Neue Zürcher Zeitung 27.05.2013, Nr. 119, S. 13 Zürcher Kultur Jede Wahrheit ist zumutbar Claudio Steiger 1951 ist Ingeborg Bachmann noch keine berühmte Schriftstellerin. An Paul Celan, mit dem sie eine Liebesbeziehung verbindet, schreibt die 25-Jährige, dass sie beim US-Besatzungssender Rot-Weiss-Rot in Wien «an den Hörspielen mitpfuschen» werde. 15 Folgen verfasst sie bald für die zum Zwecke sanfter Re-Education über den Äther geschickte «Radiofamilie». In Mélanie Hubers Schweizer Uraufführung im Zürcher Schauspielhaus nach einer Fassung von Stephan Teuwissen bilden berühmte Worte Walter Benjamins den Schlusschoral der fünf Schauspieler. Dass «nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist», ist hier auch ein Kommentar auf die 2011 edierten Typoskripte Bachmanns. Das komisch-quirlige, kaum verstörende Familienleben, das verhandelt wird, möchte auf den ersten Blick so gar nicht ins abgründige Über-Werk der Klagenfurter Ikone passen. Und doch, so die beherzte Aussage dieses Abends, sind die Texte als Ereignisse in Bachmanns eigener Geschichte nicht verloren zu geben. So sieht man der Familie um Gerichtsrat Hans Floriani und Frau, Kinder, Onkel und Tante gern zu. Auf Nadia Schraders schön in ein Baugerüst eingepasster Fünfziger-Jahre-Bühne finden sie zu neuem Leben. Eine riesige Radioleiste zeigt Lebensorte Bachmanns, Benjamins und Celans. Die Schauspieler konzentrieren sich auf die Episoden, die sich mit pädagogisch-bürgerlichem Subtext um Horoskope, Geburtstagsjausen oder moderne Kunst drehen. Dabei tauschen sie die Rollen und Ramona Müllers Kostüme und singen Lieder (Komposition: Pascal Destraz). Insbesondere Klaus Brömmelmeier als putziger Vater, köstlich wehleidig mit Hexenschuss, und Susanne-Marie Wrage überzeugen durch Spielfreude. Lisa-Katrina Mayer liefert durch ihr Blickspiel unheimliche Momente. Es wäre verfehlt, Bachmanns literarische Hauptmotive in die «Radiofamilie» rückzuprojizieren. Es stecken in ihr indes manch subversiver Dialog und spannende Schlaglichter auf ein Österreich der fünfziger Jahre. Der Regisseurin Huber gelingt in konzisen 70 Minuten die Konfiguration des hochprekären, kurzen Idylls, das diese Texte waren: 1953 hört Bachmann bei Rot-Weiss-Rot auf und tritt mit der «Gestundeten Zeit» endgültig an die literarische Öffentlichkeit. (C. Steiger) Tagesanzeiger, 27.05.2013 Theater, kurz & kritisch Ingeborg Bachmanns «Radiofamilie», remixed Zürich, Schauspielhaus - Es ist immer hilfreich, sich vor dem Besuch eines Theaterstücks kundig zu machen, sich über die Autorin, das Stück, über geschichtliche Hintergründe zu informieren. Der gut vorbereitete Besucher erlebt aber manchmal sein blaues Wunder. Im Fall der «Radiofamilie», die am Freitag in der Kammer des Schauspielhauses in der Inszenierung von Mélanie Huber zur Schweizer Erstaufführung kam, konnte man wissen, dass es sich urspru! nglich um ein Hörspiel aus dem Österreichischen Rundfunk handelt, das Einblick gibt ins Leben der Florianis einer bürgerlichen, verschrobenen Modellfamilie der Nachkriegszeit. Ein gutes Dutzend der Folgen stammen aus der Feder der jungen Ingeborg Bachmann. Eine Tatsache, die sie später, als berühmte Dichterin, gerne verschwieg. Nun wurde die durch diese Informationen aufgebaute Erwartung dann aber auf höchst heftige, rasante und unterhaltsame Weise zerstückelt. Statt brav ein paar Folgen der Rundfunk-Seifenoper zum Besten zu geben, wirbelten die fünf Mitglieder der Modellfamilie in der Stückfassung von Stephan Teuwissen während gut 60 Minuten kreuz und quer durch ihr biederes Leben: Vom Zwist um den schiefen Spiegel im Gang gings flugs zum Geburtstag der Tante in Purkersdorf. Die Radioatmosphäre, das Gackern der Hühner und Zwitschern der Vögel, imitierten die Schauspieler gleich mit. So erschien ihr Treiben bunt, funky und absurd - ohne die Kernpunkte des Ursprungsmaterials auszuklammern: innerfamiliäre Hierarchien, moralische Unterweisungen, das Übernehmen fremder Weisheiten, Sehnsucht nach Familienidyll, tiefe Biederkeit. Ein gelungener, wenn auch fordernder Remix. (Adrian Schräder) Schweizerische Depeschen Agentur, 25.5.2013 Schauspielhaus-Kammer: Die Radiofamilie von Ingeborg Bachmann Das Auge hört mit Geschrieben hat sie Ingeborg Bachmann in den 50er Jahren. Jetzt inszeniert Mélanie Huber die ironisch-witzige Radio-Soap u! ber die Familie Floriani als Schweizer Erstaufführung. Die Tapeten sind geometrisch bunt gemustert. Das Mobiliar hat Stelzenbeine. Der Radioapparat Tasten und eine Senderskala mit Suchnadel. Keine Frage: Wir sind in den 1950er Jahren. Und wir sind in Wien. Für Ort und Zeit spricht auch die elaborierte Dampfnudeln-Frisur von Vilma Floriani. Sie, die Tochter eines k.u.k. Offiziers aus Kroatien (und damit a bisserl was Bessres), ist die Gemahlin von Hans, einem integren Oberlandesgerichtsrat, und die Mutter der beiden Teenager, Tochter Helli (16) und Filius Wolferl (12). Zur gutbürgerlichen, leicht verschrobenen Sippe gehört auch der spinnerte Onkel Guido, Hans’ Halbbruder mit hellbrauner Vergangenheit, sowie dessen Frau Liesl, die «am Land», das heisst in Purkersdorf, eine Hühnerfarm betreiben. Zur Hebung der allgemeinen Moral Von 1952 bis 1960 strahlte der amerikanische Besatzungssender Rot-Weiss-Rot 351 Folgen dieser beliebten Hörspielserie aus, die nicht nur unterhalten, sondern auch die ReDemokratisierung und Liberalisierung der jungen Republik subtil befördern sollte. Einige wenige Folgen zu Beginn dieses «Strassenfegers», wie man dazumal sagte, verfasste die Funk-Redakteurin Ingeborg Bachmann. Die damals 25-jährige Dichterin zeigt sich hier von einer überraschend witzigen Seite. Mélanie Hubers Inszenierung passt sich diesem leichtfüssigen und doch äusserst differenzierten und fein abgelauschten Sprachduktus wunderbar an. Nadia Schraders schlichtes Bühnenbild und die Kostu! me im Retro -Chic von Ramona Müller tragen das Ihre zur nostalgischen Idylle bei, ohne sich zu sehr in den Vordergrund zu drängen. Die Bühnenfassung des Dramaturgen Stephan Teuwissen reduziert das Ganze auf stringente siebzig Minuten. Ohr und Auge paritätisch Ein perfektes Setting für fünf exzellente Schauspieler: Klaus Brömmelmeier, Sarah Hostettler, Lisa-Katrina Mayer, Sean McDonagh und Susanne-Marie Wrage. Sie blättern gewissermassen in einer Art akustischem Fotoalbum und sorgen immer wieder für leises Schmunzeln und lautes Lachen. Je nach Bedarf schlüpfen die fünf in die Rollen der Familienmitglieder und übernehmen gar ein paar weitere: etwa Wolfis Schulfreund Holzinger oder zwei aktuelle Künstler, in deren Ausstellung es die Florianis dank plötzlichem Regenguss verschlägt. Geburtstagsausflüge und Zeitungshoroskop gehören ebenso zum Familienalltag wie Koedukation und Museumsbesuch. Und für winzige Momente gerät die familiäre Harmonie auch schon mal ins Schlingern, wird aber mit einem träf-optimistischen Spruch wieder ins Lot gebracht. Das alles hat Pfiff und Charme. Die Schauspieler balancieren mit stupender Virtuosität auf diesen Silberfäden der Banalität, ohne je auszurutschen. Sie spielen sich die Stichworte wie Federbälle zu. Sie übernehmen auch die Geräuschkulisse vom Gackern der Hühner über das Knarren des Stuhls bis zum Scratchen beim Anpeilen des Radiosenders. Und sie singen allesamt mit Inbrunst und Können. Gelungenes Hörspieltheater: schwebend leicht und doch hintersinnig ernst; heiter, aber nicht seicht; spassig, aber nicht klamaukig! (Bruno Rauch)