»Current anti-doping policy: a critical appraisal« „…it creates health problems of its own“ „…translating doping enhancements into earned advantages“ Bengt Kayser und Alexandre Mauron, Professoren in Genf, Andy Miah, Reader in Paisley, kritisieren die aktuelle Anti-Doping-Politik (2007). (1) Titel (im APA-style) Kayser, B, Mauron, A, & Miah, A (2007). Current anti-doping policy: a critical appraisal. BMC Medical Ethics 8:2 (Published online 2007 March 29. doi: 10.1186/1472-6939-8-2). 10 pp. Internet version. (2) Summary Die drei gleichberechtigten Autoren nehmen kritische Annäherung an die aktuelle Anti-Doping Politik vor. Sie kritisieren die aus ihrer Sicht zunehmend kostenintensiven Eingriffe der NADA-Kontrollen in Persönlichkeitsrechte aus vier von ihnen angenommenen ethischen Perspektiven der aktuellen Anti-Doping Politik. Das erste Argument ist das Fair Play („compete on equal grounds“), dessen Verankerung als Grundlage für Doping-Regeln angezweifelt und mit historischen technologischen sowie medizinischen Beispielen belegt wird. Das Gendoping sowie das Tetrahydrogestrinone (THG)-Doping wie im Balco-Fall werden herangezogen, um zu belegen, dass verfeinerte („undetected sophisticated doping“) Umgebung einen Vorsprung bieten kann, der zumindest zeitweise unentdeckt bleiben könnte. Die Autoren diskutieren hier zugleich soziale Ungleichheit im Vergleich zu „alten“ Dopingpraktiken, wenn nicht alle Athleten dazu Zugang haben. <<diese Ungleichheit wird aufgehoben, wenn alle den gleichen Nutzen aus Dopingpraktiken ziehen (dürfen): „…translating doping enhancements into earned advantages“. Die zweite ethische Perspektive liegt im Gesundheitsschutz. Nach demselben Muster argumentieren die Autoren und vertreten zunächst die Meinung, dass zum Schutz der Gesundheit des Athleten im Sport verbotene Substanzen oder Therapien für Heilzwecke verwendet werden müssen, auch wenn sie Dopingmittel wie die Anabolika beinhalten: Sie sind geboten sind, nicht gebannt. Maßstab ist demnach nicht der WADA-Code, sondern das Gebot des NichtSchadens („nil nocere“ – „non malefience“), ob zum Zweck des Erhalts oder der Steigerung der Leistung des Athleten oder seiner Leistungsreserven. In diesem Abschnitt wird die Sorge im Kampf gegen Doping relativiert: Schutz der Gesundheit des Athleten im Sport geht nach Meinung der Autoren häufig nicht auf verbotene Substanzen zurück, sondern auf Sportverletzungen und Abnutzungserscheinungen (z.B. der Gelenke). Gegen diese würde nicht gekämpft, gegen Doping sehr wohl. Als Schlüsselfrage wird verstanden, dass Doping solan- 5 ge nicht gesundheitlich „sicher“ sein kann, wie es verboten ist, was ärztliche Aufsicht und Hilfe verbietet und schwere Gesundheitsschäden besonders im Amateursport (gemeint ist Breiten- und Fitnessport) bewirkt. In diesem Sinn wird das Argument „Schutz der Gesundheit des Athleten“ im Sport durch ärztliche Begleitung benannt: es geht um die ausreichende Sicherheit von Praktiken („sufficiently safe“). Ein Ausweg wird im medizinisch kontrollierten Doping gesehen, das den Dopenden schützen soll: Wissen um Schädigung entsteht so und therapeutische Nutzung verbotener Substanzen ergänzt dies. Hohe Kosten für illegalen Erwerb und die Dopingtests entfallen und das Geld kann in die Klärung gesellschaftlicher Ursachen für Drogen-Gebrauch („drug use“) investiert werden. Unter dem Aspekt, wer das alles bezahlt, wird begründet, dass nur ein verschwindender Teil der Weltbevölkerung Elitesportler nach WADA-Regularien sind. Geringe Finanzierung wie ungenügende Strafen (lebenslanger Sportausschluss) werden hervorgehoben. Unter „besondere Fälle“ wird der Cannabis-Nachweis angezweifelt, da er im Vergleich zu beispielsweise Musikern unverhältnismäßig sei. Gleiches gilt demnach für Epo-Doping und Sauerstoffmangeltraining. Doping-Freigabe werde nach ihrer Meinung weniger Schäden bewirken als Doping im Unerlaubten. Daran schließt sich die Beschreibung der Aufgaben der Sportärzte an, die nicht differenziert angesprochen wird: Es wird das Argument vertreten, dass erst die Befreiung von (Anti-Doping-) Auflagen Aussagen zulassen wird. In der Konklusion wird ausblickend die Meinung vertreten, dass unter welchen Umständen medizinisch kontrolliertes Doping diskutiert werden könne („doctorassisted doping“), wenn aus der Gesundheitsperspektive durch den Anti-DopingCode kein ausreichender Schutz vor Dopingschäden gegeben sei und sogar neue, erst durch das Kontrollsystem verursachten Gesundheits-Probleme entstehen würden: „it creates health problems of its own“ (conclusion) oder „greater impact than are solved“ (discussion). Diese Form der Freigabe ermögliche dem Arzt, ihre Verpflichtung zum Gesundheitsschutz zu erfüllen. Die Autoren bezweifeln, dass die WADA der beste Mechanismus für DopingKontrollen sei. Es werden 60 Literaturstellen nachgewiesen, darunter die Mehrzahl aus den Jahren 2000 bis 2007. (3) Thematik Doping im Sport / Doping-Freigabe / Lücken im Kontrollsystem / Ethik und Grenzen des Kontrollsystems / Wada vs. Sport außerhalb des WADA-Codes. (4) Textsorte Medizinzentrierte Literatur / Polemik (5) Bemerkungen zur Zielgruppe Geeignet für Sport / Studium / Schule / Erwachsenenbildung. 6 (6) maximal 10 freie Schlagworte Freigabe / Recht / Kontrollen / WADA / Ethik / Kosten / Staat / Arzt / Sportarzt / Enhancement / Selbstverwirklichung. (7) Kommentar / Verwendung des Textes Die lange Bearbeitungszeit (Received August 25, 2006; Accepted March 29, 2007) lässt auf interne Diskurse des sehr kritischen, ja fundamentalistisch argumentierenden Textes schließen. Die Autoren sind als Kritiker der Lücken des WADA-Kontrollsystems bekannt und legen ihre Erkenntnisse und Überzeugungen offen. Bengt Kayser ist Professor am Institute of movement sciences and sports medicine, Faculty of medicine, University of Geneva, Schweiz. Alexandre Mauron ist Professor am dortigen Institute of biomedical ethics. Andy Miah ist Reader, University of Paisley, Scotland, UK. Zum Kontext: Miah hat bereits zur Freigabe des Gendopings aufgefordert, das aktuelle Doping jedoch weiter restriktiv behandelt wissen. Der Text kann sehr gut in Gruppen genutzt werden, um gemeinsam das Für und Wider der Argumente einer Doping-Freigabe zu besprechen. Hier ist besonders die Tendenz zu berücksichtigen, dass einzelne Aspekte so stark gewichtet werden, dass das Dopingkontrollsystem des Sports überhaupt in Frage gestellt wird. Die kontroverse Bearbeitung der Frage der begrenzten Freigabe des Dopings kann beispielsweise als Rollenspiel von Gegnern und Anhängern eines DopingBanns gezeigt werden. Die Problematik muss jedoch bereits schon einmal behandelt worden sein, da einiges an nötigem medizinischen und rechtlichen Hintergrundwissen vorausgesetzt werden muss. Hinterfragen ist nötig: Das erste Argument des Fair Play greift Gendoping sowie das THG-Doping des Balco-Falls auf. Sie sollen belegen, dass Betrüger verfeinerte („undetected“) Dopingmethoden anwenden können. Kritisch ist jedoch zu erwähne, dass gerade der Balco-Skandal mit seinen „neuen“ Anabolika einen schnellen positiven Nachweis hervorgerufen hat, also eben nicht unentdeckt geblieben ist. Die soziale Ungleichheit im Vergleich zu „alten“ Dopingpraktiken sollte nicht genutzt werden, um das aus vielen guten Gründen verbotene Doping freizugeben. indem alle den gleichen Nutzen aus Dopingpraktiken ziehen dürfen: Die Analogie zu Verbrechensmethoden oder Crack vs. Kokain liegt nahe und diskreditiert solche Beweisführungen. Die zweite ethische Perspektive des Gesundheitsschutzes ist schwerer zu bewerten, allerdings sind die üblichen juristischen Schranken der Mitwirkung des Arztes beim Doping hinreichend. Da die Gesundheitsfrage hier wie an anderen Stellen des provozierend angelegten Textes eine große Rolle spielt, sei darauf hingewiesen, dass die Autoren die differenzierte deutsche Literatur zu Dopingschäden zu diesem Zeitpunkt noch nicht rezipiert hatten (e.g. Strafurteile wegen Körperverletzung durch Doping, Werner W. Franke, G. Spitzer). Dies belegt, dass die von Kayser et al. angenommene nur relative Gefährlichkeit sicherlich der Revision bedarf. Außerdem muss die Grundsatzfrage beantwortet werden können, ob Ärz- 7 te bei Gesunden an Dopingpraktiken mitwirken dürfen (nationale und ethische Rechtsfragen). Die Schlüsselfrage, ob Doping solange nicht gesundheitlich „sicher“ sein kann, wie es verboten ist, ärztliche Hilfe zu leisten, ist vor diesem Hintergrund nur scheinbar zu stellen. Im Sport zur Garantierung der ausreichenden Sicherheit von Praktiken („sufficiently safe“) durch medizinisch kontrolliertes Doping zu gewährleisten, ist aus demselben Grund der diversen Ethiken im Feld nicht möglich, also unethisch. Die laut Autoren ungenügenden und nicht abschreckenden Strafen wie der lebenslange Sportausschluss gehen auf die Verhältnismäßigkeit zurück, sie sind nicht auf gleichsam Lebensfremdheit der WADA zurückzuführen. An dieser Stelle wird auch deutlich, dass der Charakter der Strafen – Ausschluss aus dem Wettkampf und nicht Buße – den Autoren nicht bekannt sind. Gefängnisstrafen etc., die sich aus den Strafgesetzen der beteiligten Nationen ergeben, werden gar nicht thematisiert. Ähnliches gilt für den Fall des Cannabis-Nachweises und die faktisches Gleichsetzung von Epo-Doping und Sauerstoffmangeltraining. Ob Doping-Freigabe weniger Schäden bewirken würde als Doping im Unerlaubten, kann gut in Gruppen oder Rollenspielen diskutiert werden. Auf jeden Fall hypothetisch ist die Meinung, dass erst die Befreiung von (Anti-Doping-) Auflagen gegenüber Sportärzten Aussagen zum verbesserten Gesundheitsschutz dopender Athleten zulassen wird. In der Konklusion wird ausblickend die Meinung vertreten, dass unter welchen Umständen medizinisch kontrolliertes Doping diskutiert werden könne („doctorassisted doping“), wenn aus der Gesundheitsperspektive durch den Anti-DopingCode kein ausreichender Schutz vor Dopingschäden gegeben sei und sogar neue, erst durch das Kontrollsystem verursachten Gesundheits-Probleme entstehen würden: „it creates health problems of its own“ (conclusion) oder „greater impact than are solved“ (discussion). Diese Form der Freigabe ermögliche dem Arzt, ihre Verpflichtung zum Gesundheitsschutz zu erfüllen. (8) Name, Ort und Datum der Fertigstellung des Textes Spitzer, Berlin 5. 6. 2009. PDF: Miah1.pdf; 8