Lehrmittel erfolgreich angewendet werden konnte, sondern dass Jugendliche offen sind
für Zeitfragen – auch wenn ihnen dies manchmal
nicht zugetraut wird.
zeit.schrift 11|2004
fokus
Ist Klonen von Menschen
ethisch vertretbar?
Suizidprävention
in der Schule
Grundfragen zur
Organtransplantation
Impulstagung
Donnerstag, 23. September 2004, Kantonsschule
Stadelhofen, Zürich
Informationen und Anmeldung:
www.webpalette.ch
Impulstagung
Mittwoch, 3. November 2004, Gymnasium Lebermatt, Bern-Köniz
Informationen und Anmeldung:
www.webpalette.ch
Impulstagung
Dienstag 1. März 2005, Weiterbildungszentrum
für Gesundheitsberufe, Aarau
Informationen und Anmeldung:
www.webpalette.ch
Einige Grundfragen
• Gibt es Unterschiede bei der ethischen Beurteilung der Fortpflanzung, je nachdem, ob es sich
um geschlechtliche oder ungeschlechtliche Reproduktion handelt?
• Welcher Zusammenhang besteht zwischen
dem Erbgut und der individuellen Identität?
• Kann das Klonen von Tieren, und speziell auch
von Menschen, als legitim betrachtet werden?
• Ist bei Unfruchtbarkeit eines Elternteils oder
bei einem verstorbenen Kind das Klonen
ethisch vertretbar?
• Ab wann wird einem geklonten Embryo «Menschenwürde» zuerkannt?
Einige Grundfragen
• Wie sollen und dürfen Lehrpersonen Fragen der
Selbsttötung im Unterricht thematisieren?
• Was kann eine Schule zur Früherkennung von
Jugendsuizidalität leisten?
• Beruht Suizid auf einer freien, persönlich zu respektierenden Wahl zwischen Leben und Tod,
oder ist er eben gerade Ausdruck einer völligen
Ausweg- und Wahllosigkeit beziehungsweise
einer Krankheit?
• Sollten Lehrpersonen versuchen, sich in der
Prävention zu engagieren, oder sollten sie besser die Finger vom Thema lassen?
• Welches sind die Chancen und auch die Grenzen, wenn das Thema behandelt wird?
Einige Grundfragen
• Wann ist ein Mensch tot?
• Ist «Leben» die Ursache eines körperlichen, inkarnierten Daseins oder die Folge biochemischer Reaktionen im Gehirn?
• Ist der Hirntod ein hinreichendes Kriterium,
eine Organentnahme zu rechtfertigen?
• Wird durch eine Organentnahme der Sterbeprozess oder der Totenfriede gestört?
• Wie werden angesichts des Organmangels die
vorhandenen Organe gerecht verteilt?
• Wie ist die Lebendspende von Organen zu beurteilen, wie der Organhandel?
Einige Fakten zum Thema
• Klone sind durch ungeschlechtliche Vermehrung entstandene erbgleiche Nachkommen.
Bei Pflanzen gibt es viele Fälle natürlichen Klonens.
• Auf künstlichem Weg lässt sich durch Klontechniken die ungeschlechtliche Reproduktion
auch bei Organismen herbeiführen, die sich
normalerweise geschlechtlich vermehren (Gene, Zellen oder ganze Organismen).
• Berühmt wurde das Klonschaf Dolly, welches
1997 geboren wurde. Bis heute liegen keine
glaubwürdigen Beweise für «gelungene»
menschliche Klone vor.
• In der Schweiz sind laut Art. 119 BV alle Arten
des Klonens und Eingriffe in das Erbgut
menschlicher Keimzellen und Embryonen verboten.
• Das 2003 verabschiedete Stammzellenforschungsgesetz erlaubt jedoch die Forschung an
Stammzellen mit gewissen Einschränkungen.
Einige Fakten zum Thema
• In der Schweiz stirbt alle drei Tage eine Jugendliche oder ein Jugendlicher zwischen 15
und 24 Jahren durch Suizid. Die Suizidversuche
liegen noch um ein Vielfaches höher, man
schätzt etwa den Faktor 10.
• Die am meisten betroffenen Alterskategorien
sind Frauen zwischen 15- und 19 Jahren und
Männer zwischen 20 und 24 Jahren.
• In allen durch die WHO erfassten Ländern
(ausser China und Mauritius) betrifft die Suizidthematik mehr Männer als Frauen.
• Die Selbstmordrate 15- bis 24-Jähriger beträgt
in der Schweiz 31 pro 100 000 Einwohner, in
den USA 23, in Frankreich 16 und in Italien 7.
• Rechtlich ist in der Schweiz Suizid nicht strafbar, ebenso wenig auch die vorsätzliche Hilfeleistung zum Suizid. Strafbar sind jedoch die
direkte Anstiftung zum Selbstmord sowie auch
die direkte Hilfestellung.
Einige Fakten zum Thema
• Zwischen 1986 und 2002 sind in der Schweiz
5783 Organe transplantiert worden, davon
3163 Nieren, 782 Lebern, 651 Herzen und 10
Bauchspeicheldrüsen.
• Im Jahr 2003 warteten 1209 Personen auf ein
Organ. Bei 491 Personen konnte eine Transplantation durchgeführt werden, 55 Personen
verstarben während der Wartezeit.
• Eine Nierentransplantation kostet rund
120 000, eine Herztransplantation etwa
180 000 Franken.
• Als Nebenwirkung der starken Medikamente
leiden drei Jahre nach einer Transplantation
17 Prozent an einer schweren Nierenschwäche,
ein Drittel von ihnen braucht eine neue Niere
oder eine regelmässige Dialyse (Blutwäsche).
• Zurzeit wird ein Bundesgesetz zur Transplantation erarbeitet, welches voraussichtlich 2007 in
Kraft treten soll.
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