Sonderteil : Zehn Jahre Große Koalition Peter Bochskanl Selbstabschaffung als Krönung? Die ersten zehn Jahre der 1987 zum zweiten Mal seit dem Kriegsende auf Kiel gelegten Großen Koalition wären objektiv und vor allem im internationalen Vergleich gesehen eigentlich eine Erfolgsstory: EU-Beitritt, Steuerentlastung, Vorreiterrolle in wesentlichen Umweltbereichen, die Schaffung von fast 400.000 neuen Arbeitsplätzen und die nach mißlungenen Anläufen dennoch geschaffte Budgetkonsolidierung haben sich allerdings nicht als positive und für die beiden Regierungsparteien wahlpolitisch lukrierbare Bilanz im Bewußt­ sein der Bevölkerung niedergeschlagen. Das liegt einerseits in der Tatsache begründet, daß beide großen Traditions­ parteien eben in der Regierung waren, und daher keine von ihnen das gegen die Regierung gerichtete Protestpotential auffangen konnte, sondern es dem Populisten Haider überlassen mußte. Daß dieser so reiche Ernte halten konn­ te, hat seine Ursache wohl andererseits in erster Linie im Regierungsstil: Im­ mer wieder aufflackernder parteiegoistischer Streit mit konstanten Versuchen, den jeweiligen Partner mit verbalen Über- und Untergriffen zu disqualifizieren, ließen die Große Koalition eher als uneiniges Machterhaltungskartell denn als die angekündigte Kräftekonzentration zur Lösung der großen Probleme er­ scheinen. Dieser Eindruck wurde noch durch die koalitionäre Selbstverstümmelung beim Privilegienabbau verstärkt, den man sich von Jörg Haider scheibchenweise abringen ließ, anstatt der Demontage des Politikeransehens durch konse­ quentes Ausmerzen skandalöser Einzelfälle und durch eine mutige gemeinsa­ me Grundsatzlösung ein für alle Mal Einhalt zu gebieten. Das von dem Medien noch überhöhte Bild der Uneinigkeit in einzelnen Sach­ fragen entwertete auch endlich erreichte gute Lösungen in den Augen der 613 Bevölkerung schon vor ihrer Verabschiedung im Parlament. Die jahrzehntelan­ ge Kultivierung des Egoismus durch eine Politik der Geschenke tat das ihrige dazu, daß notwendige Belastungen, auch wenn sie nur in einer Verringerung des Zuwachses bestanden, nicht als solidarische Notwendigkeit, sondern als vermeidbare Bosheitsakte einer unfähigen Regierung empfunden wurden. Obwohl es auf der Hand liegt, daß die großen Probleme umso größer werden, je länger man sie nicht anpackt, ist aufkeimender Reformwillen immer wieder dem kleinlichen Taktieren um vermeintliche parteipolitische Vorteile zum Opfer gefallen. Vor allem eine gewisse Mutlosigkeit gegenüber starken Interessen­ gruppen in beiden Regierungsparteien, aber auch mangelndes Vertrauen in die Fähigkeit der Regierung, notwendige, aber scheinbar unpopuläre Maßnah­ men gegen den hemmungslosen Populismus Haiders durchzustehen, führten bisweilen sogar zu einem gewissen Realitätsverlust: Man verpackte die Pro­ blembrocken in Verharmlosungen und Beschönigungen und stürzte sich auf Nebensächliches. Die starre Handhabung des Koalitionspaktes und die daraus folgende Aus­ grenzungspolitik gegenüber Haider wirkte sich letztlich im Mangel eines massi­ ven Außendrucks auf die Koalition aus. Dieser wäre sehr wohl vorhanden gewesen, hätte man sich darauf verständigt, für im Koalitionspakt festgelegte Vorhaben eine Frist zu setzen, innerhalb derer sich die Regierung einigen muß, andernfalls die betreffende Materie zur Abstimmung im Parlament freige­ geben wird. Dies hätte auch für den weniger wahrscheinlichen Fall, daß man sich dennoch nicht in der Regierung geeinigt hätte, den zusätzlichen Vorteil gehabt, daß die Haider-Partei in Teilbereichen in die Pflicht der Mitverantwor­ tung genommen worden wäre. Das Durchstarten der Großen Koalition mit dem Kanzlerwechsel berechtigte zumindest in den ersten Wochen zur Hoffnung, daß Klima und Schüssel aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben und auch die Kraft haben, die Früchte dieses Lernprozesses in ihren Parteien durchzusetzen: Sie schienen das richtige Maß zwischen notwendiger Profilierung der jeweils eigenen Partei und einer Regierungsarbeit gefunden zu haben, die zügig sachliche Lösungen der teilweise ins Riesenhafte angewachsenen Probleme erarbeitet und durch­ setzt. Aber auch wenn es den beiden Koalitionsparteien gelingt, diesen neuen Ar­ beitsstil durchzuhalten und so wieder mehr Vertrauen der Wähler für die Re­ gierung der beiden traditionellen Parteien zu erringen. für die Zukunft des Landes wäre es möglicherweise doch notwendig, nicht auf eine Große Koaliti­ on als Regierungsform für alle Ewigkeit aufzubauen. Waren die Motive der Änderungen des Wahlrechts in der Zweiten Republik bisher wahl- und macht­ politischer Natur, könnten nun Überlegungen einer sachlichen Optimierung der Demokratiespielregeln sinnvoll sein. Mit der Rückeroberung der Zwei-Drittel-Mehrheit bei den letzten Nationalrats­ wahl hätte die Große Koalition in dieser Legislaturperiode den Hebel für eine 614 grundlegende Änderung der politischen Kultur in Österreich in der Hand: Es lohnte sich nämlich sehr wohl, vorurteilsfrei und ohne Parteischeuklappen über die Vor- und Nachteile des Mehrheitswahlrechts zu diskutieren und eine solche Debatte nicht gleich abzulehnen, weil man sich vorauseilend vor sicherlich harten Auseinandersetzungen und vor einer Volksabstimmung über einen Mehrheits­ wahlrechts-Beschluß des Parlaments fürchtet. Das Mehrheitswahlrecht ist sicherlich jenes Wahlsystem, das am ungerechte­ sten mit den Wählerstimmen umgeht - vor allem mit jenen der kleineren Par­ teien, die reale Chancen haben, nicht mehr ins Parlament zu kommen, wenn keiner ihrer Kandidaten eine Stimmenmehrheit in einem der 183 Wahlkreise erreicht. Daher würden sich natürlich Grüne und Liberales Forum, aber auch die Frei­ heitlichen mit Händen und Füßen gegen ein Mahrheitswahlrecht wehren. Und sie hätten auch die reale Möglichkeit, es zu verhindern, wenn sie eine Mehrheit der Bürger von der Richtigkeit ihrer Gegenargumente überzeugen können. Denn auch wenn die Große Koalition die Einführung des Mehrheitswahlrechts beschließt, das letzte Wort haben die Österreicher in einer Volksabstimmung, weil die Abschaffung der Proporzwahl eine wesentliche Änderung der Bundes­ verfassung wäre. Sicher wird auch das Argument der Wichtigkeit der parlamentarischen Kon­ trolle durch kleinere Oppositionsparteien nicht durch die Tatsache vom Tisch gewischt, daß ein Mehrheitswahlrecht eine rechtspopulistische FÜhrerpartei wegen ihres Mangels an qualifizierten Wahlkreiskandidaten zum Schrumpfen brächte. Aber es ist sehr die Frage, ob die parlamentarische Kontrolle durch eine große Partei schlechter sein muß. Denn diese würde nicht nur von den Medien auf Trab gehalten, sondern überdies durch die realistische Chance angespornt, nach der nächsten Wahl die Regierung zu übernehmen. Der überragende Vorteil eines Mehrheitswahlrechts wäre aber, daß eine Partei alleinverantwortlich regieren kann - und dies auch ohne Schuldzuweisungen an einen Partner tun muß. Das "ungerechteste" aller Wahlsysteme würde profilierungsneurotische Streite­ reien in der Regierung beenden und koalitionären Abtausch von gegenseitigen Gruppeninteressen durch vermehrte Sachbezogenheit ersetzen. Die Regie­ rung einer Partei kann gar nicht in Versuchung kommen, Entscheidungen durch fesche Absichtserklärungen und darauffolgende Beschuldigungen des angeblich unwilligen oder unfähigen Partners vor sich herzuschieben. Am Wahltag muß die Regierung Bilanz legen und kann sich auf niemanden ausre­ den, wenn diese schlecht ist. Keinem der gegenwärtigen Koalitionspartner wird es leicht fallen, den Nach­ denkprozeß (ängstliche) über ein Mehrheitswahlrecht mit frischem Mut und ohne Hintergedanken aufzunehmen. Jeder wird sich auszurechnen 615 versuchen, wer als erster drankommt (und regiert) und wer dran glauben (und in die Opposition gehen) muß. Bei der SPÖ könnte noch der Gedanke mit ins Spiel kommen, daß ihr das derzeitige Wahlsystem viel Material für eine Politik des "divide et impera" in die Hand gegeben hat: vom VdU über die FPÖ­ Regierungskrücke und die Kleine Koalition bis zum Liebäugeln mit einer Am­ pelkoalition. Dennoch wäre es wert, die Diskussion über eine Wahlrechtsreform aufzuneh­ men: Damit in Österreich wieder wirklich regiert werden, und sich eine der derzeitigen Koalitionsparteien in der Opposition erneuern kann. Hinzu käme ein weiterer wesentlicher Vorteil des Mehrheitswahlrechts: Der Kontakt zwischen den Wählern und den Abgeordneten würde nicht mehr wie jetzt die rare Ausnahme sein, sondern zum selbstverständlichen politischen Alltag gehören. Denn: Auch das mit Persönlichkeitselementen eher optisch als tatsächlich verbesserte Listenwahlrecht macht es den Bürgern heute sehr schwer, den für sie zuständigen Abgeordneten auszumachen. Beim Mehr­ heitswahlrecht wäre aber den etwa 25.000 bis 30.000 Wählern jedes Wahl­ kreises sonnenklar, wer der Abgeordnete ist, der ihre Interessen im Nationalrat vertritt und der für sie da ist. Das würde nicht nur zu einer Verbesserung der Abgeordnetenqualität, sondern auch dazu führen, daß sich der jeweilige Abgeordnete nicht mehr so leicht über die Wünsche seines Wahlkreises hinwegsetzen kann, will er wiederge­ wähit werden. Die Abgeordneten müßten einfach selbständiger werden, womit sich Diskussionen nahezu automatisch aufhörten, ob es nun einen Klubzwang gibt oder nicht. Die politischen Entscheidungen würden daher mehr vom Willen der Wähler als von dem der Parteisekretariate bestimmt. 616