Cerberus 115 Zehn Kilometer südwestlich von Sapoljarny, Halbinsel Kola, Sowjetunion, 1989 Oleg Katschenkow sah aus dem Fenster seines schlichten Büros, fingerte gedankenverloren an der noch nicht angezündeten Belomorkanal Papirossa und blickte deprimiert nach draußen. Wie hatte es nur kommen können, dass er hier in dieser Einöde gelandet war. Unfassbar. Der Hass auf die Kulisse übermannte ihn erneut - wie jedes Mal, wenn er aus dem Fenster schaute. Er verabscheute diese extreme Landschaft. Rundum Tristesse, beschissenes Wetter und nur Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit. Keine Chance auf Abwechslung vom harten Alltag. Das Gelände sah aus, wie ein grob gekörntes Schwarz-Weiß-Foto. Der Schnee blendete gnadenlos. Nirgendwo gab es Fixpunkte, an denen das Auge haften bleiben konnte. Weiß, unbarmherziges weiß. Eine Schneesteppe, eiskalt und weit und breit nur Schnee, Berge und karges Terrain. Die gesamte Station sah aus, als hätte man sie einfach aus dem Flugzeug geworfen und erwartete nun, dass sie mit der umliegenden Landschaft eine Symbiose eingeht. Fehlanzeige! Das Betonungetüm, bestehend aus einem zweistöckigen Forschungslabor mit Verwaltung sowie dem alles überragenden, gigantischen Betonturm waren noch immer signifikante Fremdkörper in der eintönigen Gegend aus Seen, reißenden Flüssen, einsamer Tundra und undurchdringlicher Taiga zwischen der Barentssee und dem Weißen Meer. Und es würde auch ewig so bleiben. Jeder Winter hier in der Region nördlich des arktischen Kreises war eine Tortur. Die Polarnacht fiel für zwei Monate über Land und Menschen her, wie ein wildes Tier, dass alles zu verschlingen drohte. Die Nacht nahm dann kein Ende. Nur das Nordlicht spendete von Zeit zu Zeit etwas Licht, Abwechslung und kalten Trost. Oleg wunderte es, wie es die Samen hier oben am Arsch der Welt schon seit Menschengedenken aushielten. Wahrscheinlich hatten sie sich über unzählige Generationen hinweg an diesen Zustand der Trostlosigkeit gewöhnt. Sie kannten es nicht anders. Er schon! Und seine Arbeiter auch. Die Todesfälle stiegen in der dunklen Jahreszeit maßgeblich an und nur ein geringer Teil davon ging auf das Konto von Schludrigkeit und Nachlässigkeit der Mitarbeiter am Bohrturm. Viele hielten die alles umfassende Dunkelheit einfach 1 Cerberus 115 nicht mehr aus, wurden depressiv und machten dem Drama schließlich ein Ende. Und erst der Sommer: Im Juni und Juli mutierte die Halbinsel zu einem komplett anderen Ort: Greller Sonnenschein hüllte die Station dann ganztags ein. Polartag! An eine Nacht war hernach kaum zu denken. Sicherlich die jungen Leute in Leningrad fanden das alles ganz hipp und feierten ohne das es drohte zu dämmern geschweige denn dunkel zu werden. Aber hier tausende Kilometer entfernt brachte die Abwesenheit von Finsternis den menschlichen Metabolismus drastisch durcheinander. Menschen starben durch Mangel an Schlaf und das wahr gefährlich, sehr gefährlich! Denn die Arbeit, die sie verrichteten, war riskant. Nur der kleinste Fehler und es war vorbei! Viele der Moskauer Freunde versuchten immer wieder, ihm die Vorteile seines Jobs schmackhaft zu machen, indem sie die ach so tolle Landschaft und Tierwelt auf die Bühne zerrten. Schwachsinn! Braunbären, Lachse, Rentiere oder irgendwelche blöden Tundra-Pflanzen interessierten ihn nicht am Rande. Oleg war Großstädter. Ein Moskowiter! Er brauchte Häuserschluchten, die Enge der Metro, den beißenden Gestank der Abgase der Autos im Winter, das Kaufhaus GUM, den Roten Platz, das Café Pushkin, die Moskva, den Gorki-Park, die Tretjakov-Galerie und so vieles mehr, was es hier nicht gab und auch niemals geben würde. Sein Herz wurde schwer, als er an all die Dinge dachte, die er hinter sich gelassen hatte. Moskau - das war Leben! Das war die geliebte Heimat. Und nicht dieser unwirkliche Ort am Ende der Welt, wo sich Fuchs, Hase und Igel - oder wer auch immer - gute Nacht sagten. Gäbe es nicht in knapp 200 Kilometern Murmansk mit der Nordmeerflotte, der eisige Wind des Vergessens hätte Kola längst vom Antlitz der Erde gefegt. So aber zählte die Halbinsel zu den privilegierteren Gegenden der Sowjetunion - zumindest, was die Versorgungslage anbetraf. Gern hätte Oleg auf die zusätzliche Ration Wodka, Krimsekt, Zigaretten und andere Annehmlichkeiten verzichtet, um in seinem geliebten Moskau zu leben. Und es war schon jetzt absehbar, dass die Privilegien zunehmend Sparmaßnahmen zum Opfer fielen. Das Verlegen des Großteils der sowjetischen Marine ins Nordmeer war zwar ein großer strategischer Schachzug - die NATO wurde dadurch 2 Cerberus 115 gezwungen, starke Seestreitkräfte zur Sicherung ihrer Seewege aufzustellen - das Engagement hier in dieser Gegend mit dem einzigen eisfreien Hafen weit und breit jenseits des Polarkreises kam der Sowjetunion allerdings teuer zu stehen. Es kostete Milliarden Rubel fernab jedweder Zivilisation und der eigenen Großindustrie die Basis für die größte der Sowjetflotten aufzubauen und zu unterhalten. Katschenkow schüttelte den Kopf. Ihm war übel. Alles ging den Bach herunter sein Leben, die Sowjetunion und damit die Ideale, an die er einmal geglaubt hatte. Er schaltete das Licht im Büro ein. Die arktische Nacht dauerte nun schon sechs Wochen an. Und die ging ihm im dritten Jahr hier mächtig an die Substanz. Lange würde er das nicht mehr aushalten. Aber hatte er eine Wahl? Wohl kaum! Gern hätte er seine Leute in ein paar Busse verfrachtet und nach Murmansk zum »Hallo Sonne«-Fest gekarrt. Nur, damit sie etwas Abwechslung von der täglichen Tristesse gehabt hätten. Aber Fehlanzeige - es gab weder Transportmittel noch den dafür notwendigen Diesel. Das Fest war ein Höhepunkt des gesellschaftlichen Lebens auf der Halbinsel, eine große Feierlichkeit, von der jedermann sprach und sich darauf freute. Es fand jedes Jahr am letzten Sonntag des Januars, nach dem Ende der Polarnacht, statt die vom 29. November bis zum 15. Januar dauerte. Und dieses Jahr - so hieß es - hatten die Stadtväter sich nicht lumpen und Einiges auf die Beine gestellt inklusive eines Eissegelwettbewerbs auf dem Semjonow-See, Musikund Tanzdarbietungen in der Innenstadt sowie das spektakuläre Rentierrennen der Samen. Oleg interessierte das Rennen ganz besonders, da die Samen sich ansonsten eher selten für derlei einspannen ließen. Nur wenig drang über ihre Sitten und Bräuche nach außen. Aus gutem Grund. Sie sahen die Russen noch immer als Eindringlinge an und standen dem Militär und seinem folgenden Rattenschwanz aus »Zivilisation« mehr als verhalten gegenüber. Und die Russen hatten sich hier auch nicht gerade vorbildlich benommen - sie diskriminierten die Ureinwohner, wo es nur ging bis hin zum Verbot der eigenen Riten und Bräuche. Kein Wunder, dass die von uns nichts wissen wollen, dachte Oleg. Es ärgerte ihn, dass die Vorgesetzten in Moskau kein Verständnis für die Leiden und Bedürfnisse der Mitarbeiter der Forschungsstation hatten und kaum eine Kopeke springen ließen, 3 Cerberus 115 um Beförderungsmittel bereitzustellen. So ein Betriebsausflug hätte die Stimmung für Tage, wenn nicht gar für Wochen, mal wieder ein wenig gebessert. Sogar beim Militär hatte Katschenkow angeklopft. Die lachten ihn nur aus und empfohlen, ein paar Rentiere zu besorgen. Schwachköpfe! Oleg erinnerte sich noch ganz genau, wie sein Engagement auf der KolaHalbinsel begann. Damals war »man« an ihn herangetreten und hatte ihm eine berufliche Offerte unterbreitet, die äußerst attraktiv in vielerlei Hinsicht schien Geld, Karriere und ein interessantes Projekt winkten. Eine Chance, die er unmöglich ablehnen konnte! Außerdem äußerten sich die Herrschaften zweifelsfrei dahingehend, dass er keine andere Wahl hatte, als anzunehmen. Was wäre passiert, hätte er Nein gesagt? Wahrscheinlich wäre er an einer Schule irgendwo im tiefsten Sibirien gelandet. Mit sehr viel Glück! Den schlimmsten Fall mochte er sich gar nicht ausmalen. Und es waren ja nur fünf Jahre, die er aushalten musste. Er war ja noch jung mit seinen dreißig Lebensjahren, in denen er bereits so viel erreicht hatte. Oleg Katschenkow war ein anerkannter und promovierter Geologe der »Akademie der Wissenschaften der UdSSR« in Moskau, der sich einen Namen gemacht hatte, als Kapazität für Erdgeschichte. Oleg war stolz darauf, für die ranghöchste Forschungseinrichtung der Sowjetunion mit zahlreichen Wissenschaftszentren und einer Vielzahl von quer über die Sowjetrepublik verstreuten Forschungsinstitutionen arbeiten zu dürfen. Also wurde er auch nicht misstrauisch, als man ihm den neuen »Job« anbot. Vielmehr war es eine Ehre für den jungen Kommunisten. Erst viel zu spät bemerkte er, dass es Katapult-Job war. Nur der kleinste Fehler und er wäre »weg vom Fenster« - von einer weiterführenden Karriere im schönen Moskau ganz zu schweigen. Und obwohl er täglich unter höchstem Druck agierte und seine Gesundheit sich langsam verabschiedete, hätte er doch nicht tauschen wollen. Er war der wissenschaftliche Leiter eines der aufregendsten Projekte der Zeit. Oleg Katschenkow bohrte das tiefste Bohrloch in die Erde, dass es jemals gegeben hatte. Es war eine Anlage geboren in der Ära des Kalten Kriegs und des Wettrüstens, als sich die Machthaber der mächtigsten 4 Cerberus 115 Länder auf dem Erdball Leonid Iljitsch Breschnew und Richard M. Nixon gegenüberstanden. Alles drehte sich einzig und allein um den technologischen Vorsprung gegenüber den USA. Wer hatte als Erster einen Menschen im Weltraum, wer hinterließ als Erster seine Spuren im Mondstaub, wer hatte die schnellsten Kampfjets und Passagierflugzeuge und wer konnte das tiefste Loch in die Erdkruste bohren. Absurd! Zumal das Rennen gegen die Amerikaner schon lange verloren war. Der Stern der stolzen Sowjetunion ging langsam aber sicher unter. Die Zeiten waren schlecht für Hardliner und sture Parteifunktionäre. Es wehte ein neuer Wind im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der trug den Namen Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Und der Mann hatte anscheinend einiges vor. Er meinte es ernst und das passte vielen der mächtigen Leute der Sowjetunion so ganz und gar nicht. Gorbatschow wollte tatsächlich den Kalten Krieg beenden. Oleg war zwar Mitglied der Partei, aber nicht unbedingt ein überzeugter Anhänger der Sache. Politik interessierte ihn nur am Rande. Er war Wissenschaftler, dessen Platz hier am Ende der Welt war, um die Anlage am Laufen zu halten. Genauso, wie es seine Vorgänger getan hatten. Das Megavorhaben startet im Frühjahr 1970. Alles war bereit, das mächtigste Loch in die Erdkruste zu bohren, dass es jemals gegeben hatte. Die Zielvorgabe des Zentralkomitees war eindeutig - so schnell wie möglich den amerikanischen Rekord des tiefsten Bohrlochs »Bertha Rogers« mit 9.583 Metern in Oklahoma einstellen. Es dauerte schließlich doch mehr als neun Jahre, bis man der Parteiführung Vollzug melden konnte. Am 6. Juni 1979 erreichte das gewaltige 200-Tonnen-Bohrgestänge des »Uralmasch-15000« eine Tiefe 9.584 Metern bei einem Durchmesser von rund 22 Zentimetern. Oleg ging zum Schreibtisch und schnappte sich das alte, klobige Tischfeuerzeug, um sich die Zigarette anzuzünden. Der antike Feuerspender mit dem abgegriffenen roten Stern war das Einzige, was Katschenkows Vorgänger hinterlassen hatte. Der »Alte«, wie er von den langjährigen Mitarbeitern immer noch genannt wurde, verschwand irgendwann einfach in der Tundra. 5 Cerberus 115 Wahrscheinlich hatte ihm ein Wolf oder Bär das Leben ausgehaucht. Man hatte auch nicht sehr lange nach ihm gesucht. Menschenschwund war ein einkalkulierter Faktor der Station. Egal, es gab ja genügend menschliche Ressourcen. Das Individuum an sich war leicht zu ersetzen. Katschenkow inhalierte den Zigarettenrauch tief in die Lungen, blies den Rauch langsam aus und schritt erneut zum Fenster, um es einen Spalt zu öffnen. Er blickte auf den Bohrturm mit dem rostigen roten Stern auf dessen Spitze, der aggressiv mit den zwanzig Stockwerken dem Himmel entgegendrohte. Nur ein gelborangefarbenes Pulsieren, das durch die schmalen Fenster des verkleideten Bohrturms nach außen gelangte, zeugte von Aktivität. Ansonsten schien die wissenschaftliche Bohranlage menschenleer zu sein, was natürlich täuschte. Ein Leuchtturm im schier endlosen Schneemeer. Einsamkeit! Und jetzt standen sie unmittelbar davor, die 15.000 Meter-Marke zu knacken! Es konnte sich nur noch um wenige Stunden handeln. Olegs Freunde unterstützen ihn zwar moralisch, wo immer es ging - die Briefe aus Moskau waren sein Anker zur Zivilisation - sie verstanden allerdings nicht, was ihn an der Arbeit hier oben im Norden so faszinierte. Gern hätte er ihnen die Faszination des Jobs in epischer Breite dargelegt, eine Verschwiegenheitsklausel hinderte ihn jedoch daran. Und dabei gebe es doch so viel zu erzählen. Die Erde übergab ihnen Geschenk um Geschenk. So hatten sie neben sämtlichen Arten von Edelmetallen in einer Tiefe von zehn Kilometern über 2,5 Milliarden altes Gestein entdeckt, in das vierzehn Arten neuer Elementarfossilien - Reste altertümlicher Organismen - eingeschlossen waren. Ein Hinweis darauf, dass es entgegen der wissenschaftlichen Meinung, seit mehr 1,5 Milliarden Jahren Leben auf der Erde gab. Riesige Methan-Vorkommen hatten sie entdeckt, und zwar in einer Tiefe, wo es keine Kohlenwasserstoffe hätte geben dürfen. Fast monatlich kippten Olegs Wissenschaftler geologische Gesetzmäßigkeiten. Aktuell zählte die Gesteinsdatenbank der Station mehr als 45.000 Proben. Es würde hunderte Jahre dauern, diesen Schatz zu analysieren und aufzubereiten. Er war stolz auf die Arbeit und deren Resultate. Die wissenschaftliche Bedeutung seines Tuns konnte man zu Recht mit der von 6 Cerberus 115 Weltraumexpeditionen vergleichen. Bei einer Bohrtiefe von 3.000 Metern entdeckten Sie eine nicht identifizierbare Substanz, die annähernd identisch mit den Mustern des Gesteins vom Mond war. Und trotzdem, er hätte den Ort der Einsamkeit lieber heute als morgen verlassen und gern auf die wissenschaftlichen Sensationen verzichtet. Die Sirenen rissen Oleg aus seinen Grübeleien. Und eher er einen ersten klaren Gedanken fassen konnte, stieß jemand die Tür zum Büro auf. Pjotr Iwanowitsch. Der junge Mann agierte als rechte Hand Katschenkows, kümmerte sich um die »Baustelle« und hielt den Kontakt zu den Leuten im Bauwerk. »Schnell zum Bohrturm. Irgendetwas passiert da!«, hechelte Pjotr. Er war völlig außer Atem und trotzdem konnte man aus den wenigen Sprachfetzen eines heraushören - Angst und Panik! Oleg schätzte den Kollegen für die unaufgeregte Professionalität, die er üblicherweise an den Tag legte und nun das? Es musste etwas Dramatisches geschehen sein. Pjotr war schon wieder auf dem Weg nach unten zum Ausgang des Verwaltungstraktes. Oleg rannte ihm hinterher. Fast alle Bürotüren waren geöffnet. Mitarbeiter lugten ängstlich bis verständnislos aus den Räumlichkeiten hervor. Nach wenigen Minuten erreichten sie die Tür des Verwaltungsgebäudes. Pjotr hatte sie bereits aufgerissen und wartet nun auf seinen Chef. Katschenkow kam nur Augenblicke später hinterher. Die kalte Luft traf ihn wie eine Wand und nahm ihm den Atem für einige Sekunden. Mist, warum hatte er sich nicht die Stepp-Jacke und die Kaninchenfell-Tschapka übergezogen. Egal, jetzt war es sowieso zu spät. Und da sah er, wie die Arbeiter aus dem gewaltigen Bohrturm gerannt kommen, wie Ameisen aus ihrem Bau. Viele rutschten aus, fielen hin, und wurden von den anderen einfach überrannt. Panik. Durcheinander. Oleg schnappte sich den Erstbesten, der ihm entgegenkam, und hielt ihm am Ärmel der Jacke fest. Der blickte ihn wiederum entgeistert an. »Was ist passiert?«, schrie Katschenkow den irritierten Mann an. Der schüttelte den Kopf, brummelte aufgeregt etwas und schien den Chef nicht zu verstehen. Oleg schüttelte den Mann heftig am Oberkörper. »Los, sag schon, was ist los?« 7 Cerberus 115 Dann schaute der Oleg mit weit aufgerissenen, irren Augen direkt an. »Der Leibhaftige ist da!« 8