ZEITSCHRIFT DES DEUTSCHEN ORIENT

Werbung
ORIENT
ZEITSCHRIFT DES DEUTSCHEN ORIENT-INSTITUTS
AUS DEM INHALT
o Kurzbiographien
o Erste Deutsche Turkologen-Konferenz
o Erlanger Studienschwerpunkt: Moderner Vorderer
Orient
o Migration in der arabischen Welt
o Ceuta und Mellila-Zukunftperspektiven
o Inflationsbekämpfung in der Türkei 1980-1987
o Khomeini und das Konzept des Mahdi
o Dörfliche Geldverleiher im Orient- Aspekte der
entwicklungstheoretischen Diskussion
o Zionismus, Demograhie und Auswanderung aus
Israel
o Buchbesprechungen
o Bibliographie
3/87
Im Verbund der Stiftung
Deutsches Übersee-Institut
Begründet vom Nah-und MittelostVerein
Leske-Verlag + Budrich GmbH, Opladen
Juli/August 1987
Besuch des spanischen Außenministers Francisco F. Ordoñez bei König Hassan II. und
Gespräche mit Außenminister Filali. Diskussion eines neuen Fischereiabkommens und der
Lage in Ceuta und Melilla. Beide Aspekte seien allerdings nicht miteinander verknüpft.
Außenminister Filali kündigt einen Spanienbesuch von König Hassan II. an. Zugleich sei
der Dialog über Ceuta und Melilla eröffnet worden.
Journées d'études sur les perspectives de développement des Provinces du Nord et de Sebta
et Mellilia, organisiert von der Istiqlal-Fraktion im marokkanischen Parlament in alHucaima. Ahmed Ghaleb hält ein ausführliches Referat zur sozialen und politischen Situation
in Sebta und Mellilia sowie zu den Aussichten der »Befreiung« der beiden Städte. Abdruck
dieses Vertrags in L'Opinion (12., 13., 14.08.1987).
Harun Gümrükçü
Die inflationäre Entwicklung und ihre Bekämpfung im mon
Anpassungsprozess in der Türkei 1980-1987
Eine kritische Wirkungsanalyse*
1. Problemstellung
Am 29. November 1987 haben vorgezogene
Parlamentswahlen in der Türkei stattgefunden. Ungea
möglichen weiteren Amtszeit der monetaristisch orienti
Regierung kann deshalb eine erste rückblickende Bestan
über den seit 1980 von außen gestützten Anpassungsprozeß i
wertvolle Erkenntnisse vermitteln. Dieser Anlass ist um so in
als Özal selbst ursprünglich (1979)' davon ausging, di
Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) aufgreif
doch selbstgestellten Ziele des Anpassungsprogramms nach e
vier Jahren bewältigt zu haben. Ein Jahr später erweiterte er
rahmen und setzte eine Dauer von fünfeinhalb Jahren an2.
Seit der Etablierung des Etatismus in den dreißiger Jahren
neben der Errichtung und Fortentwicklung der Staatswirtsch
auch die privaten Unternehmen gefördert wurden, bildete
Economy« die Grundlage der türkischen Wirtschaftspoliti
Özal als Folge der Krise vorgelegte Wirtschaftskonzeption
(kurz: Januar-Beschlüsse genannt)3 stellt dagegen die Privati
Motor der wirtschaftlichen Entwicklung schlechthin in den V
Diese tief greifenden, in sich geschlossenen Liberalisierungs
wurden auch durch die nachfolgenden Regierungen fortge
Machtbefugnisse weit über die Grenzen eines parla
pluralistischen Systems hinaus reichten und immer noch re
waren sie in ihrer jeweiligen Amtszeit — obgleich Özal selb
Juli 1982 und November 1983 von der Regierungsve
abgelöst worden war — in der Lage, sein Programm mit ve
Zielstrebigkeit und Prinzipientreue in praktische Politik u
Dies führte zur Etablierung der Begriffe »Özalism« bzw. »ö
Pragmatismus4, in deren Zusammenhang Özal der
»Wirtschaftszaren«5 zugesprochen wurde.
* Der Verfasser dankt der Stiftung Volkswagenwerk, Hannover, für die Förderung des
»Wirtschaftliche und politische Strukturveränderungen in der Türkei seit 1980 und ihr
auf die Beziehungen des Landes zur Europäischen Gemeinschaft«, in dessen Rahmen
vorbereitet wurde. Weitere Aufsätze werden folgen. Das Forschungsprojekt wird g
Deutschen Orient-Institut und der Universität Hamburg, Fachbereich Politikwissenscha
1 Dies geht aus einem Report, den der jetzige Premierminister Turgut Özal, damals in der
tätig, an den ehemaligen Premierminister Süleyman Demirel lieferte, hervor. Vgl. dazu
Ocak, Bir Dönemin Perde Arkası (Kulisse einer Periode, 24. Januar), Istanbul 1983, S.
2 Diese Aussage wurde von Özal, damals als Staatssekretär der Demirel-Regierung
Wirtschaftsfragen, in einem Hürriyet-Interview vom 31. August 1980 gemacht.
3 Vgl. dazu Kapitel 4 dieser Abhandlung.
4 Diese Bezeichnungen wurden von Özals engstem Berater, Adnan Kahveci, eingefüh
Auffassung wird der eingeschlagene Wirtschaftskurs mit Bezeichnungen wie »Mon
»IWF-Konzeption« nur unzureichend erfasst. Vgl. hierzu Ulagay, O.: »Özalism«, in C
24. Februar 1984, S. 9.
5 Dies ist eine Bezeichnung, die wiederholt in den Medien der westlichen Länder au
ungeachtet der Tatsache, dass Özal kein wirtschaftswissenschaftliches, sondern
Studium absolviert hat.
Zudem wurde im In- und Ausland mit beachtlichem Erfolg der Eindruck vermittelt,
dass das von monetaristischen Vorstellungen hergeleitete Stabilitätsprogramm von 1980
die “optimale“ Lösung sei und keine Alternative6 annähernd erfolgreich sein könne.
Diese Auffassung wird u.a. von der OECD7, der Weltbank8, dem IWF9 und von den
verschiedenen Wirtschaftsinstitutionen der Bundesrepublik Deutschland10 geteilt. Das in
großem Maße durch ausländische Hilfe unterstützte “türkische Experiment“ wurde
nicht nur als erfolgreich, sondern auch als für andere Entwicklungsländer nachahmenswert
empfohlen.
Vor dem Hintergrund dieser “Erfolgseuphorie“ versteht sich dieser Beitrag als Versuch,
eine kritische Wirkungsanalyse der wirtschaftspolitischen Maßnahmen der türkischen
Regierungen während des Zeitraumes 1980—1987 zu leisten.
Die Frage, wie "Özalism" aus heutiger Sicht zu beurteilen sei, kann in zweierlei Hinsicht
beleuchtet werden: Haben die Regierungen sich strikt an die monetaristischen
Zielvorstellungen und an die Auflagen des IWF gehalten oder schlugen sie einen flexiblen
Weg ein? Auf welche Weise hat sich der neue Wirtschaftskurs auf die türkischen
Wirtschafts- und Sozialbeziehungen ausgewirkt?
Vorab sollen, um die angegebenen statistischen Daten richtig einschätzen zu können,
deren Grundlagen aufgezeigt werden. Nach einer komprimierten Darstellung der Wirtschaftsentwicklung und ihrer Hintergründe bis 1980, die notwendig ist, um die folgenden
Ereignisse angemessen beurteilen zu können, werden die konzeptionelle Grundlage der
Januar-Beschlüsse und ihre Maßnahmen zur Reduktion der Inflation im Mittelpunkt
der Betrachtungen stehen.
Institut für Statistik (SIS) von einem Preisrückgang um 0,1 % ausging".
Diese in Tabelle l zu verfolgenden Differenzen haben verschiedene Ursachen und resultieren zum
367Teil aus
der Zahl der im“Warenkorb« ermittelten Artikel sowie aus unterschiedlichen Ermittlungsmethoden12.
2. Zur statistischen Erfassung der Inflationsentwicklung
Der Anstieg des Preisniveaus wird in der Türkei entsprechend dem Untersuchungsinteresse mit sehr unterschiedlichen Indikatoren gemessen. Dabei sind je nach ausgewähltem
Preisindex differierende Teuerungsraten festzustellen. So wurde für das Jahr 1980 vom
Handelsministerium die Steigerung der Großhandelspreise mit 107 % angegeben,
während die Istanbuler Handelskammer (ITO) bei der Berechnung der Lebenshaltungskosten für Lohnabhängige in der Provinz Istanbul von 75,6 % ausging.
Die gegenwärtigen Angaben zeigen weiterhin bezüglich der Inflationsrate erhebliche
Abweichungen, die bis zu 8 % betragen. Auch veröffentlichen die Institute monatliche
Daten, die sich gänzlich widersprechen. So stiegen nach Angaben der Istanbuler Handelskammer die Verbraucherpreise für Juni 1987 um 2,7 % an, während das Staatliche
6 Ein alternatives Anpassungsprogramm hatte sicherlich nicht von höheren externen Finanzierungsbeiträgen ausgehen
können als das praktizierte. Vgl. hierzu Wolff. P.: Stabilisierungspolitik und Strukturanpassung in der Türkei 1980—
1985, Schriftenreihe des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE), Bd. 87, Berlin 1987, S. 4.
7 Vgl. OECD, Economic Surveys, Turkey/Paris 1981 — 1987.
8 Vgl. IBRD, Turkey: Policies and Prospects for Growth, Washington D.C. 1982. Ders. : Turkey — Recent Economic
Development, Washington D.C. 1985.
9 IWF: Turkey, Request for Stand-by Arrangement, Washington 1908 (hekt.). Ders.: Structural Reform, Stabilization and
Growth in Turkey, Occasional Paper No. 52, vorgelegt von G. Kopits, Washington, Mai 1987. Eine deutschsprachige
Zusammenfassung ist im September 1987 veröffentlicht worden. Vgl. dazu Kopits, G.: Der Anpassungsprozess in der
Türkei 1980—1985, in: Finanzierung und Entwicklung, Bonn, September 1987, S. 8—II.
10 Vgl. Kampffmeyer, T./Radke, D./Wolff, P.: Internationale Türkeihilfe — Probleme und Perspektiven, Schriftenreihe des
Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik, Berlin, März 1982. Ebenfalls vgl. Kampffmeyer, T.:
Entwicklungsperspektiven der türkischen Außenwirtschaftsbeziehungen, Konsequenzen für die westlichen
Partnerländer, in: Außenwirtschaft, Diessenhofen, 38. Jg. 1983, H. 1. , S. 39—63. Vgl. auch Gerken, E./Voigt, H.:
Abwerten oder Exporte fördern? Quantitative Analyse der Instrumente des Leistungsbilanzausgleichs am Beispiel der
Türkei und Chiles, in: Die Wellwirtschaft (1982)1, S. 157—173. Ebenfalls vgl. Pasdach, U.I.: Modernisierung und
Stabilität in der Türkei. Die türkische Krise — Chancen des Militärs, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 29. Mai 1982,
Ud. 2l, S. 45—54.
366
Tabelle l: Durchschnittliche jährliche Inflationsraten bei ausgewählten Preisindizes
1981
1982
-
27,0
30,5
50,4
43,2
29,6
33,9
Großhandelspreise nach Schatz- und
Handelsministerium (1963 = 100)
36,8
25,2
30,6
52,0
40,0
26,7
46,6
Großhandelspreise nach der Istanbuler
Handelskammer (1TO) (1963 = 100)
34,1
27,4
28,1
46,4
41,7
27,5
40,5
Verbraucherpreise im städtischen Bereich nach SIS
(1978—1979 = 100)
-
27,0
31,4
48,4
45,0
34,6
36,4
Verbraucherpreise im ländlichen Bereich nach SIS
(1973—1974 = 100)
-
-
-
52,7
39,9
-
-
Lebenshaltungskosten in Istanbul nach dem Schatz37,6
und Handelsministerium (1963 = 100)
32,7
28,8
45,6
45,0
34,8
54,5
Lebenshaltungskosten für Lohnabhängige nach der
35,9
Istanbuler Handelskammer (ITO) (1963 = 100)
34,5
28,1
43,7
43,2
35,6
49,3
Deflator des Bruttosozialprodukts nach SIS
(1968 = 100)
27,2
27,4
49,8
43,8
30,9
-
Großhandelspreise nach SIS (1981 = 100)
41,9
1983
1984
1985
1986
1987*
*Die Angaben wurden im Oktober 1987 von diesen Instituten, bezogen auf das ganze Jahr 1987, errechnet. vgl.
Cumhuriyet vom 5. Oktober 1987, S. l u. S. 12.
Quellen: State Planning Organization (SPO) (Hrsg.): Temel Ekonomik Göstergeler [Grundlegende ökonomische
Faktoren], Ankara 1987, S. 65ff. Zusammengestellt aus verschiedenen Tabellen; vgl. Öniş,, Z. und Özmucur, S.:
Türkiye'de Enflasyon [Die Inflation in der Türkei]; Istanbul Ticaret Odası (ITO) (Hrsg.): Pub. Nr. 1987-5, Istanbul
1987, S. 19.
Die Preisentwicklungen werden vom SIS seit 1981 für 1422 Artikel des“täglichen Bedarfs«, aufgeteilt in
636 Warengruppen mit unterschiedlichem Anteil am Gesamtpreis, verfolgt. Dagegen ermittelt das
Staatssekretariat für Schatz- und Außenhandelswesen die aktuellen Preisentwicklungen für nur 95 und die
Istanbuler Handelskammer für 94 Artikel13. Die Handelskammer bezieht ihre Untersuchung dabei
hauptsächlich auf den Raum Istanbul.
Ferner gehen diese Institute bei der Ermittlung der Preise für den zusammengestellten »Warenkorb«
von unterschiedlichen Basisjahren und Warengruppen aus14. Zwar werden die aktuellen Preise seit 1982
vom SIS sehr detailliert ermittelt, jedoch umfassen sie lediglich die Großhandelspreise für den Primärund Sekundärsektor. Daraus können die Kosten für die Güter des täglichen Bedarfs nur bedingt abgeleitet
werden.
Die Entwicklung der Lebenshaltungskosten, wie sie von der Istanbuler Handelskammer ermittelt wird,
ist jedoch aufgrund des Warenkorbes, basierend auf Einzelhandels11 Vgl. N.N.: »Enflasyon Çelişkisi« [Widersprüchliche Angaben über die Inflation), in: Cumhuriyet vom 2. Juli 1987, S. I.
12 Vgl. Çilli, H. und Gürgenci, Z.: »Türkiye’de Fiyat Endexleri« (Preisindizes in der TUrlcri), in: Türkiye Cumhuriyeti Merkez Bankasi Ekonomik
Araştırmalar Bullen! [Zeitschrift der ökonomischen Untersuchungen der türkischen Zentralbank), 2. Jg., Nr. 2, Ankara, Juni 1987, S. 65—99.
13 Vgl. Prime Ministry State Institute of Statistics (SIS) (Hrsg.): 1985 Statistical Yearbook of Turkey, Pub. Nr. 1150, Ankara, November 1985, S. 370 f.
14 Vgl. füll. H., und Gürgenci, Z.: »Türkiye'de Fiyat endexleri«, a.a.O., S. 67 (T.
preisen, für die Bevölkerung von höchster Bedeutung. Daher rückt sie immer mehr in den
Mittelpunkt der politischen Diskussion. Die betreffende Statistik wird jedoch nur für
Lohnabhängige durchgeführt und erfasst, wie bereits erwähnt, lediglich 94 Artikel. Auch der
Verbraucherindex des SIS, der, ausgehend vom Zeitraum 1978/79, den Urbanbereich erfasst,
dürfte revisionsbedürftig sein, da diese Basis mit der schwersten Wirtschaftskrise des Landes
verbunden ist. Ebenfalls können abweichende Erfassungsmethoden unterschiedliche Resultate
hervorbringen. So werden, im Gegensatz zum SIS, vom ITO saisonale Preisschwankungen für
Lebensmittel berücksichtigt15. Aus diesem Grunde ist es unumgänglich, auf die abweichenden1963
Angaben hinzuweisen. Angestrebt wird in dieser Abhandlung dennoch die Verwendung
übereinstimmender Daten, wo dies möglich ist.
3. Die Inflationsentwicklung in der Türkei und ihre Hintergründe vor 1980
3.1 Entwicklung und inflationäre Dynamik
Seit 1946 sind für die Türkei zwei längere inflationäre Zeiträume einzugrenzen, die jedoch
unterschiedliche Ursachen haben.
Die erste, zwischen 1954 und 1959 stattgefundene Inflationsphase, die durch die
Nachfragesteigerungen und Produktionsengpässe induziert worden war, mündete schließlich Ende
der fünfziger Jahre in eine politische Krise. Nach der Machtübernahme durch das Militär im Jahre
1960 wurde eine neue Verfassung verabschiedet, in der die umfassenden Konturen einer
pluralistischen Gesellschaft und der politischen Partizipation festgelegt wurden.
Diese politische Modernisierung sollte im ökonomischen Bereich durch eine importsubstituierende Industrialisierungspolitik (ISI) auf der Grundlage von Fünfjahresplänen
untermauert werden16. Angestrebt war eine stetige, krisenfreie und wachstumsorientierte
Entwicklungspolitik. Bei einem jährlichen Wirtschaftswachstum von 7 % sollte die
Preisstabilität realisiert und die Verringerung der außenwirtschaftlichen Abhängigkeiten erreicht
werden. Dadurch erwartete man eine Verminderung der Arbeitslosen-Zahlen und steigenden
Lebensstandard für das Gros der Bevölkerung.
Die bestehende Produktionsstruktur Anfang der sechziger Jahre war jedoch kaum in der
Lage, ein exportorientiertes schnelles Wachstum zu realisieren: Als Agrarland hatte die Türkei
im Jahre 1963 einen Anteil von 80 % landwirtschaftlicher Erzeugnisse am Exportvolumen zu
verzeichnen. Die geringen Einkommens- und Preiselastizitäten der Weltnachfrage versprachen
nur ein bescheidenes Wachstum.
Weiter sollten im Rahmen der ISI die bislang eingeführten Güter im Lande hergestellt
werden. Dazu sollte die inländische Produktionsstruktur nach einigen Primärgütern diversifiziert
und spezialisiert werden. Die zu errichtenden Unternehmen sollten von der
Auslandskonkurrenz durch hohe Schutzzölle und sogar Importverbote abgeschirmt und das
Kapital verbilligt werden. Auf dieser Grundlage wurden in der ersten Phase der
Importsubstitution (1963—1970) Wachstumsraten von insgesamt 50 % mit einer Inflationsrate
von 42,9 % innerhalb dieser acht Jahre erzielt. Dies kann aus Ta15 Vgl. ebenda, S. 80 ff.
16 Die Diskussion über die Strategie zur Importsubstitution nimmt in der El.-Literatur einen breiten Raum ein. Auch wurde
über sie in der Türkei sehr kontrovers diskutiert. Vgl. da/u u.a. Gülalp, U.: „Türkiye'de Ithal Ikamesi Bunalımı ve Dişa
Açılma“ [Die Krise der Importsubstitution und Außenhandelsöffnung], in: Middle East Technical University Faculty of
Administrative Sciences (Hrsg.): METU Studies in Development, Vol. 7, Nr. l und 4, Ankara l')80.
368
belle 2, in der die Entwicklung der Wachstums- und Inflationsraten einander gegenübergestellt
werden, errechnet werden.
Tabelle 2: Die Entwicklung der Wachstums- und Inflationsrate im Zeitraum 1963—1970 in %
Jahr
1963
1964
1965
1966
1967
1963-1967
1968
1969
1970
Wachstumsrate des BSP
9,7
4,1
3,1
12,
0
4,2
6.6
6.7
5,4
Inflationsrate*
4,3
1,2
8,1
4,8
7,6
5,2
3,2
7,2
6,7
* Großhandelspreise.
Quellen: T.C. Merke Bankasıi Bülteni [Zeitschrift der türkischen Zentralbank/, Ankara 1972, S. 9—11, und fünf
Jahrespläne der Staatlichen Planungsorganisation. Vgl. auch SPO (Hrsg.): Temel Ekonomik Güstergeler
[Grundlegende ökonomische Faktoren], Ankara I9S7, S. 65.
Die beachtlichen Wachstumsraten des BSP waren auch von Produktivitätssteigerungen in
Höhe von 2,26 % p.a. begleitet. Sie wurden nicht zuletzt durch importierte Technologien und
staatliche Förderungsmaßnahmen der einheimischen Industriegruppen erreicht. Parallel dazu fand
eine nie dagewesene Konzentration des Kapitals in wenigen Familienholdings statt. So wurde
mittels profitorientierter Industrialisierung, unterstützt durch eine von den Interessen der
Industrieländer (IL) getragenen Entwicklungspolitik, die zweite Stufe der Importsubstitution
(1970-1980) eingeleitet.
Seitens der großen Familienholdings wurde in dieser Phase die Herstellung langfristiger
Konsumgüter angestrebt, während die Entwicklung einer Grundstoff- und Investitionsgüterindustrie von staatlichen Wirtschaftsunternehmen eingeleitet wurde.
Die notwendigen Technologien wurden, wie in der ersten Phase, mangels eigener
Forschungstätigkeilen aus Westeuropa und den USA eingeführt. Ihre Wartung und die
fortwährende notwendige Modernisierung erforderten weitere Technologien, die aufgrund der
Überbewertung der türkischen Währung für einzelne Unternehmen preisgünstig importiert
wurden.
Durch den forcierten Erwerb von Patenten und Lizenzen sollte der Anschluss an den
Entwicklungsstand der IL erreicht werden. Dabei fehlte es an ausreichenden Kenntnissen über den
jeweiligen technologischen Stand und alternative Möglichkeiten. Dies führte oft zu
Fehlentscheidungen, zumal besagte Technologien für die Bedürfnisse der entwickelten
Volkswirtschaften der IL hergestellt waren, in denen die ständige arbeits-kräfte- und zeitsparende
Rationalisierung aufgrund der langfristigen Bestrebungen zur Gewinnmaximierung und des
weltweiten Konkurrenzdruckes hoch entwickelt waren. Nicht selten diktierten die
Technologielieferanten sowohl ihre Geschäfts- und Zahlungsbedingungen als auch die
Qualitätsnormen für Vorprodukte und Produktionsmittel, so dass die lokalen Zulieferer de facto
ausgeschaltet wurden. Diese hatten damit auch geringere Exportchancen, um ihren Beitrag zur
Deckung des Devisenbedarfs zu leisten.
Trotz dieser Gegebenheiten neigten besonders die Staatswirtschaftsbetriebe dazu, kapitalintensive und fortgeschrittene Produktionsmethoden einzuführen. Ebenfalls setzten die
privaten Großunternehmen, Joint Ventures und multinationalen Konzerne
369
kapitalintensive Produktionstechniken ein. Dies bewirkte nicht nur ein weiteres
Auseinanderklaffen der Wirtschaftsbereiche, sondern auch eine Disparität innerhalb
des Sekundärsektors. Es gelang den Mittel- und Großbetrieben nur in wenigen Fällen,
eine rentable, wettbewerbsfähige Massenproduktion zu realisieren.
3.2 Importboom: Vorreiter der Krise
Die voranschreitende Importsubstitution führte zur Kapitalintensivierung der Produktion, die sich in vermehrten Importen von Rohstoffen, Zwischenprodukten und
Investitionsgütern niederschlug. Parallel dazu erfolgte ein wachstumsnotwendiger
Ausbau der Infrastruktur (z.b. Verkehrswesen, Wasser- und Elektrizitätsversorgung,
Energie), der nur mit Hilfe von staatlichen Investitionen bewerkstelligt werden
konnte, die einen hohen Importgehalt aufwiesen. Die daraus resultierende
Devisenknappheit verschärfte sich weiter durch die erkämpften Lohnerhöhungen für
Industriearbeiter und durch die subventionsbedingten Einkommenssteigerungen für
die Bauern sowie durch die wachsende Nachfrage nach importierten Konsumgütern.
Die auf Deckung des Inlandsbedarfs orientierten oligopolistischen
Industriegruppen waren Mitte der siebziger Jahre kaum in der Lage und aufgrund der
hohen Gewinnerwartungen im Binnenmarkt nicht willens, ihre Produkte zu
exportieren. Ausnahmen bildete der Export von Textilien und einigen Artikeln der
Leichtindustrie.
Allerdings wurden der türkischen Textilindustrie seitens der EG-Länder, trotz
gegenseitiger
Verträge17 ,
Exportbeschränkungen
aufgezwungen.
Diese
Entwicklungsstrategie musste aufgrund der genannten Fakten zwangsläufig zur
Importabhängigkeit der Produktion und damit auch zum Devisenmangel führen. Die
Entwicklung des Import- und Exportanteils am BSP wird vergleichend in Tabelle 3
dargestellt.
Tabelle 3: Entwicklung des Import- und Exportanteils am BSP im Zeitraum 1970—1979 in %
Jahr
Handelsvolumen in %
Import in %
Export in %
1970
1971
1972
1973
1974
1975
1976
1977
1978
1979
10,8
13,3
13,9
15,2
17,2
16,6
17,0
15,8
13,0
11,7
6,5
8,6
9,0
9,4
12,2
12,9
12,4
12,2
8,2
8,3
4,3
4,7
4,9
5,8
5,0
3,7
4,6
3,6
4,2
3,4
Quelle: State Institute of Statistics, Ankara.
Parallel zur negativen Entwicklung des Exportanteils am BSP ging auch der Anteil
der Türkei am Weltexport von 0,47 % im Jahre 1950 ständig zurück und erreichte
mit 0,16 % im Jahre 1980 seinen tiefsten Punkt. Noch heute befindet sich der
türkische Anteil am Weltexport unter dem Niveau von 1950; er lag 1986 bei 0,33 %.
Diese Entwicklung kann für einzelne Perioden bzw. Jahre von Tabelle 4 abgelesen
werden.
17 Vgl. Zusatzprotokoll (ZP) des Assoziationsvertrages zwischen EWG und Türkei, veröffentlicht im Amtsblatt der
Europäischen Gemeinschaften L 293/3 vom 29. Dezember 1972, Art. 9 und 24.
370
Tabelle 4: Prozentualer Anteil der türkischen Exporte am Weltexport zwischen 1950 und 1986
Jahr
Anteil in %
1950-1954
1955-1959
1960-1964
1965-1969
1970-1974
1975-1979
1980
1981
1982
1983
1984
1985
1986
0,47
0,34
0,29
0,25
0,22
0,18
0,16
0,24
0,31
0,32
0,37
0,43
0,33
Quelle: TÜSIAD (Hrsg.): The Turkish Economy 1987, Istanbul 1987, S. 87.
Damit rief die eingeschlagene Industrialisierungspolitik allein von 1971 bis 1979 ein
beträchtliches Zahlungsbilanzdefizit in Höhe von 19 Mrd. US-Dollar hervor18 . Davon
entfielen etwa 7 Mrd. US-Dollar auf die Länder der EG19 .
Auf der anderen Seite konnte im Bereich der Grundstoff- und der
Investitionsgüterindustrie die anhaltende Nichtauslastung nicht vermieden werden.
Noch heute ist die türkische Industrie im Durchschnitt nur zu 70 °/o ausgelastet.
Folglich steigt der Fixkostenanteil je Produktionseinheit, was sich wiederum in
steigenden Preisen der industriellen Erzeugnisse niederschlägt. Diese Entwicklung fiel
in den siebziger Jahren mit einer vielfach überbewerteten Währung zusammen und
beeinträchtigte erheblich die internationale Wettbewerbsfähigkeit der in der Türkei
hergestellten Erzeugnisse.
In dem eingeschlagenen Wirtschaftskurs fand diese inflationäre Dynamik20 , aufgrund wahlpolitischer Überlegungen und innenpolitischer Zwänge, keine
entsprechende Berücksichtigung. Statt dessen führte er, in Kombination mit einer
expansiven Geldpolitik, zu einer hyperinflationären Entwicklung Ende der siebziger
Jahre.
3.3 Weitere Ursachen der Krise
Gekoppelt mit einem Wachstumseinbruch und mit hoher Auslandsverschuldung,
hat sich die Lage Ende der letzten Dekade zu einer der schwersten Krisen seit der
Republikgründung von 1923 entwickelt. Im folgenden sollen einige weitere Aspekte,
die die prekäre wirtschaftliche Situation darstellen, stichpunktartig aufgeführt werden.
Basierend auf westlichen Empfehlungen und mit westlichem Kapital wurden neue
Industriezweige aufgebaut, die von Ölimporten abhängig waren (z.B. erdölbefeuerte
Kraftwerke). Anstatt den Ausbau von Eisenbahnstrecken zu forcieren, wurde das Straßennetz erweitert, was ebenfalls eine größere Abhängigkeit von Ölimporten zur Folge
hatte. Während noch 1972 62,3 % des Ölbedarfs aus eigenen Quellen gedeckt werden
konnten, sank dieser Anteil 1978 auf 47,9 %21 . Infolgedessen mussten 1978 45,6 %
18 Die Zahl wurde vom Verfasser, basierend auf den Angaben des SIS, errechnet. Vgl. SIS (Hrsg.): Foreign Trade
Statistics 1984, Pub. Nr. 1149, Ankara, April 1986. S. 9, Tab. 1.
19 Die Zahl wurde anhand von Computerausdrucken des türkischen Handelsministeriums errechnet.
20 Es wird in der Literatur auf den Zusammenhang zwischen der zweiten Stufe der 1SI und der inflationären Entwicklung
hingewiesen. Dazu vgl. u.a. Kirkpatrick, C., and Nixon, F.I.: »The Origins of Inflation in Less Developed Countries: A
Selective Review“, in: Levingstone, I. (Hrsg.): Dcvelopment Economics and Policy, London 1981.
21 Vgl. Bundesstelle für Außenhandelsinformation (bfai) (Hrsg.): Türkei. Energiewirtschaft, Köln, Januar 1981, S. 11.
371
der Exporterlöse für Ölimporte eingesetzt werden22. Die reichlich vorhandenen
eigenen Energieressourcen des Landes wie Braunkohle und Wasserkraft werden nur
unzureichend genutzt.
Die stark gestiegenen Ölpreise wurden seitens der Industrieländer durch Preisaufschläge auf Industriegüter weitergegeben. Daher musste die Türkei, als
Entwicklungsland abhängig von Investitionsgütern und Zwischenprodukten, mehr
und mehr Devisen ausgeben. In vielen Fällen konnten nicht einmal mehr die Kosten
für die Ersatzteile gedeckt werden. Die Türkei war daher gezwungen, ihre Importe
über „Petro-Dollars“ zu finanzieren.
Die Exportmöglichkeiten in die EG-Länder wurden aufgrund der internationalen
Rezession nach 1973 erschwert. Als assoziierter Partner wurde die Türkei zudem,
verglichen mit den arabischen Mittelmeerstaaten und Israel, benachteiligt. Die EGStaaten räumten im Rahmen ihrer Mittelmeerpolitik nur drei Monate nach Abschluss
des Zusatzprotokolls von 1970 (ZP) diesen Ländern weitergehende Vergünstigungen
ein als der Türkei. Einige Exportwarenquoten, z.b. für Textilien, die 1984 26 % der
Gesamt exporte ausmachten23, wurden eingeschränkt. Die Erzeugnisse der türkischen
Landwirtschaft fanden keine Berücksichtigung (Art. 34 des ZP). Dieser
Wirtschaftssektor, in dem schon damals die Mehrheit der erwerbstätigen
Bevölkerung beschäftigt war, sollte erst nach 1995 in den EG-Agrarmarkt integriert
werden.
In der Zeit der „Nationalistischen Front“-Regierung (1975—1978) wurden durch
das System der „Convertible Turkish Lira Deposits“ (CTLD)24 den ausländischen
Finanzinstitutionen für kurzfristige Kredite hohe Zinsen — bis zu zwei Punkten über
LIBOR — eingeräumt. Darüber hinaus übernahm die türkische Regierung die
Wechselkursgarantie für die Privatunternehmen. Das bedeutet, dass die
Unternehmen, die sich in Devisen verschuldet hatten, ihre Verbindlichkeiten nicht zu
dem jeweils aktuellen Wechselkurs, sondern nach der zum damaligen Zeitpunkt
gültigen Parität ausglichen. Da seit Anfang 1975 eine ständige Abwertung der
türkischen Währung stattfand, waren insbesondere die Holdings bemüht, sich in den
europäischen Währungen zu verschulden, um dadurch bei jeder Abwertung hohe
Gewinne zu sichern 25. Binnen zweier Jahre wurden mehr als 2 Mrd. US-Dollar in die
Türkei transferiert. Die überteuerten Kredite, die besonders die kurzfristige
Überschuldung des Staates vorantrieben, wurden überwiegend für
Importfinanzierung eingesetzt. So betrug die Höhe "der kurzfristigen Verbindlichkeiten im Jahre 1977 mit mehr als 5 Mrd. US-Dollar das Dreifache der Exporterlöse
desselben Jahres und mehr als die Hälfte der gesamten Auslandsschulden. Knapp
zehn Jahre später, im Oktober 1985, sah der engste Berater Turgut Özals, Adnan
Kaveci, darin den „Inflationsvirus“ der achtziger Jahre 26.
Die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit für türkische Arbeitskräfte in die
Länder der Europäischen Gemeinschaft, geplant für den Zeitraum 1976-1986, wurde
22 Akbank (Hrsg.): Cumhuriyet Dönemi Türkiye Ekonomisi 1923—1978 [Die türkische Volkswirtschaft während
der republikanischen Ära von 1923 bis 1978], Kulturpresse Istanbul 1980, S. 240.
23 Vgl. State Planning Organisation (SPO) (Hrsg.): Dünya'da ve Türkiye’de Tekstil Sanayii [Textilindustrie global
und in der Türkei], Ankara, Juli 1985, S. 214, Tab. 111—33.
24 Die Hintergründe und Funktionsweise dieses Verschuldungssystems werden ausführlich von Kafaoglu
ausgearbeitet. Vgl. Kafaoglu, A.B.: DÇM Dosyasi Türkiye Ekonomisinde Skandallar — l [Akte über CTLD,
Skandale in der türkischen Volkswirtschaft, Serie 1], Ankara 1986.
25 Vgl. ebenda, S. 49 ff.
26 Vg l. Selçuk, I.: „24 Ocak ... Baslangicin Sonu veya Sonun Baslangici [24. Januar. Ende vom Anfang oder
Anfang vom Ende], in: Selçuk, I. u.a. (Hrsg.): „Isbitiren Ekonomi“, l.iberalism, Devlet Müdahalesi ve 24 Ocak
[„Windige Ökonomie“, Liberalismus, Etatismus und 24. Januar], Istanbul. Januar 1986, S. 15.
372
nicht verwirklicht27. Die erste Stufe sollte bis November 1980 abgeschlossen sein.
Die EG-Länder jedoch kamen den vertraglichen Vereinbarungen nicht nach.
Gleichzeitig gingen die Geldüberweisungen der im Ausland beschäftigten Türken
zwischen 1974 und 1979 rapide zurück, wie aus Tabelle 5 ersichtlich ist.
Tabelle 5: Jährliche Überweisungen der im Ausland lebenden Türken zwischen 1964 und
1986 in 1000 US-Dollar
Jahr
1964
1965
1966
1967
1968
1969
1970
1971
1972
1973
1974
1975
Betrag
8,1
69,8
115,3
93,0
107,3
140,6
273,0
471,3
740,1
1183,2
1426,3
1312,3
Jahr
1976
1977
1978
1979
1980
1981
1982
1983
1984
1985
1986
Betrag
983,7
981,8
983,0
1694,6
2071,0
2489,7
2170,8
1553,6
1881,0
1774,2
1696,0
Quellen: SPO, SIS und TÜSIAD und The Istanbul Chamber of Commerce (Hrsg.): Economic
Reports, Mai 1986 und 1987, S. 94 und S. 128.
Die chronisch gewordene Devisenknappheit führte zur Erschwerung der Importe,
insbesondere in den Jahren 1977-1979. Die auslandsabhängige Industrie konnte aufgrund mangelnder Einfuhren von Zwischenprodukten und Investitionsgütern nur
unzureichend ausgelastet werden, obwohl die stetig zunehmende Nachfrage durch
eine galoppierende Inflation und Erweiterung der Geldmenge sich noch verstärkte28.
Durch die Duldung (oder drastischer formuliert: die Unfähigkeit zur Kontrolle)
des Devisenschwarzmarktes gingen nach einer Schätzung im ersten Halbjahr von
1978 ca. 2,252 Mio. US-Dollar in andere Kanäle. Diese Gelder stammten u.a. von
den „Auslandstürken“, den Touristen und Unternehmen, die ihre Gewinne nicht
transferierten. Im gleichen Zeitraum waren die Deviseneinnahmen des Staates mit
2,112 Mio. US-Dollar zu beziffern.
Die geringe Bereitschaft zu einer grundlegenden Änderung der
auslandsabhängigen Industrialisierung und zur Beseitigung der Reste der
Feudalstruktur verursachte politische Instabilität. Die Regierenden neigten damals
wie heute, wie in allen anderen Entwicklungsländern auch, mangels eigener stabiler
Klassenbasis zu einer Interessenkoalition mit der „metropolitanen Bourgeoisie“29.
Ihnen kommt dann die Rolle zu, die stetigen und hohen Erträge der Metropolen zu
garantieren und dem Sicherheitsbedürfnis dieser gerecht zu werden
(Frühwarnsysteme und Horchposten an der Grenze zur UdSSR). Daher kommt jeder
Versuch von politischen Gruppen zur Systemveränderung
27 Vgl. Gümrükçü, H.: Beschäftigung und Migration in der Türkei unter Berücksichtigung der Auswirkungen auf
die Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. vom Institut fü r Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung (1AB) der Bundesanstalt für Arbeit, Reihe Beitrag 104, Nürnberg 1986, S. 126 f.
28 TÜSIAD (Hrsg.): Türkiye’de Enflasyon ve Enflasyon ile Savasta Basan Kosullari [Die Inflation in der Türkei
und die notwendigen Voraussetzungen, um sie zu bekämpfen), Pub. Nr. TÜSIAD-T/86.7.90, Istanbul, Juni
29 198“, S. 10. Die Definition dieses Begriffes findet sich bei R. Telzlaff. Nach ihm wird darunter „der
internationale Währungsfonds und die Weltbank; die Staatsadministrationen in den Metropolen; das
internationale private Business, nämlich multinationale Konzerne, multinationale Banken und technische
Servicegesellschaften“ verstanden. Vgl. Tetzlaff, R.: Staat und Klasse in peripher-kapitalistischen
Gesellschaftsformationen — Die Entwicklung des abhängigen Staatskapitalismus in. Afrika, in: Verfassung
und Recht in Übersee, 10. Jg., Hamburg 1/1977, S. 47.
373
374
einem selbstinitiierten Scheitern gleich und führt zu verschärften innenpolitischen Auseinandersetzungen und Gewaltanwendung. Der ehemalige Oppositionsführer B. Ecevit sprach
im Juni 1980 von einem Bürgerkrieg30 .
In der Türkei entstand eine bürokratische Bourgeoisie, die den Produktionsprozess leitet,
aber nicht als Besitzern von Produktionsmitteln das Risiko trägt. Zu ihr gehören diejenigen,
die dem herrschenden politischen Establishment nahe stehen, und ihre Auswahl erfolgt daher
selten nach fachlichen Gesichtspunkten31 . So wurden zur Zeit der Bayar/MenderesRegierung (1950-1960) Führungspositionen als „kleine Aufmerksamkeiten“ an Freunde
vergeben. Diese Art der Korruption entwickelte sich besonders während der Regierungszeit
der „Nationalistischen Front“ (1975-1978), so dass schließlich nicht nur die
Direktorenposten, sondern auch die einfachen Arbeitsplätze nach diesem Prinzip besetzt
wurden. Die daraus resultierende Inkompetenz der Führungskräfte auf allen Ebenen
verursacht schwerwiegende Fehlentscheidungen und führt des öfteren zu administrativer
Irrationalität. So wurden die wachsenden Defizite der Staatswirtschaftsbetriebe von der
Zentralbank ausgeglichen. Der Wert ihrer Produktion betrug 1979 300 Mrd. TL, während die
Betriebsverluste mit ca. 190 Mrd. TL angegeben wurden32 .
Zudem haben die Lohnerhöhungen ohne Produktivitätszuwachs und die Milliarden
unproduktiver Staatsausgaben die Talfahrt der Wirtschaft beschleunigt, was u.a. zu einer
galoppierenden Inflation geführt hat, die immer noch andauert.
Die reale Wachstumsrate der Türkei stieg von 1970 bis 1979 um 65 %, während die
Emissionsrate in der genannten Zeit 1200 % erreichte. Das Geldvolumen erhöhte sich auch
auf 1165 % bei sinkender industrieller Produktion. (Sie sank zwischen 1978 und 1980 von
209 Bill. TL auf 206 Bill. TL.) Diese Entwicklung lässt sich in Tabelle 6 vergleichend
verfolgen.
Tabelle 6: Die Entwicklung von ßSP, Emissionsrate, Geldmenge und Preisen im Zeitraum 1970—1980
Jahr
1970
1972
1974
1976
1977
1978
1979
1980
BSP
100
118
134
155
161
166
165
163
Emissionsrate
100
144
236
374
559
817
1304
1983
Geldvolumen
100
151
255
430
597
807
1265
1999
Preise
100
136
214
272
337
509
834
1728
Quelle: TÜSIAD (Hrsg.): Türkiye'de Enflasyon ve Enflasyon ile savasta basari kosullari [Die Inflation in der Türkei und
die notwendigen Voraussetzungen, um sie zu bekämpfen], Pub. Nr. TÜSIAD-T/ 86.7.90, Istanbul, Juni 1986, S. 10,
Tab. 3.
Die aufgeblähte Geldmenge ohne ein adäquates Wachstum des realen Sozialproduktes ist
nach Auffassung der Monetaristen als die Ursache inflationärer Preissteigerungen anzusehen.
30 Vgl. N.N.: „Komiteler ne Çalisior ne Yapiiyorlar?“ [Wie arbeiten und was machen Komitees?“] in: Yanki [Echo-DieWochenzeitschrift],Ankara,
9.—15. Juni 1980, S. 8.
31 Vgl. N.N.: „Die türkische Wirtschaft steckt im Morast“, in: Der Spiegel, 34. Jg., Nr. 19, Hamburg, 5. Mai 1980, S. 164—170, hierzu S. 170.
32 Vgl. TÜSIAD (Hrsg.): 1980 Yilina Girerken Türk Ekonomisi [Die türkische Volkswirtschaft an der Schwelle von 1980), Istanbul 1980, S. 12.
Dabei konzentrierte sich die wachsende Geldmenge aufgrund der sehr ungleichen Verteilung
von Vermögen und Einkommen in wenigen Händen und führte zum Ankauf und zur Hortung
der ohnehin knappen Waren und damit zu einer künstlichen Preissteigerung. Diese
Entwicklung erfuhr durch sinkende industrielle Produktion einen weiteren Schub und führte
zu einer noch stärkeren Verknappung des Warenangebotes. Die monopolähnliche
Industriestruktur der Privatwirtschaft (an die 406 größten Privatfirmen der Türkei gingen
1985 53 % der Umsatzrendite und 58 % der Gewinne an nur 25 Familienholdings)
ermöglichte es den Großfirmen, einen Konkurrenzkapitalismus zu vermeiden, so dass sie in
dieser Lage Extraprofite sichern konnten.
Neben diesem offiziellen Kapitalismus hatte sich auch ein „Gangsterkapitalismus“
etabliert. Er fand seinen Ausdruck in illegalen Export- und Importgeschäften, BakschischWirtschaft, Raub, „Schutzgebühren“ etc. (letztere wurden u.a. in sogenannten
Befreiungsgebieten an die „Straßengangster“, die ihre Erpressungen politisch begründeten,
geleistet)33 . Die sich passiv verhaltende Regierung verlor als Folge davon die Steuerungskontrolle über die wirtschaftlichen und damit auch über die politischen Prozesse.
4. Die Inflationsentwicklung seit den Januar-Beschlüssen von 1980 und ihre
Bekämpfung
4.1 Die Januar-Beschlüsse als Grundlage der Inflationsbekämpfung 4.1.1 Die
konzeptionelle Grundlage
Über ein Jahrhundert hindurch galt die Türkei als der „kranke Mann am Bosporus“34 ; der
Terminus „türkische Krise“35 wurde ein Synonym für Identitätsprobleme, ethnische und
religiöse Spannungen und konfliktgeladene Sozialbeziehungen sowie nachlassende
ökonomische Leistungskraft mit steigender Auslandsverschuldung.
Während der Nachkriegszeit hinkte die BIP-Entwicklung der Türkei dem Durchschnitt der
EG-Länder, der Nachbarn auf dem Balkan, aber auch dem etlicher arabischer Staaten
hinterher (Ausnahmen: Ägypten, Marokko, Süd- und Nordjemen sowie Sudan). Sie lag im
Jahre 1985 mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 1080 US-Dollar an 66. Stelle der
Weltrangliste36 und damit weit hinter den obenerwähnten Ländern, obgleich sie zum Ende
des Zweiten Weltkrieges einen Platz unter den ersten zwanzig eingenommen hatte.
Stellt man einen Vergleich mit den BIP-Entwicklungen der westeuropäischen und EGSüdländer zwischen 1960 und 1984 an, so wird ersichtlich, dass das Entwicklungsniveau
zwischen diesen Ländern und der Türkei noch extremer auseinander klaffte, wie anhand
Tabelle 7 festzustellen ist.
Von 1965 bis 1985 nahm die durchschnittliche jährliche Inflationsrate der EGElfergemeinschaft (Luxemburg ausgenommen) um 8,1 % zu und lag damit um weit mehr als
ein Drittel niedriger als die Inflationsrate der Türkei, die für diesen Zeitraum
33 Vgl. Bolutoglu, K.: Bunalim ve Cikis; [Krise und Ausweg], Ankara 1980, S. 22 f.
34 Ähnlich lautet der Titel eines Buches von Steinbach. Vgl. Steinbach, U.: Kranker Wächter am Bosporus —Die Türkei als Riegel zwischen
Ost und West, Freiburg/Würzburg 1979.
35 So lautet die 1980 vorgelegte Analyse über die Türkei von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Die türkische
Krise, Beiträge eines Expertengespräches da Friedrich-Ebert-Stiftung, 24.—26. September 1980, Nr. 89/90, Bonn 1981.
36 Weltbank (Hrsg.): Weltentwicklungsbericht 1987, Washington D.C., August 1987, S. 226 f.
Tabelle 7: Vergleich der BIP-Entwicklung in den EG- und EG-Südländern mit der Türkei in Mio. US-Dollar
Länder
Steigerungsrate des BIP I960
Gemeinschaft der Neun
Bundesrepublik Deutschland
Frankreich
Dänemark
Belgien
Niederlande
Luxemburg
Großbritannien
Italien
Irland
EG-Südländer
Spanien
Portugal
Griechenland
Türkei
1980
1984 zwischen I960 und 1984 in Ufo
72 100
60060
5 900
11 280
11 010
—
71 380
37 190
1 170
819 140
651 890
66380
116480
167 630
—
522 850
393 950
17 800
613 160
489 380
54640
77 630
132600
—
425 370
348 380
18270
8,50
8,14
9,26
6,88
12,04
—
5,95
9,36
15,61
10350
2340
3 110
8 820
198 320
21 930
35 650
53 820
160930
19060
29550
47460
15,54
8,14
9,50
5,38
Quelle: Weltbank (Hrsg.): Weltentwicklungsberichte 1982 und 1986, S. 122 f. und S. 210 f., sowie eigene Berechnungen.
im Durchschnitt 28,9 % p.a. betrug37.
Auch litt die Türkei in der letzten Dekade stärker als andere OECD-Länder unter der
„Stagflation“. Das Land erlebte im vergangenen Jahrzehnt sowohl eine akzelerierte
Inflation, die noch heute andauert, als auch eine zunehmende Arbeitslosigkeit, die ihren
Kulminationspunkt noch immer nicht erreicht hat38. Diese Prozesse wurden von
chronischen Zahlungsbilanzproblemen und wiederkehrenden Währungskrisen begleitet.
Erklärtes Ziel der Januar-Beschlüsse von 1980 war es daher, diesen mehrschichtigen
Problemkomplex zu durchbrechen. Als Ausgangspunkt wurde dabei die Reaktionsfähigkeit der Privatindustrie auf finanzielle Anreize genommen. Eine weitere Richtlinie
bildete das Vertrauen in private Unternehmen, die Funktion der gesamtwirtschaftlichen
Steuerung übernehmen zu können.
Mit der Militärintervention vom 12. September 1980 wurden auch die für das Fortbestehen der monetaristischen Wende erforderlichen politischen Grundlagen geschaffen.
Die wirtschaftspolitischen Hauptbestandteile dieser umfassenden Neuorientierung, die
auf IWF-Auflagen zurückzuführen sind, setzten sich dabei aus folgenden ordnungspolitischen Elementen zusammen:39
-Abkehr von einer binnenmarktorientierten Entwicklungsstrategie zur Exportförderung
mittels Subventionierung der Exporte und leistungsfähiger Kredit- und Wechselkurspolitik. Im Rahmen der IWF-Auflagen wurden auch die Importe liberalisiert.
-Reduktion der chronischen Inflation mittels Angebots- und Geldpolitik entsprechend
den Prinzipien des Monetarismus.
-Primäre Bevorzugung des Privatsektors durch Abbau regulierender Vorschriften und
Verringerung direkter staatlicher Eingriffe im Produktionsbereich zugunsten einer
Stärkung marktwirtschaftlicher Ordnungs- und Lenkungsprinzipien; zu diesem Zweck
weitere Förderung des Auslandskapitals und Festsetzung der Preise für Pro dukte der
Staatswirtschaftsbetriebe (State Economic Enterprises -SEE) unter Berücksichtigung des
Marktmechanismus.
37 Die Zahlen wurden, basierend auf den Tabellen des Weltbankberichts 1987, vom Verfasser errechnet. Vgl. auch Tabelle 11
in dieser Abhandlung.
38 Vgl. Gümrükçu, H.: Beschäftigung und Migration in der Türkei ... a.a.O., S. 33 ff.
39 Vgl. Bakanlar Kurulu Kararlan [Beschlüsse des Ministerrates], Beschluß Nr. 8/166 bis 8/184, veröffentlicht in: Resmi Gazete [Staatlicher Anzeiger], Nr. 16880, Ankara, 25. Januar 1980, S. 1-36.
-Sanierung der Staatsfinanzen durch Streichung der Subventionen für die Inlandspreise
von Erdölprodukten und für die Produkte und Dienstleistungen der Staatswirtschaftsbetriebe; ebenso Verringerung des staatlichen Ausgabenzuwachses und
nicht zuletzt die Reduzierung der Haushaltsdefizite.
-Stimulierung der Investitionsbereitschaft durch die Aufhebung der praktizierten
Preiskontrollen in bezug auf den privaten Sektor und damit auch die Auflösung des
Preiskontrollkomitees.
Von diesen konsumtiven Bestandteilen des „Özalism“ werden hier die Ziele der Inflationsbekämpfung und die damit zusammenhängende Inlandsverschuldung und ihre
Rückwirkungen auf die breite Bevölkerung im Zentrum rückblickender Bestandsaufnahme stehen.
4.1.2 Januar-Beschlüsse und Militärintervention
Während die wirtschafts- und ordnungspolitischen Vorstellungen der Monetaristen in
der Türkei in Kreisen der türkischen Industriellen, insbesondere der Großindustriellen,
und im Ausland besonders von IWF, Weltbank und Industrieländern volle Zustimmung
fanden, wurden sie von dem ehemaligen Premierminister und sozialdemokratischen
Oppositionsführer, Bülent Ecevit, harsch kritisiert. Er bezeichnete sie als „trojanisches
Pferd“, das die damals praktizierte pluralistische Demokratie beseitigen sollte40. Der
damalige Premierminister Demirel sah ebenfalls diese Gefahr; gleichwohl wies er
darauf hin, daß er keine andere Wahl hätte, als diese Entscheidungen zu treffen. So
meinte er anläßlich einer öffentlichen Ansprache: „Darüber sind wir nicht erfreut. Wir
finden jedoch, daß es eine patriotische Pflicht ist, diejenigen Rezepte anzuwenden, die
unser Land wieder zum Licht führen könnten.“41
Diese „revolutionären Entscheidungen“42 (so wurden die Januar-Beschlüsse von 1980
von Demirel stets bezeichnet) führten, entgegen seinen Erwartungen, nicht zum
„Licht“, sondern am 12. September 1980 zu einem dritten Militärputsch innerhalb von
zwanzig Jahren in der Türkei. Danach wurden neben der Entdemokratisierung der innenpolitischen Verhältnisse auch die Menschen in der Türkei durch eine permanente
und ausgeklügelte Propaganda-Aktion entpolitisiert. Die damaligen politischen Akteure, darunter Demirel und Ecevit, wurden mit einem politischen Bann versehen, dessen
Aufhebung erst durch ein Volksreferendum am 6. September 1987 erfolgen konnte43.
Dagegen wurde der bis zum 12. September 1980 für Wirtschaftsfragen zuständige
Staatssekretär Turgut Özal nach der Militärintervention von der Junta gebeten, seinen
Wirtschaftskurs weiterzuführen44. Damit war die Existenz der monetaristischen Wende
durch die Militärintervention gesichert. Die führenden Mitglieder der Militärjunta sahen
die Januar-Beschlüsse auch als notwendige Entwicklungsstrategie an, deren Um40 Ecevit wiederholte seine diesbezüglichen Befürchtungen während dieser Zeit ständig. Vg]. dazu u.a. Cumhuriyet vom 29.
Januar 1980.
41 Vgl. dam Ulagay, O.: 24 Ocak Dcneyimi |Dic Erfahrung vom 24. Januar], 2. Aufl. Istanbul 1984, S. 20.
42 Vgl. £ölasan, E.: 24 Ocak, Bir Doncmin Pcrdc Arkasi (Kulisse einer Periode, 24. Januar], Istanbul 1985, S. 127.
43 Die Entdcmokralisierung der innenpolitischen Verhältnisse als Folge der Januar-Beschlüsse und der erneute
Demokratisie-rungsprozcß in der Türkei bilden den Gegenstand eines anderen Aufsalzes, den der Verfasser demnächst
im Rahmen seines Forschungsprojckles vorlegen wird. Daher werden diese Gedankengänge hier nicht weiter vertiert.
44 Die Gründe für die Zusammenarbeit Özals mit den Militärs werden in pölasans Buch ausführlich behandelt. Vgl. COlasan,
E.: 12 Eylul, Özal Ekonomisinin Perdc Arkasi [Der 12. September, Kulisse der özalistischen Ökonomiel, Istanbul 1984,
S. 37 ff.
377
fang noch auszubauen wäre 45. Der Führer der Militärintervention von 1980, Kenan
Evren, äußerte sich bei seiner ersten Pressekonferenz auch zur ökonomischen Krise.
Er betonte, dass, um diese zu beheben, die Unterstützung von seilen der
internationalen Finanzorganisationen und der OECD unumgänglich sei 46. Der
„Wirtschaftszar“ Özal sah wiederum, knapp ein Jahr nach der Militärintervention, in
dieser die erfolgreiche Umsetzung seiner monetaristischen Politik47.
In der Tat brachten das Ausmaß der Krise und der Schock der Militärintervention
ein sozio-politisches Klima hervor, das eine radikale Änderung der verkrusteten
Wirtschaftsstruktur ermöglichte. Die unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten
waren bereit, ihre Gruppeninteressen dem Gemeinwohl unterzuordnen, und zeigten
große Kompromissbereitschaft, um zur Gesundung der Wirtschaft ihren Beitrag zu
leisten.
Dieses gesellschaftliche Potential wurde allerdings dahingehend kanalisiert, die
weitere Entfaltung der Privatinitiative zu fördern. Entsprechend der konservativen
Wirtschaftsphilosophie sollte der persönliche Ehrgeiz zum Nutzen der
Gesamtwirtschaft auf die nationale kulturelle Ebene der Türkei übertragen werden.
Dieser Umdenkungsprozess in der türkischen Wirtschaftspolitik, der sich erst
durch eine konzertierte Auflagenpolitik der IL durchsetzen konnte, ermöglichte der
Türkei die Umschuldungen und den Erhalt von „fresh money“. Dadurch erfolgte ein
rein quantitatives Güterwachstum von 4,9 % im Durchschnitt zwischen 1981 und
1986 und eine weitere, wenn auch undifferenzierte Integration der Türkei in die
Weltwirtschaft.
4.1.3 Die Inflationsentwicklung seit den Januar-Beschlüssen von 1980
Die Krisenkommission unter der Leitung des gegenwärtigen Premierministers
Turgut Özal (damals war er noch als Staatssekretär der Demirel-Regierung für
Wirtschaftsfragen verantwortlich) stellte im Jahre 1980 bei einem Bericht an
Premierminister Demirel eine Prioritätenliste48 zur Lösung der Probleme wie folgt
auf:
a. Reduktion der Inflation,
b. Vermehrung der Deviseneinnahmen,
c. volle Auslastung der vorhandenen Kapazitäten,
d. rasche Hinwendung zur außenhandelsorientierten Politik,
e. Beseitigung des Schwarzhandels und der Engpässe im Warenangebot,
f. Beschleunigung der arbeitsintensiven Investitionen,
g. Verbesserung der Einkommensverteilung, um den Anteil der mittleren
Bevölkerungsschichten an der Gesamtbevölkerung zu vergrößern.
Um diese zum Teil widersprüchlichen Ziele zu erreichen, wurde in
Zusammenarbeit mit dem IWF und dem türkischen Großindustriellenverband
TÜSIAD49 die Reduktion der Inflation auf 10 % das erklärte Ziel der monetaristisch
orientierten Wirtschaftspolitik.
Ausgehend von den Vorstellungen der cost-push-Inflationstheorie wurde der
Lohndruck (wage-push) als Teil des Kostendruckes als primäre Ursache der
Inflation vorgeschoben. Damit werden die Gründe für Preissteigerungen auf
gestiegene Lohnkosten reduziert.
45 Vgl. hierzu Cemal, H.: Tank Sesiyle Uyanmak [Mit dem Panzerlärm geweckt „ erden], Ankara 1986, S. 32 ff.
46 Die Äußerungen Evrens wurden u.a. in H ürriyet vom 17. September 1980 veröffentlicht.
47 Die Äußerungen Özals fielen in der Beratenden Vollversammlung während der Haushaltsdebatte. Vgl. dazu Cumhuriyet
vom 18. Januar 1982.
48 Vgl. Çölasan, E.: 24 Ocak... a.a.O., S. 305 f.
49 Diese Position wurde in den Wirtschaftsberichten der Jahre 1978, 1979 und I9SO des TÜSIAD mitNachdruck vertreten.
Dieser Erklärungsansatz ist von der Unternehmerschaft in der Türkei seit dem Inkrafttreten der Gewerkschaftsgesetze von 196350, in denen die juristischen
Grundlagen für eine freie Gewerkschaftsbewegung geschaffen wurden, des öfteren
wiederholt worden. Es wird dabei davon ausgegangen, dass die Lohnkosten durch
starke Gewerkschaften und die von ihnen vereinbarten Tariflöhne in den siebziger
Jahren derart erhöht wurden, dass es zu einer weiter zunehmenden Preissteigerung
infolge des hohen Lohnkostendruckes kam. Dieser Preisniveauanstieg hätte die
Gewerkschaften wiederum veranlasst, weitere Lohnforderungen zu stellen, die
angeblich in den Jahren vor 1980 weit über der Produktivitätsentwicklung gelegen
und damit zur Etablierung der Dauerinflation geführt haben sollen.
Daraus wurde, den IWF-Auflagen konform, von der Regierung die Konsequenz
gezogen, sich einer strikten Geldmengenpolitik nach monetaristischen Prinzipien zu
verschreiben. Diese besagen, die Reduktion der chronischen Inflation durch ein
stabiles und gedrosseltes Wachstum der Geldmenge zu erlangen. Ergänzt wurde
diese Politik durch eine administrative Lohnpolitik, wodurch die Lohnerhöhungen,
anstatt der freien Tarifautonomie der Sozialpartner überlassen zu sein, durch eine
staatliche Tarifkommission festgelegt wurden51. Aufgrund dieses bis 1984
praktizierten Systems der obligatorischen Schlichtung standen dann zur
Beeinflussung der Gesamtnachfrage zum einen marktgerechte und indirekte Mittel
zur Verfügung, die sich durch die Veränderung des Zinssatzes auf
Investitionsausgaben und durch die Fiskalpolitik auf die Veränderung der
verfügbaren Einkommen und der Staatsausgaben auswirkten. Zum anderen wurden
darüber hinaus marktkonforme Mittel durch weiterreichende Eingriffe abgelöst. Die
Regierung legte danach jeweils ein Jahr im voraus die zu erwartende Inflationsrate
fest. Damit wollte sie nach außen hin ihre Entschlossenheit demonstrieren, einen
höheren Preisanstieg kurzfristig, vielleicht auch mittelfristig zu vermeiden. Außerdem wurden nach diesem System mit einem unkonformen Eingriff in das „freie
Spiel der Kräfte“ die Höchstgrenzen für Löhne und Gehälter der abzuschließenden
Tarifverträge festgesetzt, während eine Preiskontrolle nicht in Erwägung gezogen
wurde.
Im einzelnen kann die Entwicklung der Reallöhne für versicherte Beschäftigte im
Zeitraum von 1963 bis 1986 in Tabelle 8 verfolgt werden.
Zunächst kam es zwar im Jahre 1981 zu einer Inflationsreduktion auf 36,8 %
gegenüber 107,2 % im Vorjahr52. Zur weiteren Verringerung der Inflationsrate
wurden im Wirtschaftsprogramm von 1981 u.a. neben den Instrumenten der
Geldmengenpolitik die Steigerung der Spartätigkeiten der Haushalte, die rationale
Monetarisierung der Wirtschaft sowie eine funktionsfähige, selektive Kreditpolitik
eingesetzt 53. Danach schwächte sich der Preisauftrieb während der folgenden zwei
Jahre auf nur 31,4 % ab, um dann jedoch im Jahre 1984 erneut auf 48,4 %
hochzuschnellen. Im Jahre 1985 sank die Inflationsrate auf 45,0 % und im Jahre
1986 auf 34,6 % ab. Für 1987 wird von einer Inflationsrate von über 40 %
ausgegangen.
Dieser Fehlschlag der offiziellen Anti-Inflationspolitik ist u.a. durch die nicht
kontrollierten Preisentwicklungen zu begründen. Die Unternehmen, selbständigen
Händler
50 Die Entfaltung und Fortentwicklung der Gewerkschaften in der Türkei wurde vom Verfasser in zwei Aufsätzen
herausgearbeitet. Vgl. dazu Gümrükçü, H.: Die Gewerkschaftsbewegung in der Türkei, ein historischer Abriss, in:
Orient, 22. Jg., Nr. 3, 1981, S. 450-470. Dcrs.: Gewerkschaften in der Türkei, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 33.
Jg., Heft 9, Düsseldorf 1982. S. 580-591.
51 Vgl. ebenda, S. 588.
52 25 % dieser Inflationsrate werden auf die durchgeführten Maßnahmen der Stabilitätsprogramme zurückgeführt.
53 Vgl. Kurt, I.: „ Para Kredi Politikamiz ve Türk Sanayii“ [Geld- und Kreditpolitik und die türkische Industrie], in: Ankara
Sanayii Odasi [Industriekammer Ankara) (Hrsg.), 1981'den 1982'ye Türkiye Ekonomisi Semineri Symposium zur
türkischen Ökonomie von 1981 bis 1982), Ankara, am 26./27. März 1982, S. 39-51, hierzu S. 41.
Tabelle 8: Reallöhne für versicherte Beschäftigte im Zeitraum 1963—1986
Jahr
Durchschnitt der
Nominallöhne pro Tag
Index der
Lebenshaltungskosten
Reallöhne in TL
Reallohnindex
1963
1964
1965
1966
1967
1968
1969
1970
1971
1972
1973
1974
1975
1976
1977
1978
1979
1980
1981
1982
1983
1984
1985
1986
17,91
19,50
21,64
23,43
25,83
28,27
32,13
35,32
39,32
43,88
54,41
68,21
85,55
115,30
146,53
207,93
294,31
426,96
543,84
691,03
944,37
1 307,08
1 734,00
2 202,18
100,0
100,2
104,8
113,6
129,6
137,6
144,2
155,6
185,2
213,7
243,6
301,8
365,8
429,6
541,3
876,3
1 433,1
2784,1
3 831,2
5 083,0
6 548,7
9 533,8
13 823,7
18 435,3
17,91
19,45
20,65
20,63
19,93
20,55
22,28
22,70
21,23
20,53
22,34
22,62
23,39
26,84
27,07
23,74
20,54
15,34
14,20
13,88
14,42
13,71
12,54
11,95
100,0
108,6
115,3
115,2
111,3
114,7
124,4
126,7
118,5
114,6
124,7
126,3
130,6
149,9
151,1
128,8
114,7
85,7
79,3
77,5
97,3
76,5
70,0
66,7
Quellen: SIS, Sozialversicherungsanstalt der Türkei (SSK), sowie Untersuchungen der Gewerkschaft
Petrol-İş.
und Handwerker, privaten Kreditgeber, Immobilien- und Grundstücksmakler etc.
richteten ihre Gewinnerwartungen auch nicht freiwillig nach der von offizieller Seite
erklärten rückläufigen Inflationsrate, um damit ihrerseits einen Beitrag zu mehr
Preisstabilität zu leisten. Folglich lag Ende des Jahres die tatsächliche Inflationsrate,
trotz der drastischen relativen Verarmung der Lohnabhängigen, weit über der
angekündigten, wie auch aus Tabelle 9 vergleichend entnommen werden kann.
Tabelle 9: Soll- und Ist-Zahlen der Inflationsrate zwischen 1982 und 1987
Jahr
Soll-Zahlen in %
Ist-Zahlen** in %
1982 1983 1984 1985
1986 1987
25,0 20,0 25,0 25,0 25,0 20,0
27,0 31,4 48,4 45,0 34,6 39,7*
* Diese Zahl wurde entnommen aus den Angaben des Schatz- und Handelsministeriums vom
Oktober 1987. ** Es handelt sich um die Indizes der Lebenshaltungskosten nach S/S.
Dieser auf die Lohnkostensteigerung gestützte Erklärungsansatz wurde in den
Türkei-Berichten der OECD noch im Jahre 198454 vertreten. Danach nahmen
sowohl die OECD55 als auch der Großindustriellenverband TÜSiAD56 davon
Abstand.
54 OECD (Hrsg.): Turkey, Paris 1984.
55 Vgl. ders. (Hrsg.): Turkey, Paris. Mai 1985, S. 8 und S. 35 f.; vgl. ders. (Hrsg.): Turkey, Paris 1986, S.
10 f.'
56 Vgl. TÜSİAD (Hrgs.): Türkiye'de Enflasyon ve Enflasyon ile Savaşta Başarı Kosulları, a.a.O.
380
Nach einer TÜSİAD-Studie wurde der Anteil der Arbeitskosten — d.h. neben
Löhnen und Gehältern alle damit zusammenhängenden Kosten für den Arbeitgeber
— an der Preisentwicklung der verarbeitenden Privatindustrie zwischen 1980 und
1984 mit 10,72 % angegeben57. Ebenso war der Anteil der Arbeitskosten an der
Produktion seit 1979 permanent rückläufig und betrug 1984 mit 7,4 % lediglich die
Hälfte des Jahres 197958. Dagegen wird von Kopits, einem Mitarbeiter des IWF,
behauptet, dass »das reale Einkommen der Arbeitnehmer (nach Steuern und
Transfers) jährlich um etwa 3 % im privaten Sektor und um fast 5 % im öffentlichen
Sektor gestiegen«59 sei.
Diese Behauptung wird von seilen der Istanbuler Industriekammer (Istanbul
Sanayii Odası = ISO) widerlegt. Nach einer Studie über die 500 industriellen
Großunternehmen des Landes, von denen 407 zur Privatwirtschaft gehören, nimmt
der Anteil der Löhne und Gehälter an der Umsatzrendite seit 1983 ab, während im
gleichen Zeitraum der Anteil der Zinsen um mehr als ein Drittel angestiegen ist.
Diese Entwicklung kann im Detail in Tabelle 10 verfolgt werden.
Tabelle W: Verteilung der Urnsatzrendite in 407 privaten Großunternehmen der Türkei für den
Zeitraum 1982—1986 in %
Kostenentwicklung
— Anteil der Löhne und Gehälter
an der Umsatzrendite
— Anteil der Zinsen an der
Umsatzrendite
— Anteil der Miete an der
Umsatzrendite
Gewinnentwicklung
— Anteil der Gewinne an der
Umsatzrendite
1982
1983
1984
1985
1986
42,5
42,7
38,8
39,4
36,6
31,0
29,9
33,1
36,2
45,1
0,6
0,5
0,7
0,7
0,7
26,1
26,9
28,0
23,7
21,6
Quelle: Istanbul Sanayii Odası [Istanbuler Industriekammer] (Hrsg.): Türkiye'nin 500 Büyük
Sanayi Kuruluşu [Die 500 Großindustrieunternehmen in der Türkei], Istanbul. Oktober
1987. Die Zahlen wurden vorn Verfasser errechnet.
Die Aussage von Kopits wird auch durch eine Untersuchung von Özmucur60, Dozent an der Boğaziçi-Universität, widerlegt. Ihm zufolge ging der Anteil der Löhne
und Gehälter am BSP zwischen 1977 — seitdem werden Anpassungsprogramme in
der Türkei angewendet — und 1986 von 36,81 % bis auf 17,70 °7o zurück61.
Dagegen liegt der Anteil in den hoch industrialisierten OECD-Ländern zwischen 65
% und 75 %. In diesen Ländern könnte sich unter Umständen eine Lohnerhöhung,
die größer ist als die Produktivitätsentwicklung, inflationär auswirken. Dieser
Erklärungsansatz ließe sich jedoch aufgrund der andersartigen Wirtschaftsstruktur
der Türkei auf diese nicht ohne weiteres projizieren. Dieses Faktum wurde allerdings
besonders in der seit 1980 angewendeten Wirtschaftspolitik nicht berücksichtigt. Die
in den IL gewonnenen Erkenntnisse bildeten dennoch die Grundlage zur Erklärung
der Inflation und demzufolge zur Ableitung von Handlungsanweisungen zu deren
Überwindung. Daher ist es nicht ver57 Vgl. ebenda, S. III.
58 Vgl. Oil Chemical Rubber Workers Union of Turkey (Petrol-İş) (Hrsg.): Yearbook for 1986, Petrot-İş
Research-13 [Türkisch-Englisch], Istanbul 1987, S. 87.
59 Kopits, G.: Der Anpassungsprozeß in der Türkei ... a.a.O., S. II.
60 Vgl. Özmucur, S.: Milli Gerlirin Üç Aylık ... a.a.O.
61 Vgl. ebenda, S. 79, Tabelle 5.
381
wunderlich, wenn die zentralen wirtschaftspolitischen Ziele, nämlich die Reduzierung
der Inflationsrate unter die 10 % Grenze und die Stärkung des Mittelstandes, kaum in
diesem achtjährigen Zeitraum realisiert werden konnten.
5. Ungenutzte Chancen zur Inflationsbekämpfung
Die auf Inflationsbekämpfung und Belebung der Marktkräfte gerichtete monetaristische Regierungspolitik, die sich auf die Säulen Angebots- und Geldpolitik stützte, wurde durch eine hohe Zinspolitik und niedrige Löhne sowie durch eine realistische
Wechselkurspolitik ergänzt. Diese monetaristischen Maßnahmen wurden durch die Politik der Exportförderung und Steuerreform erweitert. Dadurch sollten strukturelle Änderungen in der Wirtschaft realisiert und die Inflation auf ein »akzeptables« Niveau
reduziert werden.
Nach sechsjährigem »monetaristischen Experiment« waren 1986 auch alle Zeichen
für eine drastische Reduktion der Inflation gegeben. In diesem Jahre gingen die
Ölpreise auf globaler Ebene von 25-26 US-Dollar je Barrel zeitweise bis auf 10 USDollar zurück. Inzwischen haben sich die Preise bei 18 US-Dollar je Barrel stabilisiert.
Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Preiserhöhungen für Erdöl und Erdölprodukte in der
Türkei als ein wesentlicher Grund für die Teuerungen der übrigen Produkte angegeben
worden. Während des nun einsetzenden Preisverfalls der Erdölprodukte gingen zwar
ihre Preise in der Türkei nicht zurück, blieben jedoch im Ganzen stabil. Die dadurch
ersparten Devisenausgaben von 1,5 Mrd. US-Dollar62 führten zur Verlangsamung der
Abwertungen der Türkischen Lira gegenüber dem US-Dollar.
Neben dem Rückgang der Preise für Erdöl und Erdölprodukte ging auch die Last der
Zinsen um 304 Mio. US-Dollar zurück63. Die Preise der importierten Waren auf
Weltebene blieben weitgehend konstant. Dadurch hätte auch der Druck der importierten
Inflation nachlassen müssen. Da aber die türkische Währung gegenüber den Leitwährungen der IL ständig abgewertet wurde, erhöhte sich eher noch der Druck auf die
Inflationsrate der türkischen Wirtschaft.
In Tabelle 11 wird die Änderung der türkischen Währung gegenüber dem US-Dollar
seit der Gründung der Türkischen Republik 1923 verfolgt. Besonders auffällig sind hier
die Abwertungen seit Einführung des monetaristischen Wirtschaftskurses von 1980.
Außerdem lag die BSP-Entwicklung auf dem Agrarsektor 1986 mit 7,6 % auf dem
höchsten Niveau der letzten Jahrzehnte64. Die Preisaufschläge auf die landwirtschaftlichen Erzeugnisse stiegen zwar von 1979 bis 1986 bis auf das 12,5fache, während die
Inputkosten das 25,3fache betrugen. Damit bleibt das Realeinkommen der Landwirte
für diesen Zeitraum weit hinter der Inflationsentwicklung zurück.
Zudem ging der Exportanteil am BSP von 15,1 % (1985) auf 12,8 % (1986)65 zurück,
so dass das Warenangebot für den Binnenmarkt hätte steigen müssen. Folglich müssten
die angebotsbedingten Preisauftriebstendenzen möglichst klein gehalten werden. Auch
lagen die Lohn- und Gehaltserhöhungen weiterhin unter dem Niveau der Inflationsrate,
so dass eine nachfrageinduzierte Inflation kaum zu erwarten war.
Die Chancen zur Inflationsbekämpfung wurden jedoch nicht in dem Maße wahrge62 Vgl. N.N.: »Petrol Fiyat ve Borç Faizleri« [Preise für Erdölprodukte und Zinsen für Auslandsverschuldung], in: Cumhuriyet vom 21. Juni 1987.
63 Vgl. ebenda.
64 Vgl. SPD (Hrsg.): Temel Ekonomik Göstergeler [Grundlegende ökonomische Zahlen), Ankara 1987, S. 3.
65 Vgl. TÜSIAD (Hrsg.): 1987 The Turkish Economy, Istanbul 1987, S. 86.
382
Tabelle 11: Die Änderung der türkischen Währung gegenüber dem US-Dollar seit der Proklamation der
Türkischen Republik von 1923
Zeitraum
Dollar-Wechselkurs der Türkischen Lira
0,80
1,31
2,80
9,30
35,00
47,00
70,00
99,80
273,50
280,00
593,00
678,82
783,90
803,40 ( 817*)
880,25 (1036*)
-
1931
-08.09.1946
09.09.1946-03.08.1958
04.08.1958-09.08.1970
10.08.1970-11.06.1979
12.06.1979-24.01.1980
25.01.1980-01.04.1980
02.04.1980-01.05.1981
02.05.1981-01.12.1983
02.12.1983-31.12.1983
01.01.1984-04.03.1986
05.03.1986-11.07.1986
12.07.1986-02.04.1987
03.04.1987-12.05.1987
13.05.1987-29.10.1987
* Freie Wechselkurse.
Quellen: Angaben der Türkischen Zentralbank und Cumhuriyet vom 15. Mai und 29. Oktober 1987.
nommen, wie von offizieller Seite verkündet. Die Inflationsrate konnte nicht auf das
erklärte Ziel von 10 % reduziert werden. Bei einem Vergleich der Inflationsentwicklung
in den EG- und EG-Südländern sowie der Türkei nimmt diese mit größtem Abstand ein
kaum »akzeptables« Niveau ein, wie in Tabelle 12 zu verfolgen ist.
Tabelle 12: Vergleich der Inflatlionsentwicklung in den EG- und EG-Südländer mit der Türkei
Länder
Gemeinschaft der Neun
Bundesrepublik Deutschland
Frankreich
Dänemark
Belgien
Niederlande
Luxemburg
Großbritannien
Italien
Irland
EG-Südländer
Spanien
Portugal
Griechenland
Türkei
Durchschnittliche jährliche Inflationsrate in %
1965-1980
1980-1985
5,1
8,0
9,2
6,5
7,5
4,0
11,2
11,2
11,9
3,2
9,5
8,1
5,9
3,5
6,3
6,4
14,2
10,8
12,2
11,7
10,3
20,8
12,6
22,7
20,6
37,1
Quelle: Wellbank, Weltentwicklungsbericht 1987, S. 226 f. und S. 293.
Die Türkei wurde damit trotz aller wirtschaftlichen, politischen und militärischen
Bündnisse mit der industrialisierten Welt und trotz ihrer geographischen Nähe von deren wirtschaftlicher Stabilität kaum positiv beeinflusst.
Folglich nimmt die Türkei trotz scheinbarer Anti-Inflationspolitiken mit einer Inflationsrate von 37,1 % zwischen 1980 und 1985 nicht nur unter den EG- und OECDLändern die Spitzenposition ein, sondern auch unter ihren Nachbarländern und in der
383
arabischen Welt. Unter den von der Weltbank untersuchten 128 Ländern, die nach ihren Zins- und Preissteigerungen eingestuft wurden, lag die Türkei an 120. Stelle66.
6. Die Umschwenkung in der Politik der Inflationsbekämpfung
Im Jahre 1986 stand die Regierung vor der Alternative, entweder eine Politik der Inflationsbekämpfung mit weiteren Maßnahmen — wie oben kurz angedeutet —
einzuleiten oder aber die Inflation als Mittel zur Beschleunigung des Wachstums
einzusetzen.
Ersteres würde eine neue Inflationsdiagnose erforderlich machen und besonders die
überhöhten Gewinnansprüche der Unternehmen, die vor allem im Urbansektor
(städtischindustrieller Bereich) durch einen relativ hohen Monopolisierungsgrad
gekennzeichnet sind67, begrenzen müssen. Das hätte nicht nur ein Verprellen der
Unternehmerschaft zur Folge, sondern auch eine Abschwächung des
Wirtschaftswachstums (bzw. Nullwachstum)68 und die Steigerung der Arbeitslosigkeit.
Deshalb entschloss sich die Regierung zu einer inlandsorientierten Wirtschaftspolitik.
Etwaige Maßnahmen zur Preisniveaustabilisierung wurden danach, entgegen der erklärten Anti-Inflationspolitik, durch die starke Ankurbelung der Inlandsnachfrage mittels intensiverer Investitionsförderungspolitik und den steigenden privaten Verbrauch
ersetzt. Durch diese zum Teil wahlpolitisch bedingte wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik wurde zwar ein beachtliches Wachstum des BSP von 8 % erzielt. Diese überdurchschnittliche Dynamik der türkischen Ökonomie schlug sich jedoch nicht auf die
Ausfuhren der Industrie nieder. Der Exportanteil am BSP ging 1986 im Vergleich zum
Vorjahr sogar um 3 % zurück. So mussten zur Finanzierung der Wirtschaftspolitik —
neben der Zunahme der Auslandsverschuldung, die sich von 1985 bis 1986 um weitere
6,252 Mrd. US-Dollar erweiterte69 — die bereits erwähnten Beträge von 1,5 Mrd. USDollar eingesetzt werden, die nach dem Rückgang der Preise für Erdöl und Erdölprodukte zur Verfügung standen. Als ein weiteres Mittel zur Finanzierung wurde zum ersten Mal die Inlandsverschuldung als wirtschaftspolitische Maßnahme eingesetzt, auf
die im Anschluss ausführlich eingegangen wird.
Inlandsverschuldung lag im Jahre 1985 bei 997 Mrd. l TL und 1986 bei 1,426 Bill. TL7',
um bis Ende 1987 auf 4,5 Bill. TL zu steigen72. Parallel dazu erfolgte die sprunghafte
Zunahme der F Zahlungsverpflichtungen. Während sie 1985 nur bei 197 Mrd. TL lagen,
stiegen sie ein Jahr später auf 579 Mrd. TL, um 1987 gar die Billionengrenze zu
erreichen73.
Ebenso überstieg das türkische Haushaltsdefizit bereits 1986 die Billionenmarkierung.
Die Ursache hierfür findet sich zum Teil bei dem rapide verminderten
Körperschaftssteueraufkommen, da eine beträchtliche Zahl der Selbständigen der
Steuerprogression bei steigenden Gewinnen zu entkommen sucht. Der Anteil der
Körperschaftssteuer am BSP ging dabei von 11,4 °7o (1981) auf 7,6 % zurück74. Das
eigentlich zu erwartende Aufkommen hätte im Jahre 1986 um 1,6—2 Bill. TL höher
liegen müssen75.
Ungeachtet dieses Fehlbetrages wurde ein Nachfrageboom gefördert, und die Haushaltsausgaben mussten infolgedessen weit über die geplante Höhe hinaus ausgedehnt
werden. So wurden 19 % der Haushaltsausgaben mittels Inlandsverschuldung bestritten76. Ihr zeitlicher Verlauf und ihre Anteile am Haushalt und am BSP können in Tabelle 13 vergleichend verfolgt werden.
Tabelle 13: Entwicklung der Inlandsverschuldung und ihre Zusammensetzung sowie ihr Anteil an den Haushaltsausgaben und am BSP
Jahr
1981
1982
!983
1984
1985
1986
Einnahmen aus
Schatzbriefen und
Schuldverschreibungen in Mrd. TL
88
130
109
421
731
1170
Kurzfristige
Staatsanleihe
in Mrd. TL
4
33
72
188
266
256
Anteil der
emittierten Staatspapiere am Haushaltsvolumen in %
6,0
10,0
6,9
16,0
18,0
17,0
Anteil der
emittierten Staatspapiere am BSP
in %
1,4
1,9
1,6
3,3
3,6
3,6
Quellen: TÜSİAD: İç Borçlanma Durum ve Sorunlar, Pub. Nr. TÜSİAD-T/87.5.10, Istanbul, Mai 1987, und
Cumhuriyet vom 3. Juni 1987.
6.1 Inlandsverschuldung und ihre inflationäre Auswirkung
Die starke Ankurbelung der Binnennachfrage erfolgte u.a. durch zunehmende Inlandsverschuldung, die auf Rekordhöhe liegt, aber dennoch ihren Kulminationspunkt
noch nicht erreicht hat. Während sie vor der Regierungsübernahme Özals Ende 1983
kaum eine wirtschaftspolitische Maßnahme darstellte, gewann sie danach als eines der
relevanten Instrumente der Geldpolitik eine große Bedeutung70.
Dies diente im keynesianischen Sinne kaum zur Unterstützung der konjunkturellen
Entwicklung, sondern vielmehr dazu, die laufenden Haushaltsdefizite abzudecken. Die
66 Vgl. Weltbank (Hrsg.): Weltentwicklungsbericht 1987, a.a.O., S. 226 f. und S. 293.
67 So steht z.B. der Markt für Automobile, Kühlschränke und Waschmaschinen unter der Kontrolle der KOÇHolding und OYAK-Renault (Wirtschaftsunternehmen der Offiziere). Der Erlös der 46 Unternehmen betrug ca.
10 % des BSP (das türkische BSP lag 1986 bei etwa 55 Mrd. US-Dollar). Vgl. N.N.: »Büyük Şirketler Türkiye
Milli Gerlirinin yüzde 10 unu elde tutuyor« [Die Großunternehmen beherrschen 10 % des türkischen BSP), in:
Cumhuriyet vom 28 September 1987 S. 11.
68 Ein einprozentiges Wirtschaftswachstum soll nach Ansicht eines Wirtschaftsexperten der Türkei nur bei einer
fünfprozentigen Inflationsrate zu realisieren sein. Vgl. Cumhuriyet vom 30. November 1986.
69 Vgl. dazu die Daten aus der Türkischen Zentralbank und dem Handelsministerium.
70 Vgl. TÜSİAD (Hrsg.): I{ Borçlanma Durum ve Sorunlar (Situation und Problematik der Inlandsverschuldung]
Pub Nr. TUSİAD-T/87.5.101, Istanbul, Mai 1987, S. 5.
384
Wie den Zahlen zu entnehmen ist, erfährt die interne Verschuldung mittels emittierter
Staatspapiere eine stetige Zunahme. Ihre Steigerung wurde durch höhere Zinssätze
gefördert. So lagen die Zinssätze 1985 bei 53 °7o und 1986 bei 50 Vo77, während die Inflationsrate nach dem Deflator des BSP 43,8 % und 30,9 % betrug78. Diese realen
Zinseinnahmen wurden durch die Steuerbefreiung nochmalig erhöht, so dass die tatsächliche Höhe der Zinssätze bei 70 % lag79. Neben Groß- und Einzelhandelsketten
kauften Banken und etliche Aktiengesellschaften die festverzinslichen Staatsanleihen,
um für ihre erwirtschafteten Gewinne keine Steuern abführen zu müssen80. Die da71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
Vgl. ebenda, S. 7.
Vgl. ebenda. S. 36.
Vgl. ebenda. S. 36.
Vgl. ebenda, S. 8.
Vgl. ebenda, S. 4l.
Vgl. ebenda, S. 8.
Vgl. ebenda, S. 30.
Vgl. Tabelle I in dieser Abhandlung.
Vgl. TÜSİAD (Hrsg.): lç Borçlanma ... a.a.O., S. 25.
Vgl. ebenda, S. 28.
385
durch erzielten Einnahmen bilden inzwischen eine zusätzliche Stutze der inflationären
Entwicklung81.
Die interne und externe Kreditexpansion, die ständig zunehmende Verschuldung der Haushalte
waren und sind die bedrohlichsten Begleiterscheinungen der 1986 dergestalt umgeänderten
Wirtschaftspolitik geworden. Daraus hat die Regierung die Konsequenz gezogen, trotz der
anlaufenden Wahlkampagne (ursprünglich waren die allgemeinen Wahlen für den 1. November
1987 geplant gewesen) ihre Inflationsziele im September 1987 neu festzulegen. Seitdem ist sie
wieder bestrebt, die Inflationsrate bis zum Jahre 1992 der 10 % Grenze anzunähern82.
Dagegen geht I. Bodur, Vorsitzender der Istanbuler Industriekammer, realistischerweise von
einer Inflationsrate bis zur Jahrtausendwende aus, die über dem Durchschnittsstand der EGLänder liegen würde. Ziel sollte es daher sein, bis zum Jahre 2000 die Inflationsrate auf ein Niveau
zu reduzieren, das vom durchschnittlichen EG-Niveau nicht nennenswert abweicht83.
7. Abschließende Bemerkungen
Die Hintergründe der türkischen Krise lassen sich letztlich auf eine profitorientierte
Industrialisierung und die von den Interessen der IL getragene Entwicklungspolitik, deren
Anfänge nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht wurden, zurückführen. Seit dieser Zeit wird, um
die Unterentwicklung effektiv zu bekämpfen, eine intensivere Integration der türkischen
Volkswirtschaft in das Weltwirtschaftssystem angestrebt. Sie führte jedoch nicht zu dem
erwarteten Effekt einer rapiden Beschleunigung des Wirtschaftswachstums mit der
letztendlichen Folge der Beseitigung von Massenarmut und Massenarbeitslosigkeit, sondern
bewirkte eine der schwersten Krisen der Republik Türkei seit ihrer Gründung im Jahre 1923. Um
ihre negativen Auswirkungen auf die ökonomische Lage der Unternehmen in Grenzen zu halten,
wurde die bis dahin praktizierte Wirtschaftspolitik der importsubstituierenden Industrialisierung
durch monetaristische Maßnahmen und durch die Politik der Exportsteigerung ersetzt. Diese
nachfragesenkenden Deflationspolitiken verursachten sehr hohe Anpassungskosten, ohne dass das
angestrebte Ziel realisiert wurde, zumal besagte Strategien für die Gegebenheiten der
entwickelten Volkswirtschaften der IL konzipiert waren. Dagegen weist die Türkei eine für
Unterentwicklung typische Wirtschaftsstruktur auf. Diese beeinflusst insbesondere den sozioökonomischen Bereich in ebenso starkem Maße, wie sie ihrerseits von den kulturellen
Grundlagen der Gesellschaft geprägt wurde.
Die monetaristischen Maßnahmen, deren Umsetzung ohne Berücksichtigung der
strukturellen Gegebenheiten der Türkei erfolgte, konnten die zerstörerischen Auswirkungen der
Unterentwicklung auf das Gros der Bevölkerung daher kaum abmildern. Ihre Umsetzung
erfolgte zudem mittels massiver Unterstützung der IL.
Aus diesem Grunde wurde dem Internationalen Währungsfond (IWF) und der Weltbank, die
letztlich als langfristige Interessenvertreter der IL agieren, auch ein weiter zunehmender Einfluss
auf die Entscheidungen im monetären und fiskalischen Bereich der Türkei eingeräumt. So
bestimmen sie sowohl über die internationale Kreditwürdigkeit
81 Vgl. ebenda, S. 22 ff.
82 Vgl. Dogan, V.: »Özal, Berlin'de Önümüzdeki 5 Yıllık Politikasnı Anlattı: Enflasyona Devam« [Özal sprach in Berlin über seine
fünfjährige Politik: Fortdauer der Inflation], in: Cumhuriyet vom 26. September 1987, S. I.
83 N.N.: »Enflasyon 2000'e sarkacak mı?« [Wird die Inflation bis zum Jahr 2000 andauern?], in: Cumhuriyet vom 28. September 1987,
S. II.
386
und Zahlungsfähigkeit au Türkei als auch über die Entwicklung der Produktivkräfte dieses
Landes. Infolgedessen hat die Türkei nicht nur jeglichen Handlungsspielraum für eine Politik der
Beschäftigungsförderung und damit gerechteren Einkommensverteilung, sondern auch einen
großen Teil ihrer nationalen Autonomie verloren.
Am 24. Januar 1988 wird diese Neuorientierung ihr achtes Jahr erreichen. Die organisatorischen, politischen und rechtlichen Änderungen, die als notwendige Grundlagen für den
Erfolg des »Modells« erachtet wurden, konnten durch die Machtergreifung des Militärs vom 12.
September 1980 implementiert werden. Seitdem wurden vor allem Gewerkschaften mittels
staatlicher Repression und judikativer Gewalt unter die Kontrolle der Regierenden gebracht, um
damit den Kapitalverwertungsprozess von Störungen freizuhalten. Es wurden aber auch u.a.
durch die Eliminierung der liberal-demokratischen Verfassungsnormen eine auf
Systemtransformation hinarbeitende legale Opposition, Versammlungsfreiheit, freie
Meinungsäußerung sowie Pressefreiheit mit zahlreichen Auflagen versehen. Die reaktionären
Kräfte zielten damit darauf ab, eine Kurskorrektur nach der Ära der Militärherrschaft zu
verhindern. Mit einer neuen Verfassung, in der die ordnungspolitische Neuorientierung
festgeschrieben wurde, sollten die Gegeneliten ausgeschaltet werden, damit die Politik des
Monetarismus in der Türkei nicht in Frage gestellt wird.
Mittels dieser Schritte konnten dann auch die wichtigsten Prinzipien des Monetarismus für die
Wirtschaftspolitik in die Praxis umgesetzt werden. Dies trifft insbesondere für die Geld-, die
Kapitalmarkt- und die Exportförderungspolitik zu. Hierin war auch die Förderung des
Auslandskapitals eingeschlossen.
Die Erfolge dieser Politiken liegen in der Bildung eines entwickelten Kapitalmarktes durch
Förderung der Ersparnisse und des Auslandskapitals. Zudem wurde seit 1980 nicht nur eine
260 %ige Exportsteigerung realisiert, sondern es stiegen auch die Anteile der industriellen Güter
an den Ausfuhren erheblich an. Dagegen konnte weder die angestrebte Reduktion der Inflationsrate
erreicht, noch die rapide Steigerung der Arbeitslosenzahlen und Verschuldung (intern und extern)
gestoppt werden. Damit findet ein einst von Fanfarenklängen begleitetes Experiment sein
unrühmliches Ende.
Vor diesem Hintergrund wäre es nahe liegend gewesen, dass die Regierung ihre Wirtschaftskonzeption neu überdenken würde. Stattdessen jedoch wird der Misserfolg der
angewendeten monetaristischen Maßnahmen durch eine erneute Politik der »Schockbehandlung«
der Volkswirtschaft noch vor Ende dieses Jahres überdeckt. Die Last trägt wiederum die
Bevölkerungsmehrheit, die unter einer weiteren relativen Verarmung zu leiden hat. Dieser
Sachverhalt wird das Haupthindernis auf dem schwierigen und langen Weg zur vollen Integration
der Türkei in die EG darstellen. Sie könnte daran möglicherweise scheitern.
Abkürzungsverzeichnis
bfai
BIP
BSP
CTLD
DIE
EG
EL
IAB
Bundesstelle für Außenhandelsinformation
Brottoinlandsprodukt
Bruttosozialprodukt
Convertible Turkish Lira Deposits
Deutsches Institut für Entwicklungspolitik
Europäische Gemeinschaft
Entwicklungsländer
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
387
IBRD
IL
ISI
ISO
ITO
IWF
LIBOR
METU
OECD
SEE
SIS
SPO
SSK
TL
ZP
International Bank for Reconstruction and Development = Weltbank
Industrieländer
Importsubstituierende Industrialisierungspolitik
Istanbul Sanayii Odasi = Istanbuler Industriekammer
Istanbul Ticaret Odasi = Istanbuler Handelskammer
Internationaler Währungsfonds
London Inter-Bank Offer Rate
Middle Hast Technical University
Organisation for Economic Cooperation and Development = Organisation für wirt
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
State Economic Enterprise = Staatswirtschaftsbetrieb
Prime Ministry State Institute of Statistics = Staatliches Institut für Statistik
State Planning Organisation = Staatliche Planungsorganisation
Sosyal Sigortalar Kurumu = Sozialversicherungsanstalt der Türkei
Türkische Lira
Zusatzprotokoll zwischen der EG (EWG) und der Türkei 1970
Sabine Schmidtke
Modern modifications in the Shi'i doctrine of the expectation of the Mahdi
(Intizar al-Mahdi): The case of Khumaini
I. Introduction
This study has the aim of considering the position of the Shi'i belief in the Mahdi in the
doctrine of Khumaini.1 This question is of a certain interest for two reasons: on the one hand
this point has been until now mostly neglected in the research dealing with the doctrine of
Khumaini. On the other hand this is easy to understand since one can scarcely find any hint
in Khumaini's writings to the expectation of the Mahdi. If at all, Khumaini speaks about the
Mahdi in two ways: either in a polemical context in order to attack those who refuse to
defend Islam with the justification that only the Mahdi at the end of time can really do
anything,2 or in the form of lip Service, that is he of-ten mentions the expected Mahdi
apparently because his followers are Shi'is who are used to such references.3 In no case does
Khumaini seem to grant the Mahdi a significant role in the development of the worlds
towards the final revelation.
Consequently, in order to investigate Khumaini's attitude towards the Mahdi and to clear
up the question whether this doctrine possesses any place in his thought, an indirect approach
has been conducted to Khumaini's writings in this study in such a form that the writings of
Khumaini have been compared with the classical Shi'i literature about the benefits the Mahdi
will bring to mankind. Thus, it should be shown that Khumaini's doctrine bears a highly
eschatological character which demands that he has to distort to a certain extent from the
classical Shi'i belief in the Mahdi.
2. The time before the outbreak of the Islamic revolution and before the
reappearance of the Mahdi
In the classical Shi'i (and Sunni) literature it is supposed that before the
appearance of the Mahdi mankind will experience a terrible period/This Situation is
mostly characterized in more general terms as »chaos« (Harj wa-MarJ)5 or »civil
war« (Fitna, pl. Fitan)6 or generally as a time in which world will be full of injustice
and oppression.7
1 concerning this concept see for instance Madelung, »Al-Mahdi«, in: EI, 5, new ed.
2 Compare for instance Khumaini, Khitab al-Imam al-Khumaini haula: Mas'alat al-Mahdi ai-Muntazar, Tehran,
n.d., p. 22—23.
3 Compare for instance art. 5 of the Constitution of the Islamic Republic, ed. by Hamid Algar, Berkeley 1980.
4 For a systematical collection about this (theme see, inter alia, D.S. Attema, De Mohammedaansche Opvattingen
omtrent het Tijdship van den Jongsten Dag en zijn Voorteekenen, Amsterdam 1942, p. 85—87; see also M.O.
Saiih, Mahdiism in Islam up to 260 A.H./874 A.D. and its Relation lo Zoroastrian, Jewish and Christian
Messianism, PhD thesis, Edinburgh 1976, cli. V for an analytic study on the growth of the Hadiths.
5 Compare M.M. Khalkhali, Akhirin al-Tahawwul, Tehran 1398, p. 144.
6 Compare 'Ali Muhammad 'Ali Dakhil, A'imatuna, Beirut 1982, vol. 2, p. 484 or Najm al-Din Ja'far b.
Muhammad al-'Askari, AJ-Mahdi aJ-Maw'ud aI-Muntazar, Beirut 1977, vol. l, p. 310, 313.
7 For instance, Sunan Abi Dawud, cd. by Muhammad al-Din 'Abd al-Humaid, Istanbul, n.d., part 4, p. 107.
388
389
Herunterladen