Script zur Vorlesung Praktische Philosophie II: Angewandte Ethik Dozent: Georgios Karageorgoudis (für Prof. Nida-Rümelin) 7. Sitzung - 22.11.2011: Recht und Moral aufgezeichnet von Nikolai Blaumer 1. Zwei Grundfragen der Rechtsphilosophie Was ist Recht? • Seit Sokrates sind Fragen der Form „Was ist Wissen?“, „Was ist Frömmigkeit?“ oder „Was ist Recht“ Teil der Philosophie. Die Frage „Was ist Recht“ zielt zunächst nicht auf eine Bewertung, sondern eher auf eine Beschreibung ab; also nicht auf das, was der Fall sein soll, sondern das, was der Fall ist. • „Was ist Recht?“ ist die Frage nach einer bestimmten Struktur. Strukturen bestehen aus einer (oder mehreren) Mengen von Objekten und aus Relationen zwischen diesen Objekten. Welche Objekte kommen also für das Recht in Betracht? Und in welchen Relationen stehen diese Objekte zueinander? • Unter Recht verstehen wir positives Recht. Es wird (in erster Linie) vom Staat, also durch intersubjektiv überprüfbare Verfahren der „Rechtsgebung“ gesetzt und kann so vom Naturrecht oder Vernunftrecht unterschieden werden. ! Rechtssetzung erfolgt aber auch durch überstaatliche Institutionen oder durch rechtliche Praxis (Gewohnheitsrecht). Was ist gutes oder richtiges Recht? • Wie, anhand welcher Maßstäbe können wir positives Recht bewerten? Man könnte meinen Urteile wie „Diese rechtliche Regelung ist gut“ seien moralische Urteile. Doch nicht jede Bewertung von Rechtsnormen, von Gesetzen oder rechtlichen Vorschriften muss notwendig die Form moralischer Urteile einnehmen. So könne Bewertungen von rechtlichen Normen auf Kriterien basieren, die dem Recht selbst zueigen sind (etwa Rechtsicherheit).1 • Dennoch könnte die Bewertung des Rechts eine Eingangsschleuse für ethische Reflexion darstellen – etwa wenn sich moralische Maßstäbe doch als die ultimativen erwiesen. 2. Angewandte Ethik und die Bewertung des Rechts Zu den Begriffen Moral und Ethik • Moralische Urteile bringen Aussagen über moralische Qualitäten von Handlungen zum Ausdruck. Paradigmatisch sind Aussagen mit dem Inhalt, dass eine bestimmte Handlung oder ein Typ von Handlungen gut, schlecht oder neutral ist. 1 Einen Überblick dazu geben die Beiträge von Kenneth Einar Himma und Andrei Marmor im Oxford Handbook of Jurisprudence and Philosophy of Law, 2002. 1 • Zwar wird „gut“ in verschiedener Weise auch ohne direkte moralische Implikationen verwendet. Wir haben jedoch üblicher Weise implizites Wissen darüber, wann wir das Wort „gut“ in einem moralischen Sinne meinen und wann nicht. • Was die Basis oder das Kriterium moralischen Wissens ist, ist sowie alle Fragen, die mit der Rechtfertigung, mit der Korrektur, der Klassifikation, der Verallgemeinerung und eventuell auch der Systematisierung moralischer Urteile zusammenhängen, Thema der (theoretischen) Ethik. Zum Zusammenhang zwischen Theoretischer und Angewandter Ethik • In vielen Bereichen der Angewandten Ethik, so auch dem Recht, etablieren sich eigene Bewertungsmaßstäbe, die die Tendenz entwickeln, an die Stelle ethischer Kriterien zu treten. Politische Ethik, Wirtschaftsethik oder Rechtsethik können demnach in einem antionomischen Verhältnis zur theoretischen Ethik stehen. ➞ Es ist dann eine Angelegenheit der angewandten Ethik, Kriterien der theoretischen Ethik und Kriterien die sich in den jeweiligen Praxisfeldern gebildet haben, miteinander in Einklang zu bringen. Bewertungskriterien des Rechts • Für den Bereich des Rechts stellt sich die Frage, inwiefern die Kriterien der Bewertung positiven Rechts moralische Kriterien sind - oder aber inwiefern das positive Recht Kriterien seiner Bewertung selbst in sich trägt. Beispiele: (Werte der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens). ➞ Die Bewertung des Rechts richtet sich demnach nicht von vornherein nach ethischen Maßstäben. Es müssen besondere Gründe für die Rechtfertigung solcher Maßstäbe vorgebracht werden. Moral als Teil rechtlicher Bewertungen • Moral ist in mindestens zwei Hinsichten in direkter, materieller Hinsicht rechtlich relevant (spielt hier aber im weiteren Verlauf keine weitere Rolle): Moral als Inhalt rechtlicher Regelungen: § 138 BGB bestimmt etwa, dass Verträge, die gegen die guten Sitten verstoßen nichtig sind. In diesem Falle wird mit „guten Sitten“ auf die in der Gesellschaft herrschende moralische Praxis verwiesen. Moralische Überzeugungen von Beteiligten: Moralische Überzeugungen können bei der Schuldfeststellung oder der Strafzumessung – etwa im Zusammenhang sog. Ehrenmorde – eine Rolle spielen. 3. Ebenen der Berührung zwischen Recht und Ethik Berührung über eine Standarddefinition positiven Rechts • Eine Standardtheorie positiven Rechts lautet: „Recht ist ein vom Staat gesetztes Normensystem, das mit Zwang das menschliche Zusammenleben regelt“. Solch ein 2 Definitionsversuch entspricht (üblicher Auffassung nach) der sog. Trennungsthese: Recht und Moral sind zwei von einander unabhängige Wertesysteme. • Doch auch auf Grundlage der gegebenen Standartdefinition können moralische Aspekte Eingang in das Recht finden. Etwa über folgende Elemente der Definition: „regelt“: Regelung kann als Wirksamkeit verstanden werden. Demzufolge müssen sich Rechtssubjekte den Rechtsnormen entsprechend verhalten, damit diese Rechtscharakter beanspruchen können. ➞ Setzt Rechtswirksamkeit einen Grad an Akzeptanz von Rechtssubjekten voraus und Akzeptanz wird als ein „Für-richtig-halten“ verstanden, dann haben wir für das Rechtssystem, dem wir selbst unterliegen zugegeben, dass es einen moralischen Kern besitzt. Die Freilegung jenes Kerns ist demnach Aufgabe der Ethik. „vom Staat gesetzt“: Um rechtliche von nichtrechtlichen Zwangssystemen (etwa Befehlen eines Gangsterbosses) zu unterscheiden, könnte man bestimmte formale Prinzipien der Gerechtigkeit einführen. ➞ Je inhaltsreicher man das bestimmt, was Gerechtigkeit ausmacht, desto stärker wird die Präsenz moralischer Elemente in der Definition. Gemäßt der Radbruchschen-Formel haben sich Richter im Konflikt zwischen positivem Recht und Gerechtigkeit immer dann und nur dann gegen das Gesetz und für die materielle Gerechtigkeit zu entscheiden haben, wenn das in Rede stehende Gesetz „unerträglich ungerecht“ ist oder die Gleichheit aller Menschen „bewusst verleugnet“.2 (Fand im Zusammenhang mit NS-Recht und den sog. Mauerschützenprozessen Anwendung) Berührung über Rechtssysteme als konfliktlösende Autoritäten • Nach Joseph Raz sprechen für die Konstitution rechtlicher Systeme moralische Gründe.3 Rechtsysteme verfügen über die Autorität, Konflikte endgültig zu schlichten. Der positivistischen Theorie Raz zufolge besteht keine notwendige Verbindung von Recht und Moral. Rechtliche Systeme bestehen aber durch oder innerhalb eines moralischen Rahmens. Berührung über Rechtsnormen als praktische Handlungsgründe: • Legt man einen Rechtsbegriff zugrunde demzufolge positives Recht praktische Gründe liefert,4 so muss man spezifizieren, welche Art von Handlungsgründen gemeint sind. ➞ Sind moralische Gründe vielleicht in jeder praktischen Entscheidung involviert und werden insofern von Rechtsnormen vorausgesetzt? Und können moralische Gründe gegenüber nichtmoralischen Gründen abgewogen werden? 2 Siehe Gustav Radbruch: „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“, in: Süddeutsche Juristen-Zeitung, 1946 (5), S. 105-108. Einen breiteren Einblick in die Philosophie Radbruchs bietet die Studienausgabe seiner Rechtsphilosophie, herausgegeben von Ralf Dreier und Stanley L. Paulson, 2003. 3 Joseph Raz: The Authority of Law, 1979. Ders.: The Concept of a Legal System, 1970. 4 Vgl. etwa Joseph Raz: Practical Reason and Norms, 1990. 3 Berührung über Recht als Resultat kollektiven Handelns: • Positives Recht wird durch Verfahren erzeugt, die möglicher Weise als Resultat kollektiven Handelns anzusehen sind. Damit könnte eine direkte Verbindung zur moralischen Bewertung des Rechts herstellen. ! Allerdings hängt dies von umstrittenen Prämissen ab, die die Begründung und Zuschreibung kollektiver moralischer Verantwortung betreffen. Berührung über die Struktur des Rechts: Wir verstehen unter Struktur die Anordnung, die aus Objekten (oder Elementen) und Relationen zwischen diesen Objekten bestehen: Dazu gehören im Bezug auf das Recht Norm, Sprache und Zwang: Berührung über die normative Struktur des Rechts: Rechtlich Normen verbinden Sachverhalte mit Sanktionen. Sie legen fest, dass beim Auftreten bestimmter Sachverhalte Handlungs-, Unterlassungs-, oder Sanktionspflichten entstehen.5 Wie jede andere Form von Normen haben Rechtsnormen die Struktur von Konditionalen: Sie weisen eine „wenn-dann“-Struktur auf, bestehend aus einem Tatbestand („wenn-Teil“) und einer Rechtsfolge („dann-Teil“). Die Verknüpfung zwischen beiden kann im Fall von Rechtsnormen unterschiedlich stark sein. Rechtsgrundsätze (etwa Grundrechtsnormen) haben eine „weichere“ Tatbestand-Rechtsfolge-Struktur als andere Rechtsnormen. Sie liefern lediglich prima facie Gründe für die Gewährung grundrechtlichen Schutzes, soweit andere ebenfalls verfassungsrechtlich geschützte Güter nicht entgegentreten. ➞ Sind in dem Abwägungsprozess, der in der Anwendung von Grundrechtsnormen notwendig zwischengeschaltet ist moralische Überzeugungen involviert oder Überlegungen die im Wesentlichen der Struktur moralischer Argumentation ähnlich sind? ➞ Ähnelt die Anwendung von Rechtsprinzipien der Struktur der moralischen Argumentation, so kann die ethische Reflexion auch in der rechtswissenschaftlichen oder in der richterlichen Argumentation eine Anwendung finden. Allerdings ist die juridische Argumentation immer noch an Besonderheiten wie die Bindung an bestimmte Gerichtsentscheidungen geknüpft, die in der Ethik keine Entsprechung haben. Berührung über die sprachliche Struktur des Rechts: Auch die hermeneutische Dimension der Rechtswissenschaft öffnet ein Anwendungsfeld praktischer Überlegungen, denn modernes Recht ist i. d. R. in schriftlicher Form festgehalten. 5 Vgl. etwa Ronald Dworkin: Taking Rights Seriously, 1977. In deutscher Übersetzung: Bürgerrechte ernstgenommen, 1984. Oder Rober Alexy: Theorie der Grundrechte, 1994. 4 Subjektive Auslegungsmethode: Ist der Inhalt eines Gesetzes unklar, so soll ermittelt werden, was der Gesetzgeber ursprünglich mit dieser Regelung beabsichtigt hatte („original intention“). Objektive Auslegungsmethode: Nicht die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers ist maßgeblich, sondern eine Intention, die der Gesetzgeber aktuell fassen würde, wenn er jetzt das Gesetz erlassen bzw. in Kraft belassen würde. ➞ Gerade die objektive Auslegungsmethode öffnet eine Schleuse für ethische, moralische oder rechtspolitische Erwägungen Berührung über den Zwangscharakter des Rechts: Zwang wird gemeinhin als Element positiven Rechts angesehen. Ein altes (und umstrittenes) Argument6 zeigt, dass der Zwang allein die Wirksamkeit des Rechts nicht garantieren kann: Sanktionsnorm-Argument: Betrachten wir eine Klasse von Rechtsnormen K. Jedes Element von K, jede Norm aus K ist durch eine Sanktion versehen. Wird gegen eine Norm N1 verstoßen, dann wird gegen denjenigen der gegen die N1 verstoßen hat, eine Sanktion S1 verhängt. Die Verhängung der Sanktion muss aber ihrerseits Folge einer weiteren Norm N2 sein, d.h. einer Norm, die jemanden ermächtigt, diese Sanktion zu verhängen. Diese Norm N2 muss ihrerseits mit einer Sanktion S2 bewehrt sein usw. ➞ Wollen wir einen unendlichen Regress vermeiden, dann benötigen wir entweder eine zirkuläre Sanktionierung oder wir erreichen einige Normen, die nicht durch Sanktionen geschützt sind. Hier läge eine weitere Schleuse für moralische Elemente. Schlussbemerkung: Der Rechtspositivmus steht in einer Spannung: Einerseits sollen rechtliche Begründungen ausschließlich unter Rückgriff auf positive Normen (und Tatsachen) gerechtfertigt werden. Andererseits ist klar, dass rechtliche Urteile nicht ausschließlich durch Normen, Auslegungen und Tatsachenaussagen begründend werden können, sondern eines lebensweltlichen Hintergrunds bedürfen. ➞ Rechtstheoretiker versuchen daher so viel moralische Werte und Einstellungen wie möglich zu inkorporieren (so etwa „Menschenwürde“). Recht entwickelt sich so in gewisser Hinsicht zum Anwendungsfall moralischer Kritik. 6 Vgl. Hans Kelsen: General Theory of Law and State, 1945, S. 29. Ders.: Reine Rechtslehre, 1934. Und auch die Kritik durch H.L.A. Hart: The Concept of Law, 1994. 5