6. Vektor- und Koordinaten-Geometrie. Jeder endlichen Menge, etwa der Menge M = {♣, ♦, ♥, ♠ }. kann man durch R4 (M ) = { a1 ♣ + a2 ♦ + a3 ♥ + a4 ♠ | ai ∈ R } die Menge der ”formalen Linearkombinationen” zuordnen. Es stellt sich heraus, dass R4 (M ) nicht nur eine Menge, sondern in natürlicher Weise ein Vektorraum ist. Dies ist ein extrem abstrakter Standpunkt an den man sich erst gewöhnen muss. Aber wir werden in diesem Kapitel sehen, dass dieser Standpunkt mit der bekannten Vektorgeometrie zusammenhängt, und wir werden in den folgenden Kapiteln sehen, dass ein solch abstrakter Standpunkt sehr nützlich sein kann. Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 2 I. Elementare Mathematik 1 Raum der Vektor Klassen. Vektoren sind besser als Punkte, denn mit Vektoren kann man ”rechnen”. Allerdings erst nach etwas Vorbereitung. Definition Vektorraum. Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 §6 Analytische Geometrie Wir betrachten die Menge P 2 Ebene. Durch die Vorschrift 3 aller Pfeile in der v ∼ w ⇔ vist parallel zuw wird eine ”Aquivalenzrelation definiert. Wir schreiben die Äquivalenzklasse von Vektoren mit fetten Buchstaben v := { w ∈ M | w ∼ v }. Satz. [v] = [w] ⇔ v ∼ w ⇔ [v] ∩ [w] ∩ ∅. Beweis. v ∼ v (Reflexivitaet) ⇒ v ∈ [v] ⇒ v ∈ [w] ⇒ v ∼ w. u ∈ [v] ⇒ u ∼ v ⇒ u ∼ w(T ransitivitaet) ⇒ u ∈ [w]. Also [v] ⊂ [w]. Ebenso [w] ⊂ [v]. ♦ Bemerkung. Der obige Satz besagt, dass man in jeder Äquivalenzklasse einen Repräsentanten wählen kann. Sei nun V 2 (P ) := P 2 / ∼= { v | v ∈ P 2 } Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 4 I. Elementare Mathematik 1 die Menge der ”Aquivalenzklassen”. Definition. Seien v, w zwei Vektoren. Wähle Repräsentanten v ∈ v und w ∈ w so dass die Anfangspunkte übereinstimmen. Dann ist die Summe v + w definiert als die Äquivalenzklasse des folgenden Vektors: b b a+b a+b a a Triangle Gesetz Parallelogramm Gesetz Definition. Das Produkt av eines Vektors v mit einem Skalar a ∈ R ist die Äquivalenzklasse des Vektors w parallel zu v ∈ v mit |w| = a|v|. Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 §6 Analytische Geometrie 5 Bemerkung. Man kann nun auch leicht die Differenz a − b von zwei Vektoren veranschaulichen, denn a − b = a + (−1) · b. a-b b a Die Differenz von zwei Vektoren Rechenregeln. Wenn a, b, c Vektoren und wenn c, d Skalare sind, dann gelten die folgenden formalen Gesetze: 1. a + b = b + a 3. a + 0 = a 2. a + (b + c) = (a + b) + c 4. a + (−a) = 0 5. c(a b) = ca + cb 6. (c + d)a = ca + da 7. (cd)a = c(da) 8. 1a = a Definition. Eine Menge in der diese Rechenregeln gelten heißt Vektorraum. Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 6 I. Elementare Mathematik 1 Wahl eines Basispunktes. Es ist unbequem mit Klassen von Vektoren zu arbeiten. Z. B. ist es unschön geometrische Objekte, wie Geraden oder Ebenen, mit Hilfe von Äquivalenzklas sen von Vektoren zu beschreiben. Hierzu gibt es einen Ausweg. Der Trick ist, einen Basispunkt zu wählen. Dies gibt dann die Möglichkeit, in jeder Äquivalenzklasse v einen eindeutigen Repräsentanten zu wählen, nämlich den Vektor v ∈ v, der im Basispunkt seinen Anfangspunkt hat. Wir gehen also von der Menge aller Vektoren auf die Menge der Ortsvektoren über. Der Raum der Ortsvektoren Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 §6 Analytische Geometrie 7 Die oben definierten Summen und Produkte von Vektoren und Skalaren definieren auch Verknüpfungen der Ortsvektoren. Satz. (On , +, ·R ) ≃ (P n , +, ·R , wobei On der Raum der Ortsvektoren und P n der Raum der Klassen von Vektoren. ♦ Wir bezeichnen die Ortsvektoren mit normal gedruckten Buchstaben, d.h. v ∈ On oder v ∈ V. Definition. Seien v, w ∈ On Dann bezeichnet zwei Ortsvektoren. g = { v + tw) | t ⊂ R } die Gerade durch die Spitze von v in Richtung des Vektors w. tw’ v+ tw v w Eine Gerade Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 8 I. Elementare Mathematik 1 Aufgabe. Benutzen Sie Ortsvektoren um zu zeigen, dass sich die drei Seitenhalbierenden in jedem Dreieck in einem Punkt schneiden. w v Seitenhalbierende Die Seitenhalbierenden sind durch die folgenden Vektoren gegeben: v + 12 (w − v) v − 12 w w − 21 v Die Geraden die durch die ersten beiden Seitenhalbierende gegeben sind lauten: s(v + 12 (w − v)) und v + t(v − 21 w) Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 §6 Analytische Geometrie 9 Um den Schnittpunkt zu finden müssen wir gleichsetzen: s(v + 12 (w − v)) = v + t(v − 12 w) s 12 v + s 12 w = (1 + t)v − t 21 w Also 1 2s 1 2s =1+t = − 21 t und so s = −t ⇒ −t = 2 + 2t ⇒ t = − 23 . Demnach lautet der Ortsvektor zum Schnittpunkt v + 23 (v − 12 ) = 53 v − 13 w Ebenso rechnet man den Schnittpunkt eines anderen Paares von Seitenhalbierenden aus. Man muss dann nur noch sehen, dass beide Schnittpunkte gleich sind. Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 10 I. Elementare Mathematik 1 Wahl einer Basis. In jeder Menge von Ortsvektoren kann man immer eine endliche Menge von Vektoren, die Basis Vektoren, auswählen, so dass jeder andere Vektor eine Linearkombination der Basisvektoren ist. Bemerkung. Es stellt sich heraus, dass die Existenz einer Basis eine Konsequenz der bloßen Rechenregeln des Vektorraumes ist. Dies ist nicht leicht zu beweisen. Wir gehen aber hierauf nicht weiter ein. Wir betrachten hier nur den Vektorraum der Ortsvektoren in der Ebene. Basisvektoren sehen dann so aus: Basis Basis keine Basis Achtung. Man braucht Basisvektoren, um weitere Eigenschaften von Vektoren zu definieren. Zum Beispiel um Winkel und Längen für Vektoren zu definieren. Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 §6 Analytische Geometrie 11 Beispiel. Winkel zwischen Vektoren. Seien u, v Basisvektoren. Ein Winkel, chen v, w ist die Wahl einer Zahl 6 (u, v), zwis- 0 ≤ 6 (u, v) ≤ 1 Die Basis u, v heißt orthogonale Basis, wenn man 6 (u, v) = 1 4 als Winkel wählt. Der Winkel 6 (w, u) eines beliebigen Vektors w = au + bw zu u ist gegeben durch 6 b (v, u) := arctan . a Der Winkel Zwischen zwei beliebigen Vektoren w1 , w2 ist gegeben durch 6 (w1 , w2 ) = 6 (w1 , u) − 6 (w2 , u). Beispiel. Länge von Vektoren. Eine Länge eines Basisvektors ist die Wahl einer Zahl |u| ∈ R+ Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 12 I. Elementare Mathematik 1 Sei u, v eine othogonale Basis. Dann ist |w| = |au + bv| = p ( a|u| )2 + ( b|v| )2 Aufgabe. Man beweise den Satz von Pythagoras mit Vektor Geometrie. a+b b a Der Satz von Pythagoras (a + b)2 = a2 + 2ab + b2 = a2 + b2 ♦ Bemerkung. Von einem wirklichen ”Beweis” kann man hier eigentlich nicht sprechen. Die Definitionen sind ja hier gerade so gemacht, dass der Satz von Pythagoras gilt. Man gibt auch andere Definitionen (die dann auch zu anderen ”Geometrien” führen können). Wir gehen aber darauf nicht weiter ein. Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 §6 Analytische Geometrie 13 Von den Basen zu den Koordinaten. Es war nun Descartes Idee, dass man einfach durch mechanisches Rechnen noch viel mehr geometrische Sätze erhalten kann (ohne sich geometrische Tricks wie bei Euklid einfallen lassen zu müssen). Allerdings empfiehlt Descartes nicht nur bloss einen Basispunkt sondern ein besser ein ganzes ”Koordinatensystem” zu wählen. Solche Koordinatensysteme kannten schon die Renaissance Maler. Jedenfalls ist es nicht schwer, ihre Gitterschirme in Koordinaten Systeme der Ebene zu verwandeln: y 2 2 3 ( x, y ) = ( 3, 2 ) 3 x Vom Gitterschirm zum Koordinatensystem Descartes war aber der erste der sie benutzt hat, um eine mechanische Methode zum Erzeugen von geometrischen Sätzen anzugeben. Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 14 I. Elementare Mathematik 1 Definition. Eine Basis ist eine minimale Kollektion v1 , . . . , vn von Ortsvektoren mit der Eigenschaft, dass sich jeder Ortsvektor v als Linear Kombination v = a1 v1 + a2 v2 + . . . + an vn schreiben lässt. Bemerkung. Die Koeffizienten a1 , a2 , . . . , an heißen die Koordinaten des Vektors. Wir wählen eine Basis ein für alle Mal. Dann ist jeder Ortsvektor v eindeutig durch seine Koordinaten a1 , a2 , . . . , an gegeben. Definition. Die Menge Rn := { [x1 , x2 , . . . , xn ] | xi ∈ R } zusammen mit den Verknüpfungen [x1 , x2 , . . . , xn ]+[y1 , y2 , . . . , yn ] := [x1 + y1 , x2 + y2 , . . . , xn + yn ] a[x1 , x2 , . . . , xn ] := [ax1 , ax2 , . . . , axn ] heißt Koordinatenraum. Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 §6 Analytische Geometrie 15 Satz. Jeder Koordinatenraum ist ein Vektorraum. Er ist isomorph zum entsprechenden Raum On der Ortsvektoren. ♦ Man kann nun auch direkt ometrische Sätze beweisen. an wie man die Gleichung natenraum aufstellen kann. Schulstoff. im Koordinatenraum geWir geben hier aber nur von Geraden im KoordiAlles weitere ist ja heute Um die Gleichung einer Geraden zu bestimmen braucht man entweder zwei Punkte oder einen Punkt und eine Richtung. Ent- sprechend gibt es die Punkt Richtungs Formoder die Zwei Punkte Form. (x,y) (x,y) (x2 ,y2 ) y - y1 y2 - y1 y-n n a (x1 ,y1 ) x2 - x1 x x Punkt-Richtungs-Form x1 x2 x Zwei-Punkte-Form Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 16 I. Elementare Mathematik 1 Man erinnere sich, dass Gegenkathete tan(a) = Ankathete Danach folgt aus dem linken Diagramm: y−n = tan(a) =: m. x−0 Also y = mx + n Dies ist die Punkt-Richtungs-Form der Geraden Gleichung. Aus dem rechten Diagramm entnehmen wir: y − y1 y2 − y1 = x − x1 x2 − x1 und dies ist die Zwei-Punkte-Form der Geraden Gleichung. Sind (a, 0) und (0, b) die Schnittpunkte der Geraden mit der x-Achse bzw. mit der y-Achse, dann ist nach der Zwei-Punkte-Form: b−0 y−b = x−0 a−0 Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 §6 Analytische Geometrie 17 und so ay − ab = bx also ay − bx = ab ist auch eine Form der Geraden Gleichung. Wir halten fest: Die Gleichung ax + by = d ist die allgemeine Form der Geraden Gleichung in der Ebene. Ebenso zeigt man, dass ax + by + cz = d die allgemeine Form der Ebenen Gleichung im Raum ist. Wenn (x0 , y0 , z0 ) irgendein Punkt ist, der in der Ebene liegt, dann gilt: ax + by + cz = ax0 + by0 + cz0 ⇒ a(x − x0 ) + b(y − y0 ) + c(z − z0 ) = 0 Dies ist auch eine Form der Ebenen Gleichung. Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 18 I. Elementare Mathematik 1 Der Raum der Spielkarten. Nach der Wahl von Basisvektoren kann man jeden Vektor als Linearkombination von Basisvektoren schreiben. Dies kann man auch so ausdrücken. In der Menge der Pfeile (in der Ebene) die in einem Basispunkt P anfangen, kann man zwei Pfeile auswählen, etwa ↑ und → so dass sich jeder andere Pfeil in P , etwa ր, schreiben lässt als Linearkombination a· ↑ +b· →, etwa ր= 1· ↑ +1· →, schreiben lässt. Wir sagen der Vektorraum der Pfeile (in der Ebene) wird durch die endliche Menge {↑, →} linear erzeugt. Nun stellt die Menge der Pfeile nichts besonderes dar. Im Gegenteil, jede endliche Menge M kann man dazu benutzen, um einen Vektorraum linear zu erzeugen. Als Beispiel nehme man die Menge M = {♣, ♦, ♥, ♠ }. von ”Spielkarten”. Der davon erzeugte Vektorraum ist dann die Menge R4 (M ) := { a1 ♣ + a2 ♦ + a3 ♥ + a4 ♠ | ai ∈ R } Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 §6 Analytische Geometrie 19 der formalen Linearkombinationen, zusammen mit den formalen Summen und Skalarprodukten gegeben durch: + a1 △ b1 △ + + = (a1 + b1 )△ + a2 ▽ b2 ▽ + + (a2 + b2 )▽ + a3 ♣ b3 ♣ (a3 + b3 )♣ und α·(a1 △+a2 ▽+a3 ♣) = (α·a1 )△+(α·a2 )▽+(α·a3 )♣) Beispiel. (2△ + 3▽ + 0♣) + (1△ − 2▽ + 1♣) = 3△ + 1▽ + 1♣ Bemerkung. Man hat das Gefühl, dass man mit dieser Konstruktion nichts wirklich neues bekommt. Dies liegt daran, dass der Koordinatenraum gleich ist wenn die Erseugendenmengen M die gleiche Anzahl von Elementen haben. Technisch ausgedrückt: Zwei Vektorräume sind isomorph, wenn ihre Basis gleiche Kardinalität haben. Jede Bijektion f : M → N zwischen Basismengen lässt sich nämlich durch Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1 20 I. Elementare Mathematik 1 P P f ( ai mi ) := ai f (ai ) zu einem Isomorphismus der Vektorräume fortsetzen. Literatur. • R. Descartes, Geometrie, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981 • J. Stewart, Calculus, Concepts and Contexts 1997 Klaus Johannson, Elementare Mathematik 1