staatliche Verteilungspolitik (1)

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Univ.-Prof. Dr. Stefan D. Josten
Ökonomische Theorie der Politik B.2.1
Staatliche Verteilungspolitik
► wesentlicher Grund für Staatseingriffe: distributives Marktversagen
► Primäre Einkommensverteilung folgt (im Wesentlichen) der marktlichen Verteilungslogik: Entlohnung der
Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital, Boden) als Preissignale, d.h. als Ausdruck relativer Knappheit
 gilt i.d.R. als zu ungleich
► Staatliche Umverteilung durch Steuern und Abgaben sowie Sozialtransfers und Subventionen
 sekundäre Einkommensverteilung
► Mit der Erhebung von Steuern und Abgaben sind ebenso wie mit der staatlichen Gewährung von
Sozialtransfers und Subventionen allokative Effizienzverluste (Wohlfahrtseinbußen) verbunden
► wohlfahrtsökonomisch optimale Verteilungspolitik muss den Trade-Off zwischen Effizienz und
Verteilungsgleichmäßigkeit berücksichtigen
► Realität: Verteilungspolitik des Staates wird durch ein politisches System bestimmt, das – in Demokratien –
auf einer Mehrheitswahl beruht
Univ.-Prof. Dr. Stefan D. Josten
Ökonomische Theorie der Politik B.2.2
Polit-ökonomisches Grundmodell
► Meltzer, A. und S. Richard (1981): „A Rational Theory of the Size of Government“, Journal of Political
Economy 89, S. 914-927
► Modell einer Mehrheitswahl über einfachen Umverteilungsmechanismus: lineare Einkommensteuer, um
Sozialtransfers zu finanzieren
► Alle Wirtschaftssubjekte: einheitlichen Einkommensteuertarif und gleicher Transferbetrag
► Wähler verhalten sich rein opportunistisch: treffen Wahlentscheidung nur auf Grundlage ihres
Nettoeinkommens – ohne jegliche politisch-ideologische Erwägung
► Ein polit-ökonomisches Gleichgewicht ergibt sich in 3 Schritten:
• Wirtschaftssubjekte maximieren ihren Nutzen für gegebene Finanzpolitik
• auf Basis seiner Nutzenmaximierung bestimmt jeder Akteur die von ihm gewünschte Finanzpolitik
• diese Präferenzen werden durch eine kollektive Entscheidungsregel (Mehrheitswahl) aggregiert zu einer
kollektiv verbindlichen Finanzpolitik
Univ.-Prof. Dr. Stefan D. Josten
Ökonomische Theorie der Politik B.2.3
Grundmodell: individuelle Wirtschaftspläne
► Wirtschaftssubjekte i unterscheiden sich in ihrer Arbeitsproduktivität: hi; Verteilungsfunktion F(h)
► einzelnes Wirtschaftssubjekt wählt seine Arbeitszeit: 𝑙(ℎ); Freizeit 𝑧 = 1 − 𝑙
► Einkommen vor Steuern: 𝑦(ℎ) = ℎ𝑙(ℎ)
► lineare Einkommensteuer mit Satz τ; pauschaler Transferbetrag s
► Nutzenfunktion eines Wirtschaftssubjekts: 𝑢(𝑐, 𝑧)
► Budgetbeschränkung eines Wirtschaftssubjekts: 𝑐 = (1 − 𝜏)𝑙ℎ + 𝑠
► Individuelle Nutzenmaximierung führt auf:
• Wirtschaftssubjekte mit Produktivität unterhalb eines bestimmten Schwellenwertes h0: kein
Arbeitsangebot
• andere Wirtschaftssubjekte: nutzenmaximales Arbeitsangebot 𝑙𝑖∗ ; yi steigt monoton an mit hi
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Ökonomische Theorie der Politik B.2.4
Grundmodell: staatliche Verteilungspolitik (1)
► Staatliche Finanzpolitik muss den öffentlichen Haushalt ausgleichen: 𝜏𝑦� = 𝑠,
∞
► Durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen 𝑦� = ∫ℎ ℎ𝑙 [(1 − 𝜏)ℎ, 𝑠]𝑑𝐹(ℎ):
0
• nimmt mit steigendem s ab (für Freizeit als normales Gut)
• nimmt mit steigendem τ ab
► Bürger sind rein egoistisch und haben kein Interesse an Umverteilung als solcher
 jeder Bürger bevorzugt den Steuersatz, der seinen persönlichen Nutzen 𝑢(𝑐, 1 − 𝑙) maximiert:
𝑦(ℎ) − 𝑦�
(
)
, 0�
𝜏̅ ℎ = max �
𝑑𝑦�/𝑑𝜏
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Ökonomische Theorie der Politik B.2.5
Grundmodell: staatliche Verteilungspolitik (2)
► vom Bürger gewünschter Steuersatz (darf nicht negativ sein) ist umso höher, je niedriger sein
Bruttoeinkommen
► Ein Bürger mit durchschnittlichem Bruttoeinkommen oder darüber wünscht sich einen Steuersatz von null
und keine Sozialtransfers; er hat bei Umverteilung nichts zu gewinnen
► Bürger mit ℎ𝑖 ≤ ℎ0 erhalten Einkommen nur aus staatlichen Transferzahlungen und bevorzugen daher den
Steuersatz τs, der s maximiert (die Elastizität von 𝑦� in Bezug auf τ beträgt: -1)
► Da y mit h monoton ansteigt, können die individuelle gewünschten Steuersätze gemäß individueller
Arbeitsproduktivität hi geordnet werden
► Demokratische Mehrheitswahl ⇒ Medianwählertheorem
 der Steuersatz entspricht demjenigen, der mit der Produktivität bzw. dem Bruttoeinkommen des
Medianwählers korrespondiert
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Ökonomische Theorie der Politik B.2.6
Staatliche Verteilungspolitik: graphische Analyse
τ
τs
h0
ℎ�
h
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Ökonomische Theorie der Politik B.2.7
Grundmodell: Implikationen
► Solange das Bruttoeinkommen des Medianwählers oberhalb des durchschnittlichen liegt:
• gibt es keine Umverteilung, egal wie ungleich die Einkommen verteilt sind
• Änderungen der Einkommensverteilung haben keinen Einfluss auf den Umfang staatlicher Umverteilung,
solange die Änderung nicht das Medianeinkommen unter das durchschnittliche drückt
► Wenn das Bruttoeinkommen des Medianwählers allerdings unterhalb des durchschnittlichen liegt:
• kommt es zu staatlicher Umverteilung von oben nach unten
• Änderungen der Einkommensverteilung, die den Zentral- relativ zum Durchschnittswert absenken (was
einer Zunahme von Ungleichheit gleichkommt), erzeugen einen höheren Steuersatz und umfangreichere
staatliche Umverteilung
► In der Realität: Einkommens- und Vermögensverteilungen in allen Ländern rechtsschief (linkssteil), sodass
das Medianeinkommen bzw. -vermögen geringer ist als der entsprechende Durchschnittswert
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Ökonomische Theorie der Politik B.2.8
Analytische Robustheit (1): horizontale Umverteilung
► eine zentrale Restriktion des Grundmodells: Annahme, alle Bürger seien einem einheitlichen, allgemeingültigen Steuertarif
unterworfen, der Einkommen vertikal umverteilt
► Realität: zahlreiche Transfers, Steuervergünstigungen und Subventionen verteilen überwiegend horizontal um
► Olsons (1965) Theorie der Interessengruppen, „Rent-Seeking“:
 eine Umverteilung von großen Gruppen mit latenten Interessen hin zu kleinen Gruppen mit eng definierten gemeinsamen
Interessen zu erwarten ⇒ nicht deckungsgleich mit vertikaler Umverteilung
► Dixit und Londregan (1996):
•
zwei ideologisch unterschiedlich orientierte Parteien
•
Wettbewerb um Gruppen von Wählern, die ihre Wahlentscheidung sowohl vom Standpunkt einer Partei zu Sachfragen
als auch von der Höhe empfangener Transfers abhängig machen
•
die Gruppen von Wählern, die die höchsten Transferzahlungen erhalten, sind diejenigen, …
 die relativ viele Mitglieder besitzen
 die zwischen den zur Wahl stehenden Parteien vergleichsweise indifferent sind
 oder deren Mitglieder in ihrer Wahlentscheidung besonders stark auf gewährte Transfers reagieren
► Alles in allem: Wenn die Annahme eines für alle Bürger einheitlichen Steuer- und Transfertarifs aufgegeben wird, wird die
im Medianwählermodell abgebildete vertikale Umverteilung zunehmend von horizontalen Umverteilungseffekten überlagert
 kein einfacher Mechanismus, der (exogene) Änderungen der relativen Einkommens- oder Vermögensposition einzelner
Bürger systematisch in ein Mehr oder Weniger an vertikaler staatlicher Umverteilung übersetzt.
Univ.-Prof. Dr. Stefan D. Josten
Ökonomische Theorie der Politik B.2.9
Analytische Robustheit (2): nichtlineare Instrumente der Umverteilung
► eine weitere zentrale Restriktion des Grundmodells: Annahme eines linearen Steuertarifs (eindimensional)
► Realität: Ausgestaltung sowohl einer einzelnen Steuer als auch des Steuersystems als Ganzem inhärent multidimensional
Gültigkeit des Medianwählertheorems nicht mehr sichergestellt
► Probibalistische Abstimmungstheorie (Hettich und Winer (1984; 1997; 1999)):
•
Kandidaten bzw. Parteien können für jeden einzelnen Wähler nur eine von ihren jeweiligen politischen Positionen
abhängige Wahrscheinlichkeit ableiten, dass dieser sie wählen wird ⇒ versuchen, den Erwartungswert ihrer Stimmen zu
maximieren
•
Die Steuerzahler, die die größte Steuerlast tragen müssen, sind diejenigen, deren Wahlverhalten am wenigsten durch die
Steuerpolitik beeinflusst wird (unelastische Reaktion auf Steuerpolitik)
•
Die relative Einkommens- oder Vermögensposition beeinflusst daher die eigene Steuerlast nur insoweit, wie sie auf die
steuerpolitische Elastizität des Wählers einwirkt
•
Eine Zunahme der Ungleichheit führt nur dann zu mehr Umverteilung, wenn sie die steuerpolitische Elastizität der
Wahlentscheidung ärmerer Bürger im Vergleich zur Elastizität reicherer Bürger signifikant verstärkt.
•
Dies mag im Einzelfall so sein, ein systematischer Zusammenhang gemäß der einfachen Aussage: „größere Ungleichheit
führt zu höherer Umverteilung“ lässt sich daraus aber nicht ableiten.
Univ.-Prof. Dr. Stefan D. Josten
Ökonomische Theorie der Politik B.2.10
Analytische Robustheit (3): Rolle politischer Vorstellungen
► eine weitere zentrale Restriktion des Grundmodells: politischer Verteilungskonflikt als Widerstreit verschiedener, aber
jeweils wohlinformierter, d.h. in genauer Kenntnis der ökonomischen Interdependenzstrukturen formulierter Interessen
► Realität: Großteil der politischen Konflikte entstehen aus unterschiedlichen Auffassungen und Theorien darüber, welche
Wirkungszusammenhänge in einer Volkswirtschaft existieren und in welcher Weise diese interagieren
► Piketty (1995):
•
Rationale Wirtschaftssubjekte mit a priori identischen Verteilungszielen lernen aus ihrer eigenen Einkommensentwicklung die Mobilitätsmatrix der Gesellschaft und die Anreizkosten staatlicher Umverteilungspolitik
•
Rationaler Weise bleibt ein gewisses Maß an Ungewissheit über die tatsächlichen ökonomischen Zusammenhänge
bestehen
•
Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Mobilitätserfahrungen bildet sich langfristig aus:
 „linke“ Bürger: vorwiegend in der Unterschicht, befürworten ein relativ hohes Maß an Umverteilung

•
„rechte“ Bürger: vorwiegend in der Mittel- und Oberschicht; befürworten politisch ein relativ geringeres Maß an
Umverteilung
im Ergebnis gleiche Schlussfolgerungen wie im polit-ökonomischen Grundmodell:
 Wenn auch nunmehr vermittelt über politische Meinungen und Positionen, werden Ärmere eine höhere Umverteilung
unterstützen, während die Reicheren einer solchen ablehnend gegenüber stehen
Univ.-Prof. Dr. Stefan D. Josten
Ökonomische Theorie der Politik B.2.11
Analytische Robustheit (4): politische Partizipation
► Annahme im polit-ökonomischen Grundmodell: jeder Wahlberechtigte wählt und hat den gleichen Einfluss auf staatliche
Politik
► Realität: politische Partizipation und Einflussmöglichkeiten interagieren (stark) mit der Einkommens- und
Vermögensverteilung
► In vielen Ländern ist die Wahlbeteiligung positiv mit dem Einkommen verknüpft
 Medianwähler hat ein Einkommen oberhalb des Zentralwertes der Einkommensverteilung
 Medianwähler kann bei steigender Ungleichheit relativ zum Durchschnitt reicher wird ⇒ weniger Umverteilung
► Niedrige Einkommen sind allgemein mit geringeren Einflussmöglichkeiten auf die staatliche Politik verbunden:
•
gerade die Armen besitzen am wenigsten materielle Mittel, aber auch nichtmaterielle Ressourcen, um demokratische
Entscheidungen durch Wahlen oder Lobbyarbeit zu beeinflussen
 so dass ihre spezifischen Interessen im laufenden politischen Prozess typischerweise unterrepräsentiert sein werden
Univ.-Prof. Dr. Stefan D. Josten
Ökonomische Theorie der Politik B.2.12
Analytische Robustheit (5): Delegation, Prinzipal-Agent-Problem und
Interessengruppen
► im polit-ökonomischen Grundmodell: Medianwählertheorem verknüpft die politischen Zielvorstellungen der Bürger in Bezug
auf Umverteilung unmittelbar mit der tatsächlich vollzogenen staatlichen Verteilungspolitik (Regierung als perfekter Agent
ihres Prinzipals, des Wahlvolkes)
► Realität: Notwendigkeit der Delegation in einer repräsentativen Demokratie ⇒ fundamentales Prinzipal-Agent-Problem
► diskretionäre Handlungsspielräume für politische Entscheidungsträger
► Bemühen von Interessengruppen, die staatliche Politik zu beeinflussen
► Modelle des Wettbewerbs unter Interessengruppen um Umverteilungsgewinne, z.B. Peltzman (1980):
•
Verhandlungsmacht der potentiellen Wähler einem Kandidaten gegenüber umso stärker, je gleichmäßiger die Verteilung
der Einkommen unter ihnen ist
•
bei relativ hoher Verhandlungsmacht der Wähler muss ein Kandidat für ihre Unterstützung eine entsprechend
umfangreiche Umverteilung zusagen
 Umverteilung umso höher ist, je gleichmäßiger (!) die Einkommen unter den Wählern verteilt sind
Univ.-Prof. Dr. Stefan D. Josten
Ökonomische Theorie der Politik B.2.13
Analytische Robustheit (6): politische Willensbildung
► polit-ökonomisches Grundmodell: Wähler bestimmten den von ihnen jeweils gewünschten Umfang staatlicher Umverteilung
ausschließlich in Abhängigkeit von ihrer persönlichen gegenwärtigen Einkommensposition
► Realität: verteilungspolitische Zielvorstellungen sowohl der Armen als auch der Reichen differenzierter
► Grenzen der Vorliebe für Umverteilung bei relativ Armen:
•
negative Anreizwirkungen (im Grundmodell enthalten)
•
„POUM-Hypothese“ (Prospect of Upward Mobility): auch Bürger mit gegenwärtig unterdurchschnittlichem Einkommen
unterstützen politisch keine hohen Steuersätze, wenn sie erwarten, in der Zukunft in der Hierarchie der Einkommensverteilung nach oben aufsteigen zu können
► Befürwortung der Umverteilung durch relativ Reiche:
•
Versicherungslogik: Umverteilung ex post durch den Wunsch motiviert, ex ante Einkommensrisiken abzusichern
•
Positive Nutzenexternalität vom Konsum Armer für Reiche („Altruismus“), Gerechtigkeitsvorstellungen
•
verbesserter Schutz von Eigentumsrechten ⇒ verringerte Defensivausgaben zum Schutz des Eigentums
•
Erhöhung der Produktivität bei Armen (Humankapital, Sozialkapital)
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