Aktueller Kommentar Bunte Parlamente in Europa - Schwieriges Regieren in schwierigen Zeiten 5. Juli 2010 Die politischen Systeme in Europa sind in Bewegung. Regierende Parteien werden abgestraft, neue ziehen in die Parlamente ein. Verhältniswahlrecht und Zersplitterung machen dabei das Regieren kompliziert. Größere Budgetdefizite und mangelnde Reformkraft sind mögliche Folgen. Nun also doch: Hannelore Kraft (SPD) strebt in Nordrhein-Westfalen eine Minderheitsregierung gemeinsam mit den Grünen an. Diese in der Bundesrepublik bislang unübliche Option hatte sie zunächst ausgeschlossen. Man kann berechtigterweise die Frage stellen, wie sinnvoll eine solche instabile Konstellation in Krisenzeiten ist. Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung scheinen seit den Wahlen in Hessen und dem Saarland zur Regel zu werden. Die Ursachen liegen in der Schwächung der Volksparteien und der Etablierung der Linken auch in westdeutschen Landesparlamenten. Zunehmende Dynamik der Parteienlandschaft und schwierige Regierungsbildungen sind jedoch keine spezifisch deutschen Probleme. In vielen Ländern der Europäischen Union sind solche Tendenzen feststellbar. Bei Parlamentswahlen in der EU in den Jahren 2009 und 2010 wurden in acht von elf Fällen die regierenden Parteien abgewählt. In Portugal haben die Sozialisten ihre absolute Mehrheit verloren und im Vereinigten Königreich regiert erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg eine Koalition. Auch in den Niederlanden wurden die regierenden Konservativen deutlich abgestraft und zum ersten Mal seit dem Ersten Weltkrieg könnte ein Liberaler Ministerpräsident werden. Die Regierungsbildung dürfte jedoch auch hier sehr schwierig werden. In Bulgarien regiert seit den Wahlen eine Minderheitsregierung. In den Niederlanden sind die Rechtspopulisten die eigentlichen Wahlgewinner, in Ungarn zogen sie (wie die Grünen) neu ins Parlament ein und in Portugal konnten die Linksextremisten ihr Ergebnis verdreifachen. In Belgien ist es ohnehin schwierig stabile Regierungen zu bilden. Auch das Wahlrecht trägt in Europa seinen Teil zu unklaren politischen Verhältnissen bei. In Ländern mit Verhältniswahlrecht ist es besonders einfach, etablierte Parteien zurückzudrängen und als Newcomer politische Erfolge zu feiern. Zersplitterung des Parlaments und Schwierigkeiten bei der Bildung stabiler Regierungen oder instabile Koalitionsregierungen sind häufig die Folgen. Nachgewiesenermaßen führt das in Europa dominante Verhältniswahlrecht wegen stärkerer Zersplitterung der Parlamente erheblich häufiger als das Mehrheitswahlrecht zu Koalitionsregierungen und zu größeren politischen Ineffizienzen*, beispielsweise durch langwierige Verhandlungen innerhalb der Regierung. Oft sind Strukturreformen nur schwierig umsetzbar oder es fehlt die klare Richtung. Die derzeitige Wirtschaftspolitik von CDU, FDP und CSU bietet dafür genügend Beispiele. Darüber hinaus wurden kürzlich frühere Erkenntnisse bestätigt, dass das Verhältniswahlrecht zu höheren Budgetdefiziten führt.** Eine Ursache dafür ist, dass Koalitionsregierungen mehr ausgeben: Für einen Datensatz 17 europäischer Länder wurde errechnet, dass eine Partei mehr in einer Regierung im Schnitt eine Staatsausgabenerhöhung um fast einen halben Prozentpunkt des Bruttoinlandsprodukts bedeutet.*** Für Deutschland wären das für 2009 EUR 12 Mrd. Koalitionsregierungen verhandeln also nicht nur länger, sie geben auch mehr aus. Die Theorie dahinter ist, dass in Regierungen aus mehr als einer Partei die Verantwortlichkeiten verwischt werden: Jeder möchte seine Partikularinteressen durchsetzen, kann für die entstehenden Kosten aber die Gesamtregierung verantwortlich machen. Das erschwert mögliche fiskalische Konsolidierungskurse zusätzlich und macht Kompromisse zu Lasten Dritter (d.h. des Steuerzahlers) wahrscheinlicher. Gerade in wirtschaftlich unruhigen Zeiten wird so das Regieren in Europa schwieriger. Die Integrationskraft der Volksparteien lässt weiter nach, etablierte Parteien werden abgestraft, durch politische Fragmentierung der Parlamente klare Entscheidungen erschwert. Instabile Koalitions- oder Minderheitsregierungen scheinen kaum tauglich als Garant für verlässliches Krisenmanagement und klare Entscheidungen. Offensichtlich ist jedoch eine kurzfristige Reform politischer Systeme in Europa unvorstellbar. Außerdem zeigt der Blick auf die USA oder das Seite 1 von 2 Aktueller Kommentar Vereinigte Königreich, dass das Mehrheitswahlrecht sicherlich kein Allheilmittel ist. Daher bleibt nur zu hoffen, dass der Souverän weise Wahlentscheidungen trifft – gerade in der wirtschaftlichen Krise. * Torsten Persson, Guido Tabellini: „Electoral systems and economic policy", in: Weingast, Wittman (Hrsg.): „Handbook of Political Economy“, Oxford 2006; Torsten Persson, Gérard Roland, Guido Tabellini: "Electoral rules and government spending in parliamentary democracies", Quarterly Journal of Political Science 2, 2007. ** Robert Elgie, Iain McMenamin: „Political fragmentation, fiscal deficits and political institutionalisation“, Public Choice 136, 2008. *** Kathleen Bawn, Frances Rosenbluth: „Short versus Long Coalitions: Electoral Accountability and the Size of the Public Sector“, American Journal of Political Science 50, 2006. Andreas Bernecker (+49) 69 910-31830 ...mehr zum Research-Bereich Wirtschafts- und Europapolitik Aktuelle Kommentare - Archiv © Copyright 2010. Deutsche Bank AG, DB Research, D-60262 Frankfurt am Main, Deutschland. Alle Rechte vorbehalten. 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