Proto-Ü7

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N.Strobach, GK SLA Ssem 03
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einen Modaloperator davorhängt, nennt
Modaloperators.
man den Bereich (Skopus,
scope) des
Stoff für Ü7
Thema: Eine Erweiterung von AL um ein neues Zeichen: S5
Vorbemerkung
Bei Ü7 handelt es sich um den einzigen Übungszettel des Kurses, dessen Stoff nicht zum weltweiten
Standardprogramm des einführenden Logikkurses gehört. Es geht in ihm um einen kleinen Ausschnitt aus dem
großen Gebiet der sogenannten Modallogiken,1 nämlich um deren gebräuchlichstes System, dessen Axiomatik
aus längst vergessenen Gründen bei ihrer Entdeckung um 1918 den Namen „S5“ erhielt. Der Grund, warum
Modallogiken normalerweise im Einführungskurs noch nicht behandelt werden, ist meiner Meinung nach rein
historisch: Als sich der Standardkurs herausbildete, waren Modallogiken noch nicht so bedeutend und gut
erforscht wie heute. In der Philosophie sind sie aber inzwischen so wichtig, dass sie auch einfach philosophische
Logiken genannt werden. Die Entdeckung und Erforschung neuer Anwendungen für sie ist ein ganzes
Forschungsgebiet (auf dem übrigens in Rostock intensiv gearbeitet wird). In neueren Texten der analytischen
Philosophie trifft man mit mindestens ebenso großer Wahrscheinlichkeit auf modallogische Formeln wie auf
Formeln der Prädikatenlogik (die zum Standardprogramm gehört). Die Fähigkeit, modallogische Formeln zu
lesen, gehört somit mittlerweile zur philosophischen Allgemeinbildung. Ich bin außerdem überzeugt, dass eine
modallogische Erweiterung von AL wie S5 in Wirklichkeit einf acher zu verstehen ist als die Prädikatenlogik 1.
Stufe und sogar eine besonders gute Vorbereitung darauf ist. Denn S5 ist einerseits AL viel ähnlicher.
Andererseits funktioniert das typische neue Zeichen in S5, die Box, schon ziemlich so wie der sog. Allquantor in
der Prädikatenlogik; und die Semantik von S5 mit ihrer Bewertung von Formeln relativ zu Kontexten bereitet
bestens auf den etwas kniffligen Begriff der Bewertung relativ zu einer sog. Belegung in der Prädikatenlogik
vor. S5 ist dann eine ideale Brücke zwischen AL und der Prädikatenlogik.
1. Was ist S5?
1.1. Die Grundsyntax
Ebenso wie AL ist S5 zunächst nichts weiter als ein ungedeutetes, völlig sinnfreies Spiel. Das
Alphabet von S5 ist einfach eine Erweiterung des Alphabets von AL um ein neues Zeichen:
eine quadratische Box. Die Regeln für die Bildung der atomaren Formel sind dieselben wie
für AL, die Regeln für die Bildung der wff werden einfach erweitert um die folgende Klausel:
Wenn α eine wff ist, so auch  α  .
1.2. Die Semantik von S5 in ihrer einfachsten Version
Def. S5-2: Eine S5-Struktur besteht
1) aus einer nichtleeren Menge von beliebigen Gegenständen, sog. Kontexten
2) einer „Zugänglichkeits“-Relation auf dieser Menge, die im einfachsten Fall einfach so
definiert ist, dass jeder Kontext der Kontextmenge mit jedem (auch mit sich selbst)
gegenseitig zugänglich ist. 2
Def. S5-3: Ein S5-Modell besteht
1) aus einer S5-Struktur (mit einer Kontextmenge {k1, ..., kn} )
2) einer ganzen Menge von AL-Interpretationen, nämlich genau einer AL-Interpretation
der atomaren Formeln pro Kontext der Kontextmenge der Struktur ({Ik1, ..., Ikn })
3) einer Bewertungsfunktion V, die jeder wff pro Kontext genau entweder den Wert 1 oder
den Wert 0 zuweist und die definiert ist wie folgt:3
(a) V(α, k) = 1 gdw α atomar ist und Ik(α) = 1
(b) V(~ α, k) = 1 gdw V(~ α, k) = 0
V (  α ∧ β, k) = 1 gdw V(α, k) = 1 und V(β, k) = 1
V (  α ∨ β, k) = 1 gdw entweder V(α, k) = 1 oder V(β, k) = 1 oder beides
V (  α → β, k) = 0 gdw V(α, k) = 1 und V( β, k) = 0
V (  α ≡ β, k) = 1 gdw V(α, k) = V(β, k)
(g) V( α, k) = 1 gdw für alle (mit k zugänglichen) Kontexte k’ gilt: V(α, k) = 1.
Anmerkungen:
1. Z.T. etwas kompliziertere S5-Strukturen erhält man, wenn man nur fordert, dass die Zugänglichkeitsrelation
eine so genannte Äquivalenzrelation ist, die die Eigenschaften der Reflexivität (für alle k aus W: k R k), der
Transitivität (... wenn k R k’ und k’ R k“, dann k R k“) und der Symmetrie (...wenn k R k’, dann k’ R k)
aufweist. Aber das spielt hier wirklich noch keine Rolle!
2. Wie bei AL, kann man auch bei S5 die Interpretation der atomaren Formeln und die davon abhängige
Bewertungsfunktion in einer Funktion zusammenfassen (das ist sogar die übliche Darstellung). Ein S5-Modell
hat dann die Struktur ⟨⟨W, R⟩, V⟩ oder ⟨W, R, V⟩ . Ich halte es aber für übersichtlicher, wieder beides
auseinander zu halten.
Ein zweites neues Zeichen wird per def. eingeführt:
Def. S5-1: Die Zeichenkette „~ ~“ kann stets durch „◊“ abgekürzt werden.
Man nennt das durch Def. S5-1 eingeführte Zeichen die Raute oder den Diamanten. Box und
Diamant nennt man Modaloperatoren. Die Zeichenkette, vor die man beim Aufbau einer wff
3. Natürlich könnte man auch zB. Tüte, Pfeil und Spaghetti wie bekannt per def. einführen und damit ein paar
Zeilen in Klausel (b) einsparen.
4. S5-allgemeingültig ist eine wff von S5 genau dann, wenn sie f ür j eden Kontext jedes S5-Modells den Wert 1
erhält.
5. Für S5 existiert mit der folgenden Axiomatik ein besonders einfaches sowohl widerspruchsfreies als auch
vollständiges (!) Herleitungsspiel.4
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Namen sind Schall und Rauch, aber wen’s interessiert: Der Name kommt daher, dass man die typischen
Zeichen der gebräuchlichsten dieser Logiken als „notwendigerweise“ und „möglicherweise“ deuten kann (s.u.)
und das Davorhängen eines solchen Ausdrucks vor einen Satz traditionell als Veränderung der Aussageweise
(des modus) des Satzes angesehen wurde. Im engeren Sinn wird deshalb auch einfach die Logik von Möglichkeit
und Notwendigkeit als Modallogik bezeichnet.
2
Der Vorteil daran ist, dass man in diesem Fall die Zugänglichkeitsrelation sofort wieder vergessen kann.
mit k für einen beliebigen Kontext und griechischen Buchstaben für wffs
Beweis in der Bibel der Modallogik: Hughes / Cresswell, A New Introduction to Modal Logic, New York
(Routledge) 1996, Kap.6.
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Axiome sind:
Ax S5-0: α, wenn α die aussagenlogische Struktur einer AL-allgemeingültigen Formel hat 5
Ax S5-1:  (α → β) → ( α → β) 
Ax S5-2:  α → α
Ax S5-3:  ◊ α → α (oder, alternativ:  ◊ α → ◊ α )
Herleitungsregeln sind (Subst), (MP) und (NEC): α ⇒
α.
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wahr sein, egal, wie die Dinge stehen: Notwendigkeit ist Wahrheit in allen möglichen Welten.
Damit etwas möglich ist, muss es sich zumindest theoretisch so verhalten können:
Möglichkeit ist Wahrheit in wenigstens einer möglichen Welt. Bei dieser Deutung kann man
die Box als „es ist notwendig, dass“ lesen und den Diamanten als „es ist möglich, dass“. Man
erhält nun als (im Prinzip auch schon bei Aristoteles belegte 7) Faustregeln:
nicht notwendig nicht = möglich
notwendig nicht = unmöglich (= nicht möglich)
notwendig = unmöglich nicht
nicht notwendig = möglicherweise nicht
5. Historisch gesehen war die Axiomatik von S5 zuerst bekannt. Die Semantik der Modallogiken wurde erst um
1956 von Saul Kripke (*1940 (!)) in ihrer heute gebräuchlichen Form entwickelt.
1.3. Die Deutung von S5
1.3.1. Basics
Die Werte 1 und 0 behalten ihre von AL bekannte Deutung als „wahr“ und „falsch“. Ebenso
werden natürlich die Junktoren genauso gedeutet wie üblicherweise für AL. Die Frage ist nur:
Als was deutet man die Kontexte, und wie liest man Box (und Raute)? Der Grundgedanke
jeder Deutung von S5 ist, dass einer Formel (die einem Satz entspricht), ein Wahrheitswert
relativ auf einen Kontext zugewiesen wird: Formeln sind an k1 wahr, an k 2 falsch etc.
1.3.2. Eine Deutung von S5: Kontexte als Orte
Man kann sich z.B. eine Deutung von S5 vorstellen, in der die Kontexte Orte sind, wobei
derselbe Satz mancherorts wahr ist und mancherorts falsch.6 Da z.B. „ p“ an einem Ort k
gerade dann wahr wird, wenn „p“ an allen Orten wahr ist, ist in diesem Fall die Box als
„überall“ zu deuten. Ist „~ ~ p“ an einem Ort k wahr, so heißt das, dass nicht überall „~ p“
wahr ist bzw. „p“ nicht überall falsch ist. Das heißt nun wieder nichts anderes als dass „p“ an
mindestens einem Ort wahr ist - vielleicht an k selbst, vielleicht woanders. „~ ~ p“ ist nach
Def. S5-1 die Langform von „◊p“. Also ist in diesem Fall der Diamant als „irgendwo“ zu
deuten. Ist wiederum „~ ◊ ~ p“ an einem Ort k wahr, so heißt dass, dass nirgendwo „p“ falsch,
also „p“ überall wahr ist: „~ ◊ ~ p“ ist gleichbedeutend mit „ p“:
nicht überall nicht = irgendwo
überall nicht = nirgendwo
überall = nirgendwo nicht
nicht überall = irgendwo nicht
„~ ~“ = „◊“
„ ~“ = „~ ◊“
„ “ = „~ ◊ ~“
„~ “ = „◊ ~“
„~ ~“ = „◊“
„ ~“ = „~ ◊“
„ “ = „~ ◊ ~“
„~ “ = „◊ ~“
Anmerkungen
1. Wie die Deutbarkeit von AL als Logik der elementaren Aussagenverbindungen, so ist auch die Deutbarkeit
von S5 als Logik für Notwendigkeit und Möglichkeit umstritten. So inkorporiert z.B. S5 neben NWS und SAD
noch die These, dass in allen möglichen Welten dieselben logischen Gesetze gelten. Und das ist nicht
selbstverständlich. Auch ist das Wort „notwendig“ offenbar vieldeutig (ebenso wie das Wort „und“, das ja auch
nicht immer dem AL-Hut entspricht). Aber man fährt doch für die Rekonstruktion eines logischen
Notwendigkeitsbegriffs mit S5 ziemlich gut.
2. Ein Grund dafür, dass man im frühen 20. Jh überhaupt auf Modallogiken gekommen ist, war, dass man auf der
Suche nach einer Logik war, die eine Analyse des „Wenn..., dann“ i.S. des Vorschlags von Diodoros Kronos
erlaubte (vgl. VL-Folien zur stoischen Aussagenlogik). Die Suche war erfolgreich, was man an folgender
Definition sieht:

(α → β)  kann stets durch  (α p β) abgekürzt werden.
Das meist „horseshoe“ genannte Zeichen „p “ gibt die sog. strikte Implikation wieder („In allen möglichen
Welten, in denen α wahr ist, ist auch β wahr“ = „Wenn α, so muss auch β wahr sein“). Und das ist genau
Diodoros’ Idee.
3. Eine weitere Deutung von S5 erlaubt es, die Box zu lesen als „X weiß, dass“ und den Diamanten als „X kann
nicht ausschließen, dass“. Dies ergibt eine sog. epistemische Logik (von gr. epistêmê = Wissen).8
4. Bastelt man ein wenig an der Zugänglichkeitsrelation herum, so lässt sich die Box lesen als „Es ist geboten...“
und der Diamant als „Es ist erlaubt...“. Dies ergibt eine sog. deontische Logik, einer Logik des Sollens. In ihr
fehlt das Axiom  α → α . Denn nicht immer geschieht, was geboten ist.
1.3.3. Die gebräuchlichste philosophische Deutung von S5:
eine Logik für Notwendigkeit und Möglichkeit
Die in der Philosophie gebräuchlichste Deutung von S5 deutet die Kontexte nicht als Orte,
sondern als sog. mögliche Welten. Der Ausdruck wurde zuerst von Leibniz ins Spiel gebracht.
Was man genau darunter zu verstehen hat, ist heiß umstritten. Aber die Grundidee ist ziemlich
einfach: Die Wirklichkeit könnte so oder auch anders sein. Was notwendig ist, muss aber
Also z.B. „p ∨ ∼ p“, aber auch „ p ∨ ∼ p“.
Kontexte haben also eine Menge mit den Hinsichten der Hinsichtenklausel in Aristoteles’ Formulierung des
Nichtwiderspruchssatzes in Met. Γ 3 gemein (vgl. die VL-Folien).
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Belege auf den Übungszetteln.
Nähere Informationen: W. Lenzen, Glauben, Wissen und Wahrscheinlichkeit, Wien (Springer) 1980.
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Proto-Ü7
I) Kennzeichnen Sie den Skopus des Modaloperators in der folgenden Formel durch
Unterstreichen: (p → q)
II) Übersetzen Sie in S5-Formeln (unter Verwendung von „p“ als einzigem Satzbuchstaben):
1. „Das Sich-nicht-anders-verhalten-Könnende nennen wir das
Notwendig-sich-so-Verhaltende.“9
2. „Unmöglich [ist], wovon das Gegenteil aus Notwendigkeit wahr ist.“ 10
3. Vom Notwendig-Sein darf man aufs Sein schließen
(A(b) necesse ad esse valet consequentia ).11
4. Vom Sein darf man aufs Können schließen
(Ab esse ad posse valet consequentia).
III) Beweisen Sie mit einem (auf offensichtliche Weise) für S5 erweiterten AL-Hybrid:
1. ~ ~ p ≡ ◊ p
2. ~ p ≡ ~ ◊ p
IV) Beweisen Sie auf dieselbe Weise, dass aus dem Prinzip in I,3 das Prinzip in I,4 folgt.
Gehen Sie dabei davon aus, dass  α → α bereits bewiesen wurde, also jede
Konkretisierung davon ohne Stern mit „ALT“ eingeführt werden darf.
Tipp: Arbeiten Sie mit Kontraposition, modus ponens und doppelter Negation.
V) Übersetzen Sie die Formeln in der Aufgabenstellung von III) im Sinne der
Notwendigkeits-Deutung von S5 ins Deutsche.
Aristoteles, Metaphysik ∆ 5, 1015a33-35.
Met ∆ 12, 1019b23.
Auch: „Ab oportere...“ Mittelalterliche Belegstellen bei I.M. Bochenski, Formale Logik, Freiburg / München
4
1978.
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